Niedriglohn - Wer Arbeitet, Ist Der Dumme

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NIEDRIGLOHN Wer arbeitet, ist der Dumme Grundproblem des Arbeitsmarktes sind stagnierende Löhne bei steigenden Sozialabgaben. Die Globalisierung drückt trotz Aufschwungs auf die Löhne, und die abhängig Beschäftigten müssen den ausufernden Sozialstaat weitgehend allein finanzieren. Immer mehr Menschen kommen mit ihrem Einkommen nicht aus. In manchen Branchen werden selbst niedrigste Einkommen noch weiter nach unten gedrückt: Schlagzeilen über Hungerlöhne mitten in Deutschland haben die Debatte über Mindestlöhne neu belebt. DPA Erntehelferin bei Apfelernte Niedriglohn Wer arbeitet, ist der Dumme 1. Niedriglohn: Wer arbeitet, ist der Dumme vom 24.09.2007 - 402 Zeichen SPIEGEL ONLINE 2. ARBEITSMARKT: Bizarrer Sonderweg vom 12.11.2007 - 10184 Zeichen DER SPIEGEL Seite 85 3. Deutschland: Durch die Hintertür vom 24.09.2007 - 3661 Zeichen DER SPIEGEL Seite 26 4. Titel: Die wahre Unterschicht vom 02.04.2007 - 42167 Zeichen DER SPIEGEL Seite 22 5. ARBEITNEHMER: Vorindustrielle Ausbeutung vom 15.01.2007 - 13329 Zeichen DER SPIEGEL Seite 68 6. ARBEITSMARKT: Radikaler Neuanfang vom 08.01.2007 - 12697 Zeichen DER SPIEGEL Seite 24 7. WOHLSTAND: Das geteilte Land vom 11.12.2006 - 21815 Zeichen DER SPIEGEL Seite 22 8. KOALITION: Im Teufelskreis vom 17.07.2006 - 17645 Zeichen DER SPIEGEL Seite 22 9. BESCHÄFTIGUNG: Bezahlbare Arbeit vom 19.04.2004 - 8981 Zeichen DER SPIEGEL Seite 48 10. MINIJOBS: Gefahr im Verzug vom 26.01.2004 - 4891 Zeichen DER SPIEGEL Seite 68 11. ARBEITSMARKT: Trend zum Drittjob vom 17.11.2003 - 6461 Zeichen DER SPIEGEL Seite 66 12. ARBEITSWELT: Amerika - ganz unten vom 07.01.2002 - 9786 Zeichen DER SPIEGEL Seite 80

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NIEDRIGLOHN

Wer arbeitet, ist der Dumme

Grundproblem des Arbeitsmarktes sind stagnierende Löhne bei steigenden Sozialabgaben. Die

Globalisierung drückt trotz Aufschwungs auf die Löhne, und die abhängig Beschäftigten müssen den

ausufernden Sozialstaat weitgehend allein finanzieren.

Immer mehr Menschen kommen mit ihrem Einkommen nicht aus. In

manchen Branchen werden selbst niedrigste Einkommen noch weiter nach

unten gedrückt: Schlagzeilen über Hungerlöhne mitten in Deutschland haben

die Debatte über Mindestlöhne neu belebt.

DPA

Erntehelferin bei Apfelernte

NiedriglohnWer arbeitet, ist der Dumme

1. Niedriglohn: Wer arbeitet, ist der Dumme vom 24.09.2007 - 402

Zeichen

SPIEGEL ONLINE

2. ARBEITSMARKT: Bizarrer Sonderweg vom 12.11.2007 - 10184

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DER SPIEGEL Seite 85

3. Deutschland: Durch die Hintertür vom 24.09.2007 - 3661 Zeichen

DER SPIEGEL Seite 26

4. Titel: Die wahre Unterschicht vom 02.04.2007 - 42167 Zeichen

DER SPIEGEL Seite 22

5. ARBEITNEHMER: Vorindustrielle Ausbeutung vom 15.01.2007 -

13329 Zeichen

DER SPIEGEL Seite 68

6. ARBEITSMARKT: Radikaler Neuanfang vom 08.01.2007 - 12697

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DER SPIEGEL Seite 24

7. WOHLSTAND: Das geteilte Land vom 11.12.2006 - 21815 Zeichen

DER SPIEGEL Seite 22

8. KOALITION: Im Teufelskreis vom 17.07.2006 - 17645 Zeichen

DER SPIEGEL Seite 22

9. BESCHÄFTIGUNG: Bezahlbare Arbeit vom 19.04.2004 - 8981

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10. MINIJOBS: Gefahr im Verzug vom 26.01.2004 - 4891 Zeichen

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11. ARBEITSMARKT: Trend zum Drittjob vom 17.11.2003 - 6461

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DER SPIEGEL Seite 66

12. ARBEITSWELT: Amerika - ganz unten vom 07.01.2002 - 9786

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DER SPIEGEL Seite 80

Was es heißt, Geringverdiener zusein, muss Ramon Gross niemanderklären. Der 34-jährige Postbote

fährt für einen privaten Kurierdienst fast 40 Stunden pro Woche mit Fahrrad oderMotorroller Briefe durch das südbadischeStädtchen Lörrach. Am Monatsende hater nur 1000 Euro netto auf dem Lohnzettel,nicht viel mehr als mancher Hartz-IV-Emp-fänger. „Damit komme ich gerade so überdie Runden“, sagt Gross.

Dass die Große Koalition am Montagdieser Woche einen Mindestlohn beschlie-ßen will, der seinen Verdienst um satte 25 Prozent erhöhen würde, sollte den ehe-maligen Langzeitarbeitslosen eigentlichfreuen. Tut es aber nicht – im Gegenteil. Ersagt: „Das ist meine größte Angst.“

Setzt der Staat wie geplant seinen Brief-trägerlohn gesetzlich bei knapp zehn Eurofest, so hat sein Arbeitgeber angekündigt,müsste der Betrieb schließen. Gross stün-de erneut auf der Straße. „Lieber verdieneich nur 7,80 Euro, als dass ich den Jobverliere.“

Der private Briefbote wäre das jüngsteOpfer der missglückten Mindestlohn-Poli-tik der Großen Koalition. In nahezu alleneuropäischen Staaten haben die Regierun-gen mittlerweile flächendeckende Ver-dienstgrenzen eingezogen, die zwischen3,80 Euro in Griechenland bis zu 9,08 Euroin Luxemburg reichen.

Nur Deutschland leistet sich einen bi-zarren Sonderweg: Nach dem bewährtenMotto „Warum einfach, wenn’s auch kom-pliziert geht“ will die Bundesregierungkeinen einheitlichen Mindestlohn für diegesamte Wirtschaft, sondern unterschied-liche Marken für einzelne Branchen fest-legen. Spezielle Verdienstregeln für Bau-arbeiter, Reinigungskräfte oder Dach-decker sind bereits eingeführt, weitere fürZeitarbeiter und Wachmänner, Friseureoder Fleischer sollen folgen.

Die Absichten sind, wie stets, die besten.Mit der geplanten Mindestlohn-Vielfaltmöchte die schwarz-rote Regierung denunterschiedlichen Bedingungen in ver-schiedenen Produktionszweigen Rechnungtragen und hiesige Niedriglöhner vor un-erwünschter Dumping-Konkurrenz ausdem Ausland schützen. Doch spätestensseit dem Gezerre um den Post-Mindest-lohn dämmert Wirtschaftspolitikern vonUnion und SPD, dass die Koalition einengefährlichen Irrweg einzuschlagen droht.

Mit ihrer Branchenstrategie schafft dieRegierung nicht nur ein kaum überschau-bares Mindestlohn-Geflecht samt mons-trösem Kontrollaufwand. Sie verzerrt auchden Wettbewerb in und zwischen denBranchen, fördert eine unfaire Klassen-gesellschaft von begünstigten und aus-gegrenzten Arbeitnehmern und droht dasLohnniveau mancher Dienstleistungssek-

toren auf beschäftigungsschädliche Höhenzu treiben.

Am Ende, so die Befürchtung, könntedas schwarz-rote Branchenkonzept weitmehr Arbeitsplätze kosten als die europa-weit übliche Einheitsregel. Selbst im Un-ternehmerlager, das die Branchenlösungbislang als vermeintlich kleineres Übelmitgetragen hat, wachsen die Bedenken.

„Die Entwicklung beim Thema Min-destlohn geht derzeit in die völlig falsche

Richtung und gefährdet zentrale Reform-erfolge“, heißt es in einem Brief vonDIHK-Präsident Ludwig Georg Braun anKanzlerin Angela Merkel.

Das Beispiel Briefdienstleister zeige,dass von Mindestlöhnen „beträchtlicheGefahren für den Standort Deutschlandausgehen“, schreibt Braun weiter. „Der be-schäftigungspolitische Schaden dürfte spä-testens mit der nächsten konjunkturellenAbkühlung sichtbar werden.“

Tatsächlich sind die Nachteile längstsichtbar. Vom Arbeitnehmerschutz bis zurTarifordnung verfehlt das Konzept derschwarz-roten Koalition all jene Ziele, diesie sich einst selbst gesetzt hatte.

So wollte die Union mit ihrem Konzeptum jeden Preis vermeiden, dass der Staatallzu tief in die Lohnbildung hineingezogenwird. Wenn die Tarifparteien einer Bran-che den angemessenen Mindestverdienstselbst aushandeln, so das Prinzip, brauchtdie Regierung die Absprache nur noch ab-zunicken und kann sich aus dem konkretenLohnstreit weitgehend heraushalten.

„Jede Lösung“, verkündete deshalb dieKanzlerin, müsse „auf der Tarifautonomieaufbauen“.

Ein schöner Plan, nur wurde er bereitsbeim ersten Praxistest, dem Post-Mindest-lohn, ad absurdum geführt. Erst präsen-tierte sich SPD-Arbeitsminister Franz Mün-tefering als Propagandist eines von der Post

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A R B E I T S M A R K T

Bizarrer SonderwegMit ihren Mindestlohn-Plänen behindert die Große Koalition den

Wettbewerb und schafft eine monströse Kontrollbürokratie. Im Arbeitgeberlager wächst der Ruf nach einem Kurswechsel.

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Wirtschaft

Koalitionspartner Müntefering, Merkel, Proteste von Pin-AG-Mitarbeitern (in Berlin): „Rückzug nicht ausgeschlossen“

initiierten Branchentarifvertrags, an demdie wichtigsten Wettbewerber der Branchegar nicht beteiligt waren.

Dann versuchte Kanzlerin Merkel dieTarifparteien mit einer Mischung ausDruck und Lockungen zu neuen Verhand-lungen zu zwingen. Und schließlich gabCSU-Wirtschaftsminister Michael Glos ver-gangene Woche der Einfachheit halbergleich ein paar Zahlen vor. Ein akzeptablerLohn, so verkündete sein Ministerium,könne bei 8 Euro oder 8,40 Euro liegen.

Nicht weniger offenkundig widersprichtder sich abzeichnende Post-Deal den ur-sprünglichen sozialpolitischen Zielen. Mitdem Mindestlohn, so hatten die Sozial-demokraten stets versprochen, sollte Ar-mutsverdiensten unter fünf oder sechsEuro entgegengetreten werden.

Zumindest von nachvollziehbarer Ge-rechtigkeit kann nach den jüngsten Plä-nen für die Postbranche keine Rede mehrsein. So soll der Mindestlohn künftig nurfür solche Arbeitnehmer gelten, die weitüberwiegend Briefe transportieren. Ku-rierfahrer oder Zeitungszusteller dagegen,die nur gelegentlich mal einen Brief aus-tragen, müssen sich weiter mit Minilöhnenabfinden.

Entsprechend würde das Konzept dieheutige Klassengesellschaft in der Boten-branche zementieren. Gewinner wären diePostangestellten, deren vergleichsweise

auskömmliche Verdienste erst einmal gesi-chert wären.

Silke Kynast zum Beispiel, die im Berli-ner Stadtteil Charlottenburg als Postbotinunterwegs ist, verdient mit einem Stunden-lohn von rund zwölf Euro fast doppelt soviel wie manch ein Kollege bei der priva-ten Konkurrenz. Und seitdem ihr Arbeit-geber vor kurzem den umstrittenen Mindest-lohn-Tarif ausgehandelt hat, ist sie sicher,dass das auch künftig so bleibt. „Die Postwird sich durchsetzen“, ist sie überzeugt.

Verlierer dagegen wären mehrere zehn-tausend Angestellte von privaten Post-

konkurrenten, dienach der Einführungdes Mindestlohnsihren Job einbüßen könnten. VergangeneWoche warnte derVorstand des dritt-größten Anbietersauf dem deutschenBriefmarkt, der nie-derländischen TNT-Gruppe, die Bundes-regierung vor denKonsequenzen.

Werde der um-strittene Mindest-lohn eingeführt undbleibe die Post vonder Umsatzsteuer

befreit, heißt es in einem Brief an Kanzle-rin Merkel, sei „ein Rückzug aus dem deut-schen Postmarkt nicht ausgeschlossen“.Mehr als 100000 Arbeitsplätze in der Bran-che wären bedroht; Merkel will den Briefzum Thema des Koalitionsgipfels machen.

Auch den vielen Kleinverdienern beiprivaten Botendiensten oder den Sub-unternehmen des Konzerns Post würde dieneue Regelung wenig bringen – für siehaben die Regierenden erst gar keineVerdienstgrenzen vorgesehen.

Für Sigrid Horn etwa, die für das ehe-malige Bundesunternehmen eine kleine

Wirtschaft

Gebäudereiniger (in Dresden): Knochenarbeit ohne Urlaubsgeld

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Postagentur im brandenburgischen Ört-chen Vehlefanz betreibt, liegen die ge-planten Mindestlöhne in weiter Ferne. Mitdem Einsammeln von Postsendungen unddem Verkauf von Briefmarken verdient dieSelbständige nicht mehr als sechs Euro proStunde. „Eigentlich kommen wir derzeitlediglich auf plus/minus null“, sagt Horn.

Sicher ist zudem, dass die geplanten Ver-dienstgrenzen der Branche eine neue Kon-troll- und Vorschriftenflut bescheren wür-den. Um zu prüfen, welcher Betrieb unterdie neuen Regeln fällt, müssten die Be-hörden künftig genauestens ermitteln, wiehoch der Briefanteil am Transportaufkom-men der Kurierfirmen ausfällt.

Und so wird der Wettbewerb in derBranche künftig wohl zu erheblichen Tei-len vor Gericht ausgetragen werden, so,wie es heute in anderen Mindestlohnbran-chen an der Tagesordnung ist.

Am Bau beispielsweise jagen schon seitJahren Gärtnereibetriebe etablierten Bau-firmen lukrative Aufträge bei der Anlagevon Sportarealen, Wegen oder Parkplät-zen ab. Der Grund: Die Grünbetriebe brau-chen den Baumindestlohn von bis zu 12,50Euro nicht zu zahlen. Im Gegenzug legensich immer mehr Baufirmen eigene Gärt-nerei-Töchter zu, um auf dem umkämpftenMarkt mithalten zu können.

Zugleich setzen die vereinbarten Min-destlöhne regelmäßig Orientierungsmar-

ken für andere Branchen. So drängenderzeit etwa die Gebäudereiniger darauf,ihren Mindestlohn von 7,87 (West) und6,36 Euro (Ost) um ein zusätzliches Ur-laubsgeld aufstocken zu dürfen.

„Mit welchem Recht werden fürBriefboten acht Euro festgesetzt“, em-pört sich Johannes Bungart, Geschäfts-führer des Bundesinnungsverbands desGebäudereinigerhandwerks, „während un-sere Angestellten für ihre Knochen-arbeit nicht einmal das Urlaubsgeld be-kommen?“

Was passiert, wenn die Koalition ihreMindestlohn-Strategie fortsetzt, ist deshalblängst absehbar. Je mehr Branchen gesetz-liche Verdienstgrenzen erhalten, destoschwieriger wird es für die Regierung, dieInteressen der unterschiedlichen Wirt-schaftszweige auszutarieren. Am Ende, daist Arbeitgeberfunktionär Bungart über-zeugt, „gibt es gar keinen anderen Weg, alseinen einheitlichen Mindestlohn für alleBranchen festzusetzen“.

Das dämmert mittlerweile auch vielenWirtschaftspolitikern der Union. Für einenentsprechenden Kurswechsel aber, so glau-ben sie, ist es inzwischen zu spät. „Wir wis-sen zwar, dass wir auf dem falschen Damp-fer sind“, sagt ein führender CDU-Öko-nom, „aber runter kommen wir jetzt nichtmehr.“ Julia Becker, Michael Sauga,

Felix Wadewitz

Quelle:WSI-Tarifarchiv

Tarifliche Mindestlöhnenach dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz,in Euro pro Stunde

Gebäudereiniger-handwerk

Maler- undLackiererhandwerk

ElektrohandwerkMontage

Abbruch- undAbwrackgewerbe

Dachdeckerhandwerk

Bauhauptgewerbe

WEST OST

7,87 6,36

7,85 7,15

9,20 7,70

9,49 8,80

10,00 10,00

10,40 9,00

Postdienste

Industrielletextile Dienste 9,02 7,83

8,40 8,00

geplant

Ungelernter

Geselle 10,73 9,37

Hilfskraft

Fachwerker 11,60 9,80

Werker

Fachwerker 12,50 9,80

Mindestentgelt

Briefzusteller 9,80 9,00

geplant

Novelle zum Gesetz über das Bundeskri-minalamt, weil die Koalition sich nichtüber Online-Durchsuchungen einigenkann. So stört Schäuble mit seinen Phan-tasien die reale Politik, nicht gerade einAusweis von Regierungskunst.

Schäuble sieht sich im Kampf gegen denTerror, und er fühlt sich offenkundig her-ausgefordert, nicht nur als Bundesinnen-minister mit der Zuständigkeit für heikleVerfassungsfragen, sondern auch persön-lich: Den promovierten Juristen hat, wie esaussieht, offenbar der Ehrgeiz gepackt, dieBedrohung durch den islamistischen Terrormit neuen Paragrafen einzudämmen.

Nur so ist zu erklären, dass er die ge-planten Grundgesetzänderungen nicht sei-nem Stab überlässt, sondern selbst daranherumformuliert, zum Beispiel im Fall derOnline-Durchsuchung.

Da lässt er sich von Struck und Justizmi-nisterin Brigitte Zypries nicht bremsen, diefinden, es sei sinnvoll, eine ausstehende Ent-scheidung des Bundesverfassungsgerichts

abzuwarten, das sich von Oktober an mitdem nordrhein-westfälischen Verfassungs-schutzgesetz befasst – das erste und bishereinzige Gesetz, das Online-Durchsuchun-gen erlaubt.

Sollten die Verfassungsrichter dieses Ge-setz kassieren, so fürchtet Schäuble, würdedanach monatelang debattiert. Womöglichwäre das eigene Vorhaben für die laufendeLegislaturperiode komplett blockiert: „Solange können wir nicht warten“, befandSchäuble in den vergangenen Wochen im-mer wieder. Das ist der Hauptgrund, war-um er in Sachen Online-Durchsuchungenzur Eile drängt.

Über kein anderes Thema gibt es zwi-schen Kabinettskollegen ähnlich tiefe Ver-werfungen wie zwischen Schäuble und Zy-pries in ebendieser Frage.

Was den Sozialdemokraten die größtenSorgen macht, sind nicht die Sätze, dieSchäuble sagt, sondern die Sätze, die ernicht sagt. Bei ihm wird nicht ohne Grund

Deutschland

26 d e r s p i e g e l 3 9 / 2 0 0 7

Wenn sie bei Gewerkschaftenund Arbeitgebern eingeladenist, tritt die Kanzlerin gern als

Verteidigerin der Tarifautonomie auf.Derzeit jedoch müssen die hehren Prin-zipien ein wenig zurückstehen. In dennächsten Tagen will sich Angela Merkelin einen laufenden Konflikt einschalten.

Adressat ihrer Intervention ist Post-Chef Klaus Zumwinkel. Die Kanzlerinwurmt, dass der Konzern mit den Ge-werkschaften einen Mindestlohn aus-gehandelt hat, an dessen Ausgestaltungdie künftigen Briefverteil-Wettbewerbernicht beteiligt waren. Geht es nach demWillen der SPD, sollen auch die neuenFirmen Löhne von bis zu 9,80 Euro zah-len. Arbeitsminister Franz Münteferingsetzte im Kabinett durch, dass der um-strittene Vertrag für allgemeinverbind-lich erklärt werden soll.

Das unterlaufe den Wettbewerb aufdem Briefmarkt, wird Merkel demPostchef bei dem geplanten Gesprächvorhalten. Die Kanzlerin fürchtet, dasssich die Neulinge die hohen Löhne garnicht leisten können. Den Boss des zu 30,6 Prozent staatseigenen Logistik-unternehmens will sie auffordern, ge-meinsam mit den Konkurrenten undden Gewerkschaften einen neuen Min-destlohn auszuhandeln, den auch dieHerausforderer bezahlen können.

Auch das vom CSU-Politiker MichaelGlos geführte Bundeswirtschaftsminis-terium will sich in den Konflikt ein-schalten. Für Mittwoch dieser Wochesind die Post-Konkurrenten ins Wirt-schaftsministerium nach Berlin geladen.Unter der Leitung von StaatssekretärWalther Otremba soll nach Lösungenfür den Streit gesucht werden.

Die Beamten interessiert vor allem,wie vielen Betrieben die Pleite droheund wie viele Jobs vernichtet würden,wenn der Abschluss für alle Firmengilt. Auf jeden Fall müsse „nachgebes-sert werden“, etwa durch „Einbezie-hung der Wettbewerber“, heißt es ineinem Papier des Ministeriums.

Der Eingriff der Union ist der vorläu-fige Höhepunkt eines verbissenen ko-alitionsinternen Machtkampfs, bei demdie SPD derzeit die Oberhand hat.Nicht nur wird in einer weiteren Bran-che eine gesetzliche Lohnuntergrenzeeingezogen, was das belastete Verhältniszwischen SPD und Gewerkschaften ent-

spannen dürfte. Durch die Hintertürwird praktisch das Briefmonopol ver-längert, das zum Jahresende ausläuft.Bei dem vereinbarten Lohnniveau müss-te die Post kaum Konkurrenz fürchten.

Um die Attacke zu kontern, will Mer-kel die zerstrittene Post-Branche nunzu einem gemeinsamen Tarifabschlussdrängen. So versucht sie, das eigeneLager darüber hinwegzutrösten, dassMüntefering die Union erneut bei einerwichtigen wirtschaftspolitischen Frageüberrumpelt hat.

Helfen könnte ihr dabei das Gebarenvon Zumwinkels niederländischer Post-

Tochter Selekt Mail. Das Unternehmenbeschäftigt rund 10000 Zusteller auf ei-ner Art Stücklohnbasis als freie Mitar-beiter. Die meisten davon haben wederAnspruch auf Urlaub noch Lohnfort-zahlung im Krankheitsfall, geschweigedenn auf den Post-Mindestlohn vonneun Euro je Arbeitsstunde.

Nach einer Untersuchung der örtli-chen Gewerkschaft erhalten Zumwin-kels niederländische Mitarbeiter Stun-denlöhne zwischen sechs und achtEuro. Die Post streitet die Zuständenicht grundsätzlich ab. Allerdings, sodie Rechtfertigung, habe sie die in denNiederlanden durchaus üblichen Ar-beitsverhältnisse schon vorgefunden,als sie das Unternehmen übernommenhabe. Nun würden die Verträge nachund nach verbessert. Frank Dohmen,

Christian Reiermann, Michael Sauga

Durch die HintertürDie Kanzlerin interveniert bei Post-Chef Zumwinkel im verfahrenen Streit um einen Mindestlohn für Briefträger.

Briefzentrum der Deutschen Post (in Erfurt): Koalitionsinterner Machtkampf

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Einkommens-schwund . . .

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Reales Bruttoeinkommen(Einkommenszuwachsminus Inflation),Veränderung gegenüber1992 in Prozent

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1970 75 80 85 90 95 2000 05

. . . undsteigende LastenSozialabgabenin Prozentdes Bruttolohns,Arbeitnehmer- undArbeitgeberanteil

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An vieles hat sich Matthias Rolle in-zwischen gewöhnt: die öden Nacht-schichten von abends elf bis mor-

gens um sieben, das stundenlange Stehenmit Wollpullover und Thermoweste in einerfünf Grad kalten Kühlhalle, den ständigenBlutgeruch von frischem Fleisch. Auch dass

er als Schichtarbeiter in einer DresdnerGroßmetzgerei während der Woche Frauund Kind kaum sieht, hat er gelernt zu ertragen. „Das Familienleben“, sagt er,„findet eben am Wochenende statt.“

Der gelernte Fleischer ist geduldiggeworden in seinem über 20-jährigen Be-

rufsleben; doch mit einem mag er sichnicht abfinden. Er arbeitet nicht selten 40Stunden die Woche und mehr, aber was erdafür bekommt, reicht vorn und hintennicht.

Rolle sitzt auf dem winzigen Balkon sei-ner 60-Quadratmeter-Wohnung in einer

22 d e r s p i e g e l 1 4 / 2 0 0 7

Die wahre UnterschichtDer Aufschwung ist da – doch die Masse der Arbeitnehmer hat davon wenig. Daran wird auch die

kommende Tarifrunde kaum etwas ändern. Die Globalisierung drückt weiter auf die Löhne, und die abhängig Beschäftigten müssen den ausufernden Sozialstaat weitgehend allein finanzieren.

Titel

Plattenbausiedlung am Rande der Dresd-ner Altstadt. Er legt einen dreifach gefal-teten DIN-A4-Zettel auf den weißen Cam-pingtisch. Es ist seine Verdienstbeschei-nigung.

Nach allen Abzügen bleiben netto 1206Euro. Das ist kaum mehr, als mancherHartz-IV-Empfänger nach Hause bringt.Sein Gehalt ist schon seit Jahren nichtgestiegen, gleichzeitig werden Strom undLebensmittel immer teurer.

„Wohlstand ist ein Traum“, sagt er, „dermit ehrlicher Arbeit nicht mehr zu ver-wirklichen ist.“

Und so setzt sich Rolle mehrmals dieWoche an den billigen Schulcomputerseines Sohnes und informiert die Welt ineinem Internet-Tagebuch (www.hungerloehner.de) über die Nöte der arbeitenden

Unterschicht in Deutschland: wie die Be-triebskostennachzahlung ein tiefes Loch indie Haushaltskasse reißt, weshalb er einenBesuch in der Stammkneipe inzwischenals Luxus verbucht, warum der geplanteGriechenlandurlaub mal wieder verscho-ben werden muss.

„Man kann sich den Arsch aufreißen,wie man will“, sagt er, „es wird einfachnicht besser.“

Die triste Bilanz des Dresdner Metzgersdeckt sich mit der Erfahrung von MillionenMenschen im Land. Sie arbeiten hart undkommen doch kaum über die Runden.Was sie verdienen, reicht immer wenigerzum Leben.

Fast sieben Millionen Deutsche geltenals Niedriglöhner, ihr Einkommen beträgtweniger als zwei Drittel des Lohnmittel-

werts. Und das wird auch so bleiben: Siehaben kaum Chancen, dass es ihnen ein-mal besser geht. Sie sind die Verlierer derGlobalisierung.

