Nikolai Lücker - Die schwarze Lok

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1 Papierfresserchens MTM-Verlag

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Leseprobe: Nikolai Lücker: Die schwarze Lok, ISBN: 978-3-86196-134-5, Taschenbuch, 212 Seiten. Klappentext: Wo ist Laura? Das fragen sich Marc und Anton, die sich schon auf endlos langweilige Ferien eingestellt hatten. Doch dann passieren merkwürdige Dinge: Die kleine Laura verschwindet spurlos. Ein Arbeiter verunglückt in der nahen Fabrik. Und das alles genau ein Jahr nach dem tödlichen Unfall von Herrn Koslowski, den niemand so richtig erklären kann. Marc und Anton suchen mit den Kindern aus der Siedlung nach Laura und einer Antwort auf die vielen Rätsel. Bei ihren Erkundungen entdecken sie eine große schwarze Lok auf dem Bahndamm. Und genau dort begegnen die Freunde einem sehr unheimlichen Unsichtbaren ... Zwischendurch verliebt sich Anton in die schöne Nina und das ist mindestens genauso schwierig, wie das Geheimnis um die schwarze Lok zu lüften.

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Illustration Cover: Dirk SpeicherInnenillustrationen: Stefanie Veith

1. Auflage 2012ISBN: 978-3-86196-134-5

Lektorat: Sandy PennerSatz: Alexandra Oswald

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.

Copyright (©) 2012 by Papierfresserchens MTM-Verlag Heimholzer Str. 2, 88138 Sigmarszell, Deutschland

www.papierfresserchen.de [email protected]

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Die schwarze Lok

Nikolai LückerEin Jugendroman von

Nikolai Lücker

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Für meine Söhne

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Die Siedlung

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19. Juni, Montag, 11:00 Uhr, Beginn der Sommerferien

„Glaubst du, hier sieht uns einer?“„Ausgeschlossen.“Marc rupfte ein paar Grashalme aus, warf sie in die

schwüle Luft. „Und Frau Schwarz?“ Ich stopfte mir ein paar Fritten in

den Mund und kaute hastig. Mann, waren die heiß!„Die? Die kann ein paar abhaben.“Marc grinste und ließ dabei genüsslich eine lange Pom-

mes mit viel Mayonnaise in seinem Mund verschwinden.Wir saßen nebeneinander, die Beine ausgestreckt, an

die kühle Hauswand gelehnt und aßen Pommes frites aus Papiertüten. Unsere Mütter hatten uns strengstens verbo-ten, vor dem Mittag etwas zu essen. Aber als der Hähn-chen-Wagen an der Karl-Straße hielt und klingelte, waren wir nicht mehr zu halten. Das Frühstück war auch schon etwas her.

Marcs rechter Unterarm steckte unter seinem hell-grünen T-Shirt, meiner in einem schon leicht angegrauten Gips. Ich hatte mir den Arm gebrochen. Beim Klettern war ich von der Eiche gefallen, nicht zum ersten Mal. Dieses Mal hatte es eben gekracht. Blöderweise war es am vor-letzten Schultag passiert, eine Woche nach meinem zwölf-ten Geburtstag. Der Arzt im Krankenhaus sagte, der Gips müsse mindestens sechs Wochen dranbleiben. Schöner Mist. Während der Schulzeit hätte ich als Rechtshänder sogar Vorteile gehabt: keine Klassenarbeiten, keine Haus-aufgaben und so weiter. Aber in den Sommerferien war ein Gips einfach nur lästig.

Marc kaute mit offenem Mund. Seine Finger waren mit Salz und Mayo beschmiert.

„Was macht denn deine Familie in den Ferien?“„Balkonien“, erwiderte ich.

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Marc nickte. „Bei uns ist auch kein Urlaub drin. Mutter arbeitet mal wieder.“

„Mit dem Gips hätte ich sowieso keinen Spaß gehabt, egal wohin wir gefahren wären.“

Ich warf eine verbrannte Fritte weg. Mir war schlecht. „Da kann ich auch hier bleiben.“Marc schleuderte wieder Grashalme in die Luft.„Und was sollen wir den ganzen Tag machen? Immer

ins Schwimmbad ist auch doof.“Da hatte er recht. Wie sollten wir sechs Wochen her-

umkriegen?„Am einfachsten wäre es, wenn wir uns wegbeamen

könnten, so wie bei Raumschiff Enterprise“, sagte ich.„Ich weiß was Besseres“, erwiderte Marc. „Ich würde

mich nicht wegbeamen, sondern alle möglichen Leute her-beamen.“

„So? Wen denn?“ „Als Erstes ein paar hübsche Sängerinnen aus dem

Fernsehen“, sagte er. „Warte mal, wen nehmen wir denn da?“

Wir überlegten angestrengt.„Ich wäre für Madonna“, sagte ich.„Die?“, spottete Marc. „Die ist doch viel zu schräg. Ag-

neta von Abba, die wär schon eher meine Kragenweite.“„Diese Ziege? Vergiss es.“ Ich machte eine wegwerfen-

de Handbewegung. Wir schwiegen. Marc mochte es nicht, wenn man seine

Lieblingssängerin beleidigte. Dann sagte er: „Wir könnten aufs Gerüst klettern und

uns sonnen.“„Tolle Idee“, antwortete ich und klopfte auf meinen

Gips. „Meine Mutter bekommt einen Herzinfarkt.“„Wie lange sollen die eigentlich noch an den Häusern

bleiben?“

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„Bis alle Blöcke fertig gestrichen sind. Mit dieser schö-nen Farbe.“

„Ich mag gelb auch nicht.“„Mein Vater sagt immer, die Aktienbaugesellschaft

wirft das Geld eben nicht zum Fenster heraus.“„Wer macht das schon?“ Marc warf müde einen Dreck-

klumpen nach einer Elster. Sie flog davon, als der Klumpen noch in der Luft war.

Von der anderen Hausseite hörte ich das Rufen der Arbeiter auf den Gerüsten. Alle Häuser in der Siedlung wurden gestrichen. Fünf große Blocks. Ich hatte die Arbei-ter in den letzten Tagen beobachtet. Die meisten waren Polen oder Italiener. Sie waren tätowiert und hatten ber-geweise Muskeln. Sie tranken schon morgens Bier und am Nachmittag torkelten sie über das Gerüst. Einmal ist einer heruntergefallen, aber gleich wieder aufgestanden und hat weiter gearbeitet. Am nächsten Tag fehlte er dann doch. Wahrscheinlich war auch sein Arm gebrochen.

Wenn sie über das Gerüst liefen, klapperten die Eisen-stangen so laut, als würde jemand dagegen schlagen. Man könnte dann meinen, die Glocken läuteten. Ich stieß Marc an, aber der war in Gedanken versunken. Vögel zwitscher-ten. Hin und wieder fuhr auf der Eisenstraße ein Auto vor-bei. Außerdem konnte ich noch Kinderstimmen vom Spiel-platz her vernehmen. Alle paar Minuten krachte auf dem Bahndamm Metallschrott in die Güterwagen.

Der Bahndamm lag auf der anderen Seite der Eisenstra-ße. Ich hatte mir das Spektakel schon Dutzende Male an-geschaut: Ein großer Magnetbagger schwenkte zwischen den Schrotthalden. Er ließ seinen Magneten hinabstürzen und zog ihn anschließend wieder hoch. Dann klebten Hei-zungen, Fahrräder und jede Menge Kleinzeug an dem Ma-gneten. Er schwenkte wieder herum und das Zeug rauschte in die Güterwaggons. Es klang, als würde eine riesige Welle

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auf Klippen stürzen. Die Güterwagen brachten den Schrott dann zum Stahlwerk. Dort wurde das Metall eingeschmol-zen und zu allem möglichen Kram verarbeitet.

In der Hauptsache fabrizierte man dort Eisenbahn-schienen. Mein Vater und fast alle übrigen Männer aus der Siedlung arbeiteten im Stahlwerk. Seit einigen Monaten wurden kurze Schichten gefahren und sogar Leute entlas-sen. Die Arbeit wurde von Tag zu Tag härter, sagte mein Vater.

Vom Stahlwerk war hier aber nichts zu hören. Was man jedoch hörte, war ein Güterzug, der auf dem hinteren Gleis vorüberfuhr.

Plötzlich legte Marc einen Finger an die Lippen. Er horchte angestrengt. Ich ließ vorsorglich die Pommestüten verschwinden. Dann hörte auch ich einen lang gezogenen Schrei. Nein, es war kein Schrei. Jemand rief. Wir blickten uns an. Da! Dieses Mal verstand ich einen Namen. Ganz deutlich: „Laura! Laura!“

Frau Biermann rief ihre kleine Tochter. Ich hielt den Atem an. Etwas in der Stimme der Mutter beunruhigte mich. Nach drei weiteren Rufen stand Marc auf. Ich folgte ihm.

Wir liefen über die Wiese zur Vorderseite meines Häu-serblocks, vorbei an dem Vogelbeerbusch, aus dem es nach toten Tieren stank, dann über die Steinplatten, die mit bunter Kreide bemalt waren. Die langen Stufen an der Kopfseite des Häuserblocks sprangen wir hoch, jede Stufe mit einem Schritt. Schließlich hüpften wir mit einem ge-konnten Satz über den Jägerzaun.

Vor uns lag in der grellen Mittagssonne die Grünstraße – meine Straße. Sie war eine Spielstraße, hier fuhren nur Anwohner durch, und zwar im Schritttempo.

Plötzlich fiel mir die Stille auf. Die Gerüste waren leer. Offenbar machten die Arbeiter Mittag. Dann fuhren sie im-

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mer zum City-Grill in den Ort. Wir schlurften über die Stra-ße nach rechts. Die Pausen zwischen den Rufen wurden kürzer. Auf dem Spielplatz in der Mitte unserer Siedlung spielten schweigend ein paar Nachbarskinder. Als sie uns bemerkten, unterbrachen sie ihr Spiel und betrachteten uns neugierig. Natürlich erwiderten wir ihre Blicke nicht, schließlich waren das Kinder. Der Jüngste, Olaf, war neun Jahre alt, Robert und Michael gerade mal in der dritten Klasse. Wir beachteten sie nicht weiter und folgten der Stimme, die verzweifelt nach Laura rief.