Nietzsche: Heideggers Widerstand

download Nietzsche: Heideggers Widerstand

of 19

Transcript of Nietzsche: Heideggers Widerstand

  • 8/8/2019 Nietzsche: Heideggers Widerstand

    1/19

  • 8/8/2019 Nietzsche: Heideggers Widerstand

    2/19

    Babette Babich--------------------------------_.. _ ~ - _ ..-._398rauf berufen, dass seinem Eindruck nach in seinen Nietzsche-Vorlesungen zeitweise ein N azispion anwesend gewesen sei.6

    Heidegger behauptete, einen Kampf gegen den N ationalsozialismus gefhrtzu haben: Indem er mit seinen Studenten Nietzsche las und dies gegen dieInterpretation Nietzsches, die von der nationalsozialistischen Politik seiner Zeitfavorisiert wurde, wie sie exemplarisch in den Schriften Alfred Rosenbergs (derein ausgepragt politischer, politisierter, zudem auBerst politisch gewandter Akademiker war, aber keineswegs ein Nietzscheaner) oder den Werken AlfredBaeumlers (der jedoch jenseits seiner politischen Vorstellungen gewiss einNietzscheaner war) deutlich wird. 7 Letzdich aber scheint die Strategie, Nietzsche (oder Holderlin oder wen auch immer) zu lehren, meiner Auffassung nachziemlich schwach, vor allem wenn es um eine Kritik der nationalsozialistischenPolitik geht. 8Ohne Heideggers These von der politischen Dimension seiner NietzscheInterpretation stogen wir nur auf eine fast unmerkliche "Verfehlung" (bzw.Fehlinterpretation) Nietzsches, wie wir hoflich sagen konnten und es herrschtja wahrlich kein Mange! an so1chen Missversrandnissen bei groBen und wenigergrogen Geistern. 9 Versteht IIeidegger einfach Nietzsche schlecht, wie oft argumentiert worden ist? Ist seine Philosophie, um Bernd Magnus' Bonmot zu variieren, schlecht verstandener Nietzsche, Kant oder Aristoteles, aber "guter" I-Ieidegger?;8 Was letztendlich gegen Magnus einzuwenden ist, ist, dass HeideggersAuslegungen von Aristoteles, Descartes oder Kant nicht nur zu einem besserenHcidegger-Verstandnis beitragen, sondern auch zu einern besseren Verstandnis

    " Martin Heidegger 1 Karl]aspers, BriefZ:.'CChsel. J 9 2 0 ~ J963, 201.- Mark Roche bestreitet, dass "the National Socialism of Rosenberg originatcs ou t of the :\fierzschean notion of rclativism and suspension of thc law non-contradiction" in seinem Text"National Socialism and the Desintegration of Values: Rcfleerions on Nietzsche, Rosenberg,,1I1d Broch", in: The Journal of Value !rzqulry 26 (1992), 3 6 7 ~ 3 8 0 , 367. Dass es eine wirklichenationalsozialistische Annexion von :\fietzsche gegeben hat, steht kaum in Frage. Siehe de nnoch i111111er mitzlichen Aufsatz von Crane Brinton, "The Nation:d Socialises' Use of Nietzsche", in: Iournal History of Idcas 1 (1940), 1 3 1 ~ 1 5 C . Vgl. hier auch Alfred Rosenberg,Der de5 20. J,dJTIJllnderts: Elne W7ertung der Gestaltenknzpfe unse-rer Zcit, \ I i i nchen 1943.!vl:lI1 kann daran erinnern, dass de r Inrerviewer des selbst Akzentuierungenrelat\'erre, indcl11 el" Heidegger auf ein anderes Tbemas hinlenkte, wahrend Heidegger selhsenidH nUI" dar:\uf insistierte, bei diese111 Punkt zu sondern ihn sog.lr noch weiter ausfijhrt\:, indem er den Kuntext binzufgte, der in seiner Korrespondenz der spiitell 19..J.Cer un dfrhell 1950er Jahre ein Echo findet (Martin Heidegger, "Nur noch l'in Gort bnn uns ITtten",95 ).Es gibt j.l cinen Reichtum an Korn.:krurcn an Heideggers N i e t z s c h c ~ Intcrprct.ltion: wie un d\Vu Heidegger Nietzsche falsch n:rsteht, \Vie gefahrlicb cs ist, den Willen zm \Ltcht und die:Le:hn: \o n der e\Vigen Wiederkehr engzufhren, wic irrtmlich cs ist, das verHcntlichte \\1crkzu GUlIstcn des unpublizit:rtcl1 N'leh/asses zurckzl1wciscn un d su wcitcr.Bcrnd l\hgnus, ,,[ntroduction", in: Kar l LLiwith, " f tc l ' rwl ReCIf/"-rClicc afthe btT')Ctlt \"lm]. H,l lTC\ ' LOl11ax, Berke\cv 1

  • 8/8/2019 Nietzsche: Heideggers Widerstand

    3/19

    399Nietzsche: Heideggers Widerstand

    von Aristoteles, Descartes, Kant oder anderer Denkern fhren konnen. Ich geheseit Iangem davon aus, dass dies auch fr Heideggers Nietzsche-Ausiegungenzutrifft. Aber was bedeutet dies dann?Heidegger sagt uns selbst, dass man Nietzsche so lesen msse, wie manAristoteles lese. Das Problem besteht darin, dass Heideggers Leser zumeist weniger geneigt sind, Nietzsche zu Iesen, aIs sie zur Aristoteles-, Descartes- oderKantlektre neigen. Diese Abneigung st problematisch. Eine Abhilfe ist allerdings alles andere ais einfach zu finden. Der springende Punkt ist, dass Nietzsche nach Heidegger eben kein Philosoph ist, auf den man einfach zugehen undden man geradewegs les en konne. Vielmehr muss man, was Nietzsche auch vielfach anzeigt, Iernen, wie seine Schriften zu les en sind, um mit der Lektre berhaupt beginnen zu konnen. Soleh eine Anleitung wird aber in Heideggers Vorlesungen gewiss geboten. Es ist sinnvoll hinzuzufgen, dass die ZuordnungNietzsches zu jenen Denkern, die hermeneutische Schwierigkeiten bereiten, also zu jenen Denkern, die zu lesen man zuerst lernen msse, kontra-intuitiv stund sich ohne Zweifel gegen die allgemein verbreiteten Annahmen richtet. 1lNietzsche sagt uns selbst, dass uns das Vermogen, einen beliebigen Text zulesen, nicht wie von selbst, nicht gleichsam automatisch, zukomme. Wir mssen,wie cr uns sagt, erst lesen lernen, und dann mssen wir faktisch oder tatsachlichlesen. Soleh ein "sorgsames" Lesen bringen wir Akademiker nul' mit Widerwillen auf und nur bei Autoren, die es wert zu sein scheinen oder bei denen dieInvestition uns etwas zurckgeben kann - oder, wie Nietzsche sagt, zu demZwecke, ein eigenes Buch oder einen Aufsatz zu schreiben. Doch in all solchenFiillen liest man gar nicht, wie Nietzsche hervorhebt.Stathis Gourgouris hat das Dilemma des modernen Gelehrten zutreffendund mit einer einnehmenden Direktheit anhand der Diskussion aufgewiesen,die auf Papst Benedikts XVI. vermeintliche Verunglimpfung des Islam folgte(der Schauder des politisch Korrekten wird immer starker zu der einzigen Instanz in unserer von den Medien in Atem gehaltenen Welt, die unsere Aufmerksamkeit mit Garantie wachhalt und das Recht beansprucht, den Ruf und Anspruch der \Vissenschaft radikal in F rage zu stellen). tIier habe es sich um eineKrankung gehandclt, die, so der Vorwurf der Papstkritiker, auf sein Zitat eines(byzantinischen) Kaisers aus dem 14. Jahrhundert zurckgehe: Manuel II. Palaeologos. Auch wenn Gourgouris anmerkt, dass zweifellos grogere Sorgfalt inder Ansprache des Papstes erforderlich gewesen ware, und er betont, dass derenFehlen zweifelsohne eine anti-isJamische Geste v e r r ~ n e , ermahnt cr uns, diesenAnti- Islamismus in einen Kontext zu setzcn (insbesondere unter Einbeziehung"des gcgcnwartigcn Verhaltcns der oHiziellen Stellen der amerikanischen Regiemng"), indem el' hervorhcbt, dass das tatsachliche Problem die Domnanz der

    !; \'),;1,

  • 8/8/2019 Nietzsche: Heideggers Widerstand

    4/19

    400Babette Babich

    heutigen Massenmedien sei: "Dass Gelehrte und Akademiker diesen Satz missverstanden, ist vor allem eine enttauschende Erinnerung daran, dass sie nichtlesen." 12lndem er si ch mit Judith Butlers scherzhaft gemeinter, an den Papst gerichteter Frage "Wen hat er gelesen?" auseinandersetzt, gibt Gourgouris die folgen

    de Antwort: "Doch da ist eine wirkliche und offensichtliche Antwort, soweitich es verstehe. Er hat, natr1ich, Manuel Palaeologos gelesen, doch es bestehtkein Zweifel, dass er auch (vor langer Zeit und in der ganzen Brcite) seinen Kant,seinen Hegel, seinen Nietzsche, seinen Heidegger gelesen hat. Und obwohi erdie hochste Autoritat der katholischen Theologie verkorpert, kennt er seinenMartin Luther auswendig. Es ist ein einfaches, weltliches, sakulares Faktum,das jedem zu trivial scheint, um es zu bemerken: Der Papst ist ein deutscherlntellektueller. 13 Fr Gourgouris ist der Schlssel zu der Lektre des Papsteseinzig dies, den Papst selbst zu lesen. Nietzsche tadelte uns, namlich gleichermaBen Philosophen und Philologen (was heute Analytiker und Theoretiker einschlieBen wrde Gourgouris charaktcrisicrt Butler aIs eine Vertreterin deslctzteren Typus), dafr, dass wir nicht lesen. Wichtig ist hier, dass dies sowohlin Bezug auf unsere \vahrnehmung von Nietzsche wie von Heidegger, derNietzsche ausIegt, gilt.Evidenz dafr kann man in den allerjngsten franzosischen Debatten berHeidegger finden: gibt eine ganze Reihe von Beitragen zu dieser Debatte,unter denen man eine Auswahl treffen kann: beginnend mit Victor Faras ' H ei-degger et le Nazisme H ber die Kritik Dominique Janicauds an der Herrschaftder pl.nomenologischen Theologie oder seine meisterliche berblicksdarstellung Heidegger en France' bis zu Emmanuel Fadas-Reprise in seinemnoch eindrcklicher betitelten Heidegge: L'Introduction du nazisme dans Laphilosophie 16 und - das jngste Bcispiel von a11en Franois Fdiers kollektiverAntwort auf Faye, die untel' dem Titel Heidegger plus forte raison erschien. 17

    St:tthis Gourgouris, Present ot a Ddllsion", in: Ward Blanton 1Creston Davis / Hent deVries (Hrsg.), Paul tm" tbe Durh,ln12009.St.uhis Gourgouris, Present of .1 Delllsi,)J1". Manllskript.H Victor Faras, Hculcgga le .\t1LISJi?C. Paris 1997. Vgl. ais Ant\\'ort der Auwrin dieses 8el-

    tLlg

  • 8/8/2019 Nietzsche: Heideggers Widerstand

    5/19

    401Nietzsche: Heideggers Widerstand

    2. OppositionHeideggers "Fall" hat viel mit Nietzsches Der Wille zur Macht zu tun, in

    dem Sinne, in dem Heidegger zu Beginn seiner Vorlesungen des Jahres 1937 dieFrage nach dem Status dieses Nachlasswerkes aufwirft. lch habe auf die Relevanz von Heideggers Befassung mit Nietzsches Nachlass fr unser Verstandnisder Beitrage hingewiesen und diese aIs eine Art von "prapariertem" 18 oder "kosmetischem" Nachlass gedeutet: ein von ihm selbst ediertes Arrangement posthumer Hinterlassenschaft. 19 Die Beschaftigung mit seinem eigenen Nachlasswar Heideggers vorherrschende Sorge insbesondere nach der Publikation vonSein und Zeit im Jahr 1927, in deren Zusammenhang Heidegger nicht nur mitenormem und plotzlichem philosophischen Erfolg konfrontiert wurde, sondernauch mit seiner Ablehnung dieser Populariti in ihrem Kern. Wie Kant und videandere Philosophen war sich auch Heidegger nicht sicher, ob selbst seine Verteidiger ihn verstanden hatten. Dieselbe Furcht brachte Nietzsche dazu, zu fragen: "Werde ich verstanden? Hat man mich verstanden?" Und indem er seineeigene Frage immer negativ beantwortete und dieses Nicht-verstanden-Werdenais seine Bestimmung sich zu eigen machte, schrieb Nietzsche: "lch werde nichtgelesen. lch werde nicht gelesen werden." Doch unternahm er auch fortgesetztdie Anstrengung der Selbst-Anzeige und des wiederholten Publizierens, derSelbst-Edition. 20Da wir so oft an der Oberflache einer Schrift Hait machen, geschieht es,dass Heideggers interpretatorische Emphasen an uns vorbeigehen. Damit verlieren wir zugleich die stilistischen und rhetorischen Bewegungen von Heideggers Denken aus den Augen. Als bewusst didaktisch verfahrender Autor, derseine Vorlesungen in einem genau bestimmten universitaren Kontext abfasste,hatte Heidegger oft sehr gute Grnde dafr, mit einem Gemeinplatz zu beginnen, einzig, um sodann darber zu reflektieren und ihm eine besondere Auszeichnung zu verleihen und damit nicht nur den Gemeinplatz zu transformieren, sondern ihn aIs AbstoBungspunkt fr die "Ausfahrt" ins Denken zuakzentuieren.Nachdem er auf die \Vichtigkeit und Allgegenwartigkeit von Wochen

    aus historischer Sicht - Ethan Kleinbergs. GenerarlOli LXlsremia!. Mal/zn H e l e g , g e r ~ , P h l l o s ( j ~ in France 1 9 2 7 ~ 1 9 6 J . Ithac

  • 8/8/2019 Nietzsche: Heideggers Widerstand

    6/19

    402Babette Babich

    schauen und Dokumentarfilmen Bezug genommen hat (und wir bemerken diebitter ernste historische Bedeutung dieser Bezugnahme nach ailem, was im Nationalsozialismus geschehen soilte), nachdem er dann von de r allzu anthropologisch und historistisch ausgerichteten Berichterstattung ber aIle menschlichenAktivitaten in Ton und Bild, durch Fotografien und Reportagen, gesprochenhat, die jedes Mag vermissen lasse, betont Heidegger: "Nietzsche gehort zuden wesentlichen Denkern."21 Heidegger beginnt genauso in seiner frherenVorlesung, wenn er Nietzsche ebenso zu den grogten Denkern ziihlt, indem ersich gegen die These von seiner vermeintlichen Neuartigkeit richtet. Daher argumentiert Heidegger 1939 fr die Notwendigkeit einer Auslegungsbewegungjenseits des verfestigten Bildes von Nietzsche aIs "schicksalsschwerem Los":"Unumgehbar ist, was in Nietzsches Gedanken yom Willen zu r Macht sich insWort gebracht hat aIs der Geschichtsgrund dessen, was in der Gestalt der abendlandischen Neuzeit geschieht."22 Was Heidegger unter jenem modernen Zeitalter versteht, hatte er schon angedeutet. Wir mssen hier nur auf die Bedemungvon Heideggers Vortrag "Die Zeit des Weltbildes"23 aus dem Jahre 1938 h i n w e i ~ sen und an seine Kritik des kalkulatorischen Wesens der modernen Wissenschaftund Technik erinnern. Dies ist der Zusammenhang seiner Auslegung des modernen Weltalters der Wissenschaft imJahr 1938. Und es ist diese Kritik, die seineKritik des Nationalsozialismus maggeblich bestimmt.

    lm Gegensatz dazu ist es ohne aIlen Zwang moglich, Heidegger eines andauernden Glaubens an cine romantische Version des Nationalsozialismus zuberfhren, die auch von der nationalsozialistischen Propaganda erzeugt wurde:Hitler auf einer Ferienterrasse mit Bergblick, die deutsche Jugend bewundcrnd,zwischen Blumen sitzend, abgehobcn gcgen den ticfblauen Himmel, der HitlersAugen entsprechcn solI. 24 Propaganda ist, welm sie wahrgenommen wird, besser gesagt: wenn sie aIs solche benannt werden 5011, eine in sich ironische Angelegenheit, die cines externen Blickpunktes bedarf, um scharfer und manchmalUl11 berhaupt gesehen zu werden. 25Eine Unterscheidung muss daher zwischen dem manifesten Gchalt und derSubstanz von Heideggers Denken getroffen werden, zumal I-Ieidegger wiederund wieder im ()ffentlichen Kontext (etwa in seinen Nietzschc-Vorlesungenund in seiner Einfhnmg in die /V!etaphysik) ebcnso wie in seinel1 unverbffent

    :1 Martin Heidegger, :\ielz5cbc 1. Pfu!lingen 1961,475. I\1artin Heidegger, Vielz5che 1, 481. ~ ' 1 a r t i n _ H e i d e g g c r ~ "l)ie Zcit des W'cltbildcs", in: Nlartin lieideggcr, Frankfurt ,1111M"in 1950, 73- Il C.Yg!. Alexander Nehanus' Bcschreibung von Hans Castorp am Beginn s e i n e ~ Buchcs The ArtoI Berkelev 2C02.,\Lm vcrgleichc die Katcgorie ,,11

  • 8/8/2019 Nietzsche: Heideggers Widerstand

    7/19

    403Nietzsche: Heideggers Widerstand

    lichten Beitragen betont, dass der Nationalsozialismus (im "Wesen") das Selbewie der Boischewismus und auch wie der amerikanische Kapitalismus sei. DieseSelbigkeit im Wesen hat in der modernen Wissenschaft und - vor allem - in de rmodernen Technik ihre Wurzeln. Heidegger zufolge verhiilt es sich so: "Z u denwesentlichen Erscheinungen der Neuzeit gehort ihre Wissenschaft. Eine demRang nach gleichgewichtige Erscheinung ist die Maschinentechnik."26

    Heideggers Kritik des Nationalsozialismus in seinem Vortrag aus dem Jahr1938, die in seinen Nietzsche-Vorlesungen ein Echo findet und sein ganzes Leben hindurch aufrechterhalten wird, st seine endgltige (kaum seine ursprngliche) Deutung des Wesens des Nationalsozialismus aIs technisch-wissenschaftlich und daher ais im Wesen identisch mit anderen Staatsformen. DerNationalsozialismus selbst wrde, insofern er seine Andersheit sowohl gegenber dem Amerikanismus wie gegenber dem Bolschewismus betonte, diese"Selbigkeit" zurckweisen. Was unsere eigene Perspektive betrifft, so sind wiroffensichtlich aus andersartigen politischen Grnden in der selben Not, unsereeigene radikaie Differenz gegenber dem Nationalsozialismus und jedem anderen totalitaren und wie wir heute sagen wrden terroristischen Regime zubekunden und aufrechtzuerhalten. Doch aIl diese Regimes (einschlieBlich de rislamischen Theokratien) waren fr Heidegger das "Selbe" in eben dem Mage,in dem sie alle damaIs wie heute - an das wissenschaftliche und technische unds c h l i e f ~ l i c h rechnerisch-rationalistische Ethos der modern en Welt, wie wir siesehen, gebunden sindYJenseits von Wissenschaft und Technik kann man den modernen Begriff de rKunst "aIs Ausdruck des Lebens des Menschen", ais einer rein subjektiven Erfahrung hinzufgen. In derselben Weise wird "das menschliche Tun" "aufgefagtund vollzogen" ais Kultur. 28 In diesem Kontext ist "Entgotterung" ein Phiinomen, das die Quintessenz der Moderne betrifft. Dieser Punkt betraf fr Heideg ger ebenso wie fr Nietzsche weniger die Frage des Atheismus ais die Herzmitteder modernen rationalen, kognitiven und akademischen Sicht der Dinge.

    Aus diesem Grund, so argumentiert Heidegger, bedeutet die Beschworung"religioser Erfahrung" nichts anderes, aIs anzuzeigen, dass die Gotter geflohenseien. 29 Die Moderne sei radikal wissenschaftlich, in ihrer Erkenntnis "up todate" oder "aufgeklart", und diese aufgcklarte Sensibilitat ist Teil des akademi

    26 Manin Heidegger, "Die Zet des \'V'cltbildes", 73,17 I)as Selbe, wlc J:-Ieidegger uns s a g t ~ St tingst nicln das Glciche.2.\ Manin Heidegger, "Die Ze n des Weltbildes", 73.Daher richren wir unsere Energien auf Studicn ber den ,,\1nhos". Heideggers Anspiclung galt 7U dieser Ze'il Ernst Bcrtr,lIn. Heute konmcl1 \vr Manfred Frank oderPhilippe Lacoue-Labanhe ber die Themarik des Mnhos zu Rate zichen. Ygl. David Pan,"Rcvising the Dialectc of Enlightcnment. Alfred B,leumler and the Nazi Appropriation of

    Mvrh", 111: l'./e'i{ Genn{vz Critique R-+ (FJII 2001), 37-5-+, fr einc Diskussion der Kominuizwischcn dcn I1,lzistschen Rcflexionen her den i\tn!Jos und den Reflexonen be Frank undLJcoue- Llharthc.

    Heldegger-Jahrbuch 5

    http:///reader/full/Kultur.28http:///reader/full/Kultur.28http:///reader/full/seien.29http:///reader/full/Kultur.28http:///reader/full/seien.29
  • 8/8/2019 Nietzsche: Heideggers Widerstand

    8/19

    404Babette Babich

    schen Unternehmens, das Heidegger aIs Betrieb charakter isiert hat, ein Begriff,der uns aus seinem Text Die Frage nach der Technik vertraut ist. AIs ein exaktvonstatten gehendes Unternehmen ist akademische Forschung daher ausschlieglich etwas, das institutionalisiert werden und in eine Disziplin eingefgtwerden kann. Heidegger zufolge ist die Idee akademischer Forschung das fundamentale Charakteristikum der modern en \X1issenschaft. 30Heideggers oppositionelle Einwendungen gegen den Nationalsozialismusbeginnen auf diesem Niveau und bleiben auf ihm. Er formuliert eine In-FrageStellung, die die Wissenschaft, die Humanwissenschaften, die Kunst oder dieReligion umfasst. Wenn wir diesem Ausmag seiner Diagnose nachgehen, so gelangen wir auf die Bahn von Heideggers Herkuleischer Auseinandersetzung mitjenem Phanomen, das er Macht nennt. So konnen wir uns seine Analyse diesesPhanomens in seiner Einfhrung in die Metaphysik in Erinnerung rufen, aberauch an die Machenschaft in seinen Nietzsche-Vorlesungen (dieser Begriff istnach der Veroffentlichung der Beitrage noch signifikanter geworden) denken,doch unsere Lektre von Heideggers Analyse des "Modernen" in "Die Zeitdes Weltbildes" schliegt die Wirksamkeit der Kunstfertigkeit ein und damit die"Berechnung", da dies fr Heidegger immer mit der Beherrschung und der Ausbeutung und Aneignung der Erde zusammenhangt. Die in dies en Tendenzensich augernde einebnende und angleichende Dynamik ist jene des Nihilismus:Das Real wird darin virtuell oder illusorisch. Heutige Medien (einschliemich desInternet, des Fernsehens oder des Films) wrden in Heideggers Blickfeld geraten, insofern es eine Parallele zwischen der kabellosen bertragung und der"Vernichtung der grogen Entfernungen durch das Flugzeug" oder dem "beliebigen, durch einen Handgri ff herzustellenden Vor-stellen fremder und abgelegener Welten in ihrer Alltaglichkeit durch den Rundfunk"31 gibt. Das Schattenspiel des Nihilismus ist wirksam im rechnenden Denken. J2

    Heidegger schlieih seine Reflexionen ber die Herausforderung oder Gefahr des unberechenbaren tlerzens der Berechnung mit einem Bezug auf das"kreative Fragen", die "Reflexion" und das sehr nietzscheanische, eben moderne und politische Bild des "knftigen Menschen", der "in jenes Zwischen" versetzt sei, des Wesens, das "dem Sein zugehort und doch im Seienden einFremdIing bleibt" Y Heidegger unternimmt dies in einem anderen Sinne aIs T. S. Eliot,der ahnlich modern ber die Rckkehr eines Grundes, der dem Menschen ausdrcklich erlauben wrde, "den Platz der ersten Zeit zu kel1Oen", nachdcnkt.Heidegger ruft hier Holderlins Erinnerung an die griechische (Be-)Deutungdes Todes aIs eine Warnung an die Deutschcn ins Gedachtnis: Hier werde die

    vgl. Martin Heidegger, "Die Leit des Wlltbildes" , 81 f.], Martin Heidegger, "Die Leit d e ~ \Vdtbildd', 93.Martin Heidegger, "Die Lelt de;, \X\:lrhildes". 93,Martin Heidegger, "Die Leit des \Vdtbildcs", 94,Heidegger-Jahrbueh 5

    http:///reader/full/X1issenschaft.30http:///reader/full/X1issenschaft.30http:///reader/full/Denken.J2http:///reader/full/Denken.J2http:///reader/full/X1issenschaft.30http:///reader/full/Denken.J2
  • 8/8/2019 Nietzsche: Heideggers Widerstand

    9/19

    Nietzsche: Heideggers Widerstand1 -------- 405iZukunft eines Menschen beschworen, der dazu bestmmt sei, unbehaust zu-rckzubleiben: "trauernd verweilest du,1 dann am kalten Gestade 1 Bei denDeinen und kennst sie nie." 34

    rleidegger liest Nietzsches Erkliirung des Willens zur Macht nicht so, dasser den Willen zu m Willen (aIs solchen) oder den Willen des Machtvollen impIiziert, sondern in Begriffen des Wissens und der \'Vissenschaft ais solcher: "Wissenschaft z. B., Erkenntnis berhaupt, ist eine Gestalt des \'Villens zur Macht.Eine denkerische Besinnung (im Sinne des Denkers Nietzsche) auf die Erkennt-nis - und \'Vissenschaft im Besonderen - muB sichtbar machen, was Wille zurMacht ist." 3') Fr Nietzsche und fr Heidegger ist es die Wissenschaft, die inFrage gestellt werden msse: "Wir fragen deshalb mit Nietzsche", so schreibtHeidegger: ,,\'Vas ist Erkenntnis? Was ist Wissenschaft? Wir erfahren durch dieAntwort - sie sei Wille zu r Macht - sogleich und zugleich, was Wille zu r Machtmeint. "3 6 Doch exakt soleh eine Verbindung ist problematisch in einer wissen-schaftlichen (also "objektiven" oder, wie Heidegger sagen wrde, "subjekti-ven") Epoche wie der unseren.lm Kontext der unter dem Natonalsoziaiismus radikal veranderten Uni-versirat war die Zusammenstellung der Thematik "Nietzsche und die Macht"mit der Thematik "Nietzsche un d die Wissenschaft" unmittelbar relevant. Hei-degger wirft diese Frage ausgehend von seiner eigenen fehlgeschiagenen An1tszeit ais Rektor auf - und es ist schwer, den transparenten Subtext zu berhoren,der suggeriert, dass cr aIs Rektor die Universitat und das Projekt der Wissen-schaft in eine andere Richtung gefhrt haben wrde.Fr Heidegger schlieBt das Thema "Nietzsche und die Wissenschafr" dieInfragestellung der damaIs herrschenden Vorannahmen l'in: "Die Frage nachErkenntns berhaupt und nach der \'Vissenschaft im besonderen solI jetzt denVorrang haben, nicht nul' weil die ,Wissenschaft' unseren eigenstcn Arbeits-bcreich bestil11l11t, sondern vor allem deshalb, weil Erkenntnis und Wissen in-nerhalb der Geschichte des Abendlandes zu einer wesentlichen Macht gclangtsind. ,Wissenschaft' ist nicht lediglich ein Feld ,kultureller' Betatigung unteranderen, sondern \'Vissenschaft ist eine Grundmacht in derjenigen Auseinander-setzung, kraft deren sich der abendlandische Mensch berhaupt zum Seiendenyerllt und sich darin behauptet."r \'Vissenschaft dient somit dem intellcktucl-!en Erkenntnisgewinn, aber unter den damaIs vorherrschendcn politischcn Vorzeichen bcdeutct dies vor allem: \'Vissenschaft um der Flerrschaft willen.Die Nationalsozialisten gingen davon aus, sie kbnnten die \'Vissenschaft an-wendcn, um die Welt zu erobern. Doch hat sich daran in der Zwischenzcit etwas

    \, !vl.min Heidl'ggl'r, "Dil' Zcit des \X/eltbildes", 94.\, :vbnin I-Icidcggt'r, ;\ietzsche 1, 493.\,. 0.Lnin :\':tz5ctJe 1, 493.

    !\LlIt I l H l'id "gcr, .\I

  • 8/8/2019 Nietzsche: Heideggers Widerstand

    10/19

    Babette Babich406

    verandert? Tun wir dies nicht aIle: ob die deutschen Faschisten der 1930er und1940er Jahre, die Sowjets der 1950er und 1960er Jahre oder andere Akteure heute in einem anderen Land, in einem anderen Jahrtausend, gleichgltig, obdeutsch-, ob franzosisch- oder ob englischsprachige (vollstandig globalisierte)Imperialisten, die Forschung in staatlich und in zunehmend privat gesponsortenForschungsunternehmen betreiben lassen, verfolgen wir nicht aile recht offenkundig die Absicht, die \Velt durch \Vissenschaft zu erobern, sei es um des Friedens oder, was noch immer verbreitet ist, um des Krieges willen oder schliemichim Namen der aufrechterhaltenen Ausbeutung oder Ausnutzung der Reichtmer und Ressourcen der Erde? \Venn wir gengend Geld in Grundlagenforschung investieren, dies ist das Vermachtnis der Bush-Doktrn, werde uns, "wiewir denken mogen"38 , die \Vissenschaft retten. Dieses auf Forschung bezogene(und zugleich ideologische) Erbe des Manhattan-Projektes gilt unbefragt biszum heutigen Tag.39

    Nachdem er die Bedeutung des Verstandnisses von Nietzsches wissenschaftstheoretischen Reflexionen in seinen eigenen Begriffen festgehalten hat,wendet sich Heidegger, der die Frage nach dem Wesen der \Vahrheit aufwirft,direkt einer berlegung zu Nietzsches Krtik an der Wahrheit zu. Nietzscheverbinde Wahrheit und Illusion. Heidegger zitiert hier Nietzsches Aussage:",dass die Verehrung der Wahrheit schon die Folge einer Illusion ist'."40 An dieser Stelle zitiert Heidegger ebenso wie au ch an anderen Stellen Nietzsches Aussage, wonach "die Kunst mehr wert ist, aIs die Wahrheit". Und er zitiert auch:"Wir haben die Kunst, damit ' [ ; . l i r nicht an der Wahrheit zu Grunde gehen."41Nietzsches Aussage, die Wahrheit sei eine Illusion, konne, so Heidegger,leicht durch jeden beliebigen Philosophieprofessor ais Il lusion erwiesen werden:"Die Wahrheit sei eine Illusion, sagt rIerr Nietzsche. Dann ist doch, wennNietzsche ,konsequent' sein will - und es geht nichts ber die ,Konsequenz' -,dann ist doch auch der Satz Nietzsches ber die Wahrheit eine Illusion, unddann brauchen wir uns nicht Linger mit ihm abzugeben. "42 \Venn Heideggerdamit fortfahrt, eine Zurckweisung der Standard-Vorwrfe gegen NietzschesWissenschaftstheorie zu enrwickeln, sollte dieser Versuch mit seiner eigenen

    Vanncvar Bush, We ;-'1:1\ Thillk", in: Ar/,mlic ldonth/y, JuIl' 1945, Bd. 176, Nr. 1, 1 0 1 ~ 1 0 8 . Vsl. auch die Abbildungcll im 19. Novembcr 1945.Siehl' Horst Rtirig, Dl(' M.lr'um Strat'gien der lnteraktzvitdt. Begnj];hmktionsnll1ster, ;-'lmtcr 1(;0('); Annl' Firzp,Hrick, "Teller's Technical Nemeses. The Al1lcricanH \"lhogcn Bomb ,1Ild its Dcw!opmcm w[thin a Techno!ogicallnfLlstrucr ure", in: Phzl Tee/>ne 33/3 (19%), 10-1 Sikio Victt,l. Kritik am l\!ationalsozialismus und cUl derTeclmik, Tbingen 1989,

    4: ;\Llltil1 Heidegger, .\/'[z;che /, +99, Friedrich Nietzsche, Der Witte zu r Macht, 602.41 ;\LJrtinl ieideggl'r. Sletz:schc 1,500. hieJrich Nl

  • 8/8/2019 Nietzsche: Heideggers Widerstand

    11/19

    Nietzsche: Heideggers Widerstand- - - - - - - - - - - - - - - - - - - ~ - . - . - - . ~ - - . - - 407

    Gegenposition gegen Carnap zusammen gesehen werden. 43 Doch Heideggererinnert uns daran, dass "Satze von der Art der Nietzscheschen [ ... ] sich berhaupt nicht widerlegen [lassen] [ ... ] Wenn die Wahrheit in allem Denken herrschen solI, kann ihr Wesen vermutlich nicht durch das gewohnliche Denken unddessen Spielregeln begriffen werden. "44 Wenn wir auf die Bewegung achten, dieHeidegger zu Nietzsches Verteidigung vollzieht (und es ist Iohnend, darauf zuachten, dass Heideggers letzter Punkt formaler Natur ist und mit einer Anspielung auf Godel komplettiert wird), so wird deutlich, das Heidegger Nietzschenicht aIs irrational der philosophischen Tradition oder dem (berlicferten) Denken emgegensetzt. Vielmehr hangt fr Heidegger "die Wesensbestimmung derWahrheit aIs ,Illusion' wesentlich mit der metaphysischen Auslegung des Seienden zusammen [.. . ] und [ist] deshalb so ait und anfanglich [ .. ] wie die Metaphysik selbst". 45

    Heideggers Nietzsche ist daher weder ein Romantiker no ch ein irrationalerLebensphilosoph, sondern ein Philosoph des metaphysisch (kosmologisch) begriffenen Willens zur Macht. Heideggers frhe Vorlesungen ber Nietzsche machen diese polemische Emphase noch deutlicher, aber ich konzentriere michdarauf, die Aufmerksamkeit auf die Frage von Heideggers Lektre des Willenszur Macht ais Erkenntnis zu richten, also auf Heideggers Kritik der nationalsozialistischen Weltsicht. Es geschieht eben in diesem Zusanunenhang, dass Heidegger an dem jetzt erreichten kritischen Punkt sich der Frage der "Zchtung"zuwendet, in einem Abschnitt, der betitelt ist "Nietzsches angeblicher Biologismus".46 Hier denkt Heidegger noch einmal ber das \Xlesen der Wissenschaftnach. lndem er Nietzsche aIs einen Erkenntnistheoretiker liest, ergibt sich aisErtrag ein Nietzsche, der mit derselben Art von Fragen bcfasst ist wie die traditionelle Philosophie und der, wie es die traditionelle Philosophie unternimmt,Heideggers Rckkehr zu jenem Bereich, den er Denken nenm, untersttzt.

    3. Der letzte der Metaphysiker: Ein Schritt zurckNietzsche wird von Heidegger mit der Geschichte der Metaphysik in Verbindung gebracht, und dies von Beginn der VorJesungcn an, die Heidegger imWintersemester 1936/37 an der Universiit Freiburg hieltY Heideggers Einord

    " Vgl. Michael Friedman, 0/ the W ' ~ I ) ' s . Heidegger, Chicago 2000;James Luchrc, "Martin Heidegger and Rudolf Cm1ap. Radical Phenomenology, Logic.l! Postvism and the R,)ots of rhe Conrinent,d! i\nalytic Divide", in: ?bilosophy Toda)' 51 (2007),241- 260; Babetre Babich, "Die Beltrge ais Heidegger'i \Ville zu r Macht", in: Baberte Babich,"Eines Cultes GlL'k'uollcr /'v!adn Imd Llebe ", 17R-2e9.

    4; Martin Heidegger, /Vletzscbe l, 503. "5 Manin Heidegger, Nietzsche l, -t05. "h Martin Heidegger, Nietzsche l, 517 ff. J- Daher ist das erste Kapitl VOl! Heioeggers Nietzsche l. Dn \\ille "tir A",Hht ais Kunst bcttclr

    Heidegger-Jahrbuch 5

    http:///reader/full/werden.43http:///reader/full/werden.43http:///reader/full/werden.43
  • 8/8/2019 Nietzsche: Heideggers Widerstand

    12/19

    Babette Babich- - - - - - - - ~ - -08 ---

    nung Nietzsches in die metaphysische Tradition lauft allen denjenigen Interpreten zuwider, die Nietzsche aIs Antimetaphysiker lesen. Natrlich war die Metaphysik, wie Eugen Fink in seiner eigenen Nietzsche-Deutung betont, aIs solcheein wesentlicher Gegenstand fr Nietzsche wie auch fr Schopenhauer oderKant. 48 Nietzsches Metaphysik wird im Hinblick auf seine Auseinandersetzungmit der Religion,49 mit der Philosophie und mit der Wissenschaft verstanden. Eshandelt sich dabei um eine Auseinandersetzung, die Nietzsche dazu bewegte,das zu umreifSen, was er den perspektivischen Charakter des Lebens nannte. SoheifSt es auch in dem Motto, das Heidegger ber den ersten Band seiner Nietzsche-Vorlesungen setzte: "Die sein Denken bestimmende Erfahrung nenntNietzsche selbst: ,Das Leben [ ... ] geheimnisvoller von jenem Tage an, wo dergroGe Befreier ber mi ch kam, jener Gedanke, dass das Leben ein Experimentdes Erkennenden sein drfe '." 50Ein Element dessen, was einer Heidegger gegenber grofSzgigen LektreNietzsches entgegenstehen konnte - und gewiss sollte Heideggers NietzscheLektre aIs groGzgig gehenSI -, kann man in folgender Aussage Heideggersfinden: "Nietzsches Denken geht in der langen Bahn der alten Leitfrage derPhilosophie: ,Was ist das Seiende?"'52 Wir kennen diese Aussage schon, findenwir sie doch in der Einfhrung in die M etaphysik. Aber ist dies nicht eben dasMoment, das wir von Heidegger erwarten? Der SchIssel zur "wirklichen" Philosophie sei das Denken des Seins. In dem AusmaH, in dem Nietzsche dies denke, konne cr aIs Philosoph gelten, und zwar nicht aIs ein spezifisch nationalsozialistischer Philosoph, sondern aIs Philosoph im Sinne der gesamtenphilosophischen Tradition.

    Indem er dies sagt, kehrt Heidegger die seinerzeit und teils 110ch immerverbreiteten Standardinterpretationen von Nietzsches Philosophie aIs des Denkens cines philosophischen Augenseiters um. "Dann ist Nietzsche", 50 formulien Heidegger seine Herausforderung, "gar nicht so modern, wie es nach demLinn, der um ihn herumgeht, den Anschein hat" - und "gar nicht so umstrz1erisch, wie el' selbst 5ich zu gebarden scheint". Fr Heidegger, der kaum beabsichtigt hab en drfte, Nietzsches Rang zu mindern, indem er ihn in die west

    "Nietzsche .lIs Illctaphysischer Denker". Im Jahr 1936 beginm .weh Iicidq;gcrs denkerischcmit dem die in den zn/' Philowphlf ihren Niederst:hlag findet.J'Eugen Fink, ,\!/eiZ;ches NnlosopJ/e, Stuttgart 1960. Vg!. insbesondere K,tpitcl 5.Heidegger nilllmt ab ]\10rto fr seincn Vorlcsungskurs N i c t z s ( h e ~ sich im Anl1cJJ1isr findcndc

    \ \ ' u l l d e f \ ~ o j l e PJ'()\'ukation gcgcnber dCl1l M\111othcisll1uS cm ,ici] ,1llf: "Zwci j.lhrtauscnde b c i ~ nahe und niclu l'in ejnziger nCl1cr Gott!"l\Lmin 1 cidcggcr, Sie/z5cbe 1, 7.Offenschtlich triltt dics nichr fr aUe s d b s t ~ r c t l c x i \ " t ; n 1'ornll'n der Lcktre Zll. ~ i c t L s c h e s s e l b s r ~ r c f l c x i n : Dcumngell scheinel1 l'in Gcgcnbeispiel d,1f7uslt>Jlen. E.s wrde uns Zl l welt\0111 \Veg abbringC::!1, zu zcigen, chss d,trin Heidegger nicht ulhnlich Nietzsche wic dielllcistell Gdchrtcl1 lU sich sclhst viel frcundlichcr ist. ab ge!1leinhin ,mgcll0ll1111Cll \Vire!,J\Lmin f leidegger, . \ ' /(; [2$c/;(' 1, 11.

    5

  • 8/8/2019 Nietzsche: Heideggers Widerstand

    13/19

    - - - - ~ ~ ~ - - - ~ - ~ - - - _ . _ - - _ . _ - - - - - - - - - - - - - 409liche Philosophietradition einordnet, setzt die Behauptung, dass "Nietzschewusste, was Philosophie ist", diesen an die Spitze (akme) der Tradition: "Nurdie grogen Denker besitzen es [sc. dieses Wissen]." 53

    Wer nach einem Reichsphilosophen Ausschau hielt, suchte in jedem Falleinen revolutionaren Denker: ein neues Denken fr ein neues Reich. Wir suchennoch immer nach diesem "neuen" Nietzsche. Daher neigen auch heutige Nietzsche-1nterpreten zu einer seltsamen Furchtsamkeit gegenber HeideggersNietzsche-Deutung, wobei sie zumeist Derrida folgen oder zumindest in seinem Kielwasser fahren. Sie frchten, dass Heideggers Deutung sie dazu verfhren konnte, den anti-traditionalistischen, ja anti-traditionellen, anti-metaphysischen Denker innerhalb und nicht augerhalb der metaphysischen Tradition zuverorten. Gegen typische Verunglimpfungen Nietzsches ais "irrational", aIs"Dichter-Philosophen" oder aIs einen Denker, der nicht streng denken konneVerunglimpfungen, die zwar oft kaum noch bemerkbar, aber immer noch lebendig sind -, und gegen jene, die Nietzsche einen "Lebensphilosophen" nennen,begreift Heidegger Nietzsche ais einen Denker des Willens zu r Macht, indem ersich mit Nietzsches Denken ber das Denken (und d. h. ber Erkenntnis, Logik,\Xlissenschaft) ernsthaft auseinandersetzt. Diese Auseinandersetzung mt Nietzsches Willen zur Macht (ais Erkenntnis) stellt die gangige nationalsozialistischeLesart von Nietzsche ais einem Philosophen des "Willens" oder des "Lebens"von Grund auf in Frage und bleibt zugleich gegenwartigen Nietzsche-Lesartenentgegengesetzt.

    Heidegger unternimmt diese 1n-Frage-Stellung der nationalsozialistischenNietzsche-Deu tung und -Vereinnahmung aIs eines Philosophen des "Willens"im Zusammenhang seiner Erwagungen ber das Werk, das aIs Der Wille zurMacht bekannt ist, ein Meisterwerk, das niemals zur "Vollendung" gebrachtwurde, wie er seinen Studenten von Beginn an erlautert, das aber ais eine Sammlung von "Vorarbeiten und stckweise[n] Ausarbeitungen zu diesem Werk"54wichtig bleibt. Heidegger augert hier seine provokativs te, gegen die zeitgenssische Nietzsche-Forschung gerichtete Auffassung: "Was Nietzsche zeit seinesSchaffens selbst veroffentlicht hat, ist immer Vordergrund."55 Dieser Vordergrund wrde dann Die Geburt der TrL1godie ebenso umfassen wie Die frohlicheWissenschaft, Zur Genealogie der Moral und viele andere Werke. Heideggerbemerkt in diesem Sin ne: "Die eigentliche Philosophie bleibt ais ,NachlaH' zurck."56 Selbst Also sprL1ch Zarathustra sei eine bloge "Vorhalle"Y Es ist wichtig, hier festzustellen, dass Heidegger diese Deutung nicht als Missachtung der

    Manin Heidegger, /'vletz)c!;e l, IL Martin H e i d q ~ g e r , !\il'IZ5Chc l, 15. Martin Heidegger, '\Ictz,cbc !, 17. Manin Heidegger, :\clz5che 1, 17. !\hrtin Heidegger, Slet%5Chc 1, 4.

    Heidegger-Jahrbuch 5

  • 8/8/2019 Nietzsche: Heideggers Widerstand

    14/19

    410Babette Babich

    von Nietzsche publizierten Werke versteht, sondern dass er - wortlich - sich aufNietzsches Charakterisierung seines eigenen Hauptwerkes beruft.Fr Heidegger stellt sich die Frage, welche Herausforderung es bedeutet,einen Autoren zu lesen, der wie Nietzsche Aphorismen geschrieben hat. Das

    Problem besteht darin, dass bei Nietzsche gilt: "Nicht jede kurze Aufzeichnungist schon ein Aphorismus, d. h. eine Aussage oder ein Spruch, der in sich reinabgegrenzt ist gegen alles U nwesentliche und nur Wesenhaftes eingrenzt . Nietzsche bemerkt einmal, er habe den Ehrgeiz in einem kurzen Aphorismus das zusagen, was andere in einem ganzen Buch - nicht sagen." 58 Heideggers elliptischeBezugnahme auf Nietzsche gilt seiner Schlussfolgerung in der Vorrede von ZurGenealogie der Moral und Nietzsches eigenem Protest gegen diejenigen seinerLeser, die Schwierigkeiten hatten, sein aphoristisches Schreiben zu verstehen,der darin besteht, dass er solchen Lesern unterstellt, dass sie wie die groge Mehrheit moderner Leser berhaupt die "Kunst der Auslegung" verlernt hatten, dieunabdingbar fr die Kunst, Aphorismen zu lesen, sei. 59

    Wie sollen wir also Nietzsches Aphorismen lesen? Und was wird dies frunsere Nietzsche-Lektre selbst bedeuten? Diese Frage ist wichtig, wenn wiruns, so wie es Heidegger unternimmt und wie es nur wenige heutige NietzscheLeser tun, Nietzsches scheinbar entgegengesetzte "Lehren" des Willens zurMacht und der ewigen Wiederkehr des Gleichen zuwenden. 60 Hier nennt Heidegger zwei denkbar unterschiedliche, aber zugleich ganz tradition elle Interpretationen und ihre Begrndungen: die Interpretationen von Alfred Baeumler undKarl ]aspers,r)] die beide allerdings aus ganz verschiedenen Grnden - ausschliegen, dass die Lehre von der ewigen Wiederkehr mit der Lehre vom Willenzur Macht zusammengedacht werden konne.

    Am Beginn der Vorlesung von 1938 ber "Die ewige \'Viederkehr des Gleichen" finden wir nicht nur, was wir an anderem Ort ais eine Signal-setzendeAuseinandersetzung mit Baeumlers Lehre von der ewigen Wiederkehr aufgewiesen hab en, sondern wr horen das nachhallende Echo des Mottos, das Heidegger ber seine Beitrdge gesetzt hat: "Bliebe unsere Kenntnis auf das vonMartin Heidegger, Nietzsche l, 20. Friedrich Nietzsche, Genealogie der Moral. VOlTc'dc, vu!. Es ist cine Ironie, doch auch l'in Anzeichcn dafr. wic wichtig es 1st. dicscn Gcd,lnkcn nachzugdlCtl, dass de r Kommentar, auf de n sich bislang die Diskussion ber diescn Aphorismus sttzt, nur darum kreist. dc n Aphorismus zu idemifizieren (oder falsch zuzuordnn). .luf de n el' Bezug lhlhm. V gl. rher dazl.l Babette Babich, "Zu Nierzsches Sri]", 8-29. "Wer den Gedankcn der ewigen Wiederkehr l l j ~ h t aIs das philosoplmchigentlich Zl I Denkcn de mit dem Willen zu r ~ 1 a c h r /usamll1endenkr, bgreift dl.lch nichr de n rnctaphysischen Gehalt de r Lehrc vom \Vilien zu r Macht hinrcichcnd II I seiner g,lll/en Tragweite" ("'Tanin Heidegger, Nietzsche l, 29) ..,; Heideggers Grndc, Bacumlcrs Zurckweisung der Lehrl' \on de r eVligen Wiederkehr auchseinerseits zurckzuweiscn, bestchen .. so tcilt er un s mit zumindesr tcilweisc dari n, dassBacumler den Willen zu rvlaclH pri\ilegicrt, den el', SI ) argull1cnrcrt jedenfalls Heidegger. politsch interpretiae.

    5

    http:///reader/full/zuwenden.60http:///reader/full/zuwenden.60http:///reader/full/zuwenden.60
  • 8/8/2019 Nietzsche: Heideggers Widerstand

    15/19

    411Nietzsche: Heideggers Widerstand

    Nietzsche selbst Veroffentlichte beschrankt, dann konnten wir niemals erfahren, was Nietzsche schon wufhe und vorbereitete und standig durchdachte, aberzurckbehielt."62 Die veroffentlichten Aphorismen mssen - dies besagt Heideggers D nterscheidung des Exoterischen yom Esoterischen - gegen bzw. inKontrast zu den in einer spezifischen Weise unveroffentlichten Texten gelesenwerden. In dieser esoterischen oder "zurckgehaltenen" Sphiire von NietzschesDenken sind die unveroffentlichten Texte "still" und "verschwiegen". Man denke hier daran, was Kierkegaard ber Sokrates sagte und wie Nehamas dieseunheimliche und sonderbare Ironie betonte. Fr Heidegger ist dieses Schweigenein sprechendes oder entdeckendes Schweigen: nicht ein Schweigen, das sichselbst verrat oder sich selbst weggibt, sondern ein authentisches oder originaresSchweigen.

    Es ist hochst kennzeichnend, dass Heidegger an diesem kritischen Momentdamit fortfahrt, die Produktion de r akademischen Gelehrten zu verurteilen undin diesem Zusammenhang die Zukunft der gesamten akademischen Forschergemeinschaft, da sie dem Muster de r Naturwissenschaften folge. Selbst dieNaturwissenschaften haben ihre politische Seite ebenso wie ihre ideologischenModen, wie Heidegger gegen die nationalistische Tendenz der nationalsozialistischen oder "deutschen" Wissenschaft betont: "D m beiliiufig ein Gegenbeispielzu erwiihnen: es steht fest, dass die Russen heute auf dem Gebiet der Physiologiemi t grogen Kosten Untersuchungen anstellen, die bereits vor lS Jahren in Amerika und bei uns erledigt wurden, von denen sie aber zufolge der Abriegelungengegen die ausLindische Wissenschaft nichts wissen konnen. "6 }

    Gegen die nationalsozialistische Ideologie des Volkischen, insbesondere gegen die germanische Wissenschaft, stellt Heidegger die deutsche Tendenz, dasFremde auszuschliegen, wie es in seinen Worten heigt, radikal in FrageY Damitist noch nicht Heideggers eigentliches Anliegen genannt. Denn Heidegger betont die zunehmende Dominanz des technischen Industriecharaktcrs der Wissenschaften, eine Analyse, die an Ernst Jnger erinnert, die man aber auch ausCarl Schmitts Analyse des Wesenswande1s der Souveranitiit in d:r mo.derne.npolitischen Welt heraushoren kann. 65 Indem er auf die spiltere Artlkulatlon sel

    ~ 1 a r t i n Heidegger, Nietzsche /, 266. V gl. Bahette Bahieh, "Heideggers Wille zut I\laehr". !chbiete hie[ au f den Seiten 184 f. eine Explikanol1 von Heldeggers Motro zu den Bet/ragen.

    hl Martin Heidegger, Nietzsche /, 267. .... .. ' . . ' , . . . 0'" Heideggers Interpretation von Hlderlins Bnd an BohlendorH kann auch,ll,l d l ~ S ~ ; T I r ? l 1 1 n ~ gelesen werden. Vgl. Babette Babich, "Between Holderlm ,1nd Illdcggcr. Nletzsl he sI l anstiguration of Philosophy", in: Nietz5che-Studien 29 (2000), 267-301. '.. . ' . . . . .... .Mich,1.cl Zimrnerman har ncbcn anderen Forschem dlcs erforscht. Vg1.! ur ,:ll1C D l s k u 5 ~ l O n \] nv>l"s The5en ber dic Technik auch Friedrich Strack (Hrsg.), Titan Tecbmk Llnhsr /Ill 1. hl 1 . ,.. . "b . d Wrzbuf cr 2000. Vgl. 1 1 l l ~ r clue Car!-nedne J linge! u e l tH D... 'r ' .'. h . .' 7'[ ,Iog'c B'rl'ln 191"1 sowic H.annah Arendt uber da, Probkm vo n \ \ 15 -Sc min, I )EO, "t ~ .... J ' . 1 . J-l'115 ,111ft un d Technik und die damit verbundenc Dcposltlol1lerung de r 1 h11l)50P m: ln. "il-sc . l , . , '> , 19t ,'\ '8-47n,1.h Arendt, Vit,t altz'il oder L,om Le/Jell, Stllttb;U t l, _ .

    Heidegger -Ja h rbuch 5

    http:///reader/full/Mich,1.clhttp:///reader/full/Mich,1.cl
  • 8/8/2019 Nietzsche: Heideggers Widerstand

    16/19

    Babette Babich412 --_._--_._--------------------------

    nes Denkens ber die Technik und die wissenschaftliche Weltsicht vorausweist ,schreibt Heidegger: "Ohne die Technik der graBen Laboratorien, ohne dieTechnik eines vollendeten Nachrichtenwesens [und wir konnen hier unterbre-chen, um uns zu fragen, was anders denn das Internet ist aIs eine solche Maschi-ne fr scheinbar standige, weil scheinbar standig erneute Veroffentlichung,B. B.] st eine fruchtbare wissenschaftliche Arbeit und eine dementsprechendeWirkung heute undenkbar."66 Heidegger spricht aber auch nicht die Sozialwis-senschaften und noch viel weniger die Geisteswissenschaften Frei, da auch siegefangen seien (so, wie wir heute noch immer gefangen zu sein scheinen) in der"Eile des Herausbringens" und der "Angst des Zuspatkommens"yHeidegger nennt dann im weiteren Verlauf eine seiner Schlsselstrategien inder Kunst, Nietzsche zu lesen cine Strategie, die unsere ganze Aufmerksam-keit erfordert: Wir "vergegenwartigen uns deshalb zunachst die von Nietzscheselbst gegebenen Mitteilungen . . . Darauf folgt die bersicht ber das Zurck-gehaltene." 6B AuE diese \'Veise und im Gegensatz zu den allgemein verbreitetenBehauptungen wahlt Heidegger aus Nietzsches Texten nicht nach freiem Belie-ben willkrlich Elemente aus, sondern diskutiert zunachst die exoterischen(oder publiz ierten) Texte, bevor er dieselben Texte mit Nietzsches esoterischen(unpublizierten) Schriften in einen Zusammenhang bringt. DemgemaB befasstsich Heidegger, wenn cr es unternimmt, Nietzsches Denken ais das Denkendes Gedankens der ewigen Wiederkehr zu deuten, zunachst mit Nietzsches Dar-stellung der ewigen Wiederkehr aIs einem Gedankenexperiment in Die frohlicheWissenscha(t. In diesem Kontext wir ft el' die entscheidende Frage (gleichsam dasexperiment/1m crucis) auf, was Wissenschaft ais solche fr Nietzsche bedeute.Dieser Bezug zur Wissenschaft kann als Bezugnahme auf die zentrale Unter-scheidung zwischen den publizierten (exoterischen) und den unpublizierten(esoterischen) ugerungen der Lehre von der ewigen Wiederkehr verstandenwerden.Heideaer betont seinen Gegensatz zur nationalsozialistischen Deutungder Philos;;hie Nictzsches noch ~ u s d r c k l j c h e r im Jahr 1939: ."Fr ein solchesWissen rckt sie wiederum in dic Notwendigkeit jencr A u s - e l l 1 a n d c r - s e t z ~ n g , in der 5ich und fr die sich die abendlandische Metaphysik ais das G a n z ~ .ell1c.rvollendeten Geschichte in die Gewesenheit, d. h. in die endgl tige Z u k n t . t l g k c ~ t zurcksetzt."(,9 Jedcr mit "Ohren, um zu horen" konnte dies wohl a ~ s cme dlreln gezielte Pnn'okaton gegen die nationalsozialistischen lnterpr.etanonen vo.nN i e t ~ s c h e verstehen. H e i d e ~ g e r wendet S i C ~ l radikal d a g e ~ ~ n , " ~ l c t z s c h ~ : , , r . h l ~ losophie vordergrndig aulzufasscn und SIC als ,Herakhtlsmus, ais ,'Y. rllcns

    hh ivlMtin I - L : i d e ~ ~ g e r . _\ 1.2681.168 f.l'lIMon I l" l\IMtin t l e i d l ' ~ ~ e r ..\ 1, 26'1. .l \1. lr t l l l l .\u:i/sdJc I f, Ptull1I1gcll 196[, Y.

    Heidegger-Jahrbuch 5

  • 8/8/2019 Nietzsche: Heideggers Widerstand

    17/19

    413Nietzsche: Heideggers Widerstand

    metaphysik', aIs ,Lebensphlosophie' in die blichen historschen Abstempelun-gen einzureihen"/c Jeder mit "Ohren, um zu horen" kann dies aIs radikale An-frage gegen traditionelle Interpretationen von Nietzsches Philosophie verstehen. Die Begriffe, die Heidegger hier nennt, namlich "Willensmetaphysik","Lebensphilosophie" oder die parallelen Linien einer totalisierten Geschichte,dessen, was gewesen ist, und der auGersten Zuknftigkeit, sind nicht nur dieselben Begriffe, die auch heute noch immer heraufbeschworen werden, um den"Irrationalismus" zu belegen, der mit Gewissheit Nietzsche aIs einen Vorlauferdes Faschismus erweist, sondern es sind ebenso populare Begriffe, in denenNietzsche aIs potentieller Philosoph des nationalsozialistischen Denkens gelesen werden sollte und auch tatsachlich gelesen worden ist.Wenn Heidegger nichts anderes getan hatte, aIs Nietzsche in die philosophi-sche berlieferung einzuordnen, so widersetzte er sich schon der Tendenz, einen Nietzsche zu finden, der augerhalb der Philosophie und ihrer Traditionstehen sollte. Seine Konfrontation mit dem Natonalsozialismus ist daher heutenoch immer wirksam, und zwar in der Idee von Nietzsche aIs einem Denker;dies bedeutet auch: ais einem Denker innerhalb - vielmehr aIs augerhaib - derTradition der westlichen Metaphysik und des philosophischen Denkens. Manmuss sagen, dass diese Ebene von Widerstand keinesfalls mit aktivem Herois-mus zusammenfallt, doch daraus foigt nicht, dass sie keine Art von Widerstandgewesen ware.

    4. AbschlieBendes Postskritpum vom Rand her\X1enn wir ber Nietzsches agonales Oenken, seinen Beitrag zu einer mog-lichen demokratischen, ja sogar liberalen Theorie oder seine kritische Heraus-

    forderung der expliziten Idee der Kritik sprechen konnen, ,:as haben " \ ~ i ~ damitgewonnen? An anderem Ort lube ieh gezeigt, dass trotz sell1e.r O p p O S I t l O ~ gen die Demokratie und vielleieht sogar gerade aufgrund dleser ~ P P ? S l t l O n Nietzsche der demokratisehste aller Denker genannt werden kann. Dles 1st deshalb der FaU, weil Nietzsche keine normative Idee demokratischer. G J e i c h h e ~ t hat, wohl aber eine genau und individuel! n u a n c i e r ~ e Idee demokratlscher Ind1vidualitat.71 Hieraus kann viel fr die Theorie und tr das Verstehen der Demo-ki-atie crewonnen werden. Doch ob iell den immer 110ch u n v o r s t e l l ~ a r e n undtatsachlich stillschweigend weitergehenden Krieg im Irak w i ~ a ~ c h 111 Afgh.anistan untersttze oder kritisiere oder ob ich Anteilnehme (wle 1ch unbestrel.tbar _ wenn auch urltiicr - tatsachlich tue) an der Tragdie in Darfur o d e ~ ' 111Tibet oder in den v i c l e ~ , wcniger stark publizistisch priisenten oder wemger

    .\Lmin Heidegger, L8,. Babette Babich: \V())"ds in B{oocl, l lke Flo;.;'ers, 166 \L Heidegger-Jahrbuch 5

    http:///reader/full/vidualitat.71http:///reader/full/vidualitat.71
  • 8/8/2019 Nietzsche: Heideggers Widerstand

    18/19

    Babette Babich414

    wahrgenommenen Mord- und Volkermordkatastrophen, an all den Komplexitaten jener Geschichten, von denen die Bewohner der westlichen Welt (womitich uns Europaer und Amerikaner meine und jene, die wie wir denken) gar nichtwissen konnen, wle sorgsam sie die Weltnachrichten auch verfolgen mogen (hiersind wir wieder bei Nietzsches Protes t gegen die Zeitungen - heute: das Fernsehen oder das Internet), ich verfehle schon die reinen Tatsachen.

    Dabei spreche ich noch in nicht gengendem MaRe (und was ware denngengend?) von der monstrosen Grausamkeit gegenber Tieren, die offen undin auffalliger Weise durch unsere Methoden fabrikmaRiger Landwirtschaft fortgesetzt wird - was Heidegger nur allzu schlicht die "Fabrikation von Leichen"nannte. 72 Was fr eine Vorstellung haben wir denn, was in den so genannten"Fleischfabriken" vor sich geht? Die Zahlen gehen in die Dutzende, Hunderte,Tausende, ja Millionen pro Stunde, wenn wir die Tiere, die im Dienst der Wissenschaft "geopfert" werden, mit in Rechnung stellen. Und dann gibt es denFang von Fischen so vieler ungezahlter Arten, dass es einem schwindelt. Oderdenken wir an die Angriffe gegen die Erde selbst.Rettet das, was ich sage oder hier schreibe, irgendein Leben? Kann es dasberhaupt? Kann es die Ausrichtung der amerikanischen Augenpolitik beeinflussen? Oder die Praxis in den Schlachthausern, Totungsfabriken oder Forschungslaboratorien der Universitaten? Dies ist nur ein akademischer Artikel,wird man sagen. Und man wird damit recht haben. Was aber, wenn der Herausgeber einer grog en Zeitung verrckt wrde und mich einladen wrde (es bestehtkeine Gefahr, dass dies eintreten wird), fr die New York Times oder die Londoner Times, die Herald Tribune, Die Zeit oder Le .Monde einen Artikel zuschreiben, wrde dieser dann eine Rolle spielen? Bitte denken Sie daran, dassich nicht erwarte, in irgendeiner anderen Weise zu schreiben ais hier, denn ichbeanspruche nicht, Nietzsche zu sein. Und doch muss ich angesichts der Evidenz, die wir haben, sagen, dass ich nicht sicher bin, dass Nietzsche, der Meisterder Rhetorik und des St ils, der er war, hinsichtlich diesel' Probleme es bessel'ltte machen konnen.

    Gibt es hier, kann es hier \'Viderstand geben? Was sollte in ciner Zeit wie derunseren getan werden? Heidegger versagte, wenn er meinte, dem Nationalsozialismus Widerstand zu leisten, indem er Nietzsche zu lesen lehrte, ein Versagcn,insbesondere da Heidegger den Ansatz seiner Kritik verdarb, indem cr es ver

    - Von wekhen Lelchell ist hier die Rcde' Von l1lcnschlichcn un d nul' von mcnschlichen? Wassind Fleischschwarten von Rindcrn oder Schweinen im Konrext de r tcchnisicrten Landwirtschah anderes, wcnn nicht LeichlM!11e. die aIs solcbc(abnkm,l(?lg vcrarbeitet werden? Selbst inde r cnglischen Sprache lst dieser Gebrauch versndlich, wesh"lb C : ; e o q ~ e BernMd Shaw scinenVegcrarismus 50 crkhne: "lch mchte aus meillcm t\hgen nicht ein Gr,lb tu r tore Tiere mac h ~ n _ " Vgl. hier auch Charles P,ltterSOll, Ftir die 71ere Is t - heu/mk.,_ ber die Ur

    des mclustntl/isierten Tterl5, Frankfurt am rvhin .:!OCH; Siegfried Giedion, Die Herr-Eill / . In { / ) l I ) l Iymol Geschichte. Fr.lnkfun am 0.hin 1987.

    HeideggerJahrbuch 5

    http:///reader/full/nannte.72http:///reader/full/nannte.72http:///reader/full/nannte.72
  • 8/8/2019 Nietzsche: Heideggers Widerstand

    19/19

    415Nietzsche: Heideggers Widerstand

    saumte, etwa seine Kritik der \X1issenschaft und der Technik angemessen zu er-klaren, ebenso wie ich selbst meine eigene Argumentation verunreinigt habe,indem ich auch die Grausamkeit in ihren gedankenlosen, alltaglichen Formenunserer bis ins uBerste gehenden Empfindungslosigkeit angesichts des Todesund Leidens der Tiere dieser Erde er lautert habe. Aber was das Wichtigste vonallem ist: Alles das, was in unsere Sorge f:illt, ist zu viel, um darber nachzuden-ken. Und genau deshalb tun wir es nicheWas hatte Heidegger tun sollen? Was hatte er tun kannen? Was mssen wrtun?

    5

    ~ - , - - ~ - ----------------