nicht sprechen lernen“ (Robert Schumann) · dass Schumann seinen Plan aufgibt und sich...

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HÄNDEL-HAUS HALLE HÄNDEL-HAUS Sonderausstellung im Robert-Schumann-Jahr vom 11. September 2010 bis 2. Januar 2011 in der Schatzkammer des Händel-Hauses 2010 | 11 FLEISSMASCHINEN Impressum Stiftung Händel-Haus (Hrsg.) Clemens Birnbaum, Direktor Große Nikolaistraße 5 – 06108 Halle (Saale) Telefon: +49 (0)345 / 50090 0 Fax: +49 (0)345 / 500 90 416 E-Mail: [email protected] Geöffnet: Dienstag bis Sonntag 10 bis 18 Uhr, ab 1. November bis 17 Uhr Titelbild: Ochydactyl von Georges Retif, Frankreich um 1925 Kuratorin und Redaktion: Christiane Rieche Gestaltung: INSIDE werbung, Halle Fotos und Repros: Thomas Ziegler, Halle www.haendelhaus.de Übungsapparate im Zeitalter des Virtuosentums Auf den Musikern lastet der enorme Druck einer großen Konkurrenz. Beson- ders prominent ist die Leidensgeschichte Robert Schumanns (1810–1856). Relativ spät (im Alter von 20 Jahren) entscheidet er sich für eine Pianisten- karriere. Doch Mittel- und Zeigefinger der rechten Hand besitzen „auffallend weniger Kraft und Gelenkigkeit, als die übrigen.“ Die Verwendung einer „Maschine“, „Schlinge“ oder auch „Cigarrenmechanik“, „mittels welcher die genannten zwei Finger stark nach dem Handrücken angezogen gehalten wurden“, führt zu einer zeitweiligen Lähmung der ganzen rechten Hand, so dass Schumann seinen Plan aufgibt und sich schließlich ganz der Komposi- tion und dem Musikjournalismus zuwendet. Auch stumme Klaviaturen gehören zum weiten Feld der Übungsinstrumente. Selbst für das Erlernen von Streichinstrumenten ersannen findige Instrumen- tenbauer „stumme“, d. h. akustisch zurückgenommene Violinen und Violon- cellos. Noch heute gibt es eine große Vielfalt von modernen Übungsgeräten. Manche dieser Geräte beziehen sich auf alte Methoden. So findet der Hand- leiter von Kalkbrenner sein Comeback in „Niks Handguide“. Da Friedrich Wieck (1785–1873), Vater von Clara Schumann, nach eigenen Aussagen, für seinen Unterricht einen Handleiter verwendete, ist es nicht abwegig, „Niks Handguide“ an einem Hammerflügel von Mat- thäus Andreas Stein aus der Sammlung des Händel-Hauses auszutesten. Denn dieser Flügel ist demjenigen, den Clara 1828 von ihrem Va- ter geschenkt bekam, sehr ähnlich. Letztendlich zeugt eine Konzertanzeige der großen Pianistin im „Hallischen Patriotischen Wochenblatt“ davon, dass man auch in Halle die großen Virtuosen zu schätzen wusste. Ob Clara ihre Kunst auch dem Training an einer Fleißmaschine zu verdanken hat – dies aller- dings entzieht sich unserer Kenntnis. Robert Schumanns „Cigarrenmechanik“ „Von Stummen kann man nicht sprechen lernen“ (Robert Schumann) Robert Schumann, Lithographie, Joseph Kriehuber, Wien 1839, Robert-Schumann-Haus Zwickau Leipziger Lebensbuch II (Tagebuch), Robert Schumann, 7. Mai 1832, Robert-Schumann-Haus Zwickau Antrag Robert Schumanns zur Aufnahme bei den Schutzverwandten Leipzigs, Schutzprotokolle 1840–1841, Stadtarchiv Leipzig Gesuch Robert Schumanns zur Befreiung aus der Kommunalgarde, 1841, Kommunalgarde Nr. 535, Stadtarchiv Leipzig Arztgutachten von Dr. Moritz Emil Reuter, 1841, Kommunalgarde Nr. 535, Stadtarchiv Leipzig Stumme Klaviatur, Pianofortefabrik von Wilhelm Gertz, Hannover um 1950 Stumme Violine, mit Decke von Johannes Robert Adler, Markneukirchen um 1950, Musikinstrumenten-Museum Markneukirchen Stumme Violine, vermutl. Bohuslav Lantner, Prag um 1870 Stummes Violoncello, Markneukirchen, 1. Hälfte 20. Jahrhundert, Musikinstrumenten-Museum Markneukirchen Niks Handguide, Dimitri Niks, Kalifornien/USA 2010 Hammerflügel, Mattäus Andreas Stein, Wien um 1820 Anzeige eines Konzertes von Clara Wieck in Halle am 28. Juli 1835, In: „Hallisches Patriotisches Wochenblatt“, Stadtarchiv Halle Robert Schumann von Kriehuber Stumme Violine, unsigniert Konzertanzeige Clara Wieck

