Nicolaus Von Cues - Schriften in Deutscher Übersetzung, Heft 12 Vom Nichtanderen (Ocr)

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  • Schriften des

    NIKOLAUS VON KUES

    in deutscher bersetzung

    Im Auftrag der Heidelberger Akademie der Wissenschaften

    herausgegeben von

    ERNST H O FFM A N N f PAUL WILPERT f und KARL BORMANN

    Heft 12

  • N IK O L A U S V O N KUES

    Vom Nichtanderen(De li non aliud)

    bersetzt und mit Einfhrung und Anmerkungen herausgegeben von

    PAUL WILPERT t

    FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

  • PHILOSOPHISCHE BIBLIOTHEK BAND 232

    1952 Erste Auflage1976 Zweite Auflage1987 Dritte, durchgesehene Auflage

    CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek

    Nicolaus :[Schriften]Schriften des Nikolaus von Kues: in dt. bers./im Auftr. d. Heidelberger Akad. d. Wiss. hrsg. von Ernst Hoffmann . . . - Hamburg: Meiner

    (Philosophische Bibliothek;...)NE: Hoffmann, Ernst [Hrsg.]; Nicolaus : [Sammlung]H. 12. Nicolaus : Vom Nichtanderen. - 3., durchges. Aufl. - 1987

    Nicolaus :Vom Nichtanderen = (De li non aliud)/Nikolaus von Kues. bers, u. mit Einf. u. Anm. hrsg. von Paul Wilpert. - 3., durchges. Aufl. - Hamburg: Meiner, 1987

    (Schriften des Nikolaus von Kues; H. 12) (Philosophische Bibliothek; Bd 232)Einheitssacht.: De li non aliud ISBN 3-7873-0743-5

    iE: Wilpert, Paul [bers.]; 2. GT

    Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg 1987 Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der bersetzung, Vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfltigung und bertragung einzelner Textabschnitte durch alle Verfahren wie Speicherung und bertragung auf Papier, Filme, Bnder, Platten und andere Medien, soweit es nicht 53 und 54 URG ausdrcklich gestatten. Printed in Germany.

  • VORWORT ZUR NEUAUFLAGE

    Die dritte Auflage bernimmt den Text der zweiten Auflage unverndert. Lediglich im Anmerkungsteil und im Literaturverzeichnis wurden einige Korrekturen und Ergnzungen vorgenommen.

    Bereits in der zweiten Auflage waren der bersetzung am Rand die Paragraphenzahlen beigegeben und der lateinische Titel (vgl. codex Monacensis Latinus 24848 fol. 131v) in De li non aliud gendert worden.

    Kln, im August 1987 Karl Bormannals Herausgeber der Schriftenreihe

  • INHALTSVERZEICHNIS

    E in f h r u n g .................................................. ..... VXXVIIIKapitel 1: Der Begriff des Nichtanderen .................... 1

    2: Das Nichtandere als Gottesbegriff . . . . 5 3: Das Nichtandere als Seins- und Erkenntnis

    prinzip ....................................................... . 74: Das Nichtandere und die Transzendentalien 9 5: Das Nichtandere als Ausdruck der Drei

    einigkeit ................................... . . . . . 136: Das Nichtandere im A n d er en ....................18

    7: Das Nichtandere als Voraussetzung allesS e in s ...................................................................... 20

    8: Das Nichtandere und die Wesenheiten . . 239: Das Nichtandere und das Universum . . . 27

    10: Die Teilhabe am Nichtanderen ....................3111: Substanz und Akzidens 3412: Die Materie als M glichkeit......................... 38

    13: Z usam m enfassung.............................................4014: Florilegium aus Ps.-D ionysius.........................44

    15: Auslegung der Zitate: Gott als das Nichtandere .................................................................56

    16: Auslegung der Zitate: Gott als Zeit undAugenblick .................... ........................ 58

    17: Auslegung der Zitate: Gott als das transzendentale E i n e ............................................ 62

    18: Kritik des Aristoteles. I Die Mngel der Substanzlehre .......................................................64

    19: Kritik des Aristoteles. II. Die Grenzen derrationalen L o g ik .................... ........................ 67

    20: Platon und das Nichtandere . . . . . . 7021: Platons Geheimlehre . ................................... 7322: Gott und begriffliches E rk en n en .................... 77

  • IV Inhaltsverzeichnis

    23: Gott als W e r t .................................................- 8 024: Gott als Geist . . ......................... . . 83

    Stze (Thesen) des verehrungswrdigen Kardinals Nikolaus ber die Bedeutung des

    Nichtanderen ......................... ......................87Anmerkungen zur E infhrung............................................. 96Anmerkungen zum Text ........................................99Literaturnachweis......................................................................207Verzeichnis wichtiger Begriffe

    A. Lateinisch-deutsch .......................................................211B. Deutsch-lateinisch ....................................................... 215

  • E i n f h r u n g

    Jeder Glubige trgt in seinem Herzen ein Bild Gottes. Die Zugehrigkeit zu einer Kirche und die Anerkennung ihrer Lehren gibt fr dieses Bd nicht mehr als den Rahmen. Kirchliche Definitionen umgrenzen den Glaubensbesitz und wehren Fehldeutungen ab. So wird die Einheit Gottes in der Dreifaltigkeit der Personen, seine Ewigkeit und Unvernderlichkeit, seine Allurschlichkeit, seine Geistigkeit und seine Transzendenz, d. h. seine Verschiedenheit von der Welt als seiner Schpfung zum gesicherten Glaubensgut erklrt. Die Glaubenslehre entwickelt aus solchen Einzelzgen einen Gottesbegriff, den wir als kennzeichnendes Merkmal der christlichen Kirchen empfinden. Sicherlich ist damit auch die gemeinsame religise berzeugung gegeben, die alle Glubigen der Kirche eint.

    Aber die Kirche ist Mittlerin, Verkndigerin und Bewahrerin der Lehre. Etwas anderes ist der Lehrer und die Aufnahme seiner Lehre, und religises Leben wird die dogmatische Lehre nur, soweit sie in den Seelen der Glubigen auf genommen und erfat wird. So geben alle Formulierungen der kirchlichen Lehre noch nicht den Gottesbegriff wieder, den der einzelne mehr oder weniger klar in seinem Herzen trgt, und aus dem sein religises Leben atmet. Sie sind ein Rahmen, auerhalb dessen nach dem durch die Kirche bewahrten Zeugnis der Offenbarung die Wahrheit nicht bestehen kann, aber sie sind nur ein Rahmen, noch nicht das Bild; sie sind ein Schutzwall gegen den Irrtum, aber noch nicht das Leben, das dieser Wall zu schtzen hat. Der Auenstehende mag diese Mauern der Definitionen als Einengung empfinden, so wie der im brgerlichen Leben Strauchelnde die gesetzlichen Vorschriften als Beschrnkung seiner Freiheit betrachtet. Fr den guten Brger sind sie die Umfriedungen, die er meist fast

  • VI Einfhrung

    vergit, die aber erst sein Leben in Freiheit mglich machen und es vor dem dauernden Kampf um die elementarsten Voraussetzungen eines geordneten Daseins bewahren. So wird auch der Glubige diese Umfriedung nicht als Fesseln empfinden, sondern als Richtlinien, innerhalb deren sich erst das wahre Leben in Freiheit und Sicherheit entfalten kann. Er wird nicht von dogmatischer Enge, sondern von dogmatischer Weite sprechen, von dem Spielraum der freien Entwicklung, der ihm nicht trotz, sondern durch die Abwehr des Irrtums gegeben ist.

    Die Gesetze begrenzen den Weg der Ordnung nach rechts und links, der Brger aber wird diesen Weg nicht in Freiheit gehen, wenn er nur auf diese Grenzlinien den Blick richtet und nicht ein positives Ziel anstrebt, zu dem diese Grenzlinien weisen. Der Glaube wird nicht Leben gewinnen, wenn der einzelne nur die Formeln der kirchlichen Lehre sich einprgt, sie mssen sich ihm runden zu einem lebendigen Bild seines Gottes. Und hier bleibt innerhalb der gleichen christlichen Kirche ein weites Feld fr Schattierungen und Nuancierungen, die ihre Wurzel im persnlichen Erleben, im Lebensschicksal oder im Charakter der Person haben. Es ist christlich, die Heiligkeit Gottes in strahlender Klarheit und Lauterkeit zu erleben und demgegenber die eigene Unwrdigkeit und Verworfenheit so stark zu empfinden, um sein Heil in Furcht und Zittern zu wirken. Es ist aber ebenso christlich, diesen allheiligen Gott als gtigen Vater zu verehren, in dessen Hnden man sich vertrauensvoll geborgen wei und aus dessen Frsorge Glck und Unglck als Gnadenfgung empfangen werden. Es ist christlich, in Gott den ber alles geschpf- liche Sein unendlich erhabenen Urgrund und Schpfer alles Seins zu sehen, und es ist ebenso christlich, die gttliche Allgegenwart und Allurschlichkeit erschauernd zu erfahren. Christliche Weite trgt den Anachoreten und Buprediger ebenso im Sche der einen Kirche wie den Mystiker.

    Im Gegensatz zu der dogmatischen Formulierung lt sich dies persnliche Gottesbild des Glubigen nicht in Begriffen beschreiben. Der sprachliche Ausdruck reicht nicht

  • Einfhrung VII

    hin, die Flle des Lebens zu fassen, er ist immer auf Abstraktionen angewiesen, und gerade der lebendige Strom entgleitet ihm. Ein Denker wird gewi das Bedrfnis empfinden, das, was er selbst erlebt, auch anderen mitzuteilen, denn er erlebt ja dieses Gottesbild nicht als nur ihm selbst gehrig, sondern als objektiv und unabhngig von ihm wirklich. Es ist die Form, in der sich die Wirklichkeit Gottes ihm erschliet.

    Freich erhebt sich noch eine andere Schwierigkeit bei diesem Versuch, anderen Mitteilung zu machen von dem Bilde, das der einzelne selbst schaut und das sein gesamtes Leben erfllt. Liegt die erste Schwierigkeit in den Mngeln der zwischenmenschlichen Verstndigung, die gerade vor dem, was uns zuinnerst bewegt, die Zunge verstummen und jeden Ausdruck als schal und unzulnglich erscheinen lt, so birgt das Erlebnis Gottes fr die Mitteung ein Hindernis besonderer Art. Fr alle anderen Gegenstnde der Auenwelt und selbst fr die Vorgnge des eigenen Innern gibt es Analogien und Gleichheiten in der Erfahrungswelt des Mitmenschen, an die die Verstndigung anknpfen kann. Dagegen gehrt es zur gemeinsamen Lehre der Dogmatik wie der Mystik, da Gott von allem, was wir kennen, so verschieden ist, da kein menschlicher Begriff zureicht in der Beschreibung seines Wesens. Aus dieser Auffassung heraus hat sich schon in der griechischen Philosophie, besonders im Neuplatonismus, der Gedanke entwickelt, es sei besser, von Gott alle Prdikate, die wir sonst auf einen Gegenstand anwenden knnen, zu verneinen als irgendeine positive Aussage von ihm zu machen1. Die Mystik aber spricht von dem Nebel, in dem Gott sich der Schau erschliet und betont geradezu als Kriterium fr die Echtheit eines mystischen Gotteserlebnisses, da es unmitteil- bar sei.2

    Nikolaus von Gues ist glubiger Christ, philosophischer Denker und Mystiker zugleich. Wir wissen nicht viel von dem inneren Leben dieses Mannes, der im Scheinwerferlicht des ffentlichen Lebens sich in rastloser Ttigkeit verbraucht und die Tragik des Denkers erlebt, der zugleich

  • VIII Einfhrung

    unmittelbar auf die untere Welt wirken will, in der frs Erste nicht die bessere Idee, sondern die strkere Gewalt entscheidet*. Die Biographen sind den Einzelheiten dieses ungewhnlichen Lebens nachgegangen, sie haben den Politiker und Diplomaten der Kirche oder den groen Philo- sophen, den seinerzeit vorauseilenden genialen Denker geschildert. So tiefe Aufschlsse sie uns dabei auch ber die Motive seines Denkens und Handelns geben, der Mensch Nikolaus harrt noch des nachempfindenden Geschichtsschreibers. Dieser stnde keineswegs vor einer unlsbaren Aufgabe, denn der Mensch und Christ Cusanus verbirgt sich durchaus nicht in seinen Schriften. Nicht nur die Predigten und Briefe, auch die phosophischen Werke sind nicht der Ertrag eines khl spekulierenden Verstandes, der klar und logisch seine Gedankenketten fgt, sondern berall offenbart sich das glhende Herz, das dem Denken Aufgaben stellt und sich selbst Rechenschaft ber seine Gesichte abfordert.

    In der Seele des Kardinals gibt es keinen Gegensatz zwischen Wissen und Glauben, zwischen dem forschenden Verstand und seinen Erkenntnissen einerseits und den Lehren der Kirche und dem Wahrhaftigkeitsgehalt der Offenbarung andrerseits. Er fhlt sich als Denker vollkommen frei und kann sich nicht vorstellen, da sein Denken ihn in Widerspruch zum Glauben fhren knnte. Im Sinn des alten Anselmischen Wortes sucht er im Denken die Erfllung und Erhellung, die Klrung dessen, was er glaubend besitzt4.

    Die Frage aller Fragen, von deren Beantwortung nicht nur die Deutung der Welt, sondern auch die Sinngebung des menschlichen Lebens abhngt, ist die Frage nach Gott, nicht so sehr die Frage nach dem Dasein eines hchsten Wesens, eines Urgrunds aller Dinge, als die Frage nach seinem Wesen. Da Gott ist, das ist fr den Philosophen Nikolaus kein qulendes Problem. Man hat bei ihm auch Gottesbeweise festgestellt und darauf hingewiesen, da verschiedene Gedankengnge in seinen Schriften sich mit dem Nachweis der Existenz Gottes beschftigen. Aber man wird

  • Einfhrung IX

    immer wieder zu Deutungen gezwungen, die dem Denken des Cusanus fernliegen, wenn man solche Schlureihen als Gottesbeweise im Sinn der thomistischen fnf Wege der Gotteserkenntnis auffat5. Das Verfahren des Thomas liegt der Haltung des modernen Denkens nher, das absieht von dem, was der Glubige als berzeugung und Gewiheit in sich trgt und in methodischem Zweifel aus den Tatsachen der Erfahrung zurckzuschlieen versucht auf einen letzten Grund dieser Dinge. Man kommt in die gleiche Verlegenheit, sobald man es unternimmt, das berhmte ontologische Argument des Anselm als Gottesbeweis im thomistischen Sinn zu verstehen. Zum Begriff eines denkbar vollkommenen Wesens gehrt selbstverstndlich, da dieses Wesen notwendig aus sich selbst heraus existiert, aber die Frage ist eben, ob es ein denkbar vollkommenstes Wesen berhaupt gibt. Kant hat mit Recht dem Argument einen Sprung von der logischen in die ontologische Ordnung vorgeworfen, aber damit Anselm dasselbe historische Unrecht zugefgt wie schon Thomas. Das Argument soll, so wie es im Proslogium des Erzbischofs von Ganterbury steht, nicht dem Zweifler das Dasein Gottes unbedingt und unbezwei- felbar gewi machen, sondern es soll dem Glubigen seinen Begriff Gottes mit mehr Farbe und Leben erfllen. Es weist ihn darauf hin, da dieses Wesen, das er als Gott verehrt, aus sich mit innerer Wesensnotwendigkeit sein Dasein besitzt. Im Sinne dieses den Glauben strkenden und frdernden Wissens sind auch die Gottesbeweise des Cusanus zu verstehen, so seine vieldiskutierte Abwandlung des ontologischen Arguments, wonach Gott das absolut Grte ist, das mit dem absolut Kleinsten zusammenfllt und deshalb notwendiges Dasein hat6.

    Dieser und hnliche Gedankengnge sind nicht so sehr Argumente, um das Dasein Gottes zu erweisen, sondern um den Gottesbegriff selbst klarer zu umschreiben. Cusanus formuliert in ihnen, was als Bild Gottes in seiner Seele lebt, und ein wesentlicher Zug dieses Bildes ist fr ihn die Tatsache, da Gott die einzige Ursache der Welt ist. Dieses Merkmal gehrt zu allen christlichen Gottesvorstellun-

  • X Einfhrung

    gen. Bei einigen frhchristlichen Schriftstellern der ersten Jahrhunderte mag die Wendung, da Gott die Welt aus Nichts schuf, noch einen Beigeschmack haben, den sie fr einen Stoiker oder Neuplatoniker haben mute, welche die Materie als Nichts bezeichneten und damit bei einer Schpfung aus Nichts wohl eine Art Dualismus verstehen konnten, bei dem Gott als der Weltenordner die gestaltlose Materie formt und als waltender Logos in Ma und Gesetz gestaltet. Aber seit der Auseinandersetzung mit den gnostischen Systemen war der christliche Begriff der Schpfung aus dem Nichts eindeutig im Sinn einer Erschaffung auch der Materie klargestellt. Doch es ist etwas anderes, als Christ um diese Alleinurschlichkeit Gottes zu wissen und sich diese Tatsache in ihrer ganzen Tragweite bewut zu machen. Kann der Christ mit seinem Bewutsein von der schpferischen Alleinwirksamkeit Gottes zu einem Weltbild kommen, das die Schpfungstat als geschichtliches Ereignis an den Anfang des Weltgeschehens stellt, wie es die bildliche Einkleidung des biblischen Schpfungsberichtes nahelegt, um dann die Welt nach immanenter, vom Schpfer in sie gesenkter Gesetzlichkeit ablaufen zu lassen, so mu eine tiefere Versenkung in die Alleinurschlichkeit Gottes den Schpfer als tragenden Grund alles geschpflichen Seins entdecken, ohne dessen fortwhrenden Erhaltungswillen die ganze Schpfung sofort in nichts zerfiele. Richtest du deinen Blick auf Gott, wie er in den Dingen der Schpfung west, so hat es den Anschein, als seien die Dinge etwas, in dem Gott ist. Aber das ist eine Tuschung. Nimm Gott hinweg von der Schpfung, und es bleibt nichts.7 Wenn schon Wenck dem Cu- saner einen monistischen Pantheismus vorgeworfen hat8, und neuere Erklrer ihm darin folgten9, so gaben ihnen gerade die Stellen einen Anschein des Rechts, in denen Cusanus die Allurschlichkeit Gottes zu fassen sucht. Aber es kommt nicht auf den Wortlaut allein an, sondern auf den Geist, in dem sie gesagt sind, und hier kann kein Zweifel sein, worum es Cusanus geht, und da ihm selbst ein Pantheismus fernliegt. So vergleicht er unmittelbar nach

  • Einfhrung XI

    der eben zitierten Stelle das Verhltnis Gottes zur Welt mit dem Verhltnis von Substanz und Akzidens. Aber der Sinn dieses Vergleichs liegt fr ihn nicht in der Abhngigkeit der Akzidenzien von der Substanz, sondern wichtiger ist ihm zu betonen: Die Substanz kann nicht ohne Akzidenzien sein, Gott aber ohne die Schpfung. Es geht ihm in all diesen Bildern nicht um die Immanenz Gottes, sondern um die Betonung der Abhngigkeit und Nichtigkeit alles kreatrlichen Seins.

    Gusanus kennt die in seiner Zeit traditionelle Philosophie des nominalistischen Aristotelismus, und man knnte Seiten fllen mit dem Nachweis, wie viel er ihr verdankt. Er folgt denPeripatetikern in der Frage der Universalien10, er lobt die aristotelische Kategorieneinteilung, vor allem seine Scheidung zwischen Substanz und Akzidens11, bernimmt die Lehre, da die Substanz nicht der Frage nach einem'Mehr oder Weniger an substanzieller Wesenserfllung zugnglich ist12, da man in der Kette der Ursachen nicht bis ins Unendliche fortschreiten kann13, und er fhlt sich innerlich angesprochen durch die aristotelische Feststellung, da es zwischen Endlichem und Unendlichem keine Vergleichsmglichkeiten gebe14. Seine gesamte Metaphysik ruht auf der Materie-Formlehre auf. Die Nachwirkung der aristotelischen Erkenntnistheorie15 und der aristotelischen Psychologie wre nicht weniger deutlich nachzuweisen. Es ist kein Zweifel, da Nikolaus den Aristotelismus in seiner Studienzeit kennenlernte und zeitlebens sich bestimmte berzeugungen bewahrte. Aber sein Serz fhlte sich mehr berhrt von dem philosophischen System des Platonismus, in das er sich immer mehr vertiefte. Hier fand er das Gottesbild, das er in der Seele trug, besser gewahrt. Dieses Philosophieren, das nicht von der empirischen Wirklichkeit aus den Aufstieg zu Gott suchte, sondern umgekehrt aus dem Absoluten das Relative zu begreifen strebte, entsprach besser der Vorstellung des allmchtigen Urhebers der Welt, und so wird der Satz, den er bei Ps.-Dionysius fand, da Gott alles in allem sei, zur Grundlage seiner Gotteslehre, und mit dem

  • XII Einfhrung

    gefeierten Vermittler des Neuplatonismus an das christliche Mittelalter fgt er den eine pantheistische Deutung dieser Wendung ausschlieenden Nachsatz hinzu: aber Gott ist keines von den uns bekannten Dingen.

    Und noch ein Zweites ist dem glubigen Menschen Nikolaus wichtig an seinem Gottesbild, das eng mit der Allein- Urschlichkeit Gottes zusammenhngt: seine Erhabenheit ber alles irdische Begreifen. Auch das ist eine aller christlichen Philosophie gemeinsame berzeugung. Aber man kann ihr in verschiedener Weise Rechnung tragen. Die aristotelische Scholastik hatte im Gefolge der aristotelischen Lehre von der analogen Prdikation des Seinsbegriffs die nur analoge Aussage aller Begriffe von Gott gelehrt und hatte den Erkenntniswert dieser Analogie festzustellen versucht. Die Analogie war ihr das Mittel, mit dem sie trotz der anscheinend unberbrckbaren Kluft zwischen dem unendlichen Schpfer und der endlichen Schpfung zu einer affirmativen Theologie zu kommen suchte und das ihr positive Aussagen ber Gott gestattete, die freilich nur im analogen Sinn der Begriffe gelten sollten. Im Grunde lt sich die negative Theologie durch die gleiche berzeugung von der unendlichen Erhabenheit Gottes ber alles geschpfliche Sein leiten. Sagt die affirmative Theologie: Wenn wir Gott als Ursache, als gtig, wahrhaftig bezeichnen, so haben alle diese Begriffe nicht die gleiche Bedeutung, die sie in unseren Aussagen ber irdische Dinge haben, sondern gelten nur in analogem Sinn, so geht die negative Theologie einen Schritt weiter: Gott ist Ursache nicht in dem Sinn, wie wir sonst von Ursache sprechen, wir mssen bei einer solchen Aussage von all dem absehen, was wir an empirischen Ursachen als zum Begriff der Ursache gehrig erkennen, d. h. indem wir den Begriff der Ursache auf Gott anwenden, sind wir immer in der Gefahr, der gttlichen Urschlichkeit etwas zuzuschreiben, was ihr nicht gem ist. Es ist infolgedessen entsprechender, Gott nicht durch analoge Anwendung empirischer Begriffe zu bestimmen, sondern ihn als den ganz Anderen nur dadurch zu beschreiben, da wir alles ge-

  • Einfhrung XIII

    schpfliche Sein, das uns allein bekannt ist und nach dem wir unsere Begriffe formen, von ihm verneinen. Eindeutiger als die Aussage: Gott ist Ursache in einem analogen Sinn dieses Begriffs, ist die andere: Gott ist nicht Ursache im empirischen Sinn dieses Wortes.

    Gusanus kennt beide Theorien und sucht ihnen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen16. Analogie wie Negation haben beide die Aufgabe, alles kreatrliche Sein aus der Sprache unseres Erkennens abzustreifen. Es hat ja nur Sein durch die Teilhabe am seinserhaltenden Urgrund. Streifen wir darum die Teilhabe ab, so bleibt nur dieser letzte Wesensgrund aller Dinge17. Da aber die Teilhabe nur Teilhabe ist und nicht das Ganze, ebenso wie das Bild nur Bild ist und nicht das Original, so ist es im Vergleich mit dem Ganzen oder Original, dem an sich Wirklichen, ein Nichtwirkliches, eine Negation. Die Verneinung der ge- schpflichen Eigenschaf ten undihrAbstreifen bei allen Aussagen von Gott ist also eigentlich eine Verneinung der Verneinung, ein Abweisen des Nichtseienden18. So gewinnt Gusanus seine Methode der transsumptio, des nicht mehr rational fabaren, nur mehr der geistigen Schau sich offenbarenden bersteigens aller begrifflichen Inhalte, um zum Absoluten vorzudringen. Er erlutert diese Methode vor allem an mathematischen Beispielen19. Die Gre ist ein quantitativer Begriff, wenn wir sie in ihrer Anwendung in dem uns bekannten Bereich der groen Dinge nehmen. Aber ein Vergleich mit dem Wortgebrauch bei allen Steigerungen zeigt, da wir auch von Gre sprechen, wo keine Quantitt im Spiele ist. Wir sprechen von groem Wissen und groer Einsicht und haben damit einen Begriff der Gre, der mit krperlicher Quantitt nichts gemein hat. Aber wenn wir von grter Einfachheit oder grter und absoluter Unteilbarkeit sprechen, dann verschwindet auch jeder Schein von Quantitt, wir haben also den Inhalt des Begriffes Gre so umzuformen, da alle sinnlich wahrnehmbare Gre nur mehr als Abbild und Spiegel der wahren Gre erscheint20. Rational ausdrckbar ist solches bersteigen nicht mehr, aber es ist eine geistigeNherung

  • XIV Einfhrung

    an das Absolute und somit ein nichtfassendes Fassen, ein Erkennen, das doch kein Erkennen im blichen Sinn ist. Diese Methode des bersteigens ist die Methode der docta ignorantia, des wissenden Nichtwissens. Die cusanische Methode und die cusanische Erkenntnistheorie sind angepat an das Bild Gottes, das der Denker schaut.

    Noch ein drittes Merkmal dieses Gottesbildes, das der glubige Mensch Gusanus in seinem Herzen trgt, wird fr sein Denken von grundlegender Bedeutung. Da Gott dreieinig ist, wei jeder Christ, es gehrt zu den Grundlehren seines Glaubens. Aber wenn Thomas seine Gottesbeweise entwickelt, so kommt er zu einem geistigen, ewigen und aus sich existierenden Urheber alles geschaffenen Seins. Die Trinitt ist Offenbarungsgut, das mit dem philosophischen Gottesbegriff nichts zu tun hat. Fr den Philosophen ist Gott der Seiende, der Unendliche und Eine. Die Problematik der Trinittslehre liegt jenseits der philosophischen Spekulation. Sie liegt aber auch jenseits der mystischen Versenkung. Diese erlebt entweder das Innewohnen Gottes in der Seele, die Vergttlichung des Menschen oder das Versinken des Menschen in Gott, oder sie erlebt die Mittlerschaft des Wortes, das Herabsteigen des Sohnes und in ihm den Weg, der die sich nach Gott sehnende Seele zum Vater fhrt. Cusanus war derjenige philosophische Denker des Mittelalters, dessen Lehre als Ganzes grundstzlich im Begriff der vollen Trinitt, ja vorzglichimBegriff des heiligen Geistes gegrndet war*1, so bemerkt E. Hoffmann mit Recht. Fr Nikolaus vonCues ist Gottes Wesenheit dreieinig, und ein Gottesbegriff, der diesem Wesenscharakter der Gottheit nicht Rechnung trgt, kann nicht darauf Anspruch erheben, ein adquater Begriff Gottes zu sein. Es ist selbstverstndlich, da ihn deshalb alle Versuche einer trinitarischen Deduktion oder Benennung Gottes interessieren mssen, und wir finden die Spuren solchen Interesses allenthalben in seinen Schriften28. Aber man darf wohl ebensowenig von einem Beweisen der Trinitt28 im Schrifttum des Nikolaus sprechen, wie man nicht von einem Beweis fr das Dasein Gottes

  • Einfhrung XV

    reden kann, es gilt vielmehr, einen Gottesbegriff zu prgen, der die Selbstentfaltung Gottes zur Dreipersnlichkeit gleichnisweise wiedergibt, und je mehr ein Begriff neben anderen Anforderungen auch dieser Aufgabe gengt, um so eher knnen wir ihn als angemessenen Begriff Gottes erachten24.

    Man knnte nun das gesamte Philosophieren des Gu- saners als ein fortwhrendes Ringen um einen immer besseren Begriff Gottes schildern, und er sieht es gelegentlich selbst unter diesem Gesichtspunkt25. Er versucht, dem Bild Gottes, das er mit dem Auge seiner Seele schaut, in Worten immer besseren und vollkommener enAusdruck zu verleihen. So bernimmt er bereits in der Docta ignorantia die augu- stinische Trinittsformel von der ewigen Einheit, Gleichheit und Vereinigung (unitas, aequalitas, connexio) und versucht, ihre notwendige Einheit durch den Begriff der Ewigkeit zu gewinnen26. ber eine Reihe von weiteren Versuchen27 kommt er schlielich zum Begriff des Nichtanderen. Die Aufgabe eines trinitarischen Gottesbegriffs, die Dreiheit in der Einheit, also eine Dreiheit, die nichts mit zahlenmiger Vielheit zu tun hat, zu bezeichnen, scheint ihm in diesem Begriff am besten gelst. Das Nichtandere ist nichts anderes als das Nichtandere. Der Urgrund alles Seins, der notwendigerweise durch nichts anderes bestimmt werden kann und damit die Definition seiner selbst sein mu, enthllt sich in diesem Namen selbst als dreifltig; seine Definition ist die dreifache Wiederholung des Namens, sie zeigt nicht nur, da dieses Wesen sich selbst bestimmt und keines anderen zur Bestimmung bedarf, sie offenbart auch die Dreifaltigkeit dieses Wesens in unlsbarer Einheit.

    Die Schrift Vom Nichtandern erscheint uerlich vielleicht als das abstrakteste unter allen Werken desGusanus. Aber man wird ihm nicht gerecht, wenn man es nur als begriffliche U nt er suchung nimmt, wobei man in V ersuchung geraten mu, vieles in ihm als begriffliche Spielerei abzu* werten. Wenn da im Anfang nach einer Definition gefragt wird, die sich selbst definiert, und damit die ganze Unter-

  • XVI Einfhrung

    Buchung scheinbar in einer rein logisch-abstrakten Ebene gefhrt wird, so kann man schon diesem Fragen nach einer Definition, die sich selbst definiert, nur dann einen Sinn abgewinnen, wenn man das eigentliche Anliegen im Auge behlt. Wie Gott allem Seienden das So-sein und das Dasein verleiht, wie er das Wesen aller Wesen ist, so mu eine begriffliche Bestimmung Gottes sich als Definitionsgrund alles Soseins erweisen, und wie Gott in sich abgeschlossen und durch sich selbst seines Wesens gewi ist, so darf der Begriff Gottes nicht durch andere Begriffe er- luterbar und erklrbar sein. DieseLeistung findet Gusanus im Begriff des Nichtanderen, denn es lt sich nicht nur durch keinen anderen Begriff erklren, sondern es erklrt sich auch selbst, und zwar in der Form der dreifachen Wiederholung des gleichen Wortes, womit zugleich die Dreifaltigkeit Gottes wiedergegeben ist. Keinen kann berraschen, wenn der Kardinal mit der Entwicklung dieses Gottesbegriffes am Ziel seines Bemhens angekommen zu sein glaubt, fr das unaussprechliche Wesen Gottes einen mglichst adaequaten Ausdruck zu finden. Fr ihn hat ja auch der Begriff keinen negativen Sinn, der ihm dem Wortlaut nach anzuhaften scheint. Schon Platon hatte als das letzte Prinzip alles Seienden neben dem Einen die unbestimmte Zweiheit bezeichnet28, wofr dann der Neupla- tonismus den schon bei Platon vorkommenden Ausdruck des Anderen whlte. Die Einheit und die Andersheit erscheinen als Prinzipien des Seienden in der gesamten neuplatonischen Tradition, jedoch wird nunmehr die Andersheit als etwas Spteres, aus der Einheit sich Entfaltendes dargestellt, und damit an die Stelle des ursprnglichen platonischen Dualismus ein Monismus gesetzt. Gerade diese Wandlung aber lie den Neuplatonismus als geeigneten Ausdruck der christlichen Schpfungslehre erscheinen. Der Zusammenhang dieser Gedanken legt es nahe, das Andere als das Nichteine, als das Negative gegenber dem absolut Positiven des Einen zu sehen. In dieser Auffassung lebt auch Gusanus. Sie entspricht ganz seiner Schau des Verhltnisses von Gott und Welt. Gegenber dem in sich

  • Einfhrung XVII

    ruhenden Sein des Schpfers ist die Schpfung das Andere, das getragene, abgeleitete Sein, das nicht im eigentlichen Sinn Seiende. Das Nichtandere ist dagegen die negatio negationis, die Verneinung der Verneinung, die absolute Setzung.

    Die Entdeckung dieses Gottesbegriffs mu begreiflicherweise dem Denker sehr viel bedeutet haben. Um so merkwrdiger ist das Schicksal der Schrift, in der er ihn zum ersten Male entwickelte. Sie ist weder in einer der alten Ausgaben seinerWerkeenthalteQund fehlt sogar in der Sammlung seiner Schriften, die unter seiner eigenen Anleitung in den letzten Lebensjahren veranstaltet wurde. Diese Zusammenstellung ist uns in zwei Handschriften der Stifts- bibliolhek in Cues erhalten, die heute noch in dem von Gusanus gestifteten Nikolausspital in seiner Heimatstadt verwahrt werden. Wir knnen uns dieses eigenartigeber- gehen einer so wichtigen und offenbar auch in den letzten Werken noch durchaus als gltig anerkannten Schrift wohl kaum anders erklren, als da der Kardinal sie noch nicht fr ausgereift genug hielt, um sie seinen anderen Schriften beizuzhlen. Nur so erklrt sich auch das Fehlen jeglicher Abschriften. Man knnte eine Besttigung dieser Vermutung in einer etwas sprunghaften Weise der Gesprchsfhrung sehen, wenn die Gesprchspartner des Kardinals von Gapitel zuCapitel die Entfaltung des Grundthemas an anderen Einzelheiten verlangen und damit die Gelegenheit geben, die Fruchtbarkeit des neuen Begriffes an der gesamten Kosmologie und metaphysischen Theologie aufzuzeigen. Es macht fast den Eindruck, als habe Gusanus die Themen der Gapitel und damit den Aufbau der Schrift skizziert, ohne eine letzte glttende Hand an das Ganze anzulegen, die vielleicht den Rahmen etwas straffer htte spannen sollen. Aber es kann kein Zweifel sein, da die Gedankenfhrung festliegt, und so knnten diese nderungen, wenn sie beabsichtigt waren, kaum grundstrzender Natur sein. Da Gusanus selbst in einer spteren Schrift die Arbeit erwhnt und auf sie verweist, sucht der Herausgeber des Gusanischen Werkes Johannes Faber

  • XVIH Einfhrung

    Stapulensis berall nach der verlorenen Schrift. Wir wissen von dem umfangreichen Briefwechsel, in dem er alle inFrage kommendenKreise um ihre Hilfe bei diesenNach- forschungen bittet*9. Und doch war zu jener Zeit ein bekannter Humanist im Besitz des Werkes. Der Nrnberger Hartmann Schedel hatte sich schon im Jahre 1496 eine Kopie gemacht. Wo er die Schrift gefunden hatte, wissen wir nicht, ebensowenig, ob er das Cusanische Original zur Verfgung hatte, oder ob er selbst schon sich nur einer Kopie bedienen konnte. Er hatte sie jedenfalls in Nrnberg zur Verfgung, wo er sie am 6. April dieses Jahres abschrieb. Mglicherweise wurde Schedel das Werk durch die Vermittlung des Abtes Trithemius von Sponheim zugnglich, der in seiner Geschichte der Kirchenschriftsteller (Descrip- toribus ecclesiasticis), die im Jahr 1494 in Mainz erschien, das Werk des Cusanus mit dem Anfang desTextes erwhnt, also die Schrift wohl selbst in der Hand hatte. In der Vorlage Schedels war ein Blatt an eine falsche Stelle geraten, was der Kopist nicht bemerkte80. Diese Kopie Hartmann Schedels, die Johannes binger im Jahr 1888 in Mnchen entdeckte81, ist heute unsere einzige Quelle.

    Selbst ber den Titel der Schrift besteht keine bereinstimmung. In de venatione sapientiae sagt der Kardinal88: ber das Nichtandere habe ich ausfhrlich in einem Gesprch zu vieren gehandelt, das ich im vergangenen Jahr in Rom verfate. Diese Stelle erwhnt auch Schedel zu Beginn seiner Abschrift. Sie scheint also der Anla fr ihn gewesen zu sein, nach der Schrift zu suchen, hnlich wie einige Jahre spter Faber Stapulensis. Die Kopie selbst aber trgt bei Schedel den Titel Directio speculantis, und auch Trithemius zitiert sie so. Faber Stapulensis, der die Schrift nicht kannte, suchte nach der Leitung des Suchenden und dem Nichtanderen als nach zwei verschiedenen Werken, und noch in der Gegenwart ist die Kontroverse ber ihre Identitt nicht ganz erloschen. Es besteht aber kaum ein einleuchtender Grund, den beiden Zeugen zu mitrauen, welche die ganze Schrift gegen Ende des 15. Jahrhunderts in Hnden hatten, dem Abt Trithe-

  • Einfhrung XIX

    mius und dem Humanisten Schedel. Demnach drfte Leitung des Suchenden als Titel festzuhalten sein, worauf der Verfasser in den letzten Kapiteln der Schrift auch mehrfach anspielt33. Wenn Nikolaus selbst auf eine Abhandlung ber das Nichtandere verweist, so gibt er damit nicht den spter eingebrgerten Titel, sondern das Thema der Schrift an.

    Besser unterrichtet ind wir ber die Entstehungszeit des Werkes. Wir knnen es sogar auf wenige Tage genau datieren. In seinem Verweis auf das Buch, den Gusanus in De venatione sapientiae macht, erwhnt er, da der Tetralog ein Jahr zurckliegt. Da die Jagd nach Weisheit nachweislich vor Ostern 1463, also vor dem 10. April 1463, geschrieben ist, kommen wir auf das Jahr 1462. Die Schrift selbst erwhnt Eis in der ewigen Stadt34, womit wir auf den Winter, also den Anfang des Jahres verwiesen werden. Auch da es um 9 Uhr abends stockdunkel ist, pat zur hochwinterlichen Zeit35. Dazu stimmt auch, da wir fr die Zeit vom Oktober 1461 bis Mai 1462 den Aufenhalt des Kardinals in Rom sicher nach weisen knnen. Wir vermgen jedoch die Abfassungszeit noch genauer zu bestimmen. Einer der Gesprchspartner, Petrus Baibus aus Pisa, wurde am 18. Januar 1462 von Papst Pius II. zum Bischof erhoben, eine Wrde, derer der Tetralog mit keinem Worte Erwhnung tut. Damit kommen wir in die ersten Januartage des Jahres 1462 fr die Abfassung der Schrift. Das Werk gehrt den letzten Lebensjahren des Gardinals an. Nach dem Scheitern seiner Arbeit als Bischof von Brixen war er seit 1458 Curienkardinal in Rom und verlebte dort 5 Jahre in verhltnismiger Ruhe, die dem Ausreifen des wissenschaftlichen und denkerischen Lebenswerkes zugute kamen. Nachdem im Jahr 1460 im Begriff des wirklichen Knnens (possest) ein aus der Spannung der Unendlichkeit des Schpfers und der Endlichkeit der Schpfung entwickelter Gottesbegriff versucht war, wurde die Auseinandersetzung mit der arabischen Theologie des Koran zu Ende gefhrt (Gribratio Alchoran 1461). Whrend im Jahre 1462 die Schrift vom Nichtanderen als einzige

  • XX Einfhrung

    Produktion der fleiigen Feder des Nimmermden zu verzeichnen ist, kommen dann im folgenden Jahre in gedrngter Flle nochmals vier Schriften: Die Jagd nach Weisheit, das Kugelspiel, das Compendium und der Gipfel des Schauens.

    Unsere Schrift gibt sich als Gesprch zu Vieren, und es ist immerhin interessant festzustellen, da dieses ungefhr in der Form, wie es von Gusanus niedergelegt ist, in der fraglichen Zeit tatschlich htte stattfinden knnen. Die drei Gesprchspartner waren im Winter 1461/62 in der Begleitung des Kardinals in Rom. Da ist zunchst der Abt Johannes Andreas, der auch im Dreigesprch vom wirklichen Knnen schon als Gesprchsteilnehmer aufgetreten war. Er war seit 1458 als Sekretr in der stndigen Begleitung des Kardinals und hatte auf dessen Anregung im Kloster Subiaco die erste Druckerei auf italienischem Boden errichtet und sich selbst als echter Humanist um die Edition einer ganzen Reihe antiker Autoren bemht36. Auch der zweite Gesprchspartner, Petrus Baibus aus Pisa, ist Humanist. Er beschftigt sich z. Z. des Gesprchs mit der bersetzung der Platonischen Theologie des Proklos ins Lateinische, was er selbst im Laufe des Gesprchs erwhnt87. Mit groer Wahrscheinlichkeit vermutet M.Feigl ihn auch als Empfnger der Abhandlungen ber die Gleichheit und ber den Ursprung38. Schlielich bleibt noch der Portugiese Ferdinand Matim, der den Kardinal als Leibarzt begleitete und als solcher auch Zeuge des Testaments von Todi war. Dort zeichnet er als Ferdinand von Roritz, Kanonikus in Lissabon.

    Da die Gesprchsteilnehmer nacheinander ins Gesprch mit dem Kardinal treten, zerfllt die Schrift eigentlich in drei Dialoge, whrend die beiden anderen Partner jeweils als aufmerksame Zuhrer gedacht sind. Die Charakteristik der verschiedenen Personen ist ausgezeichnet. Der Abt Johannes Andreas, der wohl neben dem Kardinal der lteste in der Runde ist, erffnet das Gesprch und stellt gewissermaen die Teilnehmer vor. Sie alle sind philosophisch interessierte Leute, aber wenn sie auch alle das

  • Einfhrung XXI

    gleiche lebhafte Streben nach Wahrheit auszeichnet, so sind ihre Neigungen doch verschieden. Das zeigt schon die Aufzhlung ihrer Lieblingsautoren. Whrend der Abt selbst sich mit dem platonischen Parmenides und den Kommentaren des Proklos beschftigt, widmet sich Petrus Baibus der Platonischen Theologie des Proklos. Demgem erscheint dann spter Johannes Andreas als Verfechter Platons, whrend Baibus alsNeuplatoniker auf tritt. Aber man darf wohl aus den Worten des Abtes kaum die Vermutung herauslesen, da er einen platonischen Dialog als selbstndige Quelle neben dem Kommentar des Proklos gelesen habe. Er las Platon, wie es das ganze Mittelalter tat, mit den Augen des Proklos, und so werden auch im Gesprch selbst Platon und Proklos miteinander verwoben. Gusanus selbst wird eingefhrt als mit der Lektre des Ps.-Areopagiten Dionysius beschftigt. Wir wissen, da sich Nikolaus mit diesem im Mittelalter hoch gefeierten Autor eingehend befat hat. Er fand dort eine seiner Gottesvorstellung nahe verwandte Haltung, und so knnen wir mehrfaches Studium des Ps.-Dionysius feststellen. Nach einem Zeugnis der Apologia doctae ignorantiae beginnt die Bekanntschaft mit den Schriften der Areopagiten erst nach der Rckfahrt von Konstantinopel39, aber schon die Docta ignorantia bringt Zitate aus allen Werken des Ps.-Dionysius, und die zahlreichen Randbemerkungen, die sich vor allem in den im Besitz des Gusanus befindlichen Kommentaren Alberts des Groen zu den Schriften des Ps.-Dionysius finden, zeugen von einem mehrmaligen und grndlichen Studium. Zitate aus den Werken des Areopagiten finden sich in fast allen Schriften des Gusanus, aber ihre Hufigkeit schwankt. Im allgemeinen kann man im Laufe der Zeit ein Ansteigen der Hufigkeit feststellen, den eigentlichen Hhepunkt aber bilden die Schriften der letzten beiden Jahre, und hier wieder vor allem unsere Schrift und die Jagd nach Weisheit40. Es wird also wohl den Tatsachen entsprechen, wenn der Verfasser von sich selbst ein starkes Interesse fr die Werke des Ps.-Dionysius behauptet.

  • XXII Einfhrung

    Gusanus fhlt die Verwandtschaft seines Denkens mit den Lehren des Areopagiten so stark, da er geneigt ist, die wichtigsten seiner eigenen Lehrmeinungen dieser Quelle zuzuschreiben, selbst die Docta ignorantia, fr die wohl Augustin als Anreger zu gelten hat, findet er bei ihm41, ja auch die Coincidentia oppositorum glaubt er bei ihm vorgebildet42. Auch in unserem Tetralog wiederholt er diese Behauptung43. Selbst seinen neuen Gottesbegriff, den er als den besten Ausdruck des Zusammenfallens der Gegenstze betrachtet, empfindet er als schon von Ps.-Dionysius grundgelegt. Der Nachweis dafr ist ihm offenbar sehr wichtig, und er fllt ein langes Kapitel mit einer Bltenlese aus den Schriften des Areopagiten.

    Seinen besonderen Reiz aber erfhrt das Gesprch dadurch, da in Ferdinand ein Vertreter des Aristotelismus eingefhrt wird. Als Mediziner gehrt er der konservativen Richtung des Humanismus an; er ist der Reprsentant des gegenwrtig in den Schulen herrschenden aristotelischen Nominalismus. Deutlicher als in jeder anderen seiner Schriften zeigt Gusanus hier, da er die Schule kennt44, aber ebenso klar wird, da er dem Aristotelismus nichts abzugewinnen wei. Wieviel er von ihm hat, und wieviel von ihm im Neuplatonismus steckt, das ist ihm natrlich nicht bewut. Du zeigst eine ausgesprochene Neigung gegenber dem sicherlich schtzenswerten Philosophen, so erwidert er dem Ferdinand etwas spttisch. Das einzige, was er dem Aristoteles zugesteht, sind gute Verstandesqualitten, aber er schrnkt sofort ein: Das liee sich allerdings wohl von allen spekulativen Denkern sagen*5. Aber er weigert sich, ihm irgendeine Bedeutung in der Entwicklung der Philosophie zuzuerkennen. Auf die Frage des Ferdinand, welches nach der Meinung des Gusanus die eigentliche Leistung des Stagiriten gewesen sei, antwortet der Kardinal ganz trocken: Wenn ich ehrlich sein soll, ich wei es nicht48. Lediglich die Ausbildung der Logik wird dem Aristoteles zugute gehalten. Auch in der Ethik hat er einiges geleistet, aber in der Metaphysik hat er versagt. Den Fehler des Aristoteles sieht Gusanus darin, da er im

  • Einfhrung XXIII

    Gebiet des rationalen Erkennens stehen geblieben ist und sich damit den Weg zur Wahrheit selbst verbaute. Im Reich des Verstandes gilt der Satz vom Widerspruch. Widersprechende Behauptungen abeT zeigen den Widerspruch, also einen Widerspruch vor dem Widerspruch und damit einen Widerspruch ohne Widerspruch. Aristoteles aber gelangte nicht dazu, ein Prinzip des Prinzips und eine Substanz der Substanz anzuerkennen. Ein wirkliches Verstndnis der aristotelischen Denkweise verrt diese Kritik natrlich nicht. Gusanus steht in der Linie des platonischen Denkens, und er sieht in Aristoteles alles das, was er Platonisches enthlt; worin er aber von diesem abweicht und eine mehr empiristische Richtung einschlgt, das erscheint dem Kardinal als Irrweg. Gusanus ist viel zu sehr originaler Denker, um neutral die verschiedenen Denkmethoden gegeneinander abwgen zu knnen, er sieht sich selbst als den legitimen und auf dem rechten Weg befindlichen Erben Platons, und wenn er bei diesem immerhin eine Andeutung fr ein ber die ratio aufsteigendes Erkennen findet, die der Neuplatonismus aufgegriffen und ausgebaut hat, so scheint ihm hier der Weg zu liegen, den es weiterzugehen gilt. Damit mu aber gerade Aristoteles trotz alles platonischen Erbes, das er enthlt, als die falsche Weiterfhrung, ja als ein Abfall vom Platonismus, ja vom echten Philosophieren erscheinen.

    Es wre lohnend, einmal eine Untersuchung ber die Denkmethode des Platonismus anzustellen. Die Sptphilosophie zeigt Platon auf der Suche nach Prinzipien des Seienden, und dabei enthllt sich eine Methode, die auch in der frheren Zeit bereits gebt wurde, jetzt aber klarer und bewuter heraustritt. Whrend der Atomismus Demokrits die Bauelemente des Wirklichen durch quantitative Zerteilung zu finden hoffte und damit zu kleinsten, unteilbaren Krpern kam, geht das Zerstoen des Wirklichen, das Platon treibt, einen anderen Weg. Er sucht die gedanklichen Elemente, und diese sind ihm dann zugleich die wirklichen Elemente. Zunchst hatten sich als solche gedanklichen Elemente die Ideen ergeben, kein empirischer

  • XXIV Einfhrung

    Gegenstand kann einem anderen gleich sein ohne an der Idee der Gleichheit teilzuhaben, die Gleichheit an sich ist die Voraussetzung jeder faktischen Gleichheit. Aber dann ergab sich, da die Ideen kein an sich selbst Verstndliches waren, keine Definition, die sich selbst definiert, wie Gusanus sagen wrde. Sie zeigen sich selbst als strukturiert und zusammengesetzt, und die Sptdialoge versuchen in ihren Diairesisreihen diese Analyse der Id een Struktur. Als ihre letzten Elemente ergaben sich das Bestimmte oder das Eine und das Unbestimmte oder das Andere und Nichteine. In all diesen Gedankengngen zeigt sich immer die gleiche Denkmethode. Das, was gedanklich als Element, als Bestandteil eines Begriffes sich ergibt, das ist auch ontologisch das Frhere und Elementarere. Es ist ein rationalistischer Realismus, der hier am Werke ist47.

    Es wre reizvoll, diese gleiche Denkhaltung als Wurzel der neuplatonischen Metaphysik aufzudecken. Aber es mag gengen, auf das Wirken eines rationalistischen Realismus auch im Denken des Cusanus hinzuweisen. In dem berhmten Gottesargument der Docta ignorantia war zunchst gezeigt, da die absolute Wahrheit fr uns unerreichbar ist, weil es im Endlichen keine volle Gleichheit gibt48. Nun aber geht das Denken von der vollen Gleichheit sofort zum Grten berhaupt ber. Die grte Gleichheit ist gewissermaen ein Sonderfall des Grten berhaupt. Es kann keine grte Gleichheit geben, wenn es kein Grtes gibt. Die logische Voraussetzung ist zugleich ontologische Bedingung, und die reine Gre, die wir im Superlativ ausdrcken, umfat sowohl Grtes wie Kleinstes49. Noch deutlicher erscheint diese Denkhaltung einige Kapitel spter, wo behauptet wird, da nichts existieren knnte, wenn es ein einfach Grtes nicht gbe. Alles nicht Absolute ist begrenzt und damit abgeleitetes Sein (princi- piatum). Jedes Messen setzt ein Ma voraus, wir knnen nicht von grer und kleiner sprechen, ohne den Begriff der Gre zu haben, und da unser Denken nicht leeres Denken ist, sondern eine Seinsentsprechung haben mu, d. h.

  • Einfhrung XXV

    da hier nicht nur eine fr das Subjekt gltige, sondern eine Seinsnotwendigkeit aufgedeckt wird, mu also die Gre als Voraussetzung jeder beschrnkten Gre zuerst sein.

    Wir finden die Spuren dieses rationalistischen Realismus in unserem Tetralog allenthalben. Mit dem Auf hren der Ursache wrde auch die Wirkung auf hren, so zitiert Gusanus einen in der Tradition wohlbekannten Satz50. Aber Ursache bedeutet ihm dabei nicht nur die causa effi- ciens, sondern zugleich die Formalursache, das gedanklich und ontologisch Frhere. Und nun wird gleichsam die Methode dieses Denkens unmittelbar sichtbar. Mit dem Aufhren der Klte wrde das Eis verschwinden, aber nicht das Wasser, dagegen wrde das Verschwinden des Seienden auch die Substanz des Wassers auf heben, nicht aber die mgliche Existenz, d. h. die Materie berhren. Die Denkanweisung lautet etwa: Denke Dir das und das hinweg, kann dann das Gegebene noch sein? Auf diese Weise kommt man zu den real-rationalen Bedingungen des Seins. Und als die letzte Bedingung alles Seins enthllt sich das Nichtandere. Ohne diese Form der Formen wrde es keine Form mehr geben, nicht einmal mehr die Mglichkeit der Formen.

    Aber man wrde dem Denken des Gusanus nicht gerecht, wollte man es mit dem Begriff des rationalistischen Realismus fr gengend charakterisiert erachten. Es ist nicht berspannter Rationalismus, der jede begriffliche Feststellung in ihre Konsequenz weiterdenkt, ohne auf die Folgerungen und den Widerspruch zum gesunden Menschenverstand zu achten; was ihn leitet, ist vielmehr eine berwltigende Schau, und die Formulierungen sind nur das Kleid, um dieser Schau Ausdruck zu verleihen. Wenn er vom Maximum spricht, und es in der eben dargestellten Weise ableitet, so steht hinter dem scheinbar rein logischen Rationalismus immer die Idee von Gott. Nur so erklrt es sich, wenn gleich nach der Feststellung, da das Grte alles sei, angefgt wird, es sei alles so, da es nichts ist. Auch das wird zwar wieder durch das potentielle Enthaltensein aller Dinge in Gott erklrt, aber es kann kein

  • XXVI Einfhrung

    Zweifel sein, da alle diese Deduktionen nur die gedankliche Klrung und Rechtfertigung einer vorausliegenden Intuition sind.

    Indem nun Ferdinand gerade von seiner aristotelischen Vergangenheit her die verschiedenen Begriffe wie Universum, Transzendentalien, Substanz und Akzidens, Materie an den neuen Gottesbegriff herantrgt, gibt er dem Kardinal die Mglichkeit, die Fruchtbarkei seines neuen Gottesbegriffes in allen Bereichen zu entfalten. So da wir neben einer Darstellung des neuen Gottesbegriffes zugleich eine iimfassende Darstellung der Gusanischen Philosophie berhaupt erhalten.

    Das harte Urteil des Cusanus ber Aristoteles ist zum Teil mitbedingt durch die Stellung des Denkers zur Tradition. Es ist kennzeichnend fr Cusanus nicht nur, sondern fr die Zeitenwende, in der er steht, wenn er gleich zu Beginn seines Gesprchs mit Ferdinand als Bedingung stellt: da dieser alles, was er von ihm vernimmt, selbst prfe und nur dann es als richtig und stichhaltig anerkenne51. Auch im Mittelalter hat es nicht an Stimmen gefehlt, welche vor der allzu groen Wertschtzung der Autoritten warnen und zum Gebrauch der eigenen Vernunft mahnen. So hlt schon Johannes Scottus Eriugena die Besttigung einer richtigen Einsicht durch das Zeugnis der Autoritten fr berflssig32, und Raymundus Lullus schaltet sie mit der Begrndung aus, da keine wahre Autoritt einer gesicherten Erkenntnis widersprechen kann, macht also die eigene Einsicht zum Kriterium der Autoritten53. Gusanus kennt und schtzt die Schriften beider Vorgnger, und auch in seinen Predigten weist er weniger auf die Garantie der Wahrheit durch die Institution der Kirche hin, als da er das Denken der Zuhrer selbst aufruft, eine Haltung, die ihm schon von seiner Schlerzeit bei den Fraterherren in Deventer her gelufig sein mochte. So sagt Thomas von Kempen: Nie soll dich das Ansehen eines Schriftstellers irre machen; nie sollst du darauf Acht haben, ob die groen Gelehrten ihn fr Ihresgleichen halten oder nicht, denn die Liebe zur reinen Wahrheit, und nur diese

  • Einfhrung XXVII

    Liebe, soll dich zum Lesen treiben. Frage nicht lang, wer das gesagt hat, sondern sieh nur immer auf das, was da gesagt wird54. Strker als die vielleicht von Scottus und Lullus erhaltene Anregung wirkt hier auf Cusanus die Strmung seiner Zeit, und man knnte nicht nur auf die bekannte Stelle des Laien verweisen, wo dem aufblhenden Verbalwissen der Bchergelehrten die berall greifbare Wahrheit gegenbergestellt wird, wenn man den humanistischen Einflu bei Gusanus zeichnen wollte55.

    Und doch ist Gusanus kpin Verchter der Tradition. Er widerstrebt deren Vertreter Ferdinand nicht, wenn er, unmittelbar nachdem der Begriff des Nichtanderen entwickelt ist, sofort nach Gewhrsmnnern fragt58. Und wenn auch der Kardinal in berechtigtem Selbstbewutsein die Selbstndigkeit seiner Entdeckung betonen kann, er lehnt es nicht ab, ja er bemht sich sogar, die Autoritt des Ps.- Dionysius fr sich in Anspruch zu nehmen.

    Nehmen wir die uere Tatsache der verschiedenen Gesprchsteilnehmer, so zerfllt, wie gesagt, der Tetralog in drei Dialoge, wovon der erste mit Ferdinand den grten Raum einnimmt. Geht man jedoch von dem inneren Aufbau der Schrift aus, so knnte man lieber eine Zweiteilung bevorzugen. Auf eine Entwicklung und Darlegung des neuen Gottesbegriffs, welche die Kapitel 112 umfat und im 13. Kapitel aus dem Mund des bekehrten Aristotelikers Ferdinand eine Zusammenfassung erfhrt, folgt nach dem Florilegium aus Ps.-Dionysius ein kritischer Teil, der sich mit den Autoritten auseinandersetzt. Wenn der erste Teil das eigene System entwickelt, so ordnet es der zweite gewissermaen an seinen ideengeschichtlichen Ort.

    Es bleibt mir noch die Aufgabe, einiges zur Ausgabe und bersetzung zu sagen. Der Text, den ich fr die bersetzungzugrunde legte, zeigt Abweichungen von der Heidelberger Akademieausgabe57. Da ich fr diese den Baurschen Nachla whrend des Krieges bearbeiten mute, war ein ausfhrliches Quellenstudium nicht mglich, und es mute manches stehen bleiben, was ich heute ndern wrde. Ich habe diese nderungen zusammengestellt in einem der lat.

  • XXVIII Einfhrung

    Ausgabe beigegebenen Anhang. Wenn auch heute noch nicht alles zugnglich ist, was sich ein sorgfltiger Herausgeber wnschen mchte, so glaube ich doch, im wesentlichen zu einer verantwortlichen Entscheidung gekommen zu sein. Dankbar erkenne ich dabei die mannigfachen Anregungen und Frderungen an, die ich durch Professor Ernst Hoff mann und Professor Josef Koch empfangen durfte. Ich habe solche Abweichungen gegenber dem Text der Edition oder gegenber ihren Angaben im kritischen Apparat auch in den Anmerkungen dieser bersetzung vermerkt.

    In der bersetzung habe ich mich bemht, dem Wortlaut des Originals so getreu wie mglich zu folgen, soweit das ohne Schaden fr die Lesbarkeit des deutschen Textes erlaubt schien. Wie weit mir das gelungen ist, das mu dem Urteil des Lesers berlassen bleiben. Ein doppeltes (lateinisches und deutsches) Verzeichnis der wichtigsten Termini soll dem Leser ein Einlesen und ein Vergleichen erleichtern. Das Original Schedels gibt keine Kapitelberschriften, diese sind von mir hinzugefgt. Sie sollen den wesentlichen Inhalt kennzeichnen und helfen, den logischen Aufbau des Ganzen deutlicher hervortreten zu lassen.

    Paul Wilpert

  • 1 VOM NICHTANDEREN

    Kapitel 1

    Dev Begriff des NichtanderenAht: Wir drei1, denen du eine Unterredung gestat

    test, haben uns den Studien gewidmet und, wie du weit, gilt unser Forschen hohen Dingen. Ich beschftige mich mit dem Parmenides und dem Kommentar des Proklos; Petrus dagegen mit der platonischen Theologie eben des gleichen Proklos, whrend Ferdinand im Geistesgut des Aristoteles lustwandelt. Du aber widmest deine Muestunden dem Areopagiten Dionysius, dem Theologen2. Zu den Gegenstnden aber, welche die Genannten behandeln, bietet sich dir vielleicht ein unmittelbarerer und freierer Zugang3. Davon wrden wir gerne hren.

    Nikolaus: Unergrndliche Geheimnisse sind es, um die wir von allen Seiten uns mhen, und niemand drfte, wie ich glaube, sie krzer und falicher in Worte kleiden als die Mnner, deren Schriften wir immer wieder lesen. Allerdings schien es mir zuweilen, da wir einen Punkt zu wenig beachten, der uns nher an den Gegenstand unseres Forschens heran- zu fhren vermchte.

    Petrus: Darber fordern wir Aufschlu.2 Ferdinand: Die Wahrheit berhrt uns alle so sehr,

    da wir in der berzeugung, sie lasse sich berall finden4, uns den zum Lehrmeister wnschen, der sie uns leibhaftig vor die Augen unseres Geistes stellt. Du aber zeigst dich selbst in deinem sich bereits neigenden Alter5 darin unermdlich. Ja, wenn du

  • 2 Kapitel 1

    einer Aufforderung nachgibst und von der W ahrheit sprichst, dann scheinst du wieder jung zu werden. Berichte also von den Betrachtungen, die du vor uns angestellt hast.

    Nikolaus: Das will ich. Doch mein Gesprch mit dir, Ferdinand, soll unter der Bedingung stehen, da du alles, was du von mir hrst, als leichtes Zeug verwirfst, wenn dich nicht der prfende Verstand berzeugt6.

    Ferdinand: Ein solches Verhalten haben die Philosophen, meine Lehrer, zur Pflicht gemacht.

    Nikolaus: Zunchst frage ich dich also: Was ist 3 das vorzglichste Mittel des Wissens?

    Ferdinand: Die Definition.Nikolaus: Eine treffliche Antwort, denn die De

    finition ist eine Aussage oder eine Weisensbestim- mung7. Aber woher kommt die Bezeichnung Definition?

    Ferdinand: Vom Definieren, da sie alles begrifflich bestimmt.

    Nikolaus:

    Sehr gut! Wenn also eine Definition alles bestimmt, bestimmt sie dann auch sich selbst?

    Ferdinand: Sicherlich, da sie nichts ausschliet.Nikolaus: Siehst du also, da eine Definition, die

    alles bestimmt, nichts anderes ist als der bestimmte Gegenstand8?

    Ferdinand: Ja, denn sie ist die Bestimmung ihrer selbst. Aber welches die gesuchte Definition ist, das vermag ich nicht zu sehen.

    Nikolaus: Ich habe es dir sehr klar zum Ausdruck gebracht. Das ist eben der Punkt, den wir, wie ich sagte, auer acht lassen, indem wir in der Hitze der Jagd am Wild vorbeilaufen9.

  • Der Begriff des Nichtanderen 3

    Ferdinand: Wann httest du es zum Ausdruck gebracht?

    Nikolaus: Jetzt eben, als ich sagte, die Definition, die alles bestimmt, sei nichts anderes als der bestimmte Gegenstand.

    Ferdinand: Ich verstehe dich noch nicht.4 Nikolaus: Die wenigen Worte, die ich sprach, sind

    leicht zu durchforschen, um dann in ihnen das Nichtandere zu finden. Wenn sich dein Denken mit angespanntester Aufmerksamkeit dem Nichtanderen zuwendet, so wirst du ebenso wie ich in ihm die Definition sehen, die sich und alles begrifflich bestimmt.

    Ferdinand: Unterweise uns ber den Weg; denn gro und noch ganz unglaublich ist die Behauptung, die du aufstellst.

    Nikolaus: Antworte mir also! Was ist das Nichtandere? Ist es etwas anderes als eben das Nichtandere?

    Ferdinand: Keineswegs etwas anderes.Nikolaus: Also nichts anderes.Ferdinand: Das ist sicher!Nikolaus: Gib nun also eine Begriffsbestimmung

    des Nichtanderen!Ferdinand: Ich sehe wohl: das Nichtandere ist

    nichts anderes als eben das Nichtandere. Das wird niemand bestreiten.

    Nikolaus: Du hast recht. Siehst du jetzt nicht ganz eindeutig, da das Nichtandere sich selbst bestimmt, da es durch etwas anderes nicht bestimmt werden kann?

    Ferdinand: Das sehe ich freilich. Doch noch steht nicht fest, da es alles bestimmt10.

  • 4 Kapitel 1

    Nikolaus: Nichts leichter zu erkennen! Welche 5 Antwort wrdest du geben auf die Frage nach dem Wesen des Anderen? Wrdest du nicht sagen: Nichts anderes als eben das Andere? So wrdest du auf die Frage nach dem Wesen des Himmels antworten: Nichts anderes als eben der Himmel.

    Ferdinand: Sicherlich knnte ich ohne Versto gegen die Wahrheit derartige Antworten bei allen Gegenstnden geben, deren Begriffsbestimmung man von mir verlangte.

    Nikolaus: Es kann somit kein ZwTeifel bestehen, da diese Art des Definierens, wonach das Nichtandere sich und alles begrifflich bestimmt, einen Vorrang an Genauigkeit und Wahrheit besitzt. Es bleibt also nur die Auf gbe, sich dem Nichtanderen mit beharrlicher Aufmerksamkeit zuzuwenden, um so den Umfang des dem Menschen Wibaren festzustellen.

    Ferdinand: Erstaunliche Worte und Verheiungen! Mein erster Wunsch wre nun zu hren, ob ir gendeiner aus der Vielzahl von Denkern diesem Gedanken offen Ausdruck verliehen hat11.

    Nikolaus: Ich bin allerdings beim Lesen noch auf keinen gestoen. Vor allen anderen scheint mir indes Dionysius der Sache am nchsten gekommen zu sein. Alle seine verschiedenen uerungen dienen ja der Beleuchtung des Nichtanderen. Wo er aber ans Ende der Mystischen Theologie kommt, da versichert er vom Schpfer, er sei weder etwas Nennbares noch sonst etwas anderes. Allerdings bringt er seine Bemerkung in einer Form, als ob er damit nichts Besonderes offenbaren wrde; fr den aufmerksamen Leser aber gibt er dem Geheimnis des Nichtanderen Ausdruck, das er allseitig in dieser oder jener Form entwickelt hat12.

  • Das Nichtandere als Gottesbegriff 5

    6 Kapitel 2

    Das Nichtandere als GottesbegriffFerdinand: Whrend man allgemein das erste

    Prinzip Gott nennt1, scheinst du es durch das Nicht- andere bezeichnen zu wollen. Der Name des Ersten gebhrt ja dem, das sowohl sich selbst wie alles andere bestimmt, denn da es nichts Frheres gibt als das Erste, und dieses von allem Spteren unabhngig ist, so ist es allein durch sich selbst bestimmt. Das Verursachte dagegen hat nichts aus sich, sondern verdankt sein Sein dem Ursprung; folglich ist der Ursprung in der Tat der Seinsgrund oder die Wesensbestimmung des Verursachten2.

    Nikolaus: Du verstehst mich ausgezeichnet, Ferdinand! Werden auch dem ersten Prinzip viele Namen beigelegt, von denen keiner es ganz entsprechend wiederzugeben vermag, ist es doch ebenso Ursprung aller Benennungen, wie es Ursprung aller Dinge ist; auch gibt es kein Verursachtes, das allem voranginge so entwirft doch fr das geistige Schauen die eine Art der Bezeichnung ein klareres Bild von ihm als die andere. Ich vermochte nun bis jetzt nicht festzustellen, da irgendeine Bezeichnung den Blick des Menschen unmittelbarer auf das Erste hinlenkt; denn da jede Bezeichnung auf irgend etwas anderes oder auf das Andere selbst zielt das aber eben von dem Nichtanderen verschieden ist , so leitet sie gerade nicht zum Ursprung3,

    7 Ferdinand: Ich sehe ein, da es sich wirklich so verhlt, wTie du sagst. Das Andere kann ja als Ziel des Schauens nicht der Ursprung des Schauenden sein. Da nmlich das Andere nichts anderes ist als eben das Andere, so hat es unbedingt das Nicht

  • 6 Kapitel 2

    andere zur Voraussetzung, ohne das es nicht das Andere wre. Folglich zielt jede andere Bezeichnung als die des Nichtanderen auf etwas anderes als auf den Ursprung. Das jedenfalls erkenne ich als wahr.

    Nikolaus: Da wir aber einander unsere Gesichte nur durch die Vermittlung von Wortbedeutungen mitteilen knnen, so gibt es nichts Treffenderes als das Nichtandere, mag dieses auch nicht der Name Gottes sein, der vor allen Namen im Himmel und auf Erden ist4, hnlich wie der Weg, der den Wanderer zur Stadt fhrt, nicht der Name der Stadt ist.

    Ferdinand: Es ist, wie du sagst, und ich erkenne das deutlich. Sehe ich doch, da Gott nichts anderes ist als Gott, Etwas nichts anderes als Etwas, das Nichts nichts anderes als das Nichts, das Nichtseiende nichts anderes als das Nichtseiende. Und so ist es bei allem, was man irgendwie benennen mag. Das fhrt wiederum zur Einsicht, da das Nicht- andere allem diesem vorangeht, da es diese Gegenstnde begrifflich bestimmt, und da sie nur durch das Vorangehen des Nichtanderen seihst zu anderen werden.

    Nikolaus: Die lebhafte Gewandtheit deines Geistes freut mich. Gut und rasch vermagst du meine Gedanken zu erfassen. Sie vermitteln dir jetzt die klare Erkenntnis, da die Bezeichnung des Nichtanderen uns nicht nur als Weg zum Ursprung dient, sondern den unaussprechlichen Namen Gottes nher umschreibt. In ihm mag er wie in einem kstlichen Spiegel den Forschenden entgegenstrahlen5.

  • Das Niclitanderc als Seins- und Erkenntnisprinzip 7

    8 Kapitel 3

    Bas Nichtandere als Seins- und Erkenntnisprinzip

    Ferdinand: Da du im Begriff des Nichtanderen das Seins- und Erkenntnisprinzip zu fassen suchst, ist klar, aber du mut mir das schon noch deutlicher aufzeigen, wenn ich es ganz verstehen soll.

    Nikolaus: Nach Aussage der Theologen zeigt sich uns Gottes Wesen ziemlich klar im Bilde des Lichtes1, da wir ja mit Hilfe sinnenflliger Bilder uns zur Erkenntnis unanschaulicher Gegenstnde erheben2. In der Tat ist das reine Licht, das Gott ist, vor allem anderen Lichte, wie wir dieses auch benennen mgen, und vor allem anderen schlechthin. Was aber vor dem Anderen sich zeigt, ist nicht das Andere. Da nun jenes Licht das Nichtandere selbst ist und nicht irgendein benennbares Licht, so findet es seinen Widerschein im wahrnehmbaren Lichte. Man begreif t j edoch irgendwie, da das Verhltnis des wahrnehmbaren Lichtes zur sinnlichen Wahrnehmung dem gleich ist, welches da,s Licht des Nichtanderen mit allem verbindet, was der Geist zu erfassen vermag. Erfahrungsgem sieht das sinnliche Auge nichts ohne das sinnliche Licht, und die sichtbare Farbe ist, wie der Regenbogen zeigt, nur die Begrenzung oder Bestimmung des sinnlichen Lichtes3. So ist das sinnlich wahrnehmbare Licht das Seins- und Erkenntnisprinzip fr die Gegenstnde der sinnlichen W ahrnehmung. Daraus leiten wir die Behauptung ab, da das Seinsprinzip zugleich auch das Erkenntnisprinzip ist4.

    9 Ferdinand: Eine klare und willkommene Anleitung5! Die gleichen Verhltnisse liegen beim sinn-

  • 8 Kapitel 3

    liehen Hren vor. Der Ton ist Seins- und Erkenntnisprinzip des Hrbaren. Gott, den wir mit dem Nichtanderen bezeichnen, ist demnach fr alles Seins- und Erkenntnisprinzip. Denkt man ihn wog. so bleibt nichts, weder im Bereich der Gegenstnde, noch in dem des Erkennens. Wie nach dem Wegfall des Lichts weder ein Sein noch ein Sehen des Regenbogens oder des Sichtbaren mglich ist, und wie nach dem Wegfall des Tons es weder ein Sein noch ein Hren eines Hrbaren gibt, so bleibt mit dem Wegfall des Nichtanderen weder ein Sein noch ein Erkennen berhaupt6. Diese Sachverhalte halte ich unverrckbar fest.

    Nikolaus: Mit Recht hltst du sie fest, doch achte bitte auf folgendes: Wenn du etwas siehst, etwa einen Stein, so ist dein Sehen allein durch die Vermittlung des Lichtes mglich, auch wenn du nicht darauf achtest. Ebenso dankst du dein Hren der Vermittlung des Tones, mag dir auch dieser Sachverhalt nicht zum Bewutsein kommen. Im voraus bietet sich also das Seins- und Erkenntnisprinzip an als notwendige Vorbedingung, ohne die dein Streben nach Sehen oder Hren vergeblich wre. Da im brigen deine Absicht auf etwas anderes geht, das du zu sehen oder zu hren begehrst, so hltst du dich nicht bei der Betrachtung des Ursprungs auf, obgleich es Ursprung, Mitte und Ziel des Gesuchten ist7.

    In der gleichen Weise achte auf das Nicht- 10 andere. Da alles, was nur immer ist, nichts anderes ist als es selbst, so hat es diese Beschaffenheit nicht anderswoher; es hat sie folglich von dem Nichtanderen. Allein dem Nichtanderen verdankt das Seiende sein Sein sowie die Erkennbarkeit seines Seins; es ist seine Ursache, sein vllig zureichender Grund oder seine Wesensbestimmung; es bietet sich

  • Das .,Niclitai)derc' und die Transzendentalien 9

    vorher dar, ist es doch Ursprung, Mitte und Ziel dessen, was der Geist eigentlich sucht. Aber es bildet keineswegs einen eigenen Gegenstand der Betrachtung. Wenigstens dann nicht, wrenn das Gesuchte als ein anderes gesucht wird. Genau genommen richtet sich nmlich das Forschen nicht auf den Ursprung, der dem gesuchten Gegenstand immer vorhergeht und der berhaupt erst das Suchen nach dem Gegenstand ermglicht8.

    Nun strebt aber jeder, bei seinem Forschen den Ursprung zu erreichen, wenn das, wie Paulus sagt, mglich wre. Zwar sucht der Forscher vor dem ndern ihn (Gott), aber er kann ihn nicht erfassen so wie er an sich ist. Nun ist er selbst ja das Andere, und deshalb sucht der Forschende ihn wenigstens im Anderen. So sucht man auch am sichtbaren Gegenstand zu einer Schau des Lichtes zu gelangen, das an sich fr das Auge des Menschen nicht sichtbar ist, wie die Klarheit des Sonnenlichtes dartut10. Ein Forschen nach dem Licht ist nmlich unntig. Es zeigt sich selbst am sichtbaren Gegenstand, whrend es sonst unsichtbar ist; man mte ja mit Hilfe des Lichtes nach dem Lichte suchen. Der Ort, das Licht zu erfassen, wird also am sichtbaren Gegenstand aufgesucht, so da es auf diese Weise wenigstens annherungsweise gesehen wird.

    11 Kapitel 4

    Das Nichtandere und die Transzendentalien

    Ferdinand: Du hast die Mahnung ausgesprochen, beim Nichtanderen grndlich zu verweilen1. Im Hinblick auf die Gre deiner Verheiungen will ich mich auch gar nicht beeilen, diesen Gegenstand zu

  • 10 Kapitel 4

    verlassen. Sag also: Was verstehst du unter dem Nichtanderen?

    Nikolaus: Mein Begriff von ihm lt sich nicht auf andere Weise durch andere Worte zum Ausdruck bringen; denn jede andere Erklrung wrde hinter ihm Zurckbleiben und wre weniger umfassend als es. Wie sollte sich denn der Inhalt der geistigen Schau, die wir mit ihm zu gewinnen suchen, anders beschreiben lassen, da es selbst doch allem vorangeht, was Inhalt eines Wortes oder Gedankens zu werden vermag? Alle Theologen haben ja in Gott etwas ber alles Begreifen Groes gesehen2 und haben deshalb von ihm gesagt, er sei berwesentlich, ber allen Namen und hnliches. Dabei haben sie mit ber, ohne, un- nicht, vor nicht jeweils eine andere Eigenschaft in Gott fr uns bezeichnet; denn es ist dasselbe zu sagen, er sei bersub- stanziale Substanz, und, er sei Substanz ohne Substanz, unsubstanziale Substanz, nichtsubstanziale Substanz, Substanz vor der Substanz. Welchen Ausdruck du auch immer whlen magst, deine Worte meinen nichts anderes als eben das Identische selbst. Daraus erhellt die* grere Einfachheit und der Vorrang, den die Bezeichnung des Nichtanderen besitzt. Sie lt sich durch kein anderes Wort umschreiben oder ausdrcken8.

    Ferdinand: Willst du etwa sagen, das Nicht- 1 andere sei eine Bejahung oder eine Verneinung oder etwas von der Art?

    Nikolaus: Keineswegs, vielmehr ist es vor allem Derartigen. Es ist das, was ich unter dem Begriff der Koinzidenz der Gegenstze4 lange Jahre hindurch gesucht habe, wie viele Bcher bezeugen, die ich ber diese Spekulation geschrieben habe.

  • Das Nichtandere und die Transzendentalien H

    Ferdinand: Setzt das Nichtandere etwas, oder hebt es etwas auf?

    Nikolaus: Es zeigt sich vor aller Setzung und Aufhebung5.

    Ferdinand: Es ist also nicht Substanz, nicht Seiendes, nicht Eines, noch sonst irgend etwas6.

    Nikolaus: So sehe ich es.Ferdinand: Demnach auch nicht Nichtseiendes

    oder Nichts7.Nikolaus: Auch das sehe ich durchaus so.Ferdinand: Ich folge dir, Vater, nach Krften. Es

    scheint mir nun unbedingt gewi, da sich das Nichtandere nicht durch eine Bejahung oder Verneinung oder auf irgendeine sonstige Art begreifen lt, vielmehr kommt es offensichtlich in wunderbarer Weise an das Ewige selbst heran.

    Nikolaus: Das Bestndige8, Feste, Ewige scheint groen Anteil am Nichtanderen zu haben, da das Nichtandere in keiner Weise einer Umbildung oder einer Vernderung unterliegen kann. Nun ist jedoch das Ewige nichts anderes als eben das Ewige, und so wird das Ewige immerhin etwas anderes sein als das Nichtandere. Das fhrt mich zu der klaren Erkenntnis, da dieses selbst vor dem Ewigen und vor der Zeit ber alles Begreifen hinaus ist0.

    13 Ferdinand: Jeder, der mit dir an der Untersuchung teilnimmt, mu sich diesen Satz zu eigen machen, sobald er seinen Blick auf das richtet, das allem vorhergeht, was die Sprache bezeichnen kann. Indes wundert es mich, wie das Eine, das Seiende, das Wahre und das Gute in ihrer Existenz ihm nachgeordnet sein sollen10.

    Nikolaus: Zwar scheint das Eine dem Nichtanderen ziemlich nahe zu stehen, bezeichnet man doch jedes Ding entweder als das Eine oder das Andere,

  • 12 Kapitel 4

    so da das Eine gleichsam als das Nichtandere erscheint, aber nichtsdestoweniger ist das Eine, das ja nichts anderes als das Eine ist, von dem Nichtanderen selbst verschieden. Folglich ist das Nichtandere einfacher als das Eine, das es eben dem ,,Nichtanderen verdankt, da es ein Eines ist und nicht umgekehrt. Frcilich haben nun einige Theologen den Begriff des Einen an die Stelle des Nichtanderen gesetzt und dann in ihren Betrachtungen dem Einen selbst einen Platz vor dem Gegensatz angewiesen; so kann man es im Parmenides des P laton und beim Areopagiten Dionysius lesen11. Da jedoch das Eine von dem Nichteinen verschieden ist, so leitet es keineswegs zum ersten Prinzip von allem. Dieses kann nicht von dem Anderen oder vom Nichts verschieden sein, steht es doch zugleich zu keinem Ding im Gegensatz, wie du spter sehen wirst12.

    Dieselbe Art der Betrachtung stelle nun beim 14 Seienden an! Mag es nmlich auch den Anschein haben, als erstrahle in ihm deutlich das Nichtandere, da doch in den Dingen, welche Dasein haben, das Sein in keiner Weise gegenber irgendeiner Seinsbestimmung ein Anderes zu sein scheint: dennoch geht ihm das Nichtandere voran.

    Ebenso verfahre mit dem Wahren, das ja in hnlicher Weise keinem Seienden abgesprochen wird, und mit dem Guten, mag sich auch nichts finden, was seiner nicht teilhaftig wre.

    Deshalb werden denn auch alle diese Bezeichnungen als offenkundige Benennungen Gottes hingenommen, obgleich sie keine Genauigkeit erreichen. Und doch kann man nicht eigentlich sagen, sie stnden im Sein dem Nichtanderen nach; stnden sie nmlich dem Nichtanderen nach, wie kme dann jedes von ihnen dazu, nichts anderes zu sein als das, was

  • Das Nichtandere als Ausdruck der Dreieinigkeit 13

    es ist? Die Art, wie das Nichtandere vor diesen und anderen-Begriffen erscheint, besteht also darin, da sie nicht nach ihm, sondern durch es Sein haben. Deine Verwunderung ber diese Dinge, denen das Nichtandere vorangehen mu, wenn sie n^ch ihm sein sollen, und ber die Mglichkeit dieseshltnisses bestand also zu Recht.

    Ferdinand: Verstehe ich dich recht, so bedeutet der Satz, da man das Nichtandere vor allem schaut, nur, da es keinem von dem, was man nach ihm schaut, fehlen kann, auch wenn es sich um Gegenstze handelt1,5?

    Nikolaus: Darin sehe ich in der Tat den wahren Sachverhalt.

    15 Kapitel 5

    Das Nichtandere als Ausdruck der Dreieinigkeit

    Ferdinand: Ich bitte dich, Vater, die Erkenntnis, die ich auf Grund dieser Hinfhrung zum Nicht- anderen gewonnen habe, in Worte fassen zu drfen, um dann deine Zurechtweisung zu erfahren, wenn du einen Irrtum bei mir feststellst.

    Nikolaus: Sprich, Ferdinand!Ferdinand: Indem ich das Nichtandere rein fr

    sich in seiner Vorrangstellung vor allem anderen betrachte, sehe ich es so, da ich in ihm alles schaue, was nur immer Gegenstand eines Schauens sein kann; ist doch auer ihm keinerlei Sein und Erkennen mglich; ja selbst das vom Sein und Erkennen Verschiedene kann ihm nicht entgehen. Ein Sein oder ein Erkennen irgendeines Gegenstandes auerhalb des Nichtanderen vermag ich mir nmlich nicht einmal vorzustellen. Das geht so weit, da

  • 14 Kapitel 5

    auch mein Versuch, das Nichts oder das Nichtwissen unabhngig vom Nichtanderen zu denken, vergeblich und fruchtlos ist. Wie wre nmlich das Nichts nichts Sichtbares auer durch das Nichtandere, auf Grund dessen es nichts anderes ist als nichts? hnlich verhlt es sich mit dem Nichtwissen und mit allem brigen. Alles was ist, ist ja insoweit, als es nichts anderes ist, und alles was erkannt wird, wird insoweit erkannt, als man erkennt, es sei nichts anderes ; und alle Wahrheit, die geschaut wird, wird insoweit als Wahrheit geschaut, als man sie als nichts anderes erkennt. Und schlielich: was man als anderes erfat, wird insofern als anderes erfat, als man es als nichts anderes erkennt. Wie also nach Aufhebung des Nichtanderen nichts bleibt noch erkannt wird, so ist alles in ihm und wird in ihm erkannt und geschaut1. | Das 16 ..Nichtandere selbst ist nmlich der vllig zureichende Grund, die Unterscheidung und das Ma von allem, was ist, fr dieses sein Sein und von allem, was nicht ist, fr sein Nicht-sein; und von allem Mglichen fr sein Mglich-sein; von allem So-sein fr sein So-sein; von allem Bewegten fr seine Bewegung: von dem, was steht, fr sein Stehen; von dem, was lebt, fr sein Leben; von dem, was erkennt, fr sein Erkennen; und so ist es bei allem. So erkenne ich nmlich die Notwendigkeit, da in dem, was ich schaue, sich das Nichtandere selbst bestimmt und damit auch alles, was man zu benennen vermag.

    Nikolaus: Trefflich hast du deinen Blick auf Gott 17 gerichtet, der unter dem Nichtanderen bezeichnet ist, um im Ursprung, der Ursache und dem Grund, der keine Andersheit und Verschiedenheit kennt2, alles dem menschlichen Geiste Fabare zu erkennen, so

  • Das Nichtandere4, als Ausdruck der Dreieinigkeit 15

    weit es dir jetzt gestattet ist. Es ist dir aber gerade so weit gestattet, als das Nichtandere selbst, d. h. der Grund der Dinge, deinem Verstand oder deinem Geist sich offenbart oder deinem Blick sich darbietet; aber im Mittel des Nichtanderen hat er sich jetzt klarer geoffenbart als vorher, da dieses sich selbst definiert. In welcher Gestalt er sich meinem Blicke zeigte, das konntest du ja in mehreren Bchern lesen3. In der Bedeutung des Nichtanderen zeigt er sich aber jetzt in einem Bilde von grerer Fruchtbarkeit und Klarheit, und das vor allem aus dem Grunde, weil es sich selbst definiert4, ein Umstand, der mich zu der Hoffnung berechtigt, Gott werde sich uns einmal selbst ohne Bild offenbaren.

    Ferdinand: In dem eben Gesagten ist zwar alles eingeschlossen, was wir zu erkennen vermgen; zum strkeren Ansporn unserer Krfte wollen wir aber doch gewisse Zweifel berhren, um durch deren Lsung die gewonnene Schau uns noch nherzubringen5.

    Nikolaus: Dieses Verfahren hat meine Zustimmung.

    18 Ferdinand: Der Wibegierige fragt vor allem nach dem Grund, wrarum der Dreifltige und Eine Gott durch das Nichtandere bezeichnet wird, obwohl doch das Nichtandere jeder Zahl vorausgeht8.

    Nikolaus: Aus dem Gesagten ergibt sich die Erkenntnis von allem, und zwar aus einem einzigen Grund, der, wie du sahst, darin liegt, da das im Nichtanderen bezeichnete Prinzip sich selbst definiert. Sehen wTir uns also seine Definition in ihrer voll entwickelten Gestalt an, wonach das Nichtandere nichts anderes ist als eben das Nichtandere ! Wenn die dreifache Wiederholung des Gleichen die Definition des Ersten ist, wie du siehst, dann ist es

  • 16 Kapitel 5

    selbst in der Tat dreieinig und das aus keinem anderen Grunde, als weil es sich selbst definiert; es wre ja nicht das Erste, wenn es sich selbst nicht definierte; indem es sich aber definiert, zeigt es sich als dreifltig. Aus der Vollkommenheit ergibt sich, wie du siehst, die Dreiheit. Du vermagst sie jedoch nicht zu zhlen, noch von ihr einen Zahlcharakter zu behaupten, da du sie vor allem anderen erkennst. Ist doch diese Dreiheit nichts anderes als Einheit und die Einheit nichts anderes als Dreiheit, da Dreiheit wie Einheit nichts anderes sind als das einfache, durch das Nichtandere bezeichnete Prinzip7.

    Ferdinand: Da das Erste sich selbst definiert, so ergibt sich, wie ich sehr wohl sehe, seine Dreieinigkeit als notwendige Folge aus seiner Vollkommenheit. Diese Dreieinigkeit geht jedoch jeder anderen Gegenstandsbestimmung, auch der Zahlbestimmtheit, voran, da alles, dem das Erste selbst als Voraussetzung dient, nichts zu seiner Vollkommenheit beitrgt. Nun hast du des fteren an anderen Orten, vor allem in der Docta ignorantia, den Versuch unternommen, diese gttliche Fruchtbarkeit in irgendeiner Form mit Hilfe anderer Begriffe darzustellen8.Es wird deshalb gengen, wenn du jenen Bemerkungen jetzt noch einiges anfgst.

    Nikolaus: Das Geheimnis der Dreifaltigkeit ist 19 durch ein Gnadengeschenk Gottes Glaubensbesitz9.Es bersteigt alles Begreifen und ist selbst Voraussetzung alles Begreifens. Die Mittel aber, die uns in diesem Leben zur Erforschung Gottes zur Verfgung stehen, gestatten nicht, ihm anders und in bestimmterer Form Ausdruck zu geben, als es eben geschah. Wer jedoch die Dreifaltigkeit als Vater, Sohn und Heiligen Geist bezeichnet, kommt zwar weniger genau an die Wirklichkeit heran, hat indes in der

  • Das Nichtandere als Ausdruck der Dreieinigkeit 17

    Schriftgemheit dieser Namen die Gewhr fr einen zutreffenden Ausdruck10. Wer aber die Dreifaltigkeit als Einheit, Gleichheit und Verbindung beider bestimmt, der wrde der Wirklichkeit ziemlich nahekommen, wenn diese Bezeichnungen in der Hl. Schrift sich fnden, denn klar leuchtet in ihnen das Nichtandere auf. In der Einheit, welche Nicht-verschie- den-sein von sich und Verschieden-sein von anderem besagt11, erkennt man ja in der Tat das Nicht- andere. Ebenso zeigt es sich dem Betrachter auch in der Gleichheit und in der Verbindung beider1*. Noch einfacher wren die Begriffe: Dieses, Das und das Nmliche. Sie sind eine noch einleuchtendere und genauere Nachbildung des Nichtanderen, doch wenig gebruchlich1.

    So ist es denn deutlich, da im Nichtanderen und Nichtanderen und Nichtanderen mag diese Ausdrucksweise auch recht ungewhnlich sein das dreieinige Prinzip sich am klarsten offenbart, freilich ber alles Begreifen und alle unsere Fhigkeiten des Begreifens hinaus. Wenn nmlich das im Nichtanderen bezeichnete erste Prinzip sich selbst definiert, so entspringt eben in der Bewegung des Definierens aus dem Nichtanderen das Nichtandere, und die defmitorische Bewegung kommt nach der Entstehung des Nichtanderen aus dem Nichtanderen im Nichtanderen zum Abschlu, ein Verhltnis, das sich dem Blick des Beschauers klarer darstellen mag, als es dem sprachlichen Ausdruck gelingt.

  • 18 Kapitel 6

    Kapitel 6 20

    Das Nichtandere im Anderen

    Ferdinand: Das mag zu dieser Frage gengen. Weiterhin zeige nun das Nichtandere im Anderen.

    Nikolaus: Das Nichtandere ist weder das Andere, noch ein Anderes gegenber dem Anderen, noch ein Anderes im Anderen, und das aus keinem anderen Grunde als dem, da das Nichtandere in keiner Weise ein Anderes sein kann, gerade als ob ihm etwas fehlte, wie das bei dem Anderen der Fall ist. Das Andere hat, eben weil es ein Anderes gegenber irgendeinem Gegenstand ist, gerade das nicht, gegenber dem es ein Anderes ist. Dem Nichtanderen dagegen fehlt nichts, noch kann irgendetwas auer ihm sein, da es keinem gegenber ein Anderes ist. Ohne es kann es kein sprachliches Bezeichnen noch ein Denken geben, das beim Bezeichnen und Denken sich nicht dessen als Mittel bediente, ohne das kein Sein und kein Unterscheiden mglich ist, da es allen solchen Sachverhalten vorangeht. Auf Grund solcher Einsicht schaut man nun dieses selbst vor und losgelst von allem als nichts anderes als es selbst und erfat es am Anderen als nichts anderes als das Andere selbst. Ich sage z. B.: Gott ist keines von den sichtbaren Dingen, weil er ihre Ursache und ihr Schpfer ist, und sage andrerseits: Er ist im Himmel nichts anderes aLs der Himmel. Wie sollte es denn auch zugehen, da der Himmel nichts anderes ist als der Himmel, wenn das Nichtandere in ihm etwas anderes wre als der Himmel? Da indes der Himmel gegenber dem Nicht-Himmel etwas anderes ist, so ist er ein Anderes. Gott aber als das Nichtandere ist nicht der Himmel, der ein Ande-

  • Das Nichtandere im Anderen 19

    res ist, wenn er auch im Himmel nicht ein Anderes ist, noch ein Anderes gegenber dem Himmel1. In gleicher Weise ist das Licht nicht Farbe und doch weder ein Anderes an der Farbe noch gegenber der Farbe2.

    Du mut darauf achten, da der Sinngehalt des Nichtanderen deshalb nicht primr auf all die mglichen Gegenstnde sprachlicher Bezeichnung oder des Denkens zutrifft, weil sie alle ihren Gegenteilen gegenber andere sind. Gott aber, der nicht ein Anderes ist im Unterschied zu einem anderen, ist das Nichtandere, obwohl ein scheinbarer Gegensatz besteht zwischen dem Nichtanderen und dem Anderen. Doch, wie schon gesagt, steht das Andere nicht in Gegensatz zu dem, dem es sein Anderssein verdankt3. Nun siehst du die Richtigkeit des von den Theologen vertretenen Satzes, Gott sei alles in allem und doch nichts von allem4.

    Ferdinand: Niemanden gibt es, zum mindesten keinen, der aufmerksamen Sinnes ist, der das nicht mit dir einshe. Es steht daher fr jeden fest, da der unnennbare Gott alles benennt, der unendliche allem ein Ziel setzt, der grenzenlose alles begrenzt und da es mit allen anderen Bestimmungen sich ebenso verhlt5.

    Nikolaiis: Ganz recht. Verschwindet das Nichtandere, so verschwindet notwendigerweise alles, was ist und was nicht ist. Daraus ergibt sich die klare Erkenntnis, da in ihm alles zuerst es selbst ist und es selbst alles in allem. Ich sehe also im Anderen zuerst das Nichtandere und das Andere zuvor in ihm, und ich sehe folglich auch, wie durch es ohne die Mithilfe von irgend etwas anderem alles das ist, was es ist. Es schafft ja nicht den Himmel aus etwas anderem, sondern durch den Himmel, weil es

  • 20 Kapitel 7

    in ihm er selbst ist. In hnlicher Weise knnten wir es als erkennenden Geist bezeichnen oder als Licht und wrden finden, da es auch im Geiste der Grund von allem ist. Der Grund, warum der Himmel Himmel ist und nicht etwas anderes, liegt dann zuerst in ihm. Durch diesen Grund ist der Himmel gestaltet, er ist der Himmel im Himmel. Der Himmel, den unser Auge schaut, ist also das, was er ist, nicht durch die Wirksamkeit eines anderen6 oder ist nicht etwas anderes als der Himmel, sondern er ist durch die Wirksamkeit eben des Nichtanderen, und damit durch ein Etwas, das du vor dem Namen (des Himmels) erschaust, weil es alles in allen Namen ist und doch keiner von allen7. Mit demselben Recht, mit dem ich jenen Grund Himmel nannte, knnte ich ihn Erde nennen und Wasser, und Gleiches gilt von allen einzelnen Gegenstnden. Und wenn ich nicht einsehe, warum der Grund des Himmels Himmel zu nennen ist, da doch die Ursache nicht den Namen des Verursachten trgt, so fhrt mich dieselbe berlegung zu der Erkenntnis, da er mit keinem Namen zu belegen ist. Ich begreife also den Unnennbaren nicht als bar jeden Namens, sondern als vor jedem Namen8.

    Kapitel 7 23

    Bas Nichtandere als Voraussetzung alles Seins

    Ferdinand: Das sehe ich ein und erkenne es als wahr. Mit dem Aufhren der Ursache wrde auch die Wirkung aufhren1, und deshalb wrde mit dem Aufhren des Nichtanderen alles Andere aufhren, auch alles, was man benennen kann und da-

  • mit auch das Nichts selbst, denn auch Nichts ist eine Benennung. Erklre mir das bitte, damit ich es vllig durchschaue2.

    Nikolaus: Sicher ist: mit dem Aufhren der Klte wrde auch das Eis verschwinden, das bereits vielfach in Rom sich zeigt3. Die Existenz des Wassers, das frher ist als das Eis, wrde jedoch dadurch nicht berhrt. Mit dem Verschwinden des Seienden aber wrden Eis und Wasser aufhren, wirklich zu sein4. Und doch wrde die Materie oder die Existenzmglichkeit des Wassers nicht verschwinden. Diese Existenzmglichkeit des Wassers lt sich kurz als Mglichkeit bezeichnen5.

    Wrde nun aber das Eine und das Eis und das Wasser auf hren, so verschwnde auch die Mglichkeit fr die Existenz des Wassers6. Nicht aufhren aber wrde selbst dann alles Intelligible, das durch die Allmacht zum mglichen Sein des Wassers gestaltet werden knnte; nicht aufhren wrde etwa das intelligible reine Nichts oder das Chaos7. Sein Abstand vom Wasser ist freilich grer als der des reinen Mglich-Seins des Wassers, und doch mu jede Mglichkeit, auch wenn es eine ganz entfernte und vage wre, der Allmacht gehorchen. Die Kraft der Allmacht ber das Intelligible wrde nicht aufhren mit dem Aufhren des Einen8.

    Indessen mit dem Auf hren des Nichtanderen wrde sofort alles aufhren, dem das Nichtandere vorhergeht. Damit wrde nicht nur die Wirklichkeit und Mglichkeit der seienden Dinge aufhren, sondern auch das Nicht seiende und das Nichts als Gegensatz zu allem Seienden, da ihm das Nichtandere vorangeht.

    24 Ferdinand: Du hast dem Zweifel Genge getan. Nun sehe ich, da das Nichts, das nichts anderes ist

    Das Nichtandere als Voraussetzung alles Seins 21

  • 22 Kapitel 7

    als Nichts, vor sich das Nichtandere hat, von dem es ein grerer Abstand trennt als der zwischen wirklichem und mglichem Sein. Dem Geist zeigt sich die Tatsache, da selbst das vollendete Chaos durch die unendliche Kraft, welche das Nichtandere ist, zur Determinierung gezwungen werden kann*.

    Nikolaus: Aktuell unendlich Kraft hast du das Nichtandere genannt. Wie meinst du das1?

    Ferdinand: Je einheitlicher und je weniger andersgeartet eine Kraft ist, desto strker erscheint sie mir; wenn eine nun vllig nichtanders ist, so ist sie unendlich.

    Nikolaus: Eine ausgezeichnete und vor allem wohlberlegte Bemerkung! Wohlberlegt, sage ich: Wie nmlich das sinnliche Sehen, so scharf es auch sein mag, nicht aller Empfindung oder Empfindungsbewegung entbehren kann, so gibt es keine geistige Schau ohne alle berlegung oder Denkbewegung.

    Wenn ich aber auch feststellen kann, da du die richtige Einsicht besitzest, so mchte ich doch gerne wissen, ob das Nichtandere in allen Gegenstnden sich so dem geistigen Auge zeigt, da es unbedingt gesehen werden mu .

    Ferdinand: Ich kehre wieder zurck zum Begriff 25 des Ursprungs, der sich und alles, was durch die Sprache bezeichnet ^ werden kann, bestimmt. Dabei stelle ich fest, da das Sehen nichts anderes ist als Sehen, und ferner da das Nichtandere im Sehen ebenso wie im Nicht-Sehen von mir erfat wird. Wenn also der Geist ohne das Nichtandere weder sehen noch nicht-sehen kann, so mu das Nichtandere notwendig gesehen werden; ebenso wie das unbedingt Inhalt des Wissens sein mu, was man

  • Das Nichtandere und die Wesenheiten 23

    durch das Wissen und durch das Nichtwissen wei. Im Anderen erfat man das Nichtandere, denn bei der Erfassung des Anderen erkennt man das Andere und das Nicht-andere.

    Nikolaus: Gut gesagt! Aber wie erfassest du das Andere, wenn du es im Anderen nicht erfassest noch im Nichtanderen?

    6 Ferdinand: Die Setzung des Nichtanderen ist die Setzung von allem, seine Aufhebung die Aufhebung von allem, also ist das Andere nicht auerhalb des Nichtanderen, und wird auch nicht auerhalb desselben erfat.

    Nikolaus: Wenn du im Nichtanderen das Andere erfassest, so findest du es dort nicht als ein Anders-sein, sondern als ein Nicht-anderes, da ja unmglich im Nichtanderen ein Anderes sein kann.

    Ferdinand: Meine Behauptung, da ich das Andere im Nichtanderen erfasse, hat den Sinn, da es auerhalb desselben nicht erfat werden kann. Wrdest du mich aber fragen, was das Andere im Nichtanderen sei, so mte ich sagen: das Nichtandere.

    Nikolaus: Mit Recht.

    7 Kapitel 8

    Das Nichtandere