Einfache Arbeit ist nichts mehr wert,weil irgendwo auf der Welt immer nochbilliger produziert werden kann. Und weildie Konsumenten kaufen, was billig ist.

Vergangene Woche beschäftigten dieNöte der Geringverdiener mal wieder dieBerliner Regierungskoalition. Zum wie-derholten Mal verhandelten Union undSPD über Kombi- und Mindestlöhne. Zumwiederholten Mal kam wenig heraus.

Ein paar neue Verdienstsubventionenwird es geben und ein paar Vorschriftengegen allzu rücksichtslose Lohndrückerei.Beim Thema Mindestlöhne aber konn-ten sich die Kontrahenten lediglich darauf

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Werftarbeiter (in Rostock)

BERND WÜSTNECK / DPA

verständigen, bis Ende April weiterzu-streiten.

Wer besser qualifiziert ist und zudem dasGlück hat, in einem Metallunternehmen zuarbeiten, das Tariflöhne zahlt, der kanndemnächst zwar mit einer kräftigen Lohn-erhöhung rechnen. Nachdem die Arbeitge-ber vergangene Woche bereits ein dreipro-zentiges Verdienstplus in Aussicht gestellthaben, rechnen Experten nun mit einerLohnerhöhung von rund vier Prozent.

Aber dass die Schere zwischen Arm undReich, zwischen Gut- und Schlechtverdie-nern im Land weiter auseinandergeht, dar-an wird sich nichts ändern. Denn die ab-hängig Beschäftigten werden in die Zangegenommen: Zum einen drückt die Kon-kurrenz billiger Arbeitermassen aus Ost-europa oder Asien die Löhne ganzer Bran-chen und Berufsgruppen mitunter aufHartz-IV-Niveau herunter. Zum anderenfordert der vielfach fehlkonstruierte So-zialstaat ausgerechnet den Arbeitnehmerndie größten Opfer ab.

Wie schlecht es um die materielle Situa-tion der Arbeitnehmer in diesem Landtatsächlich bestellt ist, zeigt eine neueStudie des Deutschen Instituts für Wirt-schaftsforschung (DIW). Detailliert wie niezuvor haben die Berliner Ökonomen Gert

Wagner und Markus Grabka die Entwick-lung der Einkommen in Deutschlanduntersucht. Der erschreckende Befund:Kaum eine andere soziale Gruppe hat inden vergangenen Jahren solche materiellenEinbußen hinnehmen müssen.

Die sogenannten Markteinkommen vonArbeitern und Angestellten, so die Studie,sind in den vergangenen Jahren deutlichgesunken. Zudem zahlen sie mehr als an-dere Bevölkerungsgruppen in das sozialeSicherungssystem ein – und schneiden fi-

nanziell oft schlechter ab als diejenigen,die von ihren Beiträgen leben. WährendRentner und Pensionäre in den vergange-nen zwei Jahrzehnten teils beträchtlicheZuwächse verbuchen konnten, stagniertdie Einkommensposition der abhängig Be-schäftigten.

Der Lebensstandard der Arbeitnehmerhat sich von der Wirtschaftsentwicklungweitgehend abgekoppelt. Die Konjunkturbrummt wie seit Jahren nicht; die heimi-sche Exportindustrie meldet Absatzrekor-

de in Serie; Gewinne, Aktienkurse undManagergehälter explodieren – aber vieleBeschäftigte haben seit Jahren keine Lohn-erhöhungen bekommen, anderen wurdenUrlaubs- oder Weihnachtsgeld gekürzt,wieder andere verloren ihre Jobs und muss-ten schlechter bezahlte Stellen antreten.

Fast 500 000 Bundesbürger verdienenmit ihrer Vollzeitstelle so wenig Geld, dasssie zusätzliche finanzielle Unterstützungin Form von Arbeitslosengeld II benöti-gen. Eine „besorgniserregende Entwick-

lung“, konstatierte vergan-gene Woche Behörden-Vor-stand Heinrich Alt.

Während die Zahl dersozialversicherungspflichtigBeschäftigten jahrelang sank,

wuchs das Heer der Rentner, Pensionäreund Arbeitslosen. Im Gefolge schnellte dieAbgabenlast der Arbeitnehmer nach oben,und die verfügbaren Haushaltseinkünftegingen in den vergangenen Jahren zurück.

Besonders ungünstig fällt die Bilanz da-bei für jene Werktätigen aus, die als Bau-helfer, Bandarbeiter oder Lkw-Fahrer aufden unteren Etagen der Verdienstskalafestsitzen. Sie müssen, gemessen an ihrenEinkünften, besonders hohe Sozialabga-ben abführen – und zusehen, wie die Leis-

Titel

24 d e r s p i e g e l 1 4 / 2 0 0 7

Metzger (im Schlachthof Mannheim): „Wohlstand ist ein Traum, der mit ehrlicher Arbeit nicht mehr zu verwirklichen ist“

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KAUM EINE ANDERE GRUPPE HATMEHR EINBUSSEN HINNEHMENMÜSSEN ALS DIE ARBEITNEHMER.

DGB-Forderung:

Kombilohn Monatliche Zuschüsse für Geringverdiener (Steuergutschrift)

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100

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300

Monatseinkommen in Euro, brutto

500 1500 2500

Zuschuss in EuroGROSSBRITANNIEN

0

100

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400

500 1500 2500

Ehepaar mit einem KindEhepaar mitzwei Kindern

Ehepaar miteinem Kind

Single

USA

Single

Zusatzzahlung fürArbeitszeit von über30 Stunden

Gesetzlicher MindestlohnMindest-Stundenlöhne ausgewählterLänder 2007, in Euro

Zuschuss

Luxemburg

Irland

Frankreich

Niederlande

Großbritannien

Deutschland

Spanien

9,08

8,30

8,27

8,13

7,96

3,99

Stütze für den Niedriglohn

7,50

tungen sinken. Sie müssen erleben, wiesich ihre einst mit Tarifverträgen und Be-triebsrenten geordnete Arbeitswelt in einepartiell rechtsfreie Wildwest-Ökonomieverwandelt, in der es oft nur darum zu ge-hen scheint, das Lohnniveau immer weiterzu drücken. Sie müssen hinnehmen, dasssie in vielen Berufen nur noch als Zeitar-beiter, Minijobber oder Scheinselbständigegefragt sind.

Es geht um mehr als um ein paar Euro zusätzlich in der Lohntüte. Es geht

um das Vertrauen in die ökonomische und gesellschaftliche Grundordnung derRepublik.

Noch vor wenigen Jahren galt die sozia-le Marktwirtschaft als Garant für ökono-misches Wachstum und gesellschaftlichenAusgleich. „Wohlstand für alle“ hatte Lud-wig Erhard einst versprochen – und tat-sächlich erlebten besonders die Arbeit-nehmer das hiesige Gesellschaftsmodell bisweit in die achtziger Jahre als verlässlichenReichtumsproduzenten, der sie abwech-

selnd mit höheren Löhnen, längerem Ur-laub, kürzeren Arbeitszeiten versorgte.

Doch seit der Eiserne Vorhang gefallenist und immer mehr Jobs in die neuen Bil-liglohnregionen jenseits der Grenzen aus-wandern, fühlen sich viele Arbeitnehmerin einer Abwärtsspirale gefangen. Selbst li-berale Wirtschaftsblätter wie der Londoner„Economist“ beschreiben die Globalisie-rung mittlerweile als „giftiges Gemisch ausUngleichheit und stagnierenden Löhnen“.

Der Frust der Verlierer wird noch ver-tieft durch jüngste Jubelmeldungen ausden Chefetagen. Allein im vergangenenJahr haben sich die Gehälter der Kon-zernvorstände in den 30 größten Aktien-gesellschaften um bis zu 20 Prozent erhöht,so eine „Handelsblatt“-Studie. Im vergan-genen Jahrzehnt haben sich die Chef-gehälter sogar verdreifacht.

Kein Wunder, dass nur noch 28 Prozentder Bundesbürger davon überzeugt sind,dass es in der Republik sozial gerecht zu-geht, wie eine Allensbach-Umfrage zeigt.Mehr als zwei Drittel aller Deutschen be-klagen, dass sich die gute Lage der Unter-nehmen für die Beschäftigten nicht mehrpositiv niederschlägt.

Und das wird wohl auch so bleiben –wenn es nach dem Willen der meistenÖkonomen geht. Sie glauben, dass diedeutsche Wirtschaft nur deshalb wieder sostark ist, weil die Löhne in den vergange-nen Jahren kaum gestiegen sind. KräftigeLohnerhöhungen würden diese Wettbe-werbsfähigkeit wieder gefährden.

In schlechten Zeiten sollen sich die Ar-beitnehmer zurückhalten, damit die Unter-nehmen wieder konkurrenzfähiger werden,und in guten Zeiten sollen sie sich ein-schränken, um das Erreichte nicht zu gefähr-den – wann, so fragen sich viele Arbeitneh-mer und ihre Interessenvertreter, sollen dieLöhne jemals wieder nennenswert steigen?

Tatsächlich schränkt der globale Wett-bewerb das Potential für Lohnsteigerun-gen gewaltig ein. Ist der weitere Abstiegder abhängig Beschäftigten deshalb un-ausweichlich?

Nicht unbedingt. Denn viele Problemesind hausgemacht, zumindest die schlimms-

Vizekanzler Müntefering, Kanzlerin Merkel: Wenig Chancen für tiefgreifende Reformen

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d e r s p i e g e l 1 4 / 2 0 0 7 25

Schwindende BasisAnteil* von Personen inHaushalten von...

. . . Selb-ständigen,Arbeitslosen,Rentnern,Pensionären,Sonstigen

55,2%

1992 2005

64,6%

80975 Mio. 82438 Mio.

. . . abhängigBeschäftigten

44,8%35,4%

*in DeutschlandQuelle: SOEP

ten Auswüchse könnte die Regierungdurchaus ändern. So • gibt es hierzulande weder flächen-

deckende Mindest- noch Kombilöhne,vor allem aber kein politisches Konzeptfür den Niedriglohnsektor, stattdessensubventioniert die Regierung schlecht-bezahlte Mini- oder Ein-Euro-Jobs undvergrößert so das Problem, das sie ei-gentlich lösen sollte;

• beschwert der Staat den Faktor Arbeitmit Abgaben wie kaum ein anderes In-dustrieland, um den Wohlfahrtsstaat zufinanzieren. Die Sozialbeiträge, die denLöhnen aufgeschlagen werden, verteuerndie Arbeitsplätze, schmälern den Netto-verdienst und setzen eine unheilvolle Spirale in Gang: Um den Gewinn zu hal-ten, streichen die Firmen Jobs. Damit ver-mehren sie das Heer der Transferemp-fänger, so dass die Beiträge erneut steigenund die Nettoverdienste weiter sinken.

Diesen Teufelskreis zu Lasten von Jobsund Einkommen zu durchbrechen, hatteAngela Merkel einst zu ihrem wichtigstenpolitischen Ziel erklärt. Mit einer Gesund-heitsprämie für die Krankenversicherung,einer Reform des Arbeitsmarkts und zu-sätzlichen Steuerspritzen fürs Sozialsystemwollte sie die Lohnnebenkosten senkenund den Faktor Arbeit hierzulande wiederwettbewerbsfähig machen.

Doch inzwischen ist klar, dass sie dasReformprogramm ihres Leipziger Partei-tags dem Kampf um den Machterhalt ge-opfert hat. Unter der narkotisierendenWirkung günstiger Konjunkturdaten hatdie Große Koalition die Arbeiten auf derReformbaustelle Deutschland weitgehendeingestellt. Die gerade verabschiedete Ge-sundheitsreform wird die Sozialbeiträgeweiter steigern, statt sie zu senken. BeimUmbau der Pflegeversicherung könnteÄhnliches herauskommen, sofern die Gro-

ße Koalition überhaupt eine Reform zu-stande bringt.

Um das Volk zu beruhigen, bedient dasFührungspersonal der Koalitionsparteienin Reden, Fernsehinterviews und Video-botschaften weiter die Werte der alten Ar-beitnehmerökonomie. „Man kann nicht inder Mitte der Gesellschaft die materielleSchraube ständig enger drehen“, warntSPD-Chef Kurt Beck. „Wer arbeitet, mussmehr haben, als wenn er nicht arbeitet“,fordert Kanzlerin Angela Merkel.

In der politischen Praxis aber setzt dieRegierung auf die Gnade der guten Kon-junktur. Warum schwierige Reformen an-packen, wenn der Aufschwung die Ar-beitslosenzahl ganz von allein nach untenzu drücken scheint? Warum Neues wagen,wenn der Status quo bei Wirtschaft undVerbrauchern doch viel beliebter ist?

Wo sich die Koalition keine Reformmehr zutraut, sollen andere dafür sorgen,

dass die Beschäftigten wie-der mehr Geld in der Taschehaben. Von FinanzministerPeer Steinbrück bis CDU-Wirtschaftssprecher LaurenzMeyer forderten führende

Politiker in den vergangenen Wochen Ge-werkschaften und Arbeitgeberverbändedazu auf, bei den anstehenden Tarif-runden die Löhne deutlich zu erhöhen.„Es ist Zeit“, ermunterte Arbeitsminister Müntefering, „die Spirale wieder nachoben zu drehen.“

Die Regierung startet ein Ablenkungs-manöver. Doch es ist allzu durchsichtig:Schließlich haben die Arbeitnehmer in denvergangenen Jahren oft genug erlebt, dasssie am Ende des alljährlichen Tarifritualsschon froh sein konnten, wenn ihr Gehaltauf dem bisherigen Niveau lag. In denvergangenen fünf Jahren, so zeigt die Stu-die der Berliner Forscher, sind die Brutto-verdienste in durchschnittlichen Beschäf-tigtenhaushalten um rund vier Prozentgesunken.

Der Informationselektroniker AndreasMillert arbeitet seit 23 Jahren bei Siemensin Berlin, zuletzt als Systembetreuer imSpandauer Messgerätewerk. Die Fabrik giltals hochprofitabel, nur die Löhne hinkenhinterher. Inklusive Überstunden verdientMillert gerade mal 1800 Euro netto, kaummehr als vor fünf Jahren.

Natürlich ärgert ihn das. Doch dass dieLöhne stagnieren, während alles teurerwird, ist er seit Jahren gewohnt.

Aufgebracht aber hat ihn vor allem, dassSiemens-Boss Klaus Kleinfeld im vergan-genen Jahr die eigenen Bezüge sowie dieseiner Vorstandskollegen um volle 30 Pro-zent nach oben schrauben wollte – mit-ten in der schlimmsten Konzernkrise seitJahren.

Zur gleichen Zeit erfuhren die Mitar-beiter des von Siemens an BenQ verkauf-ten Handy-Unternehmens, dass ihre Wer-ke dichtgemacht werden.

Titel

d e r s p i e g e l 1 4 / 2 0 0 7

BEEINDRUCKT VON DEN GUTENKONJUNKTURDATEN HAT DIE KOALITIONDIE REFORMARBEIT EINGESTELLT.

26

„Früher saßen alle in einem Boot“,meint Millert. „Heute fordern die Vor-stände Managergehälter wie in Amerika,aber die Arbeitnehmer sollen sich an denLöhnen in China orientieren.“

Ende Januar fuhr der Facharbeiter mitdem Nachtzug nach München zur Sie-mens-Hauptversammlung. Er wollte hören,wie Kleinfeld die Forderung nach höherenManagergehältern rechtfertigt. Aber derSiemens-Chef sagte kein Wort dazu. „Dieda oben verlieren die Bodenhaftung“, sagtMillert, „und die Schere in der Gesellschaftgeht immer weiter auseinander.“

So denken derzeit viele Arbeitnehmer.Ist es fair, fragen sie, dass der Abstandzwischen Vorstandsetage und Fabrikhalleimmer größer wird? Ist es gerecht, dass ihr Anteil am Betriebsergebnis ständigschrumpft?

Die Ökonomen kennen eine einfacheFaustformel: Sollen die Löhne das Arbeits-ergebnis korrekt widerspiegeln, müssen sie etwa im selben Umfang wachsen wiePreise und Produktivität der Wirtschaft.Steigen die Löhne zu rasch, könnten Ar-beitsplätze gefährdet werden. Legen siemit geringerer Rate zu, fahren die FirmenExtragewinne ein. Oder sie verbessern ihreWettbewerbsfähigkeit.

Nach dieser Formel wäre im vergan-genen Jahrzehnt ein Verdienstplus vonjährlich 2,5 Prozent wirtschaftlich vertret-bar gewesen. Tatsächlich aber sanken dierealen Nettoverdienste pro Arbeitnehmerim Schnitt um 0,5 Prozent pro Jahr. DieDifferenz strichen Arbeitgeber und derStaat ein.

Auf dem Weg vom Plus zum Minusmussten die Arbeitnehmer den erstenRückschlag bereits während der Tarifver-handlungen hinnehmen. Obwohl die Ge-werkschaften im vergangenen Jahrzehntkaum weniger kämpferisch auftraten alsfrüher und teils wochenlange Streiks in derBau- und Metallindustrie sowie im Öffent-lichen Dienst anzettelten, blieben die Er-gebnisse hinter den Möglichkeiten zurück.In den zwölf Jahren seit 1995 schlossen IG Metall und Co. fünfmal oberhalb dessogenannten Verteilungsspielraums ab, sie-benmal blieben sie darunter – im Durch-schnitt aber lagen sie jährlich um einenhalben Prozentpunkt niedriger.

Weil die eingerechnete Inflationsratezwar die Löhne, nicht aber die reale Kauf-kraft steigen lässt, gingen den Beschäftig-ten – Minusfaktor Nummer zwei – weitere1,4 Prozentpunkte pro Jahr verloren.

Den dritten Schwundfaktor schließlichbezeichnen die Ökonomen als Lohndrift.

Sie gibt die Spanne an zwischen demTarifverdienst und dem, was die Beschäf-

* Oben: Airbus-Beschäftigte in Hamburg am 16. März;unten: im Hamburger Hafen.

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Arbeiter-Demonstration, Container-Verladung*Einfache Arbeit ist nichts mehr wert

Titel

28 d e r s p i e g e l 1 4 / 2 0 0 7

Der Frankfurter Wohnblock 23 istein Arbeiterschließfach: 96 Män-ner sind in 24 Zimmern unterge-

bracht, auf jeden kommen, rein rechne-risch, drei Quadratmeter.

Über vier Eisenbetten und zweischmucklosen Holzschränken sind Wä-scheleinen gespannt. Löchrige Jogging-anzüge hängen herunter und vonSchweiß gefärbte Shirts – Plagiate derMarken Adidas und Nike. ZwischenAschenbechern und Müll glänzen email-lierte Gaskocher, die als Herd und alsToaster dienen. Auf einem Kühlschranksteht ein Fernsehgerät aus den frühen Tagen der TV-Produktion.

19 Rumänen hausen hier. Im Juli ka-men sie nach Frankfurt am Main, weilihnen für den Ausbau des KrankenhausesBad Soden ein ordentliches Salär ver-sprochen worden war.

Doch nach zwei Anzahlungen von 500 Euro verebbte der Zahlungsstrom.Die Männer wurden vertröstet – und ar-beiteten weiter, zwei Monate lang.

Die Hoffnung auf Bezahlung schwandallmählich, die Wut aber wuchs. „OhneGeld kann ich meine Familie nicht einmalmehr am Leben halten“, klagt Ion Banu,der sich mit drei Landsleuten das Lebenhinter Tür Nummer 304 in dem her-untergekommenen Plattenbau teilt. Umseine Frau und den einjährigen Sohnernähren zu können, hatte der 35-Jähri-ge seine Heimat verlassen. Jetzt sitzt er inDeutschland fest und kann nicht einmalmehr sich selbst unterhalten. „Meine Le-bensmittelreserven sind aufgebraucht“,sagt er.

Willkür und weitgehende Rechtlosig-keit: Zigtausend Wanderarbeiter inDeutschland kennen dieses Schicksal.

„Vorenthaltene Löhne, Unterkünfteohne warmes Wasser und Strom oderWerkzeug- und Materialkosten, die vomVerdienst abgezogen werden, sind eineweitverbreitete Praxis“, klagt AgnesJarzyna, 29.

Die gebürtige Polin versucht seit zwei-einhalb Jahren mit Hilfe der Indu-striegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt(IG Bau) den Europäischen Verband der Wanderarbeiter (EVW e.V.) aufzu-bauen.

Eine schier unlösbare Aufgabe: Wiekönnen die Rechte von Werktätigen ver-schiedener Branchen, unterschiedlicher

Nationalitäten und mit ständig wechseln-den Arbeitsplätzen geschützt werden?

Bislang waren die Gewerkschaften der Zielländer dafür verantwortlich, sichum die Einhaltung der Tarifbedingungenfür Wanderarbeiter ihrer Branche zubemühen. Doch sie empfanden die zeit-weiligen Mitglieder als Bürde, die zudemnoch die eigenen Arbeitsplätze gefähr-deten.

Inzwischen aber hat die IG Bau er-kannt: Eine Organisation für Wanderar-beiter würde neben deren Rechten auchden eigenen Arbeitsmarkt vor Dum-pinglöhnern schützen. „Mit Pioniergeist“,wie Agnes Jarzyna sagt, wurde 2004 dieeuropaweit erste Wanderarbeitergewerk-schaft ins Leben gerufen, mit Büros inMünchen, Frankfurt am Main und War-schau.

Kein anderes europäisches Land be-schäftigt so viele Wanderarbeiter wie dieBundesrepublik: eine halbe Million proJahr, schätzt die IG Bau. Aus Ost- undSüdeuropa kommen sie her, um auf Spar-gelplantagen und Erdbeerfeldern zu ar-beiten, sich als Fensterputzer und Hilfs-arbeiter auf dem Bau zu verdingen.

Sie sind billig, willig – und weitgehendwehrlos: Sie sprechen meist kein Deutschund kennen ihre Rechte nicht. Das deut-sche Arbeitnehmer-Entsendegesetz regeltzwar vertragliche Konventionen, zum

* Malgorzata Zambron, Agnes Jarzyna, CzeslawMarzec, Beata Tarnowska, Rita Raaber in München.

Schutz entliehener ausländischer Ar-beitskräfte. Aber das im Februar 1996 un-ter der Ägide Norbert Blüms (CDU) ver-abschiedete Gesetz war schon damals„eine Übergangslösung“ aufgrund „größ-ter Bedrängnis“ im Baugewerbe, wie dieBegründung seinerzeit lautete.

Dennoch hat es bis heute Bestand.Künftig gilt es auch für die Reinigungs-branche. Eine Regelung zureichenderKontrolle und angemessener Sanktions-möglichkeiten wurde allerdings versäumt.Auch das 2005 in Kraft getretene „Zu-wanderungsgesetz“ hat so viele Lücken,dass es den Wanderarbeitern wenig nützt.

Ein komplexes Verfahren mit demumständlichen Namen „Zulassungstat-bestandsprüfung“ soll Arbeits- und Ent-lohnungsbedingungen gewährleisten. Da-nach ist die Beschäftigung einer aus-ländischen Arbeitskraft in Deutschlandunter bestimmten Auflagen erlaubt, fürderen Prüfung ist allerdings jeweils eineandere Behörde zuständig. Die Büro-kratie lädt zu Betrügereien geradezu ein:Auf dem Papier werden, um beispiels-weise Mindestlohnbestimmungen zu um-gehen, Scheinselbständigkeiten gegrün-det und Unternehmensprofile vorge-täuscht, damit das Entsendegesetz nichtgreift.

Oft missbrauchen Vorgesetzte ein-behaltene Arbeits- und Aufenthalts-erlaubnisse als Repressalie, weil ohne die Papiere kein Fremdarbeiter den

Gang zu einer deutschenBehörde wagt. Krankeund Verletzte bekommenin Deutschland selteneinen Arzt zu Gesicht.Um die Unterkunfts- und

Lohnkosten für die Arbeitsunfähigen zusparen, setzen die Vorarbeiter sie statt-dessen auf eine lange Heimreise in einenBus – auch mit Knochenbrüchen undoffenen Wunden.

Trotz solcher Missstände sind nur 2000Wanderarbeiter in Deutschland Gewerk-schaftsmitglied – nicht einmal ein halbesProzent. Die wenigsten wissen, dass esden Europäischen Verband der Wander-arbeiter überhaupt gibt.

Dabei kann die Kleinstorganisationdurchaus Erfolge vorweisen: Über eineMillion Euro habe der Verband für seineMitglieder schon eingetrieben, berichtetAgnes Jarzyna.

Billig, willig – und weitgehend wehrlosIm Baugewerbe werden ausländische Wanderarbeiter oft schikaniert und ausgebeutet.

KRANKE UND VERLETZTE BEKOMMEN IN DEUTSCHLAND SELTENEINEN ARZT ZU GESICHT.

Mitarbeiter des Wanderarbeiter-Verbandes*„Meine Reserven sind aufgebraucht“

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Quelle: OECD, Taxing wages 2005 /2006

Belgien

Deutschland

Frankreich

Österreich

Schweden

Italien

Niederlande

Dänemark

Spanien

Großbritannien

Schweiz

USA

Japan

EINKOMMENSTEUER SOZIALABGABEN10,7 23,3

18,0

9,5

14,0

5,3

7,0

19,7

10,6

4,9

8,3

10,0

7,1

10,8

17,0

29,7

22,6

24,4

24,3

13,0

0,6

23,4

9,7

10,0

7,3

11,6

Die Hälfte wegAbgaben in Prozent der

Arbeitskosten eines allein-stehenden Durchschnitts-

verdieners ohne Kind

55,3

52,5

50,1

48,1

47,9

45,2

44,4

41,3

39,1

33,9

29,8

29,0

28,8

Arbeitnehmeranteil Arbeitgeberanteil

21,3

17,5

10,9

11,5

18,2

13,9

11,7

30,1

10,8

15,9

9,8

14,6

6,4

tigten unter der Zeile „Gehaltsbrutto“ aufihrer Verdienstbescheinigung finden – unddie wurde in den vergangenen Jahren im-mer größer. In manchen Branchen schlos-sen die Arbeitgeber erst gar keine Tarif-verträge mehr ab, in anderen handeltensie eine Vielzahl spezieller Firmenabkom-men aus, in wieder anderen kehrten siereihenweise den Unternehmerverbändenden Rücken.

Selbst dort, wo die Tarife weiterhin gal-ten, sorgten Ausnahmeregeln und Öff-nungsklauseln dafür, dass die Abweichungvon der Norm bald zur Regel wurde. Quer

durch alle Branchen macht mittlerweileüber die Hälfte aller Betriebe von denMöglichkeiten Gebrauch, ergab eine Studiedes Wirtschafts- und Sozialwissenschaft-lichen Instituts (WSI) der gewerkschafts-nahen Hans-Böckler-Stiftung. Von der„Auflockerung des Flächentarifs“ sprichtWSI-Forscher Reinhard Bispinck.