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HÄNDEL-HAUS HALLE

HÄNDEL-HAUS

Sonderausstellung im Robert-Schumann-Jahrvom 11. September 2010

bis 2. Januar 2011in der Schatzkammer

des Händel-Hauses

2010 | 11

FLEISSMASCHINEN

ImpressumStiftung Händel-Haus (Hrsg.)

Clemens Birnbaum, Direktor

Große Nikolaistraße 5 – 06108 Halle (Saale)

Telefon: +49 (0)345 / 50090 0

Fax: +49 (0)345 / 500 90 416

E-Mail: [email protected]

Geöffnet: Dienstag bis Sonntag

10 bis 18 Uhr, ab 1. November bis 17 Uhr

Titelbild: Ochydactyl von Georges Retif,

Frankreich um 1925

Kuratorin und Redaktion: Christiane Rieche

Gestaltung: INSIDE werbung, Halle

Fotos und Repros: Thomas Ziegler, Halle

www.haendelhaus.de

Übungsapparate im Zeitalter des Virtuosentums

Auf den Musikern lastet der enorme Druck einer großen Konkurrenz. Beson-

ders prominent ist die Leidensgeschichte Robert Schumanns (1810–1856).

Relativ spät (im Alter von 20 Jahren) entscheidet er sich für eine Pianisten-

karriere. Doch Mittel- und Zeigefi nger der rechten Hand besitzen „auffallend

weniger Kraft und Gelenkigkeit, als die übrigen.“ Die Verwendung einer

„Maschine“, „Schlinge“ oder auch „Cigarrenmechanik“, „mittels welcher

die genannten zwei Finger stark nach dem Handrücken angezogen gehalten

wurden“, führt zu einer zeitweiligen Lähmung der ganzen rechten Hand, so

dass Schumann seinen Plan aufgibt und sich schließlich ganz der Komposi-

tion und dem Musikjournalismus zuwendet.

Auch stumme Klaviaturen gehören zum weiten Feld der Übungsinstrumente.

Selbst für das Erlernen von Streichinstrumenten ersannen fi ndige Instrumen-

tenbauer „stumme“, d. h. akustisch zurückgenommene Violinen und Violon-

cellos. Noch heute gibt es eine große Vielfalt von modernen Übungsgeräten.

Manche dieser Geräte beziehen sich auf alte Methoden. So fi ndet der Hand-

leiter von Kalkbrenner sein Comeback in „Niks Handguide“. Da Friedrich

Wieck (1785–1873), Vater von Clara Schumann, nach eigenen Aussagen, für

seinen Unterricht einen Handleiter verwendete, ist es nicht abwegig, „Niks

Handguide“ an einem Hammerfl ügel von Mat-

thäus Andreas Stein aus der Sammlung des

Händel-Hauses auszutesten. Denn dieser Flügel

ist demjenigen, den Clara 1828 von ihrem Va-

ter geschenkt bekam, sehr ähnlich.

Letztendlich zeugt eine Konzertanzeige der

großen Pianistin im „Hallischen Patriotischen

Wochenblatt“ davon, dass man auch in Halle

die großen Virtuosen zu schätzen wusste. Ob

Clara ihre Kunst auch dem Training an einer

Fleißmaschine zu verdanken hat – dies aller-

dings entzieht sich unserer Kenntnis.Robert Schumanns „Cigarrenmechanik“

„Von Stummen kann man nicht sprechen lernen“ (Robert Schumann)

seinen Unterricht einen Handleiter verwendete, ist es nicht abwegig, „Niks

Handguide“ an einem Hammerfl ügel von Mat-

thäus Andreas Stein aus der Sammlung des

Händel-Hauses auszutesten. Denn dieser Flügel

ist demjenigen, den Clara 1828 von ihrem Va-

ter geschenkt bekam, sehr ähnlich.

Letztendlich zeugt eine Konzertanzeige der

großen Pianistin im „Hallischen Patriotischen

Wochenblatt“ davon, dass man auch in Halle

die großen Virtuosen zu schätzen wusste. Ob

Clara ihre Kunst auch dem Training an einer

Fleißmaschine zu verdanken hat – dies aller-

dings entzieht sich unserer Kenntnis.

• Robert Schumann, Lithographie, Joseph Kriehuber, Wien 1839, Robert-Schumann-Haus Zwickau• Leipziger Lebensbuch II (Tagebuch), Robert Schumann, 7. Mai 1832, Robert-Schumann-Haus Zwickau• Antrag Robert Schumanns zur Aufnahme bei den Schutzverwandten Leipzigs, Schutzprotokolle 1840–1841, Stadtarchiv Leipzig• Gesuch Robert Schumanns zur Befreiung aus der Kommunalgarde, 1841, Kommunalgarde Nr. 535, Stadtarchiv Leipzig• Arztgutachten von Dr. Moritz Emil Reuter, 1841, Kommunalgarde Nr. 535, Stadtarchiv Leipzig

• Stumme Klaviatur, Pianofortefabrik von Wilhelm Gertz, Hannover um 1950• Stumme Violine, mit Decke von Johannes Robert Adler, Markneukirchen um 1950, Musikinstrumenten-Museum Markneukirchen• Stumme Violine, vermutl. Bohuslav Lantner, Prag um 1870• Stummes Violoncello, Markneukirchen, 1. Hälfte 20. Jahrhundert, Musikinstrumenten-Museum Markneukirchen • Niks Handguide, Dimitri Niks, Kalifornien/USA 2010• Hammerfl ügel, Mattäus Andreas Stein, Wien um 1820• Anzeige eines Konzertes von Clara Wieck in Halle am 28. Juli 1835, In: „Hallisches Patriotisches Wochenblatt“, Stadtarchiv Halle

Robert Schumann von Kriehuber

Stumme Violine, unsigniert

Konzertanzeige Clara Wieck

Page 2: nicht sprechen lernen“ (Robert Schumann) · dass Schumann seinen Plan aufgibt und sich schließlich ganz der Komposi-tion und dem Musikjournalismus zuwendet. Auch stumme Klaviaturen

Mit der Etablierung des bürgerlichen Musikbetriebes in der ersten Hälfte des

19. Jahrhunderts erfahren Musikinstrumentenbau, Virtuosentum, Musikun-

terricht und Musikkritik in ganz Europa einen nie gekannten Aufschwung.

Besonders auf dem Gebiet des Klavierbaus gibt es zahlreiche technische Neu-

erungen (z. B. die doppelte Auslösung durch Sébastian Érard, Paris 1821).

Die Zahl der Klavierfabriken verdreifacht sich, denn nicht nur die großen

Virtuosen wie Clara Schumann (1819–1896), Frédéric Chopin (1810–1849)

oder Franz Liszt (1811–1886) verlangen nach zuverlässigen Instrumenten,

sondern auch das musizierende Bürgertum.

Etliche Pianisten wie Muzio Clementi (1752–1832) in London oder Henri Herz

(1806–1888) in Paris nutzen geschäftstüchtig diesen Bedarf und gründen

eigene Klavierbaufi rmen. Klavierschulen mit besonderen Übungsmethoden

schießen wie Pilze aus dem Boden. Man schickt die „höheren Töchter“ zum

Klavierunterricht, wo sie sich durch Etüdenwerke durcharbeiten. Eine dieser

Sammlungen mit Übungsstücken aus der Feder Muzio Clementis trägt den

programmatischen Titel „Gradus ad Parnassum“. Gemeint sind die Stufen

zum Parnass, zum Musentempel – d. h. zum großen Erfolg.

Mechanische Übungsapparate für Klavierspieler werden entwickelt, die hel-

fen sollen, den Körper zu beherrschen und die Technik zu verbessern. Zu

den ersten Apparaten gehört der „Chiroplast“, erfunden 1814 in Dublin von

Johann Bernhard Logier (1777–1846). Bei dieser Apparatur werden die Arme

mittels einer Leiste horizontal gelagert und die Finger in Führungslöcher aus

Messing gesteckt. Sie ist Bestandteil einer Unterrichtsmethode, die große

Verbreitung fi ndet. Dagegen scheint es sich bei einer Vorrichtung für auf-

rechtes diszipliniertes Sitzen am Klavier, abgebildet in einem orthopädischen

Atlas von 1828 um ein Phantasieprodukt zu handeln.

Eine Weiterentwicklung und Vereinfachung des „Chiroplasten“ verfolgt

1831 in Paris der Klaviervirtuose Friedrich Kalkbrenner (1785–1849) mit sei-

nem „Handleiter“. 1836 entwickelt Henri Herz das „Dactylion“, bei dem Rin-

ge in einem Gestell über der Tastatur zum Krafttraining einladen. Dagegen

sind die Fingerfi tness-Stationen des „Chirogymnasten“ von Casimir Martin,

Paris 1841, ohne Klavier absolvierbar. Ein spätes Gerät aus den 1920er Jah-

ren ist das „Ochydactyl“. Hier wird die eingespannte Hand mittels Kurbel

zu einer passiven gegenläufi gen Bewegung gezwungen, was zur Kräftigung

und Geläufi gkeit beitragen soll.

Klavierfabriken, Virtuosen, Klavierschulen und Etüdenwerke

oben: Gradus ad Parnassum, Muzio Clementiunten: Oeuvres complettes, Friedrich Kalkbrenner

Erfi ndung von Übungsapparaten

Jede dieser Erfi ndungen wird in den Musikzeitschriften der Zeit heftig dis-

kutiert, so auch die Klavierunterrichtsmethode von Logier. Das Ministerium

für Geistliche und Medizinal-Angelegenheiten in Preußen will sie sogar fl ä-

chendeckend einführen und holt 1822 Logier aus London nach Berlin für

eine Akademie zur Ausbildung von Musiklehrern. Zu den Berufenen gehören

Ernst Julius Hentschel (1804–1875) aus dem Lehrerseminar in Weißenfels

und Balladenmeister Carl Loewe (1796–1869) aus Stettin. Beide schreiben

ausführliche Berichte. Selbst im „Hallischen Patriotischen Wochenblatt“ von

1834 werden die Vorzüge der Logierschen Unterrichtsmethode vorgestellt.

Es heißt, dass Anfänger mit Hilfe des „Chiroplasten“ in den Stand gesetzt

werden, „die Augen einzig und allein auf die Noten zu richten, wodurch

natürlich ein schnelles Erkennen der Noten und ein sogenanntes Vomblat-

tespielen außerordentlich befördert wird.“ Anklang fi ndet auch der mit

dieser Methode propagierte Gemeinschaftsunterricht von sechs und mehr

Schülern, der ein strenges Takthalten sowie Lust und Fleiß durch Wetteifer

mit sich bringt. Dass dieser Gruppenunterricht gegen ein geringes Honorar

erteilt werden kann, entspricht dem Geschäftssinn der Zeit. Scharfe Zungen

sprechen gar von einer „Klavierfabrik“.

Der Chiroplast im Visier der Zeitgenossen

Exponate der Sonderausstellung:• Gradus ad Parnassum, Muzio Clementi, Leipzig : Breitkopf & Härtel• Oeuvres complettes, Friedrich Kalkbrenner, Leipzig : Probst• Modell einer Skeletthand, Meckelsche Sammlungen, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg• De l‘orthomorphie ou de l‘art appelé orthopedique, Jacques Matthieu Delpech (1777–1832), Paris 1828, Martin-Luther-Universität Halle-Witten- berg, Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt

• The fi rst Companion to the Royal Patent Chiroplast, 6. Aufl age, Johann Bernhard Logier, London 1821, Robert-Schumann-Haus Zwickau• Dactylion, Henri Herz, Verkaufsanzeige, In: „Neue Zeitschrift für Musik“, Leipzig 1836, Robert-Schumann-Haus Zwickau• Tafel mit Erläuterungen zum „Dactylion“ und „Chirogymnasten“ • Ochydactyl, Georges Retif, Frankreich um 1925

• Beschreibung und Kritik der Methode von Logier, In: „Allgemeine Musikalische Zeitung“ Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt• Die Logiersche Methode beim musikalischen Unterricht, Ernst Julius Hentschel, In: „Der Volksschullehrer“, Halle 1824, Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt• Über Logiers Musik-System, Carl Loewe, In: „Berliner Allg. Mus. Zeitung IV“, Berlin 1825, Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt• Einige Worte über die Logiersche Unterrichtsmethode beym Pianofortspiele, Univer- sitätsmusiklehrer Helmholz, In „Hallisches Patriotisches Wochenblatt“, Halle 1834

De l‘orthomorphie ou de l‘art appelé orthopedique

Logiers Chiroplast, AMZ 1818

Helmholz über die Logiersche Unter-richtsmethode