Nils Ole Oermann Albert Schweitzer 1875-1965 Eine ... · Albert Schweitzer beanspruchten beide...

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367 Seiten, Paperback ISBN: 978-3-406-64439-9 Weitere Informationen finden Sie hier: http://www.chbeck.de/11209843 Unverkäufliche Leseprobe © Verlag C.H.Beck oHG, München Nils Ole Oermann Albert Schweitzer 1875-1965 Eine Biographie

Transcript of Nils Ole Oermann Albert Schweitzer 1875-1965 Eine ... · Albert Schweitzer beanspruchten beide...

  • 367 Seiten, Paperback ISBN: 978-3-406-64439-9

    Weitere Informationen finden Sie hier: http://www.chbeck.de/11209843

    Unverkäufliche Leseprobe

    © Verlag C.H.Beck oHG, München

    Nils Ole Oermann Albert Schweitzer 1875-1965 Eine Biographie

    PentenriederTextfeld

    PentenriederTextfeld© Verlag C.H.Beck oHG, München

  • Wer glaubt, ein Christ zu sein,weil er die Kirche besucht, irrtsich. Man wird ja auch kein Auto,wenn man in einer Garage steht.

    Albert Schweitzer

    1 Sinn für das FeierlicheVom Pfarrhaus zur Theologie

    (1875–1905)

    Der Elsässer PfarrerssohnSinn für das FeierlicheDer Elsässer Pfarrerssohn

    Gunnar Jahn, der Vorsitzende des Nobelkomitees, widmete sich inseiner Würdigung des Friedensnobelpreisträgers des Jahres 1952ausführlich der Kindheit und Jugend des Laureaten, denn erglaubte, «dass diese sein ganzes späteres Werk erklären».1 Jahnmeinte damit nicht nur, dass Albert Schweitzers Liebe zur Orgel,zur Theologie, zur Medizin oder zu Afrika in Günsbach im Elsassihre Wurzeln hatte, sondern vor allem, dass Schweitzers Charakterund seine leidenschaftliche Suche nach gelebter Erkenntnis undWahrheit durch die Erfahrungen seiner Jugendzeit entscheidendgeformt wurden. Wer Albert Schweitzer verstehen will, muss sichmit seinem familiären Umfeld und seiner geographischen Her-kunft genauer beschäftigen. Denn Schweitzer, der den größten Teilseines Lebens fern von Europa verbrachte, blieb doch zeitlebens mitseiner elsässischen Heimat aufs Engste verbunden.

    Ludwig Philipp Albert Schweitzer wurde am 14. Januar 1875 alsSohn des Kaysersberger Pfarrers Louis Schweitzer und seiner FrauAdele, geb. Schillinger, im Elsass geboren. Im väterlichen Stamm-

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    baum finden sich zahlreiche Schulmeister und Pfarrer, mütter-licherseits überwiegen die Pfarrer. Den Rufnamen Albert ver-dankte der Junge dem 1872 verstorbenen Bruder seiner Mutter, Al-bert Schillinger, der, wie später auch Albert Schweitzer, an derKirche St. Nicolai zu Straßburg als Prediger tätig war. SchweitzersHeimat, das Elsass, war zusammen mit Lothringen ein politischerKonfliktherd zwischen dem Deutschen Reich und Frankreich. Eswurde nach