Besonders groß fallen die Zugeständ-nisse regelmäßig dort aus, wo die Gewerk-schaften schwach sind. In den Billiglohn-segmenten der privaten Dienstleistungs-wirtschaft müssen die Arbeitnehmerver-treter schon froh sein, wenn sie überhaupt

Gheorghe Sorin, Geschäftsführer derrumänischen Baufirma Bramix, hatte IonBanu und seine Kollegen mit einem lu-krativen Angebot an den Main gelockt.Monatlich 1400 Euro netto waren ver-sprochen, in Rumänien ist das ein Jahres-verdienst. Nachdem der Krankenhaus-bau in Bad Soden frühzeitig fertiggestelltwar, warteten die Männer zehn Tage langvergebens auf ihren Lohn.

Er sei zahlungsunfähig, erklärte Sorin.Die deutsche Baufirma, die das Bauvor-haben als Generalunternehmer hochzie-hen sollte, habe das ausgehandelte Ho-norar nicht überwiesen. Die wiederumbehauptete, sie habe längst bezahlt undwerde nicht doppelt entlohnen.

Die rumänischen Wanderarbeiter in-formierten schließlich den Zoll über denoffenkundigen Betrug. So erfuhren sievon dem Wanderarbeiterverband, derdann für sie die Verhandlungen über-nahm.

Nach einem Telefonanruf von AgnesJarzyna lenkte die deutsche Baufirmaein, offenbar fürchtete das Unternehmeneinen Imageschaden, wenn der Fall pu-blik würde.

„Wir sehen uns in einer Vorbildfunk-tion“, hieß es plötzlich. „Das Wichtigsteist jetzt, und dafür wollen wir gern sor-gen, dass die Menschen in Lohn und Brotkommen.“ Sonja Vukovic

Saisonarbeiter (auf einem Spargelfeld in Brandenburg): Viele sprechen kein Deutsch und kennen ihre Rechte nicht

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ein Abkommen schließen können, ganzgleich, auf welchem Niveau.

So hat beispielsweise die GewerkschaftNGG mit Schnellrestaurants und Fast-Food-Ketten einen Tarifvertrag ausgehan-delt, dessen Konditionen die Funktionäream liebsten schamhaft verschweigen wür-den. Wer neu eingestellt wird, erhält bun-desweit einen Stundenlohn von gerade mal6,13 Euro. Die Tariflöhne wurden seit fünfJahren nicht erhöht. „Die Leute sind froh,überhaupt einen Job zu haben“, sagtNGG-Funktionär Manfred Sträter.

Das sagt auch Heike Koblitz, die als so-genannte Rotationskraft in einer Dort-munder Filiale der Fast-Food-Kette Bur-ger King arbeitet: Sie putzt die Toiletten,wischt Tische ab, verkauft Pommes fritesoder belegt Brötchen mit Fleisch, Käse,Gurken, 40 Stunden in der Woche.

Nach Steuern bleiben der gelernten Ho-telfachfrau zum Leben im Monat durch-schnittlich 750 Euro. „Das reicht eigentlichnie“, sagt sie. Ihr Auto hat sie schon vorJahren verkauft, in den letzten Tagen desMonats weist ihr Kontoauszug unten rechtsnur noch Nullen auf. Als es neulich wiedereinmal so weit war, beantragte Koblitz ei-nen Vorschuss. Burger King bewilligte 500Euro, die in zehn Raten vom Lohn einbe-halten wurden – verzinst mit zehn Prozent.

Mitunter tragen sogar diejenigen zumLohndumping bei, die es eigentlich be-kämpfen wollen. Anstatt gemeinsam fürbessere Bezahlung zu streiten, machen sichetwa im Bewachungsgewerbe rivalisierendeGewerkschaften gegenseitig Konkurrenz.

So wollte die Gewerkschaft Ver.di fürdie Beschäftigten ostdeutscher Wachdiens-te langfristig spürbare Lohnsteigerungendurchsetzen. Viel zu viel, fanden die Ar-beitgeber – und handelten lieber einen Ta-rifvertrag mit der Gewerkschaft Öffentli-cher Dienst und Dienstleistungen aus, die zu den Christlichen Gewerkschaftengehört. Nun bekommen die Wachleutezwar 20 Cent mehr pro Stunde, müssendafür aber auf Urlaubsgeld verzichten.

Ein schlechter Tausch, findet MaikPoerschke, der im Schichtdienst das Erfur-ter Theater bewacht. Er verdient 4,53 Eurodie Stunde. Seine Frau arbeitet in einer

Reinigung. Gemeinsam haben sie samtKindergeld für ihre beiden Söhne im Mo-nat netto rund 1600 Euro. Das reicht, umdie Miete ihrer 65-Quadratmeter-Wohnungzu bezahlen, einen Ford Fiesta zu unter-halten und einmal im Jahr für zwei Wo-chen an die Ostsee zu fahren – ihr größterLuxus.

Kürzlich fragte Poerschke bei der Ar-beitsagentur an, ob er Anspruch auf einenZuschuss habe, etwas Wohngeld vielleicht.Keine Chance, beschied ihn die Behörde.Das Familieneinkommen lag um wenigeEuro zu hoch.

In manchen Branchen werden inzwi-schen selbst niedrigste Tariflöhne, mehr

oder weniger legal, noch weiter nach untengedrückt. Zum Beispiel im Hotelgewerbe:Schon bislang verdienten Zimmermädchenlediglich zwischen fünf und acht Euro dieStunde. Neuerdings aber lagern viele Her-bergen den Service an externe Dienstleis-tungsfirmen aus – und die zahlen den Be-schäftigten, mit Hilfe leistungsorientierterHaustarife, noch weniger.

Der Trick: Die Putzfrauen werden nichtmehr pro Stunde, sondern mit 2,50 Eurofür jedes Zimmer bezahlt. Das Risikotragen die Angestellten. Bleiben sie in dervorgegebenen Zeit, verdienen sie denTariflohn. Sind sie zu langsam, etwa weil

die Hotelgäste die Zimmernicht rechtzeitig räumen, ha-ben sie entsprechend we-niger.

Die Berliner Hotelange-stellte Franziska Berger*

wollte da eigentlich nicht mitmachen.„Wenn mal nichts zu tun ist, dann verdie-ne ich ja auch kein Geld“, sagt sie. „Ichhabe doch feste Kosten, die ich bezahlenmuss.“ Berger kündigte, um nach eineranderen Stelle Ausschau zu halten. Dochnach mehreren Wochen Suche musste sieentnervt feststellen, dass sich der Zimmer-akkord mittlerweile als neuer Tarifstan-dard in der gesamten Branche durch-gesetzt hat.

Hartz IV zu beantragen, wie mancheihrer Kolleginnen, lehnt die Angestellte ab.Berger („Ich will für mich selber sorgen“)

* Name von der Redaktion geändert.

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IN MANCHEN BRANCHEN WERDENSELBST NIEDRIGSTE LÖHNE NOCH WEITER GEDRÜCKT.

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Gastronomenball (im Hotel Bayerischer Hof in München): Die Konjunktur brummt, Gewinne und Managergehälter explodieren

Quelle: SOEP

Soziale UnwuchtVeränderung der bedarfs-gewichteten Durchschnitts-einkommenzwischen 1995und 2005

unterstesFünftel

oberstesFünftel

–1,3%

+2,8%

+6,3%

+8,7% +8,9%

mittleresFünftel

zum Vergleich

ALG II einschl. Kindergeld

Wozu arbeiten?Beispiel: NiedrigverdienerAlleinverdiener,verheiratet, ein Kind

MindestlohnBauhauptgewerbe: 1784¤

Nettolohn einschl. Kindergeld

1558¤

1338¤

Regelsatz828¤

Unterkunft /Heizung510¤

trat im Februar eine neue Stelle in ihrembisherigen Beruf an, für 2,50 Euro proZimmer.

Angesichts solcher Erlebnisse ist es keinWunder, dass sich viele Beschäftigte mitt-lerweile an Radio Eriwan erinnert fühlen:Im Prinzip gilt der Tarifvertrag, in der Pra-xis wird weniger gezahlt.

Wie weit Anspruch und Wirklichkeitmittlerweile auseinanderklaffen, belegt dieamtliche Statistik. Die Tariflöhne wuch-sen im vergangenen Jahrzehnt im Schnittum zwei Prozent pro Jahr, die tatsäch-lichen Verdienste aber legten nur um einProzent zu.

Niedrige Tarifabschlüsse, Inflation,Lohndrift: Was die Arbeitnehmer in denvergangenen Jahren einbüßten, war zu ei-nem Teil der schlechten wirtschaftlichen

Lage und den Zwängen der Globalisierunggeschuldet. Für den vierten Schwundfaktoraber sorgte der Staat.

Er drückt, wie in kaum einem anderenLand Europas, die Kosten seiner Sozialsys-teme den Arbeitnehmern auf. Sie zahlendie Beiträge für die Renten-, Kranken- undPflegeversicherung. Sie liefern mit ihrerLohn- und Mehrwertsteuer zudem denüberwiegenden Teil der laufenden Staats-einnahmen.

Wie ein Keil schieben sich Steuern undBeiträge zwischen die Brutto- und Netto-verdienste der Arbeitnehmer und sorgendafür, die ohnehin geringen Lohnzuwäch-se weiter einzudampfen. So legten in denvergangenen 15 Jahren die Bruttolöhne um0,1 Prozent pro Jahr zu. Die Nettolöhnedagegen gingen um 0,4 Prozent zurück.

Die Differenz diente vor allem dazu, daswachsende Heer der Ruheständler undTransferempfänger zu versorgen. Immermehr Bundesbürger, so weist die Statistikaus, leben von Rente, Pension oder Ar-beitslosengeld – und das nicht schlecht, wie die Studie des Deutschen Instituts fürWirtschaftsforschung ausweist: Die ver-fügbaren Einkommen derjenigen, die vonSozialleistungen leben, haben sich in denvergangenen 20 Jahren oftmals günstigerentwickelt als die Einkünfte der Arbeit-nehmer.

So ist der Lebensstandard von Arbeits-losen als Folge der rot-grünen Agenda-Reformen zwar drastisch geschrumpft. Zu-vor aber war er jahrelang gestiegen, dankgroßzügiger Regelungen für ältere Ar-beitslose und einem vergleichsweise ho-hen Lohnersatz für ostdeutsche Beschäfti-gungslose. Bis Ende der neunziger Jahrewuchsen die verfügbaren Einkünfte vonArbeitslosen schneller als die von Arbeit-nehmern – heute entspricht der Abstandwieder den Verhältnissen des Jahres 1985.

Noch besser schnitten die Rentner ab.Sosehr Seniorenfunktionäre wie VdK-Prä-sident Walter Hirrlinger auch über „Alters-armut“ und „dreiste Abkassiererei“ kla-gen: Tatsächlich eilen die realen Nettoein-künfte der Ruheständler seit Jahren denLohneinkommen voraus.

Auf den ersten Blick erscheint der Be-fund überraschend: Hat die Bundesregie-rung nicht gleich mehrere Rentenreformenverabschiedet? Wurden nicht alle mögli-chen Riester-, Nachhaltigkeits- und Nach-

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Suppenküche (in Berlin-Pankow): Immer mehr Geringverdiener rutschen in die armselige Sicherheit des Hartz-IV-Netzes ab

holfaktoren eingeführt, um den Anstiegder Ruhegelder zu bremsen? Wurden denRuheständlern nicht Nullrunden in Serieauferlegt?

Alles richtig. Aber der Effekt blieb ge-ring. Nullrunden nämlich bringen wenig,wenn gleichzeitig auch die Löhne stagnie-ren. Und die Reformserien der MinisterNorbert Blüm, Walter Riester und UllaSchmidt werden die Altersgelder erst inden kommenden Jahren und Jahrzehntenrasieren. Die aktuelle Rentnergenerationdagegen profitiert von den wirtschaftlichgoldenen sechziger und siebziger Jahren,aus denen ihre Ansprüche stammen.

Die Studie des Berliner Instituts belegt,wie gut die Ruheständler abschnitten: DieArbeitnehmereinkünfte wuchsen im ver-gangenen Jahrzehnt um lediglich knappfünf Prozent, die Einkommen der Rent-nerhaushalte dagegen um fast dreimal soviel. Mussten sich Ruheständler vor 20 Jah-ren noch mit einem Budget von 83 Prozentdes deutschen Durchschnittseinkommensbegnügen, so liegt der Wert inzwischen bei92 Prozent.

Noch besser geht es allerdings den Pen-sionären. Denn deren Versorgung ist nochimmer nach jenen kostspieligen Regeln or-ganisiert, die Preußenkönig Friedrich derGroße einst erdachte.

Das Grundprinzip geht so:Wenn Beamte eingestellt wer-den, hält der Staat sie kurz.Sie bekommen Abschläge,weil sie jung sind, und müssensich mit einem deutlich nied-rigeren Bruttogehalt zufrieden-geben als gleichqualifizierteAngestellte im Nachbarbüro.

Dafür wird der Staatsdie-ner überdurchschnittlich ent-golten, wenn er zum Pen-sionär aufsteigt. Sein Alters-geld berechnet sich nun nach

großzügigeren Kriterien als beim Rentnerund wird durch eine Jahressonderzahlungzusätzlich veredelt.

Das bizarre System der deutschenStaatsdienerversorgung sorgte schon im-mer dafür, dass Amtmänner oder Inspek-toren im Ruhestand besser dastehen alsgewöhnliche Arbeitnehmer. In der jüngs-ten Vergangenheit jedoch nahm der tra-ditionelle Abstand zur freien Wirtschaftgeradezu atemberaubende Ausmaße an.Im Windschatten der Globalisierung, dieden gewerblichen Arbeitnehmern die Lohn-

konkurrenz billiger Proletariermassen erstaus Südostasien, dann aus Osteuropa undheute aus China beschert, konnten sich die Staatsdiener eine gemütliche Nischesichern.

Während die Haushaltseinkommendurchschnittlicher Arbeitnehmer in denvergangenen 20 Jahren nur um ganze 3300Euro pro Kopf stiegen, legten die Einkünf-te von Pensionärsfamilien um 7500 Eurozu. Die Budgets von Staatsdienern im Se-niorenalter lagen Mitte der achtziger Jah-

re 20 Prozent über dem deut-schen Durchschnitt, heutesind es 40 Prozent. Kein Zwei-fel: Die neunziger Jahre wer-den einst als das goldene Jahr-zehnt der Pensionäre in dieAnnalen des deutschenStaatsdienstes eingehen.

Die Rechnung geht, wieüblich, an die Arbeitnehmer.Um die Ruhegelder seiner Be-amten zu bezahlen, greift derStaat auf das allgemeine Steu-eraufkommen zurück, das

sich auf nichts so sehr stützt wie auf dieEinkommen und Ausgaben der Beschäf-tigten.

Alle sind gleich, einige sind gleicher: DasPrinzip gilt hierzulande nicht nur für dieLeistungsabteilung der verschiedenen Si-cherungssysteme. Auch auf der anderenSeite der Sozialstaatsbilanz, bei den Ein-nahmen, werden die abhängig Beschäftig-ten wie Bürger zweiter Klasse behandelt.

So müssen Arbeitnehmer in der Spitzebis zu 47 Prozent ihres Einkommens ver-steuern. Wer sein Geld an der Börse odermit dem Vermieten von Wohnraum ver-dient, schneidet häufig günstiger ab. Im-mobilienbesitzern hat der Staat erheblicheSteuervorteile eingeräumt, Aktienverkäu-fe bleiben gänzlich steuerfrei, wenn dieWertpapiere erst zwölf Monate nach demKauf weiterveräußert werden. Künftigsollen zwar auch Veräußerungsgewinnebesteuert werden, jedoch pauschal mit 25Prozent.

Kaum eine andere Form, zu Geld zukommen, wird allerdings derart steuerlichbegünstigt wie das Erben. Wem der Vater50000 Euro vermacht, braucht gar nichtsans Finanzamt abzuführen. Wer 500 000Euro erhält, muss gerade mal 44000 Eurozahlen.

Und so liegen ausgerechnet die Abgabenfür die Reichen und Superreichen deutlichunter dem Niveau vergleichbarer Länder.Die Steuern auf Immobilien und Erb-schaften machen hierzulande gerade mal4,2 Prozent des gesamten Steueraufkom-mens aus, in Frankreich oder Großbritan-

nien ist dieser Anteil drei- bisviermal höher.

Noch stärker werden dieArbeitnehmer benachteiligt,wenn es um die staatlichenVersicherungssysteme geht.

Während Beschäftigte in jener Sekunde un-ausweichlich zu Einzahlern der Sozialkas-sen werden, in der sie ihren Arbeitsvertragunterzeichnen, dürfen sich privilegierte Ge-sellschaftsschichten wie Selbständige undBeamte über einen Sonderstatus freuen:Sie genießen das teils grundgesetzlich ge-schützte Recht, sich der sogenannten Soli-dargemeinschaft fernzuhalten.

Sie dürfen eine private Krankenversi-cherungspolice abschließen, die bessereLeistungen bietet und zumindest in jun-gen Jahren oft weniger kostet als die ge-setzliche Kasse. Sie brauchen nicht in dieArbeitslosenversicherung einzuzahlen, diein den vergangenen Jahren ihre Leistungenerheblich zurückdrehte. Sie erhalten ihreAltersversorgung vom Staat oder dürfenprivat vorsorgen. Dadurch vergolden sichihre Beiträge – anders als in der öffent-lichen Kasse – mit Zins und Zinseszins.

Mitunter haben sie sogar die Wahl, diegesetzlichen Systeme zu nutzen. Wer will,darf etwa als Selbständiger der staatlichenAltersvorsorge beitreten. Doch das machtkaum einer. Seit 1992 hat sich die Zahl der

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Schwarzarbeiter-Razzia (in Bonn): Aus den Sozialkassen rausholen, was geht

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IM WINDSCHATTEN DER GLOBALISIE-RUNG KONNTEN SICH BEAMTE EINE GEMÜTLICHE NISCHE SICHERN.

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Forscher Wagner, GrabkaErschreckender Befund

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Unter den MöglichkeitenVerteilungsspielraum, Lohn- und Gehaltsentwicklung in Deutschland

Bruttolöhne und -gehälterPreissteigerung

Produktivitätsanstieg

Verteilungs-spielraum Einkommensentwicklung

in Prozentoberhalbunterhalbdes Verteilungsspielraums

freiwilligen Mitglieder in der DeutschenRentenversicherung nahezu halbiert.

Zahlreiche Vorteile genießen Ärzte,Rechtsanwälte oder Einzelhändler auchbeim Steuerzahlen. Während Arbeitneh-mer kaum Möglichkeiten haben, ihre Über-weisungen ans Finanzamt durch hohe Aus-gaben zu mindern, wird es Selbständigendeutlich leichter gemacht, das Arsenal anTricks und Schlupflöchern der deutschenSteuergesetze zu nutzen. Verluste könnenfür die Vergangenheit geltend gemacht oderauf später verlagert, Geschäftswagen abge-setzt und private Ausgaben als Betriebs-kosten deklariert werden. Gierig greifenSelbständige in Restaurants nach Rech-nungen, die liegengeblieben sind, um siedann selbst von der Steuer abzusetzen.

Die DIW-Studie zeigt, wie sehr die un-terschiedliche Beteiligung an den Kostenund Leistungen des Gemeinwesens auf dieprivaten Haushaltsbudgets durchschlägt.So führen Arbeitnehmer jedes Jahr rund6700 Euro an die staatliche Umvertei-lungsmaschine ab. Bei den im Schnitt deut-lich wohlhabenderen Selbständigen liegtderselbe Wert bei rund 4700 Euro. Wäh-rend abhängig Beschäftigte zu 26 Prozentfür den Staat arbeiten, sind es bei Selb-ständigen nur 15 Prozent.

Dass freiberufliche Architekten, Steuer-berater oder Ingenieure vergleichsweise we-nig vom schlingernden Sozialstaat erfasstsind, hat sich in den vergangenen Jahrenfür sie in Cent und Euro ausgezahlt. Es trugdazu bei, dass die verfügbaren Einkommenvon Selbständigenhaushalten in den ver-gangenen zwei Jahrzehnten fast doppelt sostark wuchsen wie die von Arbeitnehmer-familien. 1986 lagen die Einkünfte von Un-ternehmern, Freiberuflern oder Beraternknapp 40 Prozent über dem Durchschnitt,heute sind es knapp 50 Prozent.

Wer arbeitet, ist der Dumme – es seidenn, er arbeitet auf eigene Rechnung.Kein Wunder, dass immer mehr Deutscheselbständig werden. Seit 1991 ist der Anteilder Selbständigen an der Erwerbsbevölke-rung von gut acht auf elf Prozent gestiegen.

Doch was Politiker als Ausdruck wach-sender Privatinitiative feiern, beschert denArbeitnehmern höhere Lasten. Weil derKreis der Einzahler in die Sozialkassen ge-sunken ist, müssen diejenigen umso mehrbluten, die noch drin sind.

Kein Zweifel: Im Land des amtierendenExportweltmeisters ist die Klasse der ab-hängig Beschäftigten zum pathologischenFall geworden – überall grassiert dieSchwindsucht. Am oberen Ende der Be-

rufs- und Verdienstskala flüchten die Leis-tungsträger in die Selbständigkeit. Untensinken immer mehr Malocher – freiwilligoder gezwungen – in die armselige Sicher-heit des Hartz-IV-Netzes ab. Wer Mitte 50ist, strebt so schnell wie möglich in die nochimmer gutgepolsterte Frühverrentung. DieÜbrigen sind der doofe Rest, der alles be-zahlt – sie bilden die wahre Unterschicht.

Etwas ist ins Rutschen gekommen, unddas reicht über die Budgets privater Haus-halte weit hinaus: Es unterspült die Grund-festen der Gesellschaft.

Dass ihr Wohlstand auf nichts so sehrgründet wie dem eigenen Fleiß, dem eige-nen Können und der eigenen Einsatz-bereitschaft – das war den Deutschen in derVergangenheit sehr bewusst. Heute, wo sichdas Arbeiten in vielen Fällen nicht mehrlohnt, breitet sich allmählich eine andereMoral aus: Gewinner ist, wer es versteht,aus den Sozialkassen das Maximum für sichherauszuholen oder den Steuerstaat undseine wirren Regeln für sich zu nutzen.

Und so hat neben der Lust, beim Ein-kauf das billigste Schnäppchen zu machen,noch eine zweite Leidenschaft die Deut-schen erfasst: Quer durch alle Gesell-schaftsschichten wird versucht, den Wohl-fahrtsstaat anzuzapfen, wo es nur geht.Hartz-IV-Empfänger beziehen Stütze undverdienen ohne jedes Unrechtsbewusstseinnoch einmal dasselbe Geld schwarz oben-drauf. Unternehmer schicken ganze Be-legschaftsteile mit fragwürdigen ärztlichenAttesten in die Invalidenrente. Sportverei-ne melden ihre Profispieler zu Lasten derNürnberger Bundesagentur arbeitslos undstellen sie zum Saisonbeginn zu Direkto-rengehältern wieder ein.

„Die Leute denken manchmal, wir ha-ben im Ministerium irgendwo einen Topfstehen, aus dem das Geld sprudelt“, sagtVizekanzler Müntefering. Schon die rot-grüne Regierung half kräftig mit, die Mi-sere zu fördern. In den Koalitionsverträgenwurden Jobs, Jobs, Jobs versprochen, amKabinettstisch galt die Logik des Weiter-so-Deutschland. Entsprechend unzureichendfielen die Ergebnisse aus.

Die Bundesrepublik darf den traurigenRekord für sich verbuchen, nach Belgiendas Industrieland mit der höchsten Sozial-beitragslast auf den Faktor Arbeit zu sein.Doch als Finanzminister Hans Eichel imJahr 2000 sein angebliches Jahrhundert-projekt zur fiskalischen Entlastung derBürger startete, wurden auf Druck der In-dustrie nicht die Sozialbeiträge gesenkt,sondern die Steuern. Der Erfolg war ab-sehbar. Der Abgabendruck auf den FaktorArbeit ist kaum gesunken.

Kaum irgendwo sonst auf der Welt istder Anteil Langzeitarbeitsloser am Er-werbslosenheer so groß wie in der Bundes-

* Arbeitsminister Franz Müntefering, WirtschaftsministerMichael Glos, Finanzminister Peer Steinbrück und Kanz-lerin Angela Merkel bei der Übergabe des Sachverständi-gengutachtens am 8. November 2006 in Berlin.

Sachverständigenratschef Rürup (r.), Kabinettsmitglieder*: Kürzungen für Hartz-Kunden

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republik. Doch als vor vier Jahren der da-malige Wirtschaftsminister Wolfgang Cle-ment die Misere mit der „Mutter aller Re-formen“ (Clement) bekämpfen wollte, bau-te er vor allem die Minijob-Förderung aus.

Es wurde zwar nicht die schlagzeilen-trächtigste, aber mit Abstand arbeits-marktschädlichste Fehlkalkulation in deran Fehlkalkulationen reichen Hartz-Ge-setzgebung. Die neuen Minijobs warenüberwiegend als Nebenerwerb für Haus-frauen, Rentner oder Studenten attraktiv,kaum aber für Arbeitslose. Im Gegenzugwandelten die Unternehmen reguläre Stel-len in Minijobs um – zu Lasten der bislangbeschäftigten, meist schlecht ausgebilde-ten Vollzeitkräfte.

Das Resultat war eine Arbeitsmarkt-reform, die das Heer der Arbeitslosen mitöffentlichen Geldern zusätzlich aufgeblähthat. Schlimmer noch: Die staatlich geför-derten Kleinststellen trugen dazu bei, dasVerdienstniveau im hiesigen Niedriglohn-sektor weiter zu drücken.

Was zu tun wäre, um die deutscheKrankheit zu bekämpfen, ist lange bekannt.Damit ein 40-Stunden-Job hierzulande we-nigstens das Existenzminimum abdeckt,muss ein entsprechender allgemeiner Min-destlohn festgelegt werden. Viel höher darfer allerdings auch nicht sein. Sonst rechnensich viele Jobs nicht mehr.

Und: Die Sozialabgaben müssen sinken,damit die Unternehmen wieder mehr Jobsim Inland schaffen. GeringqualifizierteStellen müssen mit intelligent konstruier-ten staatlichen Lohnzuschüssen attraktivgemacht werden, damit die sogenanntenProblemgruppen am Arbeitsmarkt wiederChancen finden.

Als vor eineinhalb Jahren die Große Ko-alition antrat, waren die Hoffnungen groß,sie werde das Knäuel aus schwarz-gelbemReformstau und rot-grünem Reformmurks

endlich auflösen. Keine andere Regie-rungskonstellation schien geeigneter, auchunpopuläre Maßnahmen anzupacken. Kei-ne andere schien entschlossener, sich mitden mächtigen Interessengruppen im Landanzulegen. Keine andere erschien kompe-tenter, ihr politisches Wollen auch in solideGesetzgebungsarbeit zu verwandeln. „DerAbbau der Arbeitslosigkeit ist zentrale Ver-pflichtung unserer Regierungspolitik“, hießes gleich zu Beginn des Koalitionsvertrags.

Dann kam die Reformpolitik der klei-nen Schritte.

Als Erstes baute die neue Regierung dieSozialleistungen aus. Daran mangelte esnicht in Deutschland. Doch das KabinettMerkel/Müntefering sah dringenden Hand-lungsbedarf. Ein Elterngeld wurde einge-führt, das die Experten überwiegend für

eine neue Gießkannen-Subvention ohneEffekt halten. Der Hartz-IV-Regelsatz inOstdeutschland wurde erhöht, so dass esvielen Arbeitsamtskunden in den neuenLändern noch weniger lohnend erscheint,einen Job anzunehmen. Mütterkuren wur-den in den Leistungskatalog der gesetzli-chen Krankenversicherung aufgenommen,so dass nun weitere allgemeingesellschaft-liche Aufgaben den Sozialkassen aufge-halst werden.

Danach machte sich die Regierung dar-an, die Lohnnebenkosten zu senken. Her-aus kamen:• eine Erhöhung der Mehrwertsteuer um

drei Prozentpunkte, die nur zu einem Drit-tel der Senkung der Sozialbeiträge dient;

• eine Gesundheitsreform, die den Steu-eranteil an den Krankenkassenfinanzen

zunächst drastisch reduzierte und dieSozialbeiträge dauerhaft nach obenschraubt;

• eine Kürzung der Pendlerpauschale inder Einkommensteuer, die das Gros derBeschäftigten trifft.Zurzeit arbeitet die Regierung an einer

Arbeitsmarktreform. Für tiefgreifende Um-baukonzepte jedoch, wie sie jüngst derSachverständigenrat sowie der Wirtschafts-weise Peter Bofinger vorgelegt haben,stehen die Chancen schlecht. Die GroßeKoalition übt sich lieber im Klein-Klein.So haben sich SPD und Union bereits aufzeitlich befristete Lohnsubventionen fürsogenannte Problemgruppen wie gering-qualifizierte Jugendliche oder Schwer-vermittelbare geeinigt – Rezepte, wie sie die Arbeitsverwaltung bereits seit Jah-

ren ohne nachaltige Effektepraktiziert.

Auch beim Thema Min-destlohn ist kein Durchbruchzu erwarten. Eine gesetzli-che, für die ganze Wirtschaft

geltende Verdienstgrenze, wie sie in vielenIndustrieländern inzwischen üblich ist,wollen derzeit weder Kanzlerin Merkelnoch Vizekanzler Müntefering. Am Endewird es wohl nur in einigen ausgewähltenBranchen tarifliche Lohnschranken geben.

Neulich hat der Dresdner Metzger Mat-thias Rolle mit seinen Kollegen darüber dis-kutiert, was man dagegen tun könne, wenntrotz harter Arbeit immer weniger in derTasche bleibt in Deutschland. Ein gesetzli-cher Mindestlohn vielleicht? Einige wareninteressiert, die meisten sagten: Da wird jadoch nichts draus. Rolle fuhr nach Hause.Er schrieb einen neuen Eintrag in sein In-ternet-Tagebuch. „Ich glaube nicht, dasssich noch etwas ändert in Deutschland.“

Michael Sauga; Mareke Aden,Jochen Brenner, Sebastian Matthes

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TV-Geräte-Produktion (im chinesischen Zhejiang): Irgendwo ist immer einer, der billiger produziert

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IN DEUTSCHLAND SIND DIE ABHÄNGIGBESCHÄFTIGTEN ZUM PATHOLOGISCHEN FALL GEWORDEN.

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Ausbildung im Friseurhandwerk: „Arbeitnehmer als billige Ramschware“

Wer in der Telefonschleife der Ac-cor-Hotels hängt, den empfängteine warme Frauenstimme: Accor

freue sich, „ein Lächeln auf Ihr Gesicht zuzaubern“, sagt sie. Ein bisschen angebendarf die Dame auf dem Tonband auch noch:Accor sei in 140 Ländern aktiv und betrei-be 4000 Hotels. 380 sind es in Deutschland,der Umsatz im dritten Quartal wuchs hierim Vergleich zum Vorjahr zweistellig.

Es läuft gut für den Branchenriesen.Eines der vornehmsten Häuser der Ket-

te ist das Dorint Sofitel am Alten Wall inHamburg. Das Haus hat fünf Sterne, einePräsidentensuite für 1275 Euro – und Zim-mermädchen, die für netto 1,92 Euro proStunde die Zimmer putzen.

Als das „Hamburger Abendblatt“ ver-gangenen Montag über den Fall der 23jähri-gen Antonia Hercher berichtete, war dieAufregung groß. Das bundesweit tätige Rei-nigungsunternehmen Lieblang aus Mann-heim hatte ihr für 21 Tage Arbeit einenBruttolohn von 413,18 Euro überwiesen.Der Hamburger Wirtschaftssenator Gun-nar Uldall (CDU) bat Branchenvertreter zueinem Krisengipfel – eine hilflose Veran-

staltung, bei der nicht viel mehr heraus-kam als Uldalls Beschwörung: „Ein Ham-burger Kaufmann macht so etwas nicht!“

Uldall scheint vergesslich: Erst elf Mo-nate ist es her, als 1200 Beamte von Polizei,Zoll und Steuerfahndung fünf Reinigungs-firmen der Hansestadt durchkämmten, diein fast allen Luxushotels der Stadt putzten.Die verflochtenen Firmen waren offenbarunschlagbar billig: Sie beschäftigten illegalePutzkolonnen und zahlten statt des tarif-lichen Stundenlohns einen Akkord-Dum-pinglohn von zwei Euro pro Zimmer – wennüberhaupt. Für ein Zimmer eines guten Hotels braucht ein erfahrenes Zimmer-mädchen in der Regel eine knappe halbeStunde. Abgerechnet wird jedoch nur nachgesäuberten Zimmern. Muss die Reinigerinauf freie Zimmer warten, hat sie Pech ge-habt. Das Unterlaufen des tariflichen Stun-denlohns ist in der Branche gängige Praxis.

Accor schließe nur solche Verträge, dieden Reinigungsfirmen Tariftreue erlauben,so ein Sprecher der Hotelkette. Die Reini-gungsbranche dagegen verweist darauf,dass die Hotels doch die Dumping-Kalku-lationen fordern und das Akkordsystem

quasi selbst auslösen würden. „Es herrschtein erbärmlicher Wettbewerb“, so ein Rei-nigungsunternehmer, „und die Hotels tra-gen maßgeblich dazu bei.“

Es machten sich „vorindustrielle Formender Ausbeutung“ breit, schrieb HamburgsSPD-Chef Mathias Petersen an seinenParteifreund, Bundesarbeitsminister FranzMüntefering. Der verspricht schon seit Mo-naten die „zeitnahe“ Einführung von Min-destlöhnen, was die CDU jedoch ablehnt.

Auf fast sieben Millionen Menschen istder Niedriglohnsektor in Deutschland in-zwischen angewachsen. Pflegen, frisieren,bedienen, bewachen, Hotelzimmer putzen– die Deutschen lassen sich von einemHeer von Helfern betütern, die zwar einEinkommen haben, aber damit nicht aus-kommen können. Niedriglöhner sind fürWissenschaftler alle, die nicht einmal anzwei Drittel des Lohnmittelwerts im Landkommen. Es sind diejenigen, die unter 9,83Euro Brutto-Stundenlohn (im Westen) und7,15 Euro (im Osten) erhalten.

* Vor einer Außenstelle der Arbeitsagentur Charlotten-straße, die Tagesjobs vermittelt.

A R B E I T N E H M E R

Vorindustrielle AusbeutungImmer mehr Menschen kommen mit ihrem Einkommen nicht aus. In manchen Branchen

werden selbst niedrigste Einkommen noch weiter nach unten gedrückt: Schlagzeilen über Hungerlöhne mitten in Deutschland haben die Debatte über Mindestlöhne neu belebt.

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Arbeitssuchende in Berlin*: Wer einmal schlecht

Wirtschaft

Tarifliche Niedriglöhne in Euro je Stunde

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FriseurhandwerkNordrhein-Westfalen .....................................4,93ErwerbsgartenbauBaden-Württemberg .....................................5,15Hotel- und GaststättengewerbeNordrhein-Westfalen .....................................5,18LandwirtschaftNiedersachsen: Weser-Ems ..........................5,71BewachungsgewerbeBremen .........................................................5,75

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BewachungsgewerbeThüringen .....................................................4,60ErwerbsgartenbauBrandenburg ................................................4,71Privates TransportgewerbeThüringen .....................................................5,12Schlosser-, MechanikerhandwerkMecklenburg-Vorpommern ............................5,32FleischerhandwerkThüringen .....................................................5,59

Quelle: WSI-Tarifarchiv; Stand: März 2006

Und längst sind nicht mehr nur „Rand-gruppen“ wie Migranten, junge oder un-qualifizierte Beschäftigte die „workingpoor“. 75 Prozent aller Niedriglöhner ha-ben eine abgeschlossene Berufsausbildung.

Heiko Boikat etwa, dessen Fall vor eini-gen Monaten bekannt wurde, war Or-thopädiefacharbeiter in der DDR und nachder Wende Fernfahrer, bevor er Wach-mann wurde. Er bekam für seine nächtli-chen Rundgänge in einem Bürogebäude inWeimar 4,40 Euro, ganz legal, nach Tarif.Das Bundeswirtschaftsministerium ermit-telte bereits vor zwei Jahren, dass es eini-ge hundert Tarifgruppen gibt, die untersechs Euro Stundenlohn liegen.

Von seinen 748 Euro netto blieben Boi-kat nach Abzug von Fahrtkosten, Auto-reparaturen und Versicherungen noch 150Euro zum Leben. Als arm galt er nur des-halb nicht, weil er bei seinen Eltern wohn-te. Lebte er allein, würde das nächste Job-center ihm einen Lohnzuschuss zahlen wie

rund 900 000 Menschen im Land. Dabeihat Boikat noch Glück, dass er überhaupttariflich erfasst ist. Rund die Hälfte allerostdeutschen Beschäftigten arbeiten ohnetarifliche Bindung, im Westen sind es etwaein Drittel. Ihnen kann ein Unternehmentheortisch bezahlen, was es will – solangesich niemand beschwert.

Selbst in der boomenden Zeitarbeits-branche, die ihr Schmuddelimage durch denAbschluss von Tarifverträgen einigermaßenüberwinden konnte, herrschen zum Teil un-fassbare Zustände. Branchenvertreter ge-ben sich zwar alle Mühe, ihr Gewerbe alsseriös darzustellen, doch Leute wie ManfredNieburger* wissen, dass Repräsentation undRealität nicht immer übereinstimmen.

Nieburger, 59 Jahre alt, gelernter Indu-striemechaniker, hangelt sich seit neunJahren von Job zu Job. Er will nicht ar-beitslos werden, bloß nicht als Hartz-IV-

* Name von der Redaktion geändert

Fall irgendwann die über 90 Quadratmetergroße Wohnung verlieren. Am 15. Dezem-ber heuerte er wieder einmal bei einemPersonaldienstleister an. Im Arbeitsvertragwar von „Anwendung einschlägiger Tarif-verträge in ihrer jeweils gültigen Fassung“die Rede. Zwar war der Lohn mit 6,15 Eurodürftig, aber für Nieburger immer nochakzeptabel. Stutzig werden ließ ihn fol-gender Passus: „Zum Ausgleich der mo-natlichen Abweichungen zwischen dervereinbarten Arbeitszeit und der tatsächli-chen Arbeitszeit wird ein Arbeitszeitkon-to eingerichtet. Die Höchstgrenze für Mi-nusstunden liegt bei 100 Stunden.“

Übersetzt bedeutet das: Sollte Niebur-gers Arbeitgeber ihn nicht verleihen, wer-den diese Stunden als Minusstunden aufseinem Konto verbucht. Lohn bekommt ererst, wenn er das Minus abgeackert hat.„Eine solche Praxis ist grob sittenwidrigund rechtlich nicht zulässig“, sagt HansGottlob Rühle, Direktor des Arbeitsge-richts Marburg, „der Arbeitnehmer hat jakeinerlei Einfluss darauf, ob er eingesetztwird oder nicht.“

Auch in anderen Branchen, etwa im Fri-seurgewerbe, wird das unternehmerischeRisiko immer öfter auf die Arbeitnehmerverlagert, beispielsweise durch die ver-tragliche Pflicht eines täglichen Mindest-umsatzes. Manfred Nieburger wurde seitseiner Einstellung Mitte Dezember erstzwölf Tage eingesetzt. Klagen will er trotz-dem nicht. „Wenn ich das mache, bin ichmeinen Job ganz schnell wieder los.“

Ganz ungeniert wird mittlerweile imPrekariat des deutschen Arbeitsmarkts gefischt: In der „Frankfurter Allgemeinen“warb ein Investor per Anzeige dafür, sichim Gewerbepark Mittweida in Sachsen an-

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bezahlt ist, der bleibt es

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DGB-Chef Sommer, Arbeitsminister Müntefering: „Von den Nachbarn lernen“

zusiedeln: „Unsere fleißigendeutschen Mitarbeiter/innenarbeiten engagiert für monat-lich 800 Euro brutto für die 40-Stunden-Woche, 173 Stundenim Monat, ohne Weihnachts-und Urlaubsgeld.“

„Solche Niedriglöhne sindletztlich Ausdruck einer fatalenGeiz-ist-geil-Mentalität, die Ar-beitnehmer zur billigen Ramsch-ware macht“, so Peter Deutsch-land, Vorsitzender des DGB-Bezirks Nord. „Da nützen auchkeine sprachlichen Versteck-spiele, keine propagandistischenUmschreibungen mehr wie ‚Je-de Arbeit ist besser als keine‘.“

Besonders fatal ist, dass esaus dem Niedriglohnsektorkaum ein Entrinnen gibt. Wer einmalschlecht bezahlt ist, der bleibt es. Eine Stu-die des Instituts für Arbeitsmarkt- und Be-rufsforschung (IAB) in Nürnberg sprichtvon der „Niedriglohnfalle“.

In einer Langzeitstudie registrierte dasInstitut, dass am Ende nur knapp die Hälf-te der beobachteten Niedriglöhner über-haupt noch einen sozialversicherungs-pflichtigen Job hatten und von denen wie-derum nur ein Drittel den Sprung in besserbezahlte Jobs schaffen. Das IAB sprichtvom Risiko der „Niedriglohnarmut“, von

amerikanischen Verhältnissen. Verschärftwird diese Entwicklung, wenn die im No-vember 2006 vom Europäischen Parlamentverabschiedete Dienstleistungsrichtlinie2009 auch in Deutschland in Kraft tritt. Dadie Richtlinie zu wenig Absicherung gegenMini- und Dumpinglöhne ausländischerFirmen enthält, für die der deutsche Marktsich dann öffnet, wird der Druck auf dieLöhne noch mal steigen. „Deutschlandmuss seine Unternehmen und die Arbeit-nehmer in geeigneter Weise absichern“,sagt Minister Müntefering.

Die Vorgänge in Hamburghaben Müntefering aufs Tempodrücken lassen. Ende Januarwill er den Koalitionsspitzeneine Liste vorlegen, in welchenBranchen gesetzliche Mindest-löhne eingeführt werden sol-len. Im Blick haben Müntefe-rings Beamte dabei vor allemsolche Dienstleistungszweige,in denen nach dem Jahr 2009legal ausländische Billiglohn-konkurrenz droht, wie im Ho-tel- oder Friseurgewerbe.

Die Union, die bislang alleVorstöße der Sozialdemokra-ten zurückwies, gibt sich neu-

erdings gesprächsbereit. Wo wirklich aus-ländisches Lohndumping zu erwarten sei,heißt es aus dem Kanzleramt, sei eine Aus-weitung der Entsenderegelung zu prüfen.Ein erstes Signal wollen CDU und CSUdiese Woche setzen. Sie werden einen Ge-setzentwurf Münteferings durchwinken,nach dem ein neuer Mindestlohn bei Ge-bäudereinigern eingeführt werden soll.

Andere Industrienationen in der EUkommen mit gesetzlichen Mindestlöhnendurchaus gut zurecht. In 20 von 27 Mit-gliedstaaten gibt es jeweils einen branchen-

Ver.di-Protestaktion (in Erfurt)Amerikanische Verhältnisse?

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übergreifenden Mindestlohn. In Großbri-tannien beispielsweise wurde der Mindest-lohn seit seiner Einführung 1999 um mehrals 40 Prozent erhöht. Im vergangenen Jahrwurden die Mindestlöhne in den meisteneuropäischen Staaten besonders stark an-gehoben.

Eine an diesem Montag veröffentlichteBilanz des Wirtschafts- und Sozialwissen-schaftlichen Instituts (WSI) der gewerk-schaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung zeigt,dass in Frankreich, Großbritannien oderden Niederlanden inzwischen Mindestlöh-ne zwischen acht und neun Euro gezahltwerden. Das entspricht einem Anstieg jenach Land zwischen 3 und 8 Prozent. Inmittel- und osteuropäischen Ländern be-trug der Anstieg sogar fast 50 Prozent.

In Deutschland sind Mindestlöhne um-stritten, viele Ökonomen befürchten, dasssie Arbeitsplätze vernichten. Die Gewerk-schaften kontern mit einem Verweis aufdas Ausland: In Großbritannien etwa gingdie Arbeitslosigkeit sogar um 25 Prozentzurück, seit es Mindestlöhne gibt.

„Deutschland kann hier von seinenNachbarn lernen. Untersuchungen zeigen,dass Mindestlöhne Armut verhindern,ohne dass Beschäftigung behindert wür-de“, sagt der Arbeitswissenschaftler Thors-ten Schulten vom WSI.

Doch selbst ein Mindestlohn würdenicht alle Probleme lösen. „Wenn jemand

schon niedrige Tariflöhne aushebelt, wirder das auch mit Mindestlöhnen machen“,sagt Arbeitsgerichtsdirektor Rühle. Aller-dings würde sich der Unternehmer damitwegen Lohnwucher strafbar machen. Inden betroffenen Branchen aber sind diemeisten Arbeitnehmer gar nicht organisiert.Viele Reinigungskräfte, oft Migranten, wis-sen gar nicht, was ein Tarifvertrag ist.

Und wer kann schon die Tricks der Ta-rifdrücker durchschauen? Im Fall von An-tonia Hercher war es die Mutter. Ver.di-Mitglied Renate Hercher-Reis sezierte die

Lohnabrechnung ihrer Tochter genau. FürSonntagsarbeit waren keine Zuschläge be-rechnet. Obwohl ihre Tochter 21 Tage, also168 Stunden, gearbeitet hatte, wurden ihrentsprechend der abgearbeiteten Zimmernur 52,5 Stunden angerechnet. Ein „Über-mittlungsfehler“ in der Lohnabrechnung,rechtfertigte sich die Reinigungsfirma Lieb-lang. Da sei „aus Versehen“ nur die Zim-merzahl berechnet worden, so Lieblang-Manager Karl Künkel, in der Regel werdeübertariflich gezahlt. Dieses Versehenscheint weitverbreitet. Kolleginnen vonAntonia Hercher bekamen Lohnabrech-nungen nach dem gleichen Schema.

18 Zimmer am Tag, wie für den Tariflohnnötig, seien im Dorint-Hotel nicht zu schaf-fen, bestätigt auch Ernst Jürgen Richter,Geschäftsführer einer Reinigungsfirma mit850 Mitarbeitern. So ein Akkord sei „un-menschlich“. Das hindert ihn jedoch nicht,seine Zimmermädchen im Marriott-Hotelin Frankfurt am Main, einem Vier-Sterne-Haus, einen Akkord von 19 Zimmern vor-zugeben, wenn sie auf Tariflohn kommenwollen. Selbst Spüler in der Küche drück-te Richter vor einigen Monaten dort nochunter Tarifgehalt.

Sein Ruf in der Branche scheint den-noch tadellos. Im Hamburger Dorint-Hotelsoll seine Firma künftig anstelle vonLieblang putzen.

Nils Klawitter, Michael Sauga, Janko Tietz

Niedriglohnbezieherin Prozent aller Vollzeitbeschäftigtenin Deutschland

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Niedriglohn = weniger als 2/3 des Durchschnittlohns;Quelle: WSI

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die man nicht einfach als das übliche Lobbyistengeschrei abtun kann.“

Besonders umstritten ist die Finanzie-rung der Kinderbeiträge aus Steuermitteln.Diese soll ab 2008 einsetzen und nur Kas-senpatienten zugute kommen. Privatpa-tienten würden damit die Kinder von ge-setzlich Versicherten über ihre Steuern be-zahlen, selbst aber nicht profitieren.

Erhebliche verfassungsrechtliche Zweifelwirft auch der sogenannte Basistarif auf,den die Privatversicherungen künftig fürjeden Neukunden ohne Risikoprüfunganbieten müssen. Nicht nur Merz befürch-tet, dass dadurch die im Grundgesetz ver-ankerte Vertragsfreiheit verletzt wird. Ähn-lich problematisch könnte die sogenanntePortabilität der Altersrückstellungen sein,die es dem Privatversicherten ermöglichensoll, seine Versicherung zu wechseln.

Einige Verfassungsrechtler haben inzwi-schen öffentlich Bedenken angemeldet.Der Berliner VerfassungsgerichtspräsidentHelge Sodan sieht durch die Pläne derKoalition das Grundrecht der Berufsfrei-heit und die Eigentumsgarantie des Grund-gesetzes verletzt. Der Bonner Arbeits-rechtler Gregor Thüsing und sein Hambur-ger Kollege Jörn Axel Kämmerer kommenin einem gemeinsamen Gutachten zu demSchluss, dass die Reformpläne der Koali-tion zudem gegen Europarecht verstoßen,weil sie die Dienstleistungsfreiheit ein-schränken. Das Bundesjustizministeriumhält diese Einwände alle für nicht beson-ders stichhaltig, wie es am vergangenenDonnerstag in einer ausführlichen Stel-lungnahme dargelegt hat.

Merz kann auf den Beistand vieler inder Koalition zählen. Er ist zur Hoffnungfür all jene geworden, die glauben, dass dasLand ohne diese Reform besser dastehe.Dazu gehört der CSU-LandesgruppenchefPeter Ramsauer, der mit Wohlgefallen ver-folgt, wie Merz in der Debatte um die Ge-sundheitsreform die Initiative ergreift. Erbangt vor allem um den Fortbestand derprivaten Versicherungen, auch das verbin-det ihn mit dem CDU-Mann.

Klar an der Seite von Merz stehen auchdie Vertreter des Wirtschaftsflügels derUnion, die inzwischen offen Stimmung ge-gen Merkels Großprojekt machen. Sie ha-ben erkennen müssen, dass die Kranken-kassenbeiträge für die Unternehmen nichtwie versprochen stabil bleiben, sonderneher steigen werden. Der Chef des Parla-mentskreises Mittelstand der Unionsfrak-tion, Michael Fuchs, lässt in einem fünfsei-tigen Brief an die Gesundheitsexperten sei-ner Partei kaum ein gutes Haar an der Re-form; er nennt sie eine „verpasste Chance“.

Selbst manche SPD-Linke sehen in Merzinzwischen einen Verbündeten. „Es ist einTrauerspiel, aber Merz hat recht“, sagtSPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach,„diese Reform hilft keinem.“

Jan Fleischhauer, Ralf Neukirch, René Pfister

Gerhard Schröder hatte sich festge-legt. „Wenn wir die Arbeitslosen-quote nicht spürbar senken, dann

haben wir es nicht verdient, wiedergewähltzu werden“, verkündete er als Bundes-kanzler im Dezember 1998 unmittelbarnach Amtsantritt. Sechs Jahre später stiegdie Zahl der Arbeitslosen auf das Rekord-hoch von 5,3 Millionen. Schröder wurdeabgewählt.

Angela Merkel will sich auf keinen Fallfestlegen. „Zum Ende der Legislaturperio-de können uns die Menschen daran mes-sen, ob wir die Arbeitslosigkeit gesenkthaben“, sagt die Kanzlerin und vermei-det jeden weiteren Satz. Doch am Endewird auch sie gemessen werden. Unerbitt-lich.

Die Zahl der Arbeitslosen ist eine derwenigen objektiven Größen, an denen sichErfolge oder Misserfolge einer Regierungfestmachen lassen. Sie wird auch über das Schicksal der Großen Koalition ent-scheiden.

Vordergründig scheint die Lage an die-sem zentralen Frontabschnitt derzeit durch-aus rosig zu sein für die Kanzlerin und ihre Mitstreiter. Die Arbeitslosigkeit sei

„um fast eine halbe Million Menschenzurückgegangen“, jubelte Merkel jüngst inihrer Neujahrsansprache. Das Wirtschafts-wachstum liege „doppelt so hoch wie2005“, und die Neuverschuldung werdeden „geringsten Stand seit der Wiederver-einigung“ erreichen.

Das seien „gute Zahlen“, freute sich dieKanzlerin. Die Reformen der Regierunghätten sich offenbar „nach einiger Zeit aus-gezahlt“.

Doch die Daten, mit denen die Groß-rechner der amtlichen Statistiker täglich ausallen Bereichen der deutschen Volkswirt-schaft gefüttert werden, zeigen auch eineandere, sehr viel düsterere Realität, die vonder Regierung gern ausgeblendet wird.

Der Aufschwung ist zwar da. Aber erschwingt weitgehend folgenlos an der Mas-se der 1,5 Millionen Langzeitarbeitslosenvorbei.

Die Koalition jubelt über die 400 000neuen Arbeitsplätze, die binnen Jahresfristentstanden sind. Doch sie verschweigt,dass nur ein Bruchteil davon sozialversi-cherungspflichtige Vollzeitstellen waren.Zudem warnen die Fachleute, dass die Ar-beitslosenquote schnell wieder auf alte

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A R B E I T S M A R K T

Radikaler NeuanfangMit kräftigen Lohnzuschüssen für Geringverdiener will die SPD

neue Jobs für Niedrigqualifizierte schaffen – und nebenbei die staatliche Förderung revolutionieren. Selbst die Union zeigt sich interessiert.

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Fensterputzer am Paul-Löbe-Haus (in Berlin): Für viele lohnt es kaum zu arbeiten

Höhen steigen wird, sobald sich der Auf-schwung seinem zyklischen Ende nähert.

Die Kanzlerin weiß, dass sie den Ar-beitsmarkt reformieren muss, um dieseEntwicklung zu stoppen. Und dass sieschnell sein muss, denn Veränderungenmüssen in prosperierenden Zeiten umge-setzt werden, um für die schlechten vor-zusorgen. Es gehe darum, „Beschäftigungim klassischen Sinne wieder attraktiv zumachen“, hat Merkel schon vor Monatenangekündigt. Seitdem tut sich – nichts.

Man trifft sich, man redet, man konfe-riert, man vertagt sich, man trifft sich, manredet, man konferiert – Ergebnisse gibt esnicht. Seit einem Vierteljahr schon ist die-ses freudlose Ritual in öder Regelmäßigkeitin einem Sitzungssaal des Berliner Ar-beitsministeriums zu besichtigen. Die Ex-perten von Union und SPD streiten sichum eine Reform des Niedriglohnbereichs,doch näher kommen sie sich nicht. Dasganze Projekt, sagt ein Teilnehmer, befin-de sich noch im „Stadium der Ursuppe“.

Es spricht vieles dafür, dass der Still-stand bald Vergangenheit ist. Und dass esnicht die Kanzlerin sein wird, die Dynamikin den Reformprozess bringt. In aller Stil-le hat ihr sozialdemokratischer Vize Pläneausarbeiten lassen, die für den großenKnall sorgen sollen.

Gemeinsam mit SPD-Chef Kurt Beckund -Generalsekretär Hubertus Heil lässtSozialminister Franz Müntefering an ei-nem Modell arbeiten, das für den deut-schen Arbeitsmarkt nichts weniger in Aus-sicht stellt als einen radikalen Neuanfang:Um mehr Jobs für Langzeitarbeitslose zuschaffen, sollen die Löhne von Geringver-dienern staatlich subventioniert werden.Dauerhaft, flächendeckend und für alleBranchen.

Seit Wochen schon feilen die Fachleute inMünteferings Ministerium und im Willy-

Brandt-Haus an dem Konzept, das derWürzburger Wirtschaftsweise Peter Bofin-ger im vergangenen Herbst pikanterweiseaus Modellen Milton Friedmans entwickelthat. Der US-Ökonom hatte einst mit seiner„Chicagoer Schule“ Margaret Thatcher undRonald Reagan die Blaupause für ihremarktradikalen Wirtschaftsrevolutionen ge-liefert – darunter auch jene Rezepte zur Ge-ringverdienerförderung, wie sie seit Jahrenmit Erfolg in den USA und Großbritannienpraktiziert werden (siehe Grafik).

Über den Umweg Bofingers hat Fried-mans Idee einer sogenannten negativen

Einkommensteuer nun Eingang in ein Pa-pier des SPD-Vorstandes. Mit einer „Ein-kommensteuer-Gutschrift“ könnten Nied-riglohnbezieher „ein existenzsicherndesEinkommen erzielen, das über dem Ar-beitslosengeld-II-Niveau liegt“, heißt es indem Papier. Das Konzept eröffne „einenWeg, um jenseits komplizierter Kombi-lohnmodelle nach vorn zu kommen“, sagtSPD-Generalsekretär Heil.

Setzen die Sozialdemokraten ihre Pläneum, würde künftig ein Großteil der heuti-gen Niedriglöhner mehr Geld vom Staaterhalten. Hunderttausende neuer Jobskönnten entstehen, und das Durcheinan-der der heutigen Kleinverdienerförderungwürde durch ein transparenteres Systemersetzt. Ganz nebenbei erhielten auch dieFinanzbehörden neue Aufgaben, sie müss-ten die neuen Hilfen auszahlen.

Was die Partei da vorantreibe, sei „keinReförmchen“, sagt ein Müntefering-Mann,sondern „ein sehr, sehr großes Rad“.

Es geht um das Grundproblem des Ar-beitsmarkts. Weil die Löhne stagnieren undmit ständig steigenden Sozialabgaben be-lastet werden, lohnt es sich für manche Be-völkerungsgruppen kaum noch zu arbeiten.Ein Hartz-IV-Empfänger bekommt heutzu-tage mit Unterkunftskosten und Zulagenzwischen 564 Euro (ledig) und 1514 Euro(verheiratet, zwei Kinder). Um das gleicheGeld mit einer 38-Stunden-Stelle zu verdie-nen, muss ein Arbeitnehmer zwischen 4,30und 9,30 Euro brutto nach Hause bringen.Für Friseure, Wachmänner oder Textilar-beiter liegen die Tarife vielfach niedriger.

Die Hartz-Reform hat das Problem sogarnoch vertieft. Um Teilzeitarbeit zu fördern,

Deutschland

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SPD-Politiker Müntefering, Beck: Pläne für den großen Knall

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DPA

Kombilohnmodelle Monatliche Zuschüsse für Geringverdiener

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100

200

300

400

Monatseinkommen in Euro, brutto

Art der Förderung: Steuergutschrift

Ziel: Armutsbekämpfung undSchaffung von Arbeitsanreizen

500 1500 2500

in EuroZuschuss GROSSBRITANNIEN

Art der Förderung: Steuergutschrift

Ziel: Schaffung von Arbeitsanreizen,Einführung von Zuschüssen auch fürKinderlose

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500 1500 2500

in EuroZuschuss

Monatseinkommen in Euro, brutto

Ehepaar mit einem Kind

Ehepaar mit zweiKindern

Ehepaar miteinem Kind

Single

USA

Single

Zusatzzahlung fürArbeitszeit von über30 Stunden

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KaumArbeitsanreiz

Tariflöhnepro Stunde, jeweils untersteTarifstufe, regionale Tarife

Transportarbeiter

Verkäufer im Einzelhandel

Zeitarbeit

Gartenbau

Landwirtschaftsgehilfe

7,49¤

7,32¤

6,92¤

6,45¤

Hartz IVArbeitslosengeld II und Unterkunfts-kosten, umgerechnet in einenfiktiven Stundenlohn

Paar ohne Kinder insgesamt 7,59¤

7,20¤

hat die rot-grüne Regierung Minijobs at-traktiver gemacht, auch für Arbeitslose, diesich neben der Stütze mit einer 400-Euro-Stelle etwas hinzuverdienen wollen. DieReform erwies sich als Fehlschlag. Zwarrichteten Gastwirte, Einzelhändler oderPutzdienste Hunderttausende neuer Mini-jobs ein. Doch dafür strichen sie ihren Be-stand an Vollzeitstellen rigoros zusammen.

Besetzt wurden die neuen Arbeitsplätzeüberwiegend von Rentnern, Studentenoder Nebenverdienern. Wer als Arbeitslo-ser eine der staatlich geförderten Stellenantrat, tat das überwiegend nach dem Mo-dell „Minijob plus Stütze“ – und blieb wei-ter Kostgänger der Arbeitsverwaltung.

Statt reguläre Stellen zu schaffen, hatdie Hartz-Reform die Spaltung des Ar-beitsmarkts vergrößert. Während Kurzzeit-arbeitslose zuletzt deutlich bessere Chan-cen hatten, schnell wieder einen Job zufinden, liegt der Anteil der Dauerarbeits-losen noch immer deutlich höher als in fastallen anderen Ländern Europas.

Um diese sogenannte Niedriglohnfalleaufzubrechen, will SPD-Berater Bofingernun dem „regulären Arbeitsverhältnis“gleich auf mehreren Wegen wieder „Vor-rang verschaffen“. Auf dem Programmsteht ein Komplettumbau des deutschenNiedriglohnsektors.

Geht es nach Bofinger, sollen die Mini-jobs weitgehend abgeschafft und einzelne

Zuschläge für Hartz-IV-Empfänger gestri-chen werden. Dafür, so der Plan, gäbe esmehr Kindergeld für Kleinverdiener undeinen neuen Steuerbonus.

Wer als Single bis zu 1300 Euro oder alsVerheirateter bis zu 2000 Euro verdient,erhält nach diesem Modell einen gestaffel-ten Zuschuss zu seinen Sozialbeiträgen.Unter dem Strich bliebe Geringverdienerndadurch netto deutlich mehr als heute.Bofinger rechnet mit mindestens 500000neuen Vollzeitstellen, die so entstehenkönnten.

Anders als der Wirtschaftsweise setzt dieUnion bislang auf befristete Lohnsubven-tionen. Doch in einer koalitionsinternenAnhörung haben unabhängige Fachleutedas Modell der beiden Unionsgeneral-sekretäre Markus Söder (CSU) und RonaldPofalla (CDU) einhellig verrissen.

Aus einem internen Papier des Arbeits-ministeriums geht hervor, dass die Exper-ten „hohe Mitnahme- und Verdrängungs-effekte“ beklagt hatten, eine „Ausdehnungdes Kreises der Förderfähigen“ und die„damit verbundene Steigerung der Kos-ten“. Zudem warnten sie, der Vorschlagsei „mit dem EU-Recht nicht vereinbar“.So vernichtend war das Votum der Wis-senschaftler, dass es inzwischen vielenUnionsparlamentariern lieber wäre, diePartei hätte das Konzept gar nicht erst aufden Tisch gelegt.

Deutschland

Bofingers Idee einer Steuerförderungfür Niedrigverdiener geistert in verschie-denen Varianten bereits seit Jahren durchsozialdemokratische Denkerzirkel. Befeu-ert vom Kölner Sozialwissenschaftler FritzScharpf, machte sich sogar der frühere Par-teichef Oskar Lafontaine das Konzept zueigen.

Doch die Schröder-Regierung scheutedavor zurück, Milliardenbeträge aus deraktiven Arbeitsmarktpolitik an Geringver-diener umzuverteilen. Sie ließ das Kon-zept fallen.

schen Seele gleich in mehreren Punktenentgegenkommt. Es sieht keinerlei Kür-zung der Hartz-IV-Regelleistungen vor,und es liegt nahe bei Konzepten aus demGewerkschaftslager, die Sozialbeiträge ge-nerell mit Zuschüssen aus dem Steuertopfzu päppeln.

Bofinger stellte sein Konzept vor eini-gen Wochen dem „Forum Wirtschaft“ vor,einem Zirkel sozialdemokratischer Politi-ker und Unternehmer, dem unter anderemTUI-Chef Michael Frenzel, Ingrid Mat-thäus-Maier, Vorstandschefin der Staats-bank KfW, und Finanzminister Peer Stein-brück angehören. Seitdem schwärmen dieFachleute der Partei.

Der SPD-Arbeitsmarktpolitiker KlausBrandner lobt den „geschlossenen An-satz“, Wirtschaftssprecher Rainer Wendspricht von einer „intelligenten Lösung“.Selbst die ausgewiesene Parteilinke AndreaNahles hält das Bofinger-Modell für eine„gute Sache“.

„Der Vorschlag stößt in der SPD aufbreite Sympathien“, verkündete vergan-gene Woche Generalsekretär Heil. DerParteimanager sagt, er habe auch von denWirtschaftsverbänden – etwa vom Zen-tralverband des Deutschen Handwerks –positive Signale für die Idee erhalten.

Dabei warnen Kritiker vor möglichenMilliardenlasten für den öffentlichen Haus-halt und der absehbaren Protestwelle gegeneine Minijob-Reform. Mit Grausen erin-nern sich die Genossen noch an die Früh-phase der ersten rot-grünen Regierung un-ter Schröder. Der damalige ArbeitsministerWalter Riester brachte mit Plänen für ei-nen Abbau der BeschäftigungsverhältnisseUnternehmer und Teilzeit-Jobber glei-chermaßen gegen sich auf.

Für den Bofinger-Vorschlag habe sich in-des „ein Zeitfenster der Möglichkeitengeöffnet“, heißt es in der SPD. Vizekanz-ler Müntefering lässt das Konzept von sei-nen Fachbeamten prüfen. Und die zustän-dige Koalitionsarbeitsgruppe beschloss aufihrer letzten Sitzung, den Vorschlag wis-senschaftlich durchrechnen zu lassen. DasBonner Institut zur Zukunft der Arbeitund das Nürnberger Institut für Arbeits-markt- und Berufsforschung sollen her-ausfinden, wie viele Arbeitsplätze das Mo-dell bringt – und wie viel es kostet.

Selbst die Kanzlerin zeigt sich aufge-schlossen. Das Konzept müsse genau unter-sucht werden, verbreiten ihre Vertrauten.Es gebe keine grundsätzlichen Vorbehaltegegen ein Modell der negativen Einkom-mensteuer. Für Merkel gilt das Motto ihrerNeujahrsansprache: „Überraschen wir unsdamit, was möglich ist.“ Horand Knaup,

Michael Sauga

Wirtschaftsweiser BofingerBreite Sympathien bei der SPD-Basis

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Nachdem die Partei allerdings mit derunpopulären Hartz-Reform große Teile dereigenen Klientel verprellt hat, sucht sie nunnach einem zugkräftigen Angebot für dieunteren Etagen des Arbeitsmarkts. Bislangsetzte die SPD dabei vor allem auf dieEinführung eines Mindestlohns. Doch dieUnion ist dagegen, und so werden sich staat-liche Verdienstgrenzen – so viel ist den Ge-nossen inzwischen klar – allenfalls in eini-gen wenigen Branchen durchsetzen lassen.

Umso attraktiver erscheint da das Bo-finger-Konzept, das der sozialdemokrati-

Man hat der Stadt Leipzig einenenglischen Beinamen verliehen.Man spricht jetzt von der „Boom-

town“, und die Stadt scheint den Namenwie einen Ehrentitel zu tragen. Es gibt einewundervolle Innenstadt und viele Leucht-türme, also Firmen, die besonders gut lau-fen und Strahlkraft haben über die Stadthinaus.

Leipzig ist die Stadt von Auerbachs Kel-ler und vom Völkerschlachtdenkmal. Siewar mal eine sehr deutsche Stadt. Dannkamen der Krieg und die DDR, und Leip-zig rückte an den Rand. Dieser Tage aberist Leipzig wieder eine typische deutscheStadt. In ihr spiegeln sich die zwei Le-benswelten des heutigen Deutschlands.Denn Leipzig ist auch die Heimat vonTommy.

Von Tommy sieht man zunächst nur dasFahrrad, ein abgenutztes Modell mit An-hänger, auf dem Kartons stehen und Zei-tungen liegen. Am Lenker hängt ein Stoff-beutel, gefüllt mit leeren Bierflaschen.

Dann sieht man auch Tommy. Langsamzieht er den Kopf aus der blauen Papier-tonne heraus, vorsichtig wie eine Schild-kröte. Er flucht. „Sieht nicht gut aus heute.“

Tommy ist 45 Jahre alt, er war mal Bau-arbeiter, aber mittlerweile ist er arbeitslosund, wenn man so will, freischaffender Pa-piersammler. Bis zu 130 Kilogramm zieht erjeden Tag aus den Tonnen des LeipzigerStadtteils Grünau und lädt sie in seinen Hän-ger. Grünau ist längst zum Gegenentwurfdes funkelnden Leipzig geworden, das dieTouristen kennen. Grünau verkörpert diedunkle Seite der Boomtown, in der die meis-ten Einkommensmillionäre Sachsens woh-nen und in der zugleich die Zahl der Sozial-hilfeempfänger innerhalb von zehn Jahrenum mehr als 210 Prozent angestiegen ist.

Ein Händler nimmt ihm die Ware für fünfCent das Kilo ab. „An guten Tagen“, sagtTommy, „mache ich zehn Glocken mit demZeug.“ Gemeint sind Euro. Es ist eine klei-ne Ergänzung zu dem Hartz-Geld, das ihmvom Amt monatlich gezahlt wird. Tommy

glaubt nicht mehr an einen richtigen Jobauf dem Bau. Er macht jetzt in Papier.

In den Zeitungen, die Tommy täglichaus den Containern zieht, prangen dieserTage Schlagzeilen, die nicht zusammen-passen wollen. Sie sind voll mit Zahlen,die sich zu widersprechen scheinen. Malverkünden sie den Aufschwung des Lan-des, sie vermelden ein Wachstum, auf dasman Jahre vergebens gewartet hat, Unter-nehmensgewinne in Rekordhöhe. Sie regi-strieren endlich weniger als vier MillionenArbeitslose. Es sind Zahlen aus einem wirt-schaftlich gesunden Land.

Kurz darauf aber steht zu lesen, dass im-mer mehr Menschen ins Reich der Armutabrutschen. Es sind Zahlen des Statis-tischen Bundesamtes, und sie verkündenein Wachstum der anderen Art. Es gibtdemnach 10,6 Millionen Menschen, die vonArmut bedroht sind, gut 13 Prozent derBevölkerung, darunter viele Kinder.

Die Zeitungen zeichnen eine verwirren-de Skizze des Landes. Und vielleicht ist es

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Galaveranstaltung (in Berlin): Wachsende Liga der Superreichen

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Das geteilte LandDeutschland driftet auseinander: Wirtschaftlicher Aufschwung und Massenarmut schließen

sich nicht aus. Daran wird auch die nächste Lohnrunde nichts ändern. Die Politik sieht untätig zu und ist dabei, sich vom Ziel der Chancengleichheit zu verabschieden.

Quelle: WSI

Reallöhneinternational

1995 bis 2004,Veränderung

in Prozent

SCHWEDEN

USA

IRLAND

DÄNEMARK

NIEDERLANDE

FRANKREICH

EU 15

BELGIEN

SPANIEN

ÖSTERREICH

ITALIEN

DEUTSCHLAND

25,4

25,2

19,6

19,4

15,6

11,9

8,4

7,4

6,4

5,4

2,8

2,0

– 0,9

GROSS-BRITANNIEN

Deutsche Bescheidenheit

ganz gut, dass Tommy sie gar nicht mehrliest, sondern nur noch abgibt. Vielleicht ist es auch gut, dass er nicht mehr nach-liest, wie Berliner Spitzenpolitiker überDeutschland reden.

Sie beschreiben ein Land, das es längstnicht mehr gibt, jedenfalls nicht auf deut-schem Boden. Sie sprechen nicht über dieRealität. Sie reden über die Vergangenheit.

Es gehe „um den Zusammenhalt einerNation“, ruft die Bundeskanzlerin ihrenBürgern gern zu. Sie sagt auch, „dass wirzusammen in einer Schicksalsgemeinschaftleben, dann müssen wir uns auch füreinan-der verantwortlich fühlen“. Manchmal istAngela Merkel richtig gut darin, Deutsch-land als Einheit zu beschwören.

Noch besser beherrscht nur ihr Vize-kanzler diese Disziplin. „Es gibt keineOber- und Unterschichten hier, sondern esist eine Gesellschaft. Und wir sind gut be-raten, wenn wir die nicht auseinanderfallenlassen“, behauptet Franz Müntefering. Erempfehle sehr, dass wir diese Gesellschaftnicht aufteilen.

Wenn Merkel oder Müntefering überDeutschland reden, klingt es oft, als sprä-chen sie über eine friedliche Märchenweltirgendwo in der Südsee. Es sind Zeugnisseeiner unehrlichen Politik, in der die Rea-lität geleugnet wird, weil der Mut fehlt, dieRealität zu ändern.

Geradezu hilflos klingen die jüngstenIdeen und Äußerungen der Regierung undihrer Repräsentanten. Sie sind geeignet,ein paar Tage für Schlagzeilen zu sorgen.Das Land verändern werden sie nicht.

In großkoalitionärer Eintracht preisendie Kanzlerin und ihre Mitstreiter Investiv-löhne. Die Idee ist uralt und im Grundenicht schlecht: Aus Beschäftigten sollenMiteigentümer werden, kleine Kapitalisten,die am Erfolg des Unternehmens teilhaben.

Die Idee hat allerdings zwei Schönheits-fehler: Der Spielraum für Lohnerhöhungenkann nur einmal ausgeschöpft werden, erwürde durch Investivlöhne nicht erweitert,nur anders aufgeteilt. Die Beschäftigtentrügen außerdem ein doppeltes Risiko: Beieiner Unternehmenskrise wäre nicht nurihr Job, sondern auch noch ihr Erspartes inGefahr.

Angela Merkel setzt sich zudem wieauch der SPD-Vorsitzende Kurt Beck undihr Vize Müntefering für höhere Löhne ein.

Auch die Arbeitnehmer, sodie gängige These, sollenvom Aufschwung profitie-ren.

Die Gewerkschaften, allenvoran IG-Metall-Chef JürgenPeters, sind wild entschlos-sen, diese Steilvorlage zunutzen und in der nächstenTarifrunde für ihre Klientelwieder mehr herauszuholen.Die Erwartungen an der Ba-sis sind hoch, sie werdendurch die öffentliche Diskus-sionen zusätzlich befeuert.

Tatsächlich scheint die Re-publik ja Nachholbedarf zuhaben (siehe Grafik). Tat-sächlich sind die Löhne hier-zulande aber auch immernoch sehr hoch im europäi-schen Vergleich.

An der Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich ändern die Debattenund Tarifauseinandersetzun-gen nichts. Wer arbeitslos ist, geht leer aus. Er hat inZukunft sogar noch wenigerChancen, einen Job zu fin-den. Denn pauschale Lohn-

erhöhungen verteuern auch einfache Tätig-keiten, sie werden unrentabel, wegrationa-lisiert oder verlagert. Die geplante Reformdes Niedriglohnsektors dagegen, die Ge-ringverdienern bessere Verdienst- und Be-schäftigungschancen bringen soll, habenUnion und SPD fürs Erste verschoben.

Und so driftet Deutschland 45 Jahrenach dem Bau der Mauer erneut ausein-ander. Doch die Mauer verläuft diesmalnicht zwischen Ost und West, sondern zwi-schen Teilhabenden und Abgehängten,zwischen Arbeitenden und Arbeitslosen,zwischen Gebildeten und Ungebildeten.

Auch in der Bundesrepublik der siebzi-ger oder der achtziger Jahre hat es Armutgegeben. Aber die deutsche Armut desneuen Jahrtausends ist eine andere. Sie istgrößer, weil mehr Menschen von ihr be-troffen sind. Sie ist dramatischer, weil dieUrsachen so tief sitzen. Sie sind mit einemAufschwung wie dem gegenwärtigen nichtwegzubekommen, selbst wenn der, was derWirtschaftsforscher Hans-Werner Sinn fürmöglich hält, bis ans Ende des Jahrzehntsanhalten sollte (siehe Interview Seite 26).Es ist nicht der Mangel an Geld, der die Ar-mut von heute ausmacht, sondern derMangel an Teilhabe.

Die moderne Variante des deutschenAufschwungs ist ein elitärer Aufschwung.Er findet ohne das untere Drittel statt. Wernicht die nötige Stärke, Klugheit oder dasGeschick mitbringt, ist außen vor.

Die deutsche Einheit und die Globali-sierung haben die alte Bundesrepublikmehr verändert, als den Bewohnern desLandes recht sein kann. Die Wiederver-

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Armenspeisung (in Magdeburg): Ein Land der scharfen Gegensätze

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Deutschland

TarifabschlüsseAuswahl 2005, teilweise regional

Stahlindustrie

Chemieindustrie

Landwirtschaft

Süßwarenindustrie

Brot- und Backwarenind.

Brauereien

Holz- und Kunststoffind.

Kfz-Handwerk

Zeitschriftenverlage

Groß- und Außenhandel

Bauhauptgewerbe*

Vorstandsgehälter

*seit April 2006; Quelle: WSI, DSW

Veränderung der durchschnittlichen Vergütungvon Dax-30-Vorständengegenüber 2004

3,5%

2,7%

1,9%

1,8%

1,8%

1,6%

1,5%

1,5%

1,4%

1,1%

1,0%

11,1%

einigung kostete die Ostdeutschen dasGros ihrer Industriearbeitsplätze, die zuDDR-Zeiten schon nicht wettbewerbsfähigwaren und gegen den Westen keine Chan-ce hatten. Und im Zuge der Globalisierungwanderten Jobs aus ganz Deutschland nachOsteuropa oder Asien ab, weil Arbeit dortweit weniger kostet.

Die Globalisierung belohnt aber auchjene, die Außergewöhnliches leisten kön-nen, die Talentierten und Qualifizierten.Diese Globalisierung wirkt als Katalysatorfür das Auseinanderdriften von Arm undReich.

Selbst im feinen Bankgewerbe leben dieBeschäftigten heute in einer geteilten Welt.Die Kapitalmarktexperten sitzen fast alle inLondon oder New York. Viele Berufsein-

steiger unter ihnen kommen in guten Jah-ren auf eine halbe Million Euro Gehalt.

Der gehobene Banker in Deutschlandverdient dagegen nur rund 120000 Euro, 40 Prozent mehr als vor zehn Jahren. Einnormaler Angestellter in der Filiale kommtetwa auf 50000 Euro, sofern es seinen Jobnoch in Deutschland gibt.

Denn der internationale Konkurrenz-kampf hat im Bankgewerbe wie in anderenBranchen Tausende Arbeitsplätze ins Aus-land gespült. So sitzen mittlerweile alleinüber 2000 Angestellte der Deutschen Bankin Indien, wo die Löhne teils nur ein Zehn-tel der hiesigen betragen. Die Spesenab-rechnungen werden in der Slowakei und inUngarn bearbeitet.

Die Entwicklung im Bankbereich ist bei-spielhaft für die gesamte deutsche Volks-wirtschaft. So konnte aus der einst nivel-lierten Mittelstandsgesellschaft ein Landder scharfen Gegensätze werden.

Von einer „deutlichen perso-nellen Streuung von Vermögens-werten und Schulden“ spricht die

Bundesbank in einer aktuellen Studie. Eine„steigende Polarisierung“ von Armut undReichtum hat das Deutsche Institut fürWirtschaftsforschung beobachtet. DieBundesregierung kam im jüngsten Berichtzu den „Lebenslagen in Deutschland“ zudem Schluss, dass sich alle „verteilungspo-litischen Maßnahmen“ als „nur noch be-grenzt wirksam“ erweisen.

Insgesamt 7,5 Billionen Euro Nettover-mögen haben die Deutschen angehäuft,fast 30-mal so viel wie der Etat des Bundes,eine Summe wie aus dem Märchen. Dochfast die Hälfte dieses Reichtums befindet

sich in den Händen weniger, der oberstenzehn Prozent der Bevölkerung. Dort, inder Oberklasse, betrug das durchschnitt-liche Haushaltsvermögen demnach etwa850000 Euro, wobei es unter den Super-reichen freilich ebenfalls eklatante Unter-schiede gibt. Die vom „manager magazin“ermittelte Vermögendenliste führt in die-sem Jahr erstmals mehr als 100 Deutscheauf, die es in die Liga der Milliardäre ge-schafft haben.

Am untersten Ende der Statistik hinge-gen finden sich jene, denen die Schuldendie Luft abschnüren. Auch sie werden im-mer mehr. Drei Millionen Haushalte geltenals überschuldet. Sie sind nicht in der Lage,ihre Raten zu zahlen, ohne unter dasExistenzminimum zu rutschen.

Die neue Unterschicht besteht nicht nuraus den offiziell gemeldeten vier Millio-nen Erwerbssuchenden. Etwa eine MillionMenschen muss trotz Job zusätzlich einenAntrag auf Arbeitslosengeld II ausfüllen,weil der Lohn zum Leben nicht reicht. DieZahl der Menschen, die von Hartz IV be-troffen sind, ist auf sieben Millionen ge-stiegen – fast zehn Prozent der deutschenBevölkerung.

Inflationsbereinigt sank das durch-schnittliche Haushaltseinkommen seit 1991um zwei Prozent. Die Löhne in den unte-ren Einkommensgruppen verfallen. AusVollzeitberufen werden Teilzeitstellen, ausbefristeten Anstellungen werden Mini-Jobs. Stammbelegschaften werden mehrund mehr durch Aushilfskräfte der Zeit-arbeitsfirmen ersetzt, die für gleiche Arbeitweniger Geld bekommen.

Nach der vielbeachteten Studie des Sta-tistischen Bundesamts liegt die Grenzezum Prekariat bei einem Monatseinkom-men von 856 Euro für Alleinstehende be-ziehungsweise 1798 Euro für eine Familiemit zwei Kindern. Jeder Achte liegt unterdieser Grenze.

Das Gesicht des anderen Deutschlandslässt sich beispielsweise rund um die Bahn-hofstraße von Gelsenkirchen beobachten.Hier, wo einst die Flaniermeile war, rei-hen sich nun Geschäfte mit Ein-Euro-Arti-keln an Döner-Buden und Spielhöllen.Auch Sonnenbänke scheinen an jenen Or-ten gut zu gehen, wo es schlecht geht. Einpaar Verkaufsstände vom Weihnachts-markt sind noch mit dicken Plastikplanenverschlossen.

Während die Politik so tut, als ließensich die Lebensverhältnisse noch immermit Flächentarifverträgen, einer Prise Rei-chensteuer oder dem Länderfinanzaus-gleich vereinheitlichen, spüren die Bürger,wie die Gesellschaft auseinanderdriftet. Siekönnen es beobachten, Tag für Tag, etwaim Wartezimmer beim Arzt oder im Kran-kenhaus. Dort warten Kassenpatientenmonatelang auf einen OP-Termin, Privat-

versicherten hingegen stehtmeist sofort ein Spezialist zurVerfügung. In Berlin-Hellers-

Deutschland

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Koalitionsspitzen Müntefering, Merkel: Die Realität wird verleugnet, der Mut fehlt

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Prognose

4,9

4,4

2,3

1,1

4,5

Gesamt-deutschland

Jan. – Nov.2006

Westdeutschland

TREND

HochgeschaukeltArbeitslose in Millionen, JahresdurchschnitteVeränderung des Bruttoinlandproduktsgegenüber dem Vorjahr in Prozent

–1

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1961 65 70 75 80 85 90 95 2000 05

Deutschland

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Sinn, 58, ist Präsident des Münchner Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung.

SPIEGEL: Herr Sinn, die deutsche Wirt-schaft wächst so stark wie lange nichtmehr, die Zahl der Arbeitslosen sinkt.Hat Sie das überrascht?Sinn: Jetzt nicht mehr. Wir haben ja schonvor einem Jahr eine sehr optimistischePrognose gemacht, weil der Ifo-Index sopositiv war. Wir sind deshalb von vielenverlacht worden.SPIEGEL: Aber Sie waren es auch, derDeutschland als krank bezeichnete undfragte: „Ist Deutschland noch zu retten?“ Sinn: Die Diagnose stimmt noch immer.Das Auf und Ab der Konjunktur hat esimmer gegeben. In den letzten 35 Jahrenstieg die Arbeitslosigkeit in der erstenHälfte eines Jahrzehnts immer an, in derzweiten Hälfte nahm sie dann wieder ab.Das Problem war, dass die Arbeitslosig-keit leider nie wieder auf das Niveau vordem letzten Anstieg zurückfiel.SPIEGEL: Wird das dieses Mal wieder sosein?Sinn: Es kann durchaus sein, dass dieHartz-Reformen etwas wirken. EineKehrtwende bewirken sie sicherlich nicht.SPIEGEL: Hängt das nicht davon ab, wienachhaltig dieser Aufschwung ist?Sinn: Wir glauben, dass er sehr robust istund sicher noch deutlich über das nächs-te Jahr hinausträgt, möglicherweise bisans Ende des Jahrzehnts. Das war jeden-falls in der Vergangenheit das immerwiederkehrende Muster. Aber man darfdiese konjunkturelle Aufwärtsbewegungnicht für eine Trendwende in der struk-turellen Entwicklung halten. SPIEGEL: An der grundsätzlichen Wettbe-werbsschwäche der deutschen Wirtschafthat sich also nichts geändert?Sinn: Es gibt keine Wettbewerbsschwächeder deutschen Wirtschaft, es gibt eineWettbewerbsschwäche der deutschen Ar-beitnehmer. Die Firmen stehen inter-national sehr gut da, aber ein großer Teilder Arbeitnehmer ist nicht mehr wett-bewerbsfähig, wie die Massenarbeitslosig-keit, die wir ja immer noch haben, be-weist. Die Arbeitnehmer haben durchden Fall des Eisernen Vorhangs eine mas-sive Niedriglohnkonkurrenz bekommen.Für die Unternehmen ist das ganz ange-nehm, sie können sich ja der billigen Ar-beitskräfte in anderen Ländern bedienen.

Sie bleiben wettbewerbsfähig, weil sie dienicht mehr wettbewerbsfähigen deut-schen Arbeitnehmer durch Slowaken,Chinesen und andere ersetzen. SPIEGEL: Die Löhne sind in den vergan-genen zehn Jahren nur sehr schwach ge-stiegen. Hat das nicht zu einer Verbesse-rung der Wettbewerbsfähigkeit geführt?Sinn: Es hat zu einer gewissen Ent-krampfung beigetragen. Allerdings sindunsere Industriearbeiter immer noch die drittteuersten auf der ganzen Welt.Von dem hohen Sockel herunterzukom-

men ist ein mühsamer und langwierigerProzess.SPIEGEL: Die Arbeitnehmer sollen sichweiter zurückhalten und nicht am Auf-schwung partizipieren?Sinn: Sicher sollten die Arbeitnehmerunter Gerechtigkeitsgesichtspunkten amAufschwung partizipieren. Wenn diesePartizipation aber in vollem Umfangstattfände, gingen noch mehr Arbeits-plätze verloren.SPIEGEL: Was schlagen Sie also vor?Sinn: Wir müssen neue Wege gehen. Dereine ist der Investivlohn. Er sorgt dafür,dass Arbeitnehmer auch zu Vermögens-besitzern werden und damit ein zweitesEinkommen haben. Diese Idee wurde inden sechziger Jahren schon einmal dis-kutiert. Damals haben sich die Gewerk-schaften für Mitbestimmung statt für Mitbeteiligung entschieden. Das brachte ihnen und ihren Funktionären Aufsichts-ratsmandate und Tantiemen, den Arbeit-nehmern dagegen nichts. Hätten sich dieArbeitnehmer bereits damals beteiligenkönnen, besäßen sie heute ein erkleck-liches Vermögen. Wer bei Siemens dasInvestivlohnprogramm ausgeschöpft hat,bekommt heute tausend Euro mehr Ren-te im Monat als andere, und hätten alleSiemens-Arbeitnehmer ihre Anteile be-halten, anstatt sie zu verkaufen, so be-säßen sie heute 25 Prozent der Siemens-Aktien.SPIEGEL: Was schlagen Sie außerdem vor?Sinn: Ein weiterer Weg ist der aktivieren-de Sozialstaat, der Löhne, die wir nicht

„Wir müssen neue Wege gehen“Der Ökonom Hans-Werner Sinn über das ewige Auf und Ab der Konjunktur

Wirtschaftsforscher Sinn„Immer wiederkehrende Muster“

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dorf müssen zur Mittagszeit über 100Kinder von der Armenküche „Arche“ ver-sorgt werden. Das „Kaufhaus des Wes-tens“ hat derweil die Feinkostabteilungumgebaut, um die wachsende Nachfragenach Hummern und Austern zu befrie-digen.

Langzeitarbeitslose verdingen sich fürwenige Euro Stundenlohn bei der Gurken-ernte im Spreewald. Nur wenige Kilometerentfernt boomt das Wellness-Hotel ZurBleiche, wo dem gestressten Manager einAromabad eingelassen und der Nackenmassiert wird. Die Übernachtung mit Halb-pension kostet bis zu 270 Euro.

Deutschland wird zum Land der Extre-me. Der Modehersteller Hugo Boss willeine Kollektion für Kinder zwischen zweiund zwölf auflegen; zugleich eröffnet anfast jedem Werktag eine neue Filiale desTextildiscounters KiK, wo es Five-Pocket-Jeans für Heranwachsende schon ab 4,99Euro gibt.

Es ist noch gar nicht lange her, dass dieBundesrepublik als bestes Beispiel für einegalitäres Land galt. Dass Manager pro Tagso viel verdienen, wie ihre Angestellten imganzen Jahr nach Hause bringen, war inden sechziger und siebziger Jahren genau-so unvorstellbar wie Millionen Langzeit-arbeitsloser.

Der staatlichen Fürsorge fielen damalsallenfalls Flüchtlinge, Kleinstrentner oderObdachlose zur Last, die nach einem per-sönlichen Schicksalschlag aus dem Tritt ge-raten waren. Der Rest war am Wohlstands-zuwachs der Republik beteiligt.

Klassengesellschaften waren die ande-ren, die Marktwirtschaften mit der hässli-chen Fratze der Armut, Länder wie Groß-britannien oder die USA, wo der Gegen-satz von Reich und Arm schon immer zumGrundkonsens gehörte. In Deutschland da-gegen waren selbst die Eliten stolz darauf,dass „Wohlstand für alle“ mehr als nur einePolit-Parole war.

Inzwischen gilt das längst nicht mehr,daran kann auch der ausufernde Wohl-fahrtsstaat nichts ändern.

Zwar gibt die Bundesrepublik, gemes-sen an der Wirtschaftsleistung, mit 700 Mil-liarden Euro fast genauso viel Geld für so-ziale Zwecke aus wie die europäischenSpitzenreiter Schweden und Dänemark.Bei den Bedürftigen jedoch kommt immerweniger an, wie eine Studie der gewerk-schaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung zeigt:Bei wichtigen Sozialindikatoren wie demAusmaß der Kinderarmut, dem Anteil derLangzeitarbeitslosen oder der Beschäfti-gungsquote Älterer rangiert die Bundesre-publik inzwischen weit hinten im interna-tionalen Vergleich. Entsprechend ist derdeutsche Wohlfahrtsstaat mittlerweile einerder ineffizientesten in ganz Europa, so dasFazit der Analyse.

Noch bitterer ist die Erkenntnis, dass derSozialstaat das Aufstiegsversprechen anseine Bürger nicht mehr einhalten kann:die Aussicht, dank Bildung und staatlicherFörderung seiner Herkunft zu entkommen.Wer das Pech hat, in die Unterschicht hin-eingeboren zu werden, bleibt meist auch inder Unterschicht. „Bildungschancen wer-den vererbt“, heißt es im Armutsberichtder Bundesregierung.

Nicht nur das Geld ist entscheidend, dasdie Eltern in ihren Nachwuchs investieren.Es spielt auch eine Rolle, was die Kinderim Elternhaus vorgelebt bekommen, wel-che Werte man ihnen vermittelt, welcheHaltung dem Leben gegenüber. Es ist aucheine Frage der Mentalität. Wie soll ein jun-ger Mensch Ehrgeiz entwickeln, wenn erim eigenen Zuhause vor allem mit resi-gnierten Menschen zu tun hat?

Nach der Grundschule haben Kindervon Eltern mit hohem sozialen Status eine2,7fach größere Chance, ein Gymnasiumzu besuchen, als Kinder von Facharbei-tern, so der staatliche Armutsbericht. DieWahrscheinlichkeit, ein Studium aufzu-

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mehr für auskömmlich halten, durch Zu-schüsse auffüllt.SPIEGEL: Also Kombilöhne.Sinn: Ja, aber nicht, wie es in der Re-gierung diskutiert wird, als Zuschüsse an Arbeitgeber, sondern direkt anArbeitnehmer. Eine solche aktivierendeSozialhilfe würde dazu führen, dassniedrige Löhne akzeptiert würden, zudenen es dann sehr viel mehr Jobs gäbe.SPIEGEL: Und damit ließe sich die Ar-beitslosigkeit strukturell abbauen?Sinn: Die Spaltung der deutschen Ge-sellschaft ist die Konsequenz aus derNiedriglohnkonkurrenz, die uns der Falldes Eisernen Vorhangs gebracht hat, undeinem Lohnersatzsystem, welches Min-destlohnansprüche begründet …SPIEGEL: … Sie meinen Hartz IV…Sinn: … die angesichts der internationalenWettbewerbssituation in immer wenigerFällen befriedigt werden können. Deshalbverlagern die Unternehmen immer mehrArbeitsplätze ins Ausland.SPIEGEL: Hartz IV soll durch aktivierendeSozialhilfe ersetzt werden?Sinn: Das ist gar nicht so radikal, wie essich anhört; man müsste Hartz IV um einDrittel kürzen, im Ausgleich die Hinzu-verdienstgrenzen auf 500 Euro erhöhenund das Hartz-IV-Einkommen in heutigerHöhe, also ungeschmälert, als Lohn füreine kommunale Vollzeitbeschäftigungzur Verfügung stellen. Die Kommunenerhielten das Recht, die von ihnen er-worbene Arbeitszeit dann auf dem Wegevon Zeitarbeitsfirmen an die Privatwirt-schaft zu verleihen.SPIEGEL: Und was soll der bekommen, derdiese Arbeit nicht annimmt?Sinn: Auf jeden Fall wesentlich wenigerals den Regelsatz.SPIEGEL: Sind die Kosten eines solchenModells nicht unkalkulierbar?Sinn: Nein, sie sind nach unseren Be-rechnungen niedriger als im derzeitigenSystem. Das Sozialprodukt steigt, weildie Arbeitslosigkeit abgebaut wird unddie Menschen zusätzliche Werte schaf-fen. Damit können wir für ein gan-zes Jahrzehnt einen Wachstumsschuberzeugen. SPIEGEL: Sehen Sie für solche Ideen wirk-lich eine Chance? Sinn: Gerade jetzt im Aufschwung hättenwir die Chance, Reformen, die sonstschmerzlicher wären, durchzuführen.Aber im Aufschwung gibt es immer auchKräfte, die sagen, es gebe eine Kehrt-wende und alles werde besser. Die Re-formwilligkeit wächst wahrscheinlich erstwieder, wenn sich die nächste Flaute An-fang des kommenden Jahrzehnts aufzu-bauen beginnt. Interview: Armin Mahler

Demonstration gegen Sozialabbau (in Berlin): Ende der nivellierten Mittelstandsgesellschaft

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UMFRAGE: LOHNERHÖHUNG

TNS Infratest für den SPIEGEL vom 5. bis 7. Dezember;1000 Befragte; an 100 fehlende Prozent: „weiß nicht“/keine Angabe

„Sollte der wirtschaftliche Auf-schwung zu höheren oder mode-raten Lohnerhöhungen führen,um die Konjunktur nicht zugefährden?“

moderate Erhöhungen 63%

höhere Löhne 32%

Quelle: DIW

Verteilung der Bevölkerung nach Einkommen

Weiter auseinanderPro-Kopf-Nettoeinkommen,monatlich in Euro

1996 2005

ärmste 10% mittlere 10% reichste 10%

– 4,6%

+4,5%

3366

3060

Veränderunggegenüber 1996

1211 1265

484 462

+10%

nehmen, ist bei Gutverdienerkindern sogarum das 7,4fache höher. Haben Vater undMutter keinen Job, findet auch ihr Kindmit drastisch höherer Wahrscheinlichkeitkeine Stelle.

So entscheidet sich früh, aus wem etwaswird und aus wem nicht. Während die ei-nen bereits im Krabbelalter ihre Talenteentwickeln, werden die anderen vom Fern-seher berieselt. Wo Eltern derart versagen,müsste der Staat einspringen, doch er tutes nicht. Bei den Kinder- und Jugendzen-tren wird gespart. Es gibt zu wenig Kin-derbetreuungsplätze. Die öffentlichenSchulen sind vielerorts in einem jämmerli-chen Zustand.

Wer eine Hauptschule besucht, hat imLeben weit weniger Chancen. So werdenschon ganz früh jene Weichen gestellt, aufdenen die Kinder in verschiedene Lebenfahren.

Die Politik hat bislang zu wenig getan,um diese Entwicklung aufzuhalten. Indemsie ein unzureichendes Bildungssystemzulässt, sorgt sie selbst für den Nachwuchsder Unterschicht.

Dabei liegt die Lösung nur zwei Flug-stunden entfernt. Dass eine Gesellschaftwachsen und fast alle daran teilhaben las-sen kann, zeigen vor allem skandinavischeLänder, und dort ganz besonders die Fin-nen. Das kleine Volk am Rande Europasstand Anfang der neunziger Jahre am Ran-de des Bankrotts, weil der Handel mit derbenachbarten Sowjetunion zusammenge-brochen war.

Dann aber nutzten die Finnen dieschlimmste Rezession ihrer Geschichte fürein beispielloses Sanierungsprogramm. Siekürzten die Sozialleistungen und stärktenim Gegenzug die öffentlichen Investitio-nen. Sie investierten in jene Infrastruktur,die jeder Mensch für seinen persönlichenAufstieg benötigt: Betreuungs- und Bil-dungseinrichtungen.

Esko Aho sitzt in seinem Büro in einemschicken Hochhaus hoch über Helsinki.Wenn er aus dem Fenster blickt, dann siehter das, was man in Helsinki eben so sieht:Nokia-Hochhäuser. Mit Aho begann der

unaufhaltsame Aufstieg von Finnland. Erwar von 1991 bis 1995 Ministerpräsidentdes Landes und ist heute noch ein angese-hener Mann, denn mit ihm kamen die Re-formen, und mit den Reformen kam derWohlstand.

Heute leitet er den Finnischen Natio-nalfonds für Forschung und Entwicklungmit etwa 100 Mitarbeitern. Er hat noch im-mer einen guten Überblick; es klingt Stolzaus seiner Stimme, wenn er über Finnlandspricht.

Es sei nicht so, dass es gar keine sozia-len Unterschiede gäbe, sagt Aho. Aberman habe diesen Trend, den es in Zeitender Globalisierung überall gebe, deutlichabgeschwächt, weil Finnland plötzlich inSchulbildung investiert habe. „Wir habengemerkt, dass die Schulverlierer auch spä-ter die Verlierer der Gesellschaft sind.“

Wenn man die besten finnischen unddie besten deutschen Schüler miteinandervergleiche, dann sei der Unterschied nichtso groß, sagt Aho. „Aber die schlechterenhaben in Finnland bessere Chancen.“

Um 30 Prozent kürzten Aho und seineNachfolger das Sozialbudget. Zudem stopp-ten sie sämtliche Frühverrentungsprogram-me. So wurden viele Milliarden Euro frei,die fast ausnahmslos in den Ausbau vor-bildlicher Schulen, Universitäten und auchKinderbetreuungseinrichtungen flossen.

Heute haben finnische Eltern Anspruchauf Ganztagsbetreuung für Kleinstkinderin direkter Nachbarschaft. Die Schüler er-halten auf ganztägigen Gesamtschulen eineder besten Schulbildungen der Welt. Undmehr als 50 Prozent der über 55-Jährigenstehen im Erwerbsleben – ein Drittel mehrals in Deutschland.

Längst hat Finnland die Bundesrepublikin allen wichtigen Wirtschafts- und Sozial-indikatoren hinter sich gelassen. Es gibtvergleichsweise weniger Arme, die Kluftzwischen Arm und Reich ist geringer, dieWirtschaft aber wuchs in den vergangenenzehn Jahren mehr als doppelt so stark wiehierzulande.

Finnland hat der Welt gezeigt, wie mandurch Kürzung von Sozialleistungen einesozialere Gesellschaft schafft. Es hat zweiDinge, die sich zu widersprechen schie-nen, miteinander versöhnt.

Die Große Koalition in Berlin hingegensteckt nach wie vor lieber Geld in die Um-verteilung, als dafür zu sorgen, dass Ar-mut gar nicht erst entsteht. Sie hat mehrausgegeben, aber wenig getan, was dieSpaltung der Gesellschaft lindern könnte.Sie hat die Abgaben für Niedrigverdienersogar erhöht, sie belastet sie mit höherenMehrwertsteuern sowie Renten- und Kran-kenkassenbeiträgen.

Statt in Kitas und Ganztagsschulen zuinvestieren, führen SPD und Union ein so-genanntes Elterngeld ein, das vor allemMittelschichtpaaren zugutekommt.

Es ist spät geworden in Helsinki. Ahoredet jetzt über Deutschland. Er verfolgtmit großem Interesse, was dort ge-schieht, was Merkel macht und die GroßeKoalition.

„Ich sehe eine große Gefahr fürDeutschland“, sagt Aho dann. Die Gefahrsei, dass alle glauben: Klasse, die Wirt-schaft wächst und weitere Reformen seiennicht mehr nötig. Aber das, sagt Aho, „daswäre ein fataler Irrtum“.

Mareke Aden, Markus Feldenkirchen, Alexander Neubacher, Wolfgang Reuter,

Michael Sauga, Barbara Schmid,Steffen Winter

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IG-Metall-Chef Peters: Wieder mehr rausholen

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Wenn es um das Verhältnis von Ge-werkschaftern und Sozialdemo-kraten geht, gelten für Franz

Müntefering ein paar einfache Zusam-menhänge: „Die SPD hat in diesem Landkeine Mehrheit ohne einen Schulterschlussmit den Gewerkschaften“, pflegt der Vize-kanzler zu sagen. Umgekehrt seien die Ge-werkschaften darauf angewiesen, dass siemit der Sozialdemokratie „dicht beieinan-der sind“. Deshalb gelte für beide die Re-gel: „Einigkeit macht stark.“

Und so treffen sich die Spitzen der deut-schen Arbeiterbewegung regelmäßig zuKonferenzen, um ihre Strategie abzustim-men – wie jüngst im sechsten Stock desBerliner Willy-Brandt-Hauses zur Sitzungdes SPD-Gewerkschaftsrats.

Stundenlang debattierten die Führun-gen von Sozialdemokratie und Gewerk-schaften noch halbwegs einig über die Gesundheitspolitik, bis sich gegen elf

* Das im März eröffnete Shoppingcenter „Das Schloss“.

Uhr abends die Genossin Barbara Hen-dricks aus dem rheinischen Kleve zu Wort meldete.

Aus einem dicken Expertenpapier trugdie Parlamentarische Staatssekretärin imBundesfinanzministerium umständlich dieEckpunkte der geplanten Unternehmen-steuerreform vor.

Nur einige Minuten hatte die Genossinüber „nominale steuerliche Gesamtbelas-tung“ sowie die „Voraussetzungen fürmehr Investitionen am Standort Deutsch-land“ referiert, da hatte IG-Metall-BossJürgen Peters schon genug: Die Melodiekenne er, schimpfte der Funktionär. „Ihrwerft den Konzernen das Geld hinterher,und die Arbeitnehmer zahlen drauf.“ Zusolch einem Projekt würden die Gewerk-schaften niemals ihre Zustimmung geben.

Es gehe nicht um reinrassige SPD-Poli-tik, erwiderte Müntefering genervt, son-dern um einen Kompromiss in der GroßenKoalition: „Ihr begreift einfach nicht, wiedie Berliner Politik funktioniert.“

So kündigt sich in Berlin der nächsteKonflikt an: Gegen die geplante Steuerre-form für Konzerne und Firmeneigner regtsich heftiger Widerstand an der SPD-Basisund bei den verbündeten Arbeitnehmer-organisationen. Die Gewerkschaften wol-len notfalls mit Massendemonstrationenreagieren. Auch die SPD-Linke kündigtderweil Widerstand an, selbst wenn dasdie Harmonie der Koalition einmal mehrstören sollte. „Bei dem Thema sind dieFronten sehr klar und hart“, sagt der saar-ländische SPD-Vorsitzende Heiko Maas.„Das gibt eine Zerreißprobe.“

Es geht um soziale Gerechtigkeit, dieAttraktivität von Investitionen in Deutsch-land und um eines der zentralen Reform-vorhaben von Finanzminister Peer Stein-brück (SPD). Damit die Unternehmenwieder mehr Geld in neue Fabriken undMaschinen stecken, will der Ressortchefdie Konzernsteuern senken und die Un-ternehmen dauerhaft um Milliardenbe-träge entlasten. Das sei auch „wichtig,

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Im TeufelskreisWer arbeitet, ist der Dumme: Die Bundesregierung kassiert bei Arbeitern und Angestellten

rund 30 Milliarden Euro zusätzlich ab. Derweil werden Empfänger von Sozialtransfers und Konzerne begünstigt. In der Großen Koalition rumort es.

Einkaufszentrum (in Berlin)*: Arbeitnehmern steht der kräftigste Abgabenschub der Nachkriegszeit bevor

23,0

2,5

1,5*

5,0

in Mrd. Euro pro Jahr

BELASTUNGFÜR DIE BÜRGER

Mehrwertsteuer-erhöhung

Kürzung derPendlerpauschale

Abschaffung derEigenheimzulage

Erhöhung der Kranken-kassenbeiträge um 0,5%

*2007

um unser Land wettbewerbsfähiger zu machen“, sagt Kanzlerin Angela Merkelim SPIEGEL-Gespräch (siehe Seite 26).

Doch wovon die Regierungschefin und ihr Kassenwart neuen Schub für dieKonjunktur erwarten, stößt im eigenenAnhang wie bei wirtschaftsfreundlichen Ökonomen auf Skepsis. Denn SteinbrücksPläne sind kaum geeignet, die grund-legende Schieflage im Steuersystem zu be-seitigen. Allzu sehr wird der Faktor Ar-beit abkassiert, während der Fiskus Ver-mögende und Kapitalbesitzer auch dort

verschont, wo er sie straflos besteuernkönnte.

Der Beitrag der Unternehmensteuernzum Gesamtsteueraufkommen ist in denvergangenen Jahren stetig zurückgegan-gen. Lag der Anteil von Körperschaft- undGewerbesteuer noch in den siebziger undachtziger Jahren zwischen 12 und 15 Pro-zent, sank er in den vergangenen Jahrenauf bis zu 6 Prozent. Die gesamte Körper-schaftsteuer entspricht den Mehrwert-steuereinnahmen der ersten sechs Wocheneines Jahres.

Hochqualifizierte Arbeitskräfte anzu-locken gilt unter Fachleuten mittlerweileals ebenso wichtige Aufgabe der Steuer-politik, wie internationale Investoren imLand zu halten. Die meisten EU-Länderhaben die Steuern für ausländische Ar-beitskräfte längst gesenkt.

Steinbrücks Pläne beseitigen die Un-wucht des Steuersystems nicht, sie be-scheren der Koalition viel mehr ein mas-sives Gleichgewichtsproblem: Während Union und SPD den Großkonzernen neueEntlastungen in Aussicht stellen, haben siefür Arbeitnehmer und Angestellte denkräftigsten Abgabenschub der Nachkriegs-zeit beschlossen.

Mit einer Mischung aus Schauder undschlechtem Gewissen rechnen viele Koali-tionspolitiker jetzt zusammen, mit welchenMaßnahmen sie zum Jahreswechsel dieMasse des Volkes behelligen wollen: • Rund 23 Milliarden Euro werden die

Deutschen an den Kassen von Auto-häusern, Supermärkten und anderenKaufstätten in Form höherer Mehrwert-steuern abliefern müssen.

• Die Einschnitte bei Pendlerpauschale,Eigenheimzulage und Sparerfreibetragschlagen mittelfristig mit weit über zehnMilliarden Euro zu Buche.

• Zudem werden die Beiträge zur Renten-und Krankenversicherung sowie die Ab-gaben für Minijobber erhöht, sodass dieNettoverdienste der Beschäftigten da-durch noch einmal um sechs MilliardenEuro geringer ausfallen werden.

• Während die Konzerneigentümer profi-tieren, tragen ihre Top-Angestellten mit

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Koalitionäre Müntefering, Steinbrück, Merkel: Skepsis beim eigenen Anhang

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Wirtschaftsmetropole Frankfurt am Main: Großes Geschenk für Unternehmen im ersten Jahr der Reform

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durch diegeplanteUnternehmen-steuerreform

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UNTERNEHMEN

der Reichensteuer ebenfalls zur „Ge-genfinanzierung“ bei. Ihr Sonderopfer:über eine Milliarde Euro.Zwar soll im Gegenzug der Beitragssatz

für die Nürnberger Arbeitslosenversiche-rung leicht gesenkt werden. Trotzdem sindArbeiter und Angestellte eindeutig die Ver-lierer der Steuerpolitik von Union und SPD.Unter dem Strich, so geht aus einer Be-rechnung des DGB hervor, summieren sichdie geplanten Abgabenerhöhungen schon2007 auf rund 30 Milliarden Euro, die „zumüberwiegenden Teil von Arbeitnehmer-haushalten aufgebracht werden müssen“.

Die Gewinner der Merkel-Reformensind zum einen die Empfänger von Ali-menten aller Art: So wurden die Hartz-IV-Gelder im Osten angehoben, und die Ren-ten werden entgegen der eigentlich gülti-gen Formel nicht gesenkt. Als zusätzlicheLohnersatzleistung führt die Regierung einElterngeld ein, das Väter und Mütter für 14 Monate die Arbeit am Wickeltisch aufStaatskosten erledigen lässt. So kommen inder Spitze bei der Kindererziehung bis zu22000 Euro im Jahr zusammen.

Die anderen Gewinner der großkoali-tionären Politik sind Konzerne und ihreAnteilseigner. Ihre Gewinne werden er-höht, weil ihre Abführungen an den Fiskussinken.

Steinbrück selbst rechnet damit, dass dieUnternehmen im ersten Jahr acht, späterjährlich rund fünf Milliarden Euro weni-ger Steuern zahlen müssen. Manche Ex-perten gehen von weit höheren Summenaus – es wäre schließlich nicht das ersteMal, dass es den Steuerabteilungen großerKonzerne gelingt, aus neuen Vorschriftendeutlich mehr herauszuschlagen, als es dieFinanzexperten in Berlin jemals für mög-lich gehalten hätten.

Als Steinbrücks Amtsvorgänger Hans Eichel vor sechs Jahren schon einmal dieKonzernsteuern herunterschraubte, unter-liefen ihm dabei so viele handwerklicheFehler, dass die Finanzämter manch eta-blierter Aktiengesellschaft zeitweise Geldauszahlen mussten. Der Jobbilanz brachtedie Schrödersche Großherzigkeit nichts.Auch die Investitionstätigkeit im Landezeigte keinerlei Reaktionen. Der Kapital-stock in Deutschland hat seit einigen Jahrenschon das Wachsen weitgehend eingestellt.

Vor allem aber fürchten führende Koali-tionspolitiker eine neue Gerechtigkeits-debatte: Wie will die Regierung eine Poli-tik verkaufen, bei der Arbeiter und An-gestellte mit höherer Mehrwertsteuer undSozialabgaben die Milliardengeschenke fürKonzerne bezahlen sollen? Warum wirddas Kapital entlastet, wenn dem kein er-kennbarer Nutzen für die Allgemeinheitentspringt?

Kein Wunder, dass sich mittlerweileselbst gemäßigte Gewerkschafter wie Klas-senkämpfer anhören. „Mit Steuergeschen-ken für Konzerne Arbeitsplätze zu schaf-fen, hat schon in den vergangenen Jahren

nicht funktioniert“, beschwert sich derChef der Chemiegewerkschaft, HubertusSchmoldt, „und es wird auch diesmal nichtfunktionieren.“

Der Unmut im Gewerkschaftslager be-feuert die Unruhe in der SPD. Nicht weni-ge Sozialdemokraten fühlen sich bereits andie Agenda-Zeiten von Gerhard Schrödererinnert, als eine Kombination aus Hartz-IV-Reform und Steuersenkung für Besser-verdiener die SPD erschütterte wie nie zu-vor in den vergangenen 60 Jahren. An denInfoständen und auf den Marktplätzen hat-ten die Genossen Mühe, die Schröder-Po-litik zu erläutern, gleichzeitig flogen denOrtsvereinschefs die Mitgliedsbücher umdie Ohren.

Bei der jüngsten Sitzung von SPD-Par-teirat und -vorstand brach der tiefsitzende

Verdruss gegenüber Steinbrück und sei-nem Projekt heraus. „Es gibt einen Partei-tagsbeschluss, und der wird mit dieser Reform ausgehebelt“, rief der SaarbrückerMaas unter beifälligem Gemurmel. „Esgeht nicht, die Mehrwertsteuer zu erhöhenund die Pendlerpauschale zu senken undgleichzeitig so zu tun, als ob wir für die Unternehmen noch genug Geld hätten.“

Im Parteipräsidium am selben Vormittaghatte auch der Thüringer Landesvorsit-zende Christoph Matschie, bisher nicht alslinker Scharfmacher bekannt, vor einemStimmungseinbruch gewarnt: „Wenn sichdas Bild einprägt, dass wir die Mehrwert-steuer erhöhen und die Unternehmen-steuer senken, dann kriegen wir an derBasis große Widerstände.“ Eine dauerhaf-te Entlastung gehe „auf gar keinen Fall“.

Auch Präsidiumskollege Martin Schulz,Chef der Sozialdemokraten im Europäi-schen Parlament und eher Pragmatiker,äußerte im Kreis von Vertrauten großeSkepsis gegenüber den Regierungsplänen:„Weitere Vorleistungen an die Arbeitge-

ber, ohne dass umgekehrt mal verbindlicheZusagen kommen – das geht nicht mehr.“

„Das ist ein viel sensibleres Thema alsdie gesamte Gesundheitsreform“, glaubtJuso-Chef Björn Böhning. Parteichef KurtBeck, eigentlich Befürworter des Stein-brück-Plans, schwant ebenfalls Schlimmes:„Das wird nicht einfach zu vermitteln.“Anders als vom Koalitionsausschuss ver-einbart, wolle die SPD Unternehmen nicht so stark entlasten, kündigte Beck Widerspruch an – im Herbst soll bis in untere Parteigliederungen darüber disku-tiert werden.

Der Zorn der Parteibasis richtet sichauch gegen Steinbrück persönlich, der sichwenig Mühe gibt, sein Projekt mit den Genossen zu erörtern. Im Gewerkschafts-rat ließ er sich von seiner Staatssekretärin

vertreten. Nachdem er in der letzten Frak-tionssitzung vor der Sommerpause dieEckpunkte seiner Reform erläutert hatte,erlaubte er keine Wortmeldungen mehr. Seine Begründung: „Ich muss nach Dort-mund, um mit der deutschen Mannschaftmitzusiegen.“ Vorigen Mittwoch wurdenPartei und Fraktion mit dem Kabinetts-beschluss vor vollendete Tatsachen ge-stellt.

Zudem droht dem Finanzminister nochaus einer anderen Richtung Unheil. DieGefahr ist beträchtlich, dass Steinbrück,trotz aller guten Absichten, mit seinemReformvorhaben zu kurz springt. Wiedereinmal zeichnet sich jene fatale Mischungaus richtiger Einsicht, aufrechtem Ver-besserungswillen und allzu großer Ver-zagtheit ab, an der Reformvorhaben inDeutschland schon häufiger gescheitertsind.

Am Anfang stand die durchaus zutref-fende Erkenntnis, dass Deutschlands Un-ternehmen, vor allem die Kapitalgesell-schaften, im internationalen Vergleich zu

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Juso-Chef Böhning: „Ein viel sensibleres Thema als die Gesundheitsreform“

Deutschland

Unternehmensteuern in Prozent

USA

Deutschland

Italien

Frankreich

Großbritannien

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Polen

40

38,7

37,3

33,3

30

25

19Quelle: KPMG, BMF

hoch besteuert werden und deswegen imglobalen Wettbewerb immer häufiger insHintertreffen geraten.

Mehr als 38 Prozent ihrer Gewinne musseine Aktiengesellschaft oder GmbH an dendeutschen Fiskus abliefern. Die Finanz-ämter in anderen Ländern sind mit weni-ger zufrieden. In Frankreich etwa beträgtdie Steuerlast nur 33 Prozent, in Großbri-tannien sogar nur 30 Prozent. Hier bestehtHandlungsbedarf, stellten die Großkoali-tionäre zutreffend fest.

Bei seinen Reformüberlegungen konnteFinanzminister Steinbrück auf Handrei-chungen zweier Expertengruppen bauen,die ihm ausgearbeitete Vorschläge zur Ver-fügung stellten. Sowohl das Konzept desSachverständigenrats als auch das der Stif-tung Marktwirtschaft liefen auf eine kom-

plette Neuordnung der Unternehmensbe-steuerung hinaus.

Doch an einem so weitreichenden Um-bau hatte Steinbrück kein Interesse. MitRücksicht auf die eigene Partei drängte erauf ein Reformkonzept, das seine Fachleu-te unter dem Begriff „Aufkommensneu-tralität“ führen. Im Klartext: Die Sätze derSteuertabelle sollten gesenkt, im Gegen-zug aber so viele Ausnahmen und Vergüns-tigungen gestrichen werden, dass der Staatunter dem Strich genauso viel einnimmtwie zuvor.

Dieses Nullsummenspiel hatte der Fi-nanzminister ohne seine Kanzlerin ge-macht. Merkel wollte die Reform von An-fang an als Marketinginstrument nutzen,um bei in- und ausländischen Unterneh-mensbossen Eindruck zu schinden. Ge-genüber den Wirtschaftsverbänden legtesie sich deshalb schon frühzeitig auf eine

* Mit dem Ver.di-Vorsitzenden Frank Bsirske und demDGB-Vorsitzenden Michael Sommer im März bei einerDGB-Kundgebung gegen Sozialdumping in Berlin.

Nettoentlastung fest. Die muss ihr Kassen-wart nun exekutieren.

Steinbrück arbeitete unter der Prämisse,dass die Steuersätze kräftig sinken sollen,seine Nettoentlastung aber nicht ganz sokräftig auszufallen hat. Und so enthält seinProgramm nun auch Maßnahmen, die mannur als Verschlimmbesserung bezeichnenkann.

Vieles wird sich schädlich für die Unter-nehmen und ihre Beschäftigten auswirken.Nur ein Beispiel: Um die Kosten der Re-form für den Fiskus in Grenzen zu halten,verfiel der Kassenwart mit seinen Leutenauf die Idee, den steuerpflichtigen Gewinnder Unternehmen künstlich aufzublähen.Künftig sollen auch Zinsen, Mietausgabenund Pachten, die ein Unternehmen zahlt,zum Gewinn zählen.

Für den zunächst absurd klingendenPlan gibt es gute Gründe: Viele Unterneh-men, vor allem internationale Konzerne,verstecken ihre Gewinne häufig in über-höhten Zinszahlungen. Und das funktio-niert so: Eine Konzernmutter gewährtihrem Tochterunternehmen in Deutschlandeinen Kredit. Dafür zahlt die Tochter Zin-sen, die aus den in Deutschland erzieltenGewinnen finanziert werden. Die Zins-erträge werden im Ausland niedriger be-steuert als der Gewinn in Deutschland.Heraus kommt eine Steuerersparnis.

Die neue Regelung soll dies verhindern,doch sie hat einen Haken: Sie trifft den in-ternational tätigen Multi genauso wie dieHandwerks-GmbH um die Ecke. Niemandkann nachweisen, ob ein Unternehmen einen Kredit benötigt, um seinen Gewinnherunterzumanipulieren oder um Investi-tionen zu finanzieren.

Die ökonomischen Folgen sind fatal,denn die Unternehmen müssten ihre Zins-zahlungen versteuern, auch wenn sie inihrem angestammten Geschäftsbetrieb Ver-

luste schreiben. Das aber geht an die Sub-stanz der Unternehmen, was deren Exis-tenz gefährdet. Im Extremfall müsste einUnternehmen einen weiteren Kredit auf-nehmen, um seine Steuerschuld zu beglei-chen, die deswegen wiederum wächst. EinTeufelskreis.

Gut möglich auch, dass der deutsche Re-formplan eine neue Runde im Steuerwett-lauf nach unten einläutet. Andere großeIndustrieländer in der EU wie Frankreichoder Großbritannien werden nicht tatenloszuschauen, wenn der Standort Deutsch-land Vorteile gewinnt. Bald könnte dasLand also wieder dort sein, wo es vor derReform gestanden hat – nur auf deutlichgeringerem Niveau.

Die absehbare Entwicklung offenbarteines der größten Defizite europäischerFinanzpolitik. 25 Staaten haben es fertig-gebracht, einen gemeinsamen Wirtschafts-raum zu bilden, 12 davon haben sich aufeine gemeinsame Währung verständigt,doch in der Steuerpolitik herrschen nachwie vor die Gesetze der Kleinstaaterei.Nur mühsam setzt sich die Erkenntnisdurch, dass Europa nicht untereinanderum Investitionen konkurrieren sollte, son-dern mit anderen Wirtschaftsräumen wieden USA oder den aufstrebenden LändernAsiens.

Nur schleppend kommen Bestrebun-gen voran, die Unternehmensteuern aufEU-Ebene zu harmonisieren. Die Vorteileliegen auf der Hand: Internationale Anle-ger hätten in der gesamten EU vergleich-bare Investitionsbedingungen. Wettbe-werb wäre dennoch nicht ausgeschlossen,wenn sich die Mitgliedsländer auf einenKorridor zulässiger Steuersätze einigenkönnten.

Doch diesem mühseligen Projekt hatsich bisher kein ernstzunehmender Poli-tiker verschrieben. Experten halten es füralternativlos, weil alle Versuche, das Pro-blem im nationalen Alleingang zu lösen, esin Wirklichkeit verschärfen. „Es gibt nureine saubere Lösung“, sagt der Wirt-schaftsweise Wolfgang Wiegard, „eine ein-heitliche Grundlage für die Körperschaft-steuer in Europa.“ Horand Knaup,

Christian Reiermann, Michael Sauga

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IG-Metall-Boss Peters (l.)*: „Ihr werft den Konzernen das Geld hinterher“

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Es ist ein steter, trüberStrom an schlechtenNachrichten, der die Re-

gierung in diesen Wochen vonder Reformfront erreicht. DieWirtschaft will und will nichtwachsen, die Zahl der Arbeits-losen steigt, wo sie doch längsthätte sinken müssen, und diePleitewelle ebbt nicht ab.

So dick ist der Nebel der Tristesse, dass die einzig positiveMeldung seit langem fast 14 Tagebrauchte, bevor sie in Berlin alssolche wahrgenommen wurde.Die Zahl der geringfügig Be-schäftigten sei unerwartet starkgestiegen, meldete die zuständi-ge Bundesknappschaft bereitsam 1. April. Doch Regierung undOpposition reagierten erst mitzwei Wochen Verspätung.

Von einem „wichtigen Schritt“ nachvorn sprach die bayerische Sozialminis-terin Christa Stewens (CSU) dann schließ-lich. Und SPD-Arbeitsmarktexperte KlausBrandner entdeckte plötzlich eine „Er-folgsstory“, ein „Musterbeispiel“ für dieVerbindung von „Flexibilität und sozialerSicherheit“.

Nach wochenlangem Gefeilsche hattensich Union und Koalition bereits im De-zember 2002 darauf verständigt, Mini-Jobsbesser zu fördern als bisher – und so einenBoom ausgelöst, der sie selbst überraschte.

des Arbeitgeberverbandes GesamtmetallHans Werner Busch bis zu DGB-Vizeche-fin Ursula Engelen-Kefer: Experten aus al-len Lagern überschlugen sich in der ver-gangenen Woche mit ihren Forderungennach einem „Niedriglohnsektor für einfa-che Tätigkeiten“ oder „Kombilöhnen fürden Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt“.

Manche der Jobförderer haben schongenaue Zeitpläne im Kopf. So verlangtetwa der SPD-Wirtschaftsexperte Rainer

Wend, dass die rot-grüne Koali-tion noch in dieser Legislatur-periode „ein bundesweites Kon-zept für Lohnzuschüsse an-packen muss. Und zwar“, so derParlamentarier, „nicht nur fürLangzeitarbeitslose, sondern füralle Geringverdiener“.

Auch der sächsische Wirt-schaftsminister Martin Gillo(CDU) will noch vor den Land-tagswahlen im September eindurchgerechnetes Niedriglohn-konzept für Regionen mit hoherArbeitslosigkeit vorlegen. „DieRegierung hat mit den Hartz-Re-formen den Leidensdruck aufArbeitslose erhöht“, sagt Gillo.„Nun müssen wir dafür sorgen,dass sich arbeiten auch finanzi-ell wieder stärker lohnt.“

Es geht um ein Thema, dasnach Meinung der meisten Ex-

perten mehr ist als nur ein Randproblem.Spitzenjobs lassen sich dadurch schaffen,dass stärker in Bildung, Forschung und In-novationen investiert wird. Am unterenEnde des Arbeitsmarkts aber hilft nur ei-nes: Einfache Arbeit muss bezahlbar sein,und bezahlbar ist nur, was für den Arbeit-geber Gewinn abwirft.

Doch genau das ist das Problem: DerStaat belastet einfache Jobs mit so hohenSozialabgaben, dass sich die meisten nichtmehr rechnen. Auf den Nettolohn eineseinfachen Arbeiters wird, wenn man Ar-beitgeber- und Arbeitnehmer-Beitrag zu-sammenzählt, ein Sozialaufschlag von derzeit 42 Prozent erhoben, der in der öf-fentlichen Debatte zu Unrecht als „Lohn-nebenkosten“ bezeichnet wird.

Denn für die Mehrzahl der kleinen Be-schäftigungsverhältnisse in Deutschland sinddiese Nebenkosten die Hauptkosten, die fürdie ständig steigende Schere zwischen Net-to und Brutto verantwortlich sind.

Vom Bruttogehalt einer Verkäuferin zumBeispiel, im Durchschnitt 2100 Euro, bleibenin Deutschland nur 1346 Euro übrig. DieLohnsteuer schlägt lediglich mit 295 Euro zuBuche, die Sozialabgaben hingegen liegenbei 442 Euro und damit mehr als 50 Prozentüber der Steuerbelastung.

Das ist die große Ungerechtigkeit amdeutschen System der Sozialstaats-Finan-

Seit Arbeitnehmer auf Verdienste bis 800Euro deutlich weniger Sozialabgaben zah-len müssen als zuvor, ist die Zahl der so ge-nannten geringfügigen Beschäftigungsver-hältnisse vor allem in Kneipen, Geschäftenund Privathaushalten innerhalb kürzesterZeit auf etwa 7,5 Millionen geradezu ex-plodiert. Ein Rekord, der immerhin dafürsorgte, dass Konsum und Konjunktur inden vergangenen Monaten zumindest et-was belebt wurden.

Die unerwartete Erfolgsmeldung ver-mengte sich in der vergangenen Woche

plötzlich mit der heftigenDebatte um die ZukunftOstdeutschlands. Liegt hiermöglicherweise die Antwortauf die deutsche Jobkrise,die in den neuen Ländernmit fast 20 Prozent Arbeits-losigkeit besonders bedroh-lich ist?

Sind Mini-Jobs und sub-ventionierte Billig-Arbeits-plätze womöglich die Lö-sung? Und vor allem: Wiekönnen Geringverdiener ge-fördert werden, ohne neuemilliardenschwere Subven-tionen auszulösen?

Von Bundesverkehrsmi-nister Manfred Stolpe biszum sächsischen Minister-präsidenten Georg Milbradt,vom Hauptgeschäftsführer

48

Deutschland

B E S C H Ä F T I G U N G

Bezahlbare ArbeitDer unerwartete Boom der Mini-Jobs hat die Debatte um den

Aufbau Ost und die Lösung der deutschen Jobkrise in eine neue Richtung gelenkt: Helfen staatliche Lohnsubventionen?

Minister Clement, Stolpe: „Abwarten, bis die Reform wirkt“

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Putzfrauen (in Dortmund): Fehlendes Angebot

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Weitere Informationen unter www.spiegel.de/dossiers

zierung: Nur die unteren undmittleren Lohngruppen zah-len den vollen Sozialaufschlagvon 42 Prozent, alle Einkom-mensteile oberhalb der so ge-nannten Beitragsbemessungs-grenze werden nicht heran-gezogen, wenn es um seineFinanzierung geht.

Während das Steuersystemdie Schwachverdiener geringund die Spitzenverdienerstark belastet, verhält es sichbei den Sozialabgaben genauumgekehrt. Die Folgen sindverheerend: Einfache Jobsverschwinden, werden garnicht erst angeboten oder in die Schattenwirtschaft gedrängt. Menschen ohneSchulausbildung oder Lehrehaben damit kaum nochChancen, eine reguläre Stellezu finden. Gut ein Drittel dermindestens 1,5 MillionenLangzeitarbeitslosen sind sogenannte Geringqualifizierte.

Und so fehlen in Deutschland jene Jobangebote für Parkhauswächter, Tank-warte oder Putzhilfen, die in anderen Ländern Millionen geringer Qualifiziertein Lohn und Brot gebracht haben. Für einen Verdienst zwischen 800 und 1000Euro arbeiten in Deutschland schätzungs-weise 70000 Menschen, nur 2,6 Prozent aller sozialversicherungspflichtig Beschäf-tigten.

Für Politiker und Ökonomen liegt eineAntwort auf dieses Problem im Konzeptdes so genannten Kombilohns: Damit sichKleinverdienste wieder lohnen, soll derStaat entsprechende Jobs durch staatlicheZuschüsse, zum Beispiel zu den Sozial-beiträgen, fördern. Doch was die Regie-renden dazu in den vergangenen Jahrenauf den Weg brachten, hatte bislang allesandere als Erfolg:

Anfang an mit bürokrati-schen Auflagen überfrach-tet und nur auf einen kleinen Empfängerkreis zu-geschnitten. Und: Die Zu-schüsse fielen oft geringeraus als die anderer Förder-programme des Arbeits-amtes.„Das wird nicht der Ren-

ner“, ahnte Wolfgang Britt,Chef der Arbeitsvermittlungim Arbeitsamtsbezirk Neu-ruppin bereits beim Start. So kam es dann auch. Im vergangenen Frühjahr wurdedas Programm eingestellt –wegen erwiesener Erfolglo-sigkeit.

Das Mini-Job-Gesetz – zuwenig Wirkung. Das MainzerModell – ein Flop. Um denNiedriglohnsektor wirklich inSchwung zu bringen, darinsind sich die Ökonomen ei-nig, sind Reformen ganz an-deren Kalibers notwendig:

Niedriglöhne müssten nach dem VorbildFrankreichs oder der USA flächendeckendgefördert und Dauerarbeitslose zugleichstärker zu gemeinnützigen Arbeiten her-angezogen werden. So würden auch solcheBillig-Jobs attraktiv, deren Verdienst nurwenig über der Sozialhilfe liegt.

Die rot-grüne Koalition setzt stattdessenauf ein anders Konzept. Mit der geplantenZusammenlegung von Arbeitslosen- undSozialhilfe will sie Langzeitarbeitslosen dieLeistungen kräftig zusammenstreichen undsie gleichzeitig dazu zwingen, jede Arbeitanzunehmen, selbst wenn bis zu 30 Prozentunter Tariflohn bezahlt wird. Doch ob dadurch mehr Billig-Jobs entstehen, istfraglich. Die Lohnzuschüsse, die Dauer-arbeitslose in Beschäftigung bringen sol-len, gehen kaum über das heutige Niveauhinaus.

Ein weit radikaleres Rezept hat dagegenHans-Werner Sinn entwickelt, Chef desMünchner Ifo-Instituts. Sein Konzept ei-ner „aktivierenden Sozialhilfe“ sieht nichtnur kommunale Jobangebote für jedenDauerarbeitslosen vor, sondern auchflächendeckende Zuschüsse zu niedrigenLöhnen. Das würde „den Arbeitsmarkt imgesamten Niedriglohnbereich beleben“, istSinn überzeugt, und zwar „weit über denBereich der Sozialhilfeempfänger hinaus“.

Zu radikal, findet WirtschaftsministerClement: „Das würde das gesamte Lohn-system deutlich nach unten drücken. Dasist nicht zu machen.“ Aber Clement wärenicht Clement, wenn er nicht selbst drasti-schere Lösungen für denkbar hielte – imBedarfsfall, versteht sich.

„Jetzt warten wir erst einmal ab, bis un-sere Reform voll wirkt“, sagt er. „Dannwird sich zeigen, ob man noch nachlegenmuss.“ Michael Sauga

• Seit April vergangenen Jahres müssenMini-Jobber bis zu einem Monatsver-dienst von 400 Euro überhaupt keineSozialabgaben abführen. Arbeitgeberzahlen seither eine pauschale Abgabevon 25 Prozent. Bis 800 Euro gibt es fürArbeitnehmer gestaffelte Hilfen. Das hatHunderttausende neuer Stellen ge-bracht, wenn auch überwiegend fürRentner, Studenten oder Menschen, dienoch eine andere Stelle haben. Lang-zeitarbeitslose dagegen haben bislangkaum profitiert. Für sie lohnt sich dasModell nicht, weil die Mini-Job-Gren-zen in der Regel niedriger liegen als So-zial- oder Arbeitslosenhilfe.

• Im „Mainzer Modell“ förderte der Staatauch höhere Verdienste mit einemgestaffelten Zuschuss zu den Sozial-beiträgen. Doch das Vorhaben war von

Deutschland

Reformer Milbradt: Leidensdruck auf Arbeitslose erhöhen?

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Arbeit ohne Reiz

. . . als Sozialhilfeempfänger durchschnittl. Bedarf der Hilfe zum Lebensunterhalt*

Regelsatz, Kaltmiete, Heizkostenzuschuss und einmalige Leistungen

. . . als Niedrigverdiener Lagerarbeiter, Metalltarif Bayern, mittlere Lohngruppe

Bruttolohn 1800¤

–13,00¤ Lohnsteuer und 378,90¤ Sozialbeiträge, + 308¤ Kindergeld

1616¤

1716,10¤Nettoeinkommen

. . . als einfacher Arbeiter Drucker, Tarifgebiet West, untere Lohngruppe

Bruttolohn 1900¤

–26,66¤ Lohnsteuer und 399,95¤ Sozialbeiträge, +308¤ Kindergeld

Das Problem: Niedriglohnarbeiter haben netto oft kaum mehr als Sozialhilfeempfänger.

1781,39¤Nettoeinkommen

Beispiel: Verheirateter mit zwei Kindern . . .

*in Westdeutschland

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So etwas hatte Ulrich Roppel nochnicht erlebt, seit er im April vergan-genen Jahres die Leitung der neu

geschaffenen Minijob-Zentraleund deren Callcenter in Cott-bus übernommen hatte. Rund8000 Anrufe pro Tag hatten dortseine Mitarbeiter im Schnitt dervergangenen Monate zu bear-beiten.

Doch Anfang Januar brachbei dem neuen Ableger der tra-ditionsreichen Bundesknapp-schaft mit einem Mal das Cha-os aus. Bis zu 25 000 Bundes-bürger versuchten täglich, dieMinijob-Zentrale zu erreichen.„Wir haben alle Möglichkeitenausgeschöpft, um den Arbeits-mengen gerecht zu werden“,stöhnt Roppel – und dennochblieben viele in den Warte-schleifen der Hotline hängen.

Der Grund des Ansturms warein Gesetzentwurf von Hans Ei-chel (SPD), der Anfang Januarbekannt wurde. Mit mehr Kon-trollen und härteren Strafen willder Bundesfinanzminister dieSchwarzarbeit energischer be-kämpfen: 7000 Fahnder sollenkünftig Baustellen und Bauern-höfe kontrollieren. Und seitdemfürchten viele Deutsche, dassdie Fahnder auch ihren illega-len Putzfrauen, Babysittern und Gärtnernnachspüren werden.

Zwar wurde bald klar, dass Eichels Planin der ursprünglichen Fassung niemals Ge-setz werden würde. Doch die Drohung be-wirkte bereits einen ungeahnten Ansturmauf die Minijob-Zentrale, die auch für dasoffizielle Melde- und Beitragsverfahren vonso genannten haushaltsnahen Dienstleis-tungen in Privathaushalten zuständig ist.

Rund 3,3 Millionen Familien, so schätztdas Deutsche Institut für Wirtschaftsfor-schung (DIW), beschäftigen hier zu Landeein Heer von – je nach Schätzung – 1,2 bis2,9 Millionen Putzfrauen, Gärtnern, Baby-sittern, Nachhilfelehrern und sonstigenHelfern. Doch gerade einmal 38000 Haus-halte hatten Ende 2003 ihre guten Geisterbei der Minijob-Zentrale gemeldet. Alle

teile bringt. Der Arbeitgeber braucht kei-ne Sorge vor dem Fiskus zu haben, diePutzhilfe hätte Anspruch auf Lohnfortzah-lung im Krankheitsfall, auf Mutterschafts-geld bei einer Schwangerschaft sowie aufmindestens vier Tage Urlaub pro Jahr, dieallerdings der Arbeitgeber zahlen muss.

So weit die Theorie. Oft sind die Haus-haltshelfer aber gar nicht bereit, sich mel-den zu lassen. Denn viele Minijobber sindFrührentner oder als Arbeitslose und So-zialhilfeempfänger registriert. Übersteigtihr Zusatzgehalt bestimmte Grenzen, re-duzieren sich ihre staatlichen Bezüge. Oftsind Putzfrauen auch in verschiedenenHaushalten tätig und kommen so leichtüber die 400-Euro-Grenze. Dann wird dieArbeit für sie abgabenpflichtig, und auchdie privaten Arbeitgeber können dannnicht mehr auf die pauschale Abrechnungder Minijob-Zentrale zurückgreifen.

Viele Familien lassen deshalb ihre Hel-fer lieber schwarzarbeiten und vertrauendarauf, auch weiterhin nicht erwischt zuwerden. Denn selbst wenn Eichels Kon-trolleure demnächst ausschwärmen, sollensie vor allem nach dubiosen Firmen undnicht in Privatwohnungen fahnden.

Wirklich Gefahr im Verzug ist dagegen,wenn die Putzfrau von der Leiter fällt.Krankenversicherungen oder private Haft-pflichtpolicen helfen dann nämlich nichtweiter. Dafür ist die gesetzliche Unfallver-sicherung zuständig, die für häusliche Ar-beitgeber ebenfalls Pflicht ist.

Um Ärger zu vermeiden, raten Expertendeshalb, die Putzfrau oder den Gärtner zu-

mindest bei der regionalen Unfallkasse an-zumelden. Welche der 24 Regionalkassenzuständig ist, lässt sich im Internet unterder Adresse www.unfallkassen.de leicht er-mitteln. Die jährlichen Beiträge liegen zwi-schen 15 und 80 Euro.

Bei der Anmeldung muss nicht einmalder Name des Beschäftigten genannt wer-den, und die Unfallkassen versichern aus-drücklich, dass sie ihre Daten „nicht an an-dere Behörden, Ämter oder Einrichtungenweitergeben“. Klaus-Peter Kerbusk

Übrigen machen sich – unabhängig vonEichels Plänen – schon jetzt strafbar undkönnten theoretisch wegen Steuerhinter-ziehung, Betrug sowie Vorenthalten vonArbeitnehmerbeiträgen zur Sozialversi-cherung belangt werden.

Dabei ist die Legalisierung der Fami-lienhelfer im Prinzip ganz einfach. Übereinen so genannten Haushaltsscheck mel-det der private Arbeitgeber zum Beispieldie Putzfrau bei der Minijob-Zentrale an.Die neue Behörde, die im Rahmen derHartz-Reformen entstand, berechnet allefälligen Steuern und Sozialabgaben undbucht das Geld halbjährlich vom Konto desArbeitgebers ab.

Sofern die Putzfrau oder der Gärtnernicht mehr als 400 Euro pro Monat ver-

dient, sind für den priva-ten Arbeitgeber pauschal 13,3Prozent an zusätzlichen Kos-ten fällig. Da der Arbeitge-ber gleichzeitig 10 Prozentdieser Ausgaben, maximal je-doch 510 Euro pro Jahr, di-rekt von seiner Steuerschuld abziehenkann, wird die Haushaltshilfe nur unwe-sentlich teurer.

Kommt die Putzfrau zum Beispiel ein-mal wöchentlich für vier Stunden ins Hausund kassiert dafür 32 Euro, so steigt derStundenlohn unter dem Strich von 8 Europro Stunde auf etwa 8,30 Euro. Ein Plusvon vier Prozent, das beiden Seiten Vor-

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Wirtschaft

M I N I J O B S

Gefahr im Verzug

Die geplante Verschärfung im Kampf gegen Schwarzarbeiter

hat viele Bundesbürger verschreckt. Wie sollen sie künftigmit ihren Putzfrauen umgehen?

Putzhilfe: Im Prinzip ganz einfach

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Gehalt(4 Stunden wöchentlich à 8 ¤)

Steuern und Sozial-versicherungsabgaben, 13,3%

Unfallversicherung

Steuervorteil: 10% der Gesamt-ausgaben* können direkt von derSteuerschuld abgezogen werden

Modellrechnung für private ArbeitgeberBeispiel Haushaltshilfe, Jahresangaben in Euro

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36,00

192,13

1729,18gesamt (bei legaler Beschäftigung)

1664,00gesamt (bei illegaler Beschäftigung)zum Vergleich:

*höchstens jedoch 510 Euro jährlich

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hältnisse ist innerhalb von nur sieben Mo-naten auf rund 5,9 Millionen geklettert.„Eine Erfolgsstory“ sei das, jubelte Bun-dessozialministerin Ulla Schmidt, und füreinen Moment geriet die Misere am Ar-beitsmarkt fast in Vergessenheit.

Merkwürdig ist bloß: Dieses Heer neu-er Beschäftigter hat sich nirgendwo in denStatistiken der Bundesanstalt für Arbeit(BA) niedergeschlagen, die Zahl der Ar-beitslosen sank zuletzt nur unwesentlich.Wie, rätseln nun die Ökonomen, passenMini-Job-Wunder und Arbeitsmarktmiserezusammen?

Bislang gibt es nur Vermutungen. Sokönnte es sich bei den Niedriglöhnern umStudenten, Schüler oder Hausfrauen han-deln, die sich ein paar Euro nebenher ver-dienen wollen und die zuvor nicht arbeits-los gemeldet waren. Ebenfalls denkbar: Dieneuen Mini-Jobber kommen aus der Schat-tenwirtschaft und wollen nun legal arbei-ten. Dann aber hätte auch die Zahl der Er-werbstätigen steigen müssen – tatsächlichaber ist sie rückläufig: minus 473000 in-nerhalb eines Jahres.

Arbeitsmarktexperten favorisieren des-halb einen dritten Erklärungsversuch, war-um der Beschäftigungseffekt ausbleibt: Diemeisten haben schon eine Stelle. „DieMini-Jobber sind bereits in Lohn und Brotund verdienen sich über die geringfügigeBeschäftigung nur ein Zubrot“, sagt BA-Chef Florian Gerster.

Die Berlinerin Daria Bondarenko, 23,zum Beispiel käme sicher auch über die

Der gelernte AußenhandelskaufmannBernard Bosil, 30, hat nicht einenJob – er hat gleich drei: Vormittags

rechnet er als Finanzbuchhalter in ei-nem Steuerberatungsbüro Bilanzen durch.Nachmittags wienert er als selbständigerFensterputzer gegen den Dreck an. Undabends bindet Bosil sich dreimal die Wocheim Krefelder Bierlokal „Stadtwaldhaus“die hellblaue Schürze um und zapft, bisder letzte Gast gegangen ist: „Danachschläft man wie im Koma“, stöhnt er.

Bis zum Frühjahr konzentrierte sich Bosil auf Finanzen und Fensterputzen, erstseit April arbeitet er verstärkt in der Gast-stätte. Seitdem lohnt es sich nämlich wieder, einen solchen Hilfsjob anzuneh-men: Arbeitnehmer zahlen seit dem Früh-jahr bis 400 Euro Verdienst keine Steuernund Sozialabgaben, früher lag das Limitbei 325 Euro. Bosils Nebenjob ist nun ab-gabenfrei, vorher hätte er für jeden zu-sätzlichen Euro Sozialbeiträge zahlen müs-sen. Grund genug, auch abends noch zuschuften.

Endlich einmal scheint eine Arbeits-marktreform schnell Wirkung zu zeigen:Anfang April trat die Neuregelung derMini-Jobs in Kraft, einfache Arbeit solltesich wieder lohnen. Damit hob die Regie-rung in Berlin ihre eigene Reform von 1999wieder auf, mit der sie den Trend zumMini-Job gestoppt hatte. Nun erhoffte siesich ein kleines Beschäftigungswunder –glaubt man den Zahlen, ist es sogar ziem-lich groß ausgefallen.

Mehr als eine Million neue Stellen sindlaut Bundesknappschaft, der zuständigenBehörde, entstanden, die Zahl der so ge-nannten geringfügigen Beschäftigungsver-

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Finanzbuchhalter, Fensterputzer, Kellner Bosil:

A R B E I T S M A R K T

Trend zum Drittjob

Endlich eine Erfolgsmeldung: Seitder Reform im April sind eine

Million Mini-Jobs entstanden. Aberdie Arbeitslosigkeit nimmt dennochkaum ab. Wie passt das zusammen?

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Doppel-Jobberin Böning: „Das ist für mich Selbstverwirklichung“

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1. April 1999:Einführung der Sozialversiche-rungspflicht im Nebenerwerb

Motor für Mini-JobsGeringfügig Beschäftigte in Millionenin Deutschland

Quelle:Bundesanstalt für Arbeit, jeweils Juni,ausschließlich geringfügig Beschäftigte

1999 2000 2001 2002 2003

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1. April 2003:Abschaffung der Sozialversiche-rungspflicht im Nebenerwerb

Quelle: Bundes-knappschaft

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Juni Okt.

Deutschland

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Runden, wenn sie nur als freiberuflicheKosmetikerin arbeiten würde, ihr Mannbesitzt einige Tankstellen zwischen Berlinund Ankara. Trotzdem jobbt sie nebenbeinoch in einer Kneipe: „Jetzt kann ich miralles leisten, was ich haben will.“

Seit Jahren schon beobachten die Ar-beitsmarktforscher in Deutschland einenTrend zum Zweit- oder gar Drittjob: Warenes 1987 noch kaum mehr als 500000 in den

alten Bundesländern, hat sich ihre Zahl bis1999 nach einer Studie des Kölner Insti-tuts für Sozialforschung und Gesell-schaftspolitik bundesweit mehr als ver-dreifacht. Manche suchen einfach nur nacheiner Abwechslung im Berufsleben.

Die Münchnerin Alexandra Böning, 33,etwa möchte sich nicht darauf beschrän-ken, als Sachbearbeiterin bei der Allianz zuarbeiten. Sie lässt sich nebenbei zur Fit-ness-Fachwirtin ausbilden – „das ist fürmich Selbstverwirklichung“, sagt sie. IhreArbeitswoche teilt sich in zwei Hälften: 20Stunden sitzt sie am Schreibtisch, 20 Stun-den turnt sie in der Halle.

Die meisten Arbeitnehmer halsen sicheinen zusätzlichen Job auf, um ihren fi-nanziellen Spielraum zu vergrößern. InZeiten, da das zur Verfügung stehendeGeld weniger wird, neigen die Bürgerdazu, sich zu verschulden – oder sie arbei-ten eben mehr.

Der Berliner Oberbrandmeister Micha-el Hoffmann, 45, wollte sich nicht damit ab-finden, dass Ostseeurlaub im Sommer undSki fahren im Winter nicht mehr drin wa-ren. Er hat einige finanzielle Verpflichtun-gen zu erfüllen: 262 Euro zahlt er an Un-terhalt für seinen Sohn, die Miete seinerWohnung ist in den vergangenen Jahrensprunghaft gestiegen.

Hoffmann heuerte bei einer privatenKrankentransportfirma an, neben seinemDienst als Rettungsassistent der Feuerwehrschleppt er jetzt noch gebrechliche Patien-ten treppauf, treppab zu ihren Ärzten: „EinKnochenjob“, knurrt er. Wie viel er in sei-nem Mini-Job arbeitet, bestimmt Hoff-mann selbst; im Moment hat er sein Pen-sum auf sechs Schichten im Monat redu-ziert, weil sein Sohn zum Bund geht und erdann keinen Unterhalt zahlen muss.

Genau 7,50 Euro die Stunde verdientHoffmann bei dem privaten Rettungs-dienst, natürlich zahlt der ihm weder eineKrankenversicherung, noch gibt es einenKündigungsschutz: „Für die Privaten sindwir ideal“, sagt er, „die könnten doch niealle ihre Sanitäter regulär bezahlen.“

Arbeitsmarktexperten warnen bereitsdavor, dass manche Unternehmen die neueRegelung ausnutzen. „Bislang sozialver-sicherungspflichtige Teilzeitarbeitsplätzewerden verstärkt in Mini-Jobs umgewan-delt“, erwartet der Duisburger Arbeits-marktexperte Gerhard Bäcker. Betriebsrä-te von Gebäudereinigungsfirmen schätzen,dass ein Viertel der Arbeitsplätze in ihrenBetrieben seit April eine solche Transfor-mation durchgemacht haben.

Nach der Gesetzesnovelle dürfte dieVersuchung dazu jedenfalls groß sein: DieArbeitnehmer können so viel arbeiten wieeine Teilzeitkraft, nur sind sie viel billiger.Der Trend zum Mini-Job werde deshalb

anhalten, glaubt AlexanderSpermann vom MannheimerZentrum für EuropäischeWirtschaftsforschung: „Daspassiert derzeit in vielenBranchen.“

Nur den Arbeitslosen, dieeigentlich die Zielgruppe fürgeringfügige Beschäftigungsein sollten, bietet die neueRegelung kaum Chancen.Nach wie vor wird ihnen die staatliche Unterstützunggekürzt, sobald sie sich et-was hinzuverdienen, bedau-ert der Wissenschaftler Sper-mann: „An den Arbeitslosenzieht die Reform völlig vor-bei.“ Caroline Schmidt

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„Danach schläft man wie im Koma“

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Knieschoner. Ein Königreich für einpaar Knieschoner. Auf allen Vierenkriecht Barbara Ehrenreich auf dem

steinernen Fußboden einer Villa in Port-land auf und ab und schrubbt die Fliesen.Fluchen könnte sie vor Schmerz. Doch siemuss sich zusammenreißen.

Die Beine, die neben ihr geschäftigdurch die Küche stöckeln, gehören derHausherrin. Mit einem Mal hält sie inne.Ehrenreich fühlt sich von einem durch-dringenden Blick auf den Boden genagelt.Nun also ist es passiert. Sie ist erkannt wor-den, trotz der hochgebundenen Haare undder grüngelben Putzuniform. Vielleicht hatdiese Frau einmal bei ihr eine Vorlesunggehört oder sie zufällig im Fernsehen ge-sehen. Was sagen? Wie sich erklären?

Schweiß perlt ihr von der Stirn undtropft auf den Marmor. Und dann hört siedie Stimme von oben herab fragen: „WennSie schon dabei sind, können Sie ebennoch schnell die Eingangshalle putzen?“In jener Nacht schreibt Ehrenreich in ihrLaptop-Tagebuch: „Putzpersonal ist un-sichtbar.“ Das war noch eine der ange-nehmsten Lektionen, die die amerikani-sche Sozialkritikerin, Feministin und Au-torin bei ihrem Undercover-Ausflug in dieWelt der Billigjobs lernte.

In der Tradition Günter Wallraffs, densolche Reportagen aus der Arbeitswelteinst in Deutschland berühmt machten,

schlecht bezahlte Jobs geschicktwurden? „Eigentlich müsste einJournalist rausgehen und dasselbst ausprobieren, ganz alt-modisch“, fand Ehrenreich. Lapham lächelte und antworte-te: „Ja, du.“

Ehrenreich war nicht begeis-tert. Sie hatte sich einen Namengemacht als scharfzüngige Ko-lumnistin, Autorin analytischerEssays und eines Dutzendsprovokanter Bücher. Sie gilt alsunorthodoxe Intellektuelle, lebtin ihrem Haus nahe dem Ferien-paradies Key West in Floridaund ist ihr eigener Boss. Warumsollte ausgerechnet sie Gummi-handschuhe überstreifen undfreiwillig in die Knie gehen?

„Welcher Teufel mich da ge-ritten hat, wer weiß? Vielleicht

habe ich gehofft, dass die Leute leichter ineine solch fremde Welt folgen, wenn sievon jemanden aus der eigenen sozialenKlasse dorthin geführt werden.“

Jahrelang hatte sich Ehrenreich erfolglosdie Finger wund geschrieben zum Themasoziale Ungleichheit. Die Armutsfakten desreichsten Landes der Erde kann sie imSchlaf herbeten: etwa, dass 32 MillionenAmerikaner unterhalb der Armutsgrenzeleben und jedes sechste Kind in Armut auf-wächst; dass ein Fünftel der zwei MillionenObdachlosen arbeitet; dass über siebenMillionen Amerikaner zwei Jobs brauchenzum Überleben und fast 39 Millionen nichtkrankenversichert sind.

Doch keiner ihrer Artikel hat je so vielAufsehen erregt wie ihr Erlebnisbericht„Nickel and Dimed“, in Deutschland nun erschienen unter dem Titel „Arbeitpoor“*. „Dieses Buch sollte Pflichtlektürefür alle Kongressabgeordneten werden“,empfahl die „New York Times“.

Zumindest einige scheinen es gelesen zuhaben, denn in Washington ist erstmalseine Diskussion um den Erfolg des Welfare-to-work-Programms entbrannt. Zwar ist

war die 59-Jährige zwischen 1998 und 2000dreimal für je einen Monat in unterschied-lichen Rollen abgetaucht, um Amerika neukennen zu lernen – von ganz unten. Ehren-reich servierte Hotdogs in Florida, feudel-te in einer Putzkolonne in Maine, füllteRegale bei Wal-Mart und fütterte Alte imPflegeheim.

Ihre Regeln: jeweils den bestbezahltenJob annehmen (und halten!) und die bil-ligste Wohnung suchen, um vom Lohn derArbeit leben zu können. Mehr als einmalverfluchte die promovierte Biologin dabeiden Tag, an dem sie sich auf diesen Selbst-versuch eingelassen hatte, der ausgerech-net in einem französischen Restaurant inNew York begann.

Lewis Lapham, Herausgeber des Intel-lektuellenmagazins „Harper’s“, hatte Eh-renreich zur Themenbesprechung geladen.Bei Lachs an Feldsalat driftete das Ge-spräch ab zur Armut in Amerika. Wie, sofragten sich die beiden, können Niedrig-lohnarbeiter – fast ein Drittel der amerika-nischen Arbeiterschaft – von sechs odersieben Dollar Stundenlohn leben? Wieschaffen es insbesondere die vier Millio-nen Frauen, die von Bill Clintons gefeier-ter Sozialhilfereform „Welfare to work“ in

* Barbara Ehrenreich: „Arbeit poor. Unterwegs in derDienstleistungsgesellschaft“. Verlag Antje Kunstmann,München; 256 Seiten; 18,90 Euro.

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Billiglohn-Arbeiterin in den USAArmut ist teuer

Autorin Ehrenreich„Potenziell kriminelles Subjekt“

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Amerika – ganz untenInkognito tauchte die US-Sozialkritikerin Barbara Ehrenreich in

die Welt der Billigjobs ab. Ihre Erfahrungen als Putzfrau und Verkäuferin wurden in den Vereinigten Staaten zum Bestseller.

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die Hälfte aller Sozialhilfeempfänger zu-rück in Jobs – doch deren Lebensbedin-gungen haben sich oft verschlechtert. Kir-chen und Wohlfahrtsverbände registriereneinen Ansturm auf Suppenküchen.

Aber erst seit Clinton aus dem Amt istund die Konjunktur abbremst, trauen sichdie Demokraten, Zweifel zu äußern – so je-denfalls erklärt Ehrenreich die Aufmerk-samkeit für den Überlebenskampf der Bil-liglöhner, den sie in ihrem Buch nachfühl-bar macht, inklusive der Gründe für ihrScheitern.

(Ab-)Grund Nummer eins sind zu hoheMieten. Niedrigstlohn-Jobs fallen oft inStädten und Touristenorten an – genau dort,wo ein Dach überm Kopf am teuersten ist.

Als Ehrenreich in Key West als Bedienunganheuerte, war die nächste erschwinglicheWohnung 30 Meilen entfernt. Das bedeu-tete: bis zu zwei Stunden pendeln täglich.

Wer die zwei Stunden zum Geldver-dienen braucht, muss näher am Arbeits-platz wohnen, und so zog Ehrenreich baldan den Stadtrand von Key West. Für 675Dollar mietete sie eine acht Quadratmetergroße Wohnwagenhälfte. Damit hatte sie esbesser als viele ihrer Kollegen. Eine lebtein ihrem Auto auf dem Parkplatz, andereteilten sich zu viert ein Zimmer.

In Minnesota erlebte Ehrenreich dann,wie die Abwärtsspirale in Schwung kommt.Als sie die Kaution für eine Wohnung nichtvorstrecken konnte, zog sie in ein Billig-motel: 37 Dollar zahlte sie pro Nacht fürein Bett, einen Tisch, einen Stuhl undgroße Angst, weil die Tür nicht richtigschloss. Kochen konnte man dort nicht.Also musste sie Junk-Food kaufen.

„Es ist unglaublich teuer, zu arm für eineWohnung zu sein“, sagt Ehrenreich. Dabeikam sie besser ausgerüstet in diese Welt als

trafen Ehrenreich völlig unvorbereitet.„Man wird wie ein potenziell kriminellesSubjekt behandelt“, sagt sie. Die Fragenim Wal-Mart-Bewerbungsbogen: Sind Sievorbestraft? Haben Sie je gestohlen? Wür-den Sie melden, wenn ein Kollege stiehlt?

Weil Zeit Geld ist, erklärt der Wal-Mart-Mann zur Einführung, dass kollegialesPlaudern während der Arbeitszeit eben-falls Diebstahl ist: Zeitdiebstahl am Ar-beitgeber, und damit strafbar. Auch vorGewerkschaften habe man sich zu hüten,die bergen Gefahren für die Arbeiter.

Neu für Ehrenreich waren Drogentests –und die Entdeckung einer ihr gänzlichneuen Produktlinie: In den US-Drogeriengibt es Regale voller Innenspülungen. Rund20 Dollar teure Medikamente namensCleanP („Klare Pisse“) sichern dem Heervon Lohnsklaven Anstellungen für siebenDollar die Stunde. Innerlich gereinigt mussdie Bewerberin dann, stets beäugt von ei-ner Mitarbeiterin des potenziellen Arbeit-gebers, in einen Becher pinkeln.

Bei ihren Jobs stieß Ehrenreich auf Will-kür und Missbrauch. Vorarbeiter lassenzum Rapport antreten und schimpfen Mit-arbeiter aus wie kleine Kinder. Der ersteWochenlohn wird gern zur Hälfte einbe-halten, damit man am Montag auch wirk-lich wieder auftaucht. Pausenräume ohneFenster, Toiletten ohne Schlösser, Taschenund Spinde können jederzeit durchsuchtwerden. „Da draußen herrscht Diktatur.Wer die Welt der Billigjobs betritt, gibt sei-ne Bürgerrechte an der Pforte ab“, schreibtEhrenreich in ihrem Buch.

Widerstand gegen solche Behandlung istebenso rar wie Solidarität unter den Kol-legen. Als Ehrenreich einmal anregt, dassdas Putzteam das Pensum einer krankenKollegin übernimmt, wenden sich allewortlos ab. Individuelle Verantwortung ist

in allen US-Bevölkerungs-gruppen fest verankert undschlägt im Zweifel immerdie soziale Verantwortung.Nach einer Studie der Uni-versität Harvard glaubt dieHälfte der Amerikaner,dass die Armen selbstschuld sind an ihrer Armut.

Ehrenreich beschreibt ei-ne andere Realität: DieWorking Poor vernachlässi-gen ihre eigenen Kinder,

um sich um die von anderen zu kümmern.Sie leben in miesen Behausungen, damitandere Häuser perfekt gewienert werdenkönnen. Sie leiden Not, damit die Inflationgering bleibt und die Aktienpreise hoch.

„United we stand“, ruft es seit den An-schlägen vom 11. September von jeder Pla-katwand der USA – für Ehrenreich einGrund, einen neuen Gesellschaftsvertragzu fordern: „Wenn unser Sinn für Solida-rität stärker sein soll als der Stoff der US-Flagge, müssen wir Amerikas arme Arbei-ter einbeziehen.“ Michaela Schießl

die „echten“ Working Poor: Sie hatte einAuto, war bei bester Müsli-Gesundheit,und tief unten im Koffer lag die Kredit-karte, falls alle Stricke reißen.

„Man braucht keinen Abschluss in Wirt-schaftswissenschaften, um zu merken, dassetwas faul ist, wenn sich ein gesunder, al-lein stehender Mensch trotz zehn StundenArbeit am Tag kaum über Wasser haltenkann“, schreibt sie.

Ihre Erkenntnisse markieren das Endedes uramerikanischen Glaubens: Wer hartgenug arbeitet, wird es auch schaffen. Mitdiesem Traum, der noch heute in jedenKinderkopf gepflanzt wird, räumt Ehren-reich gründlich auf: „Ich hätte nie gedacht,dass man härter arbeiten kann, als man es

je für möglich gehalten hat,und trotzdem immer tieferin Schulden versinkt.“

Eine Autoreparatur, einkrankes Kind, eine uner-wartete Rechnung genü-gen, um das Leben aus demGleichgewicht zu bringen.Das Eis der eigenen Existenzist millimeterdünn. Werdurchbricht, kommt ohneHilfe nicht wieder raus.

Dass ihr Experiment finanziell eng wer-den würde und körperlich aufreibend, dar-auf hatte Ehrenreich sich eingestellt.Schließlich kam sie nicht ganz unvorbelas-tet. Ihr Vater war Kumpel in einer Kupfer-mine in Montana gewesen, ihre MutterPutzfrau, ihr erster Mann Hilfsarbeiter, be-vor er Gewerkschaftsfunktionär wurde.

Sie alle waren Blaumann-Intellektuelle,Arbeiter mit ausgeprägtem politischem Be-wusstsein und klarem Klassenverständnis.Doch die tagtäglichen Demütigungen, de-nen Niedriglohnarbeiter ausgesetzt sind,

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Wirtschaft

Mitarbeiterbesprechung bei Wal-Mart: Kollegiales Plaudern gilt als Zeitdiebstahl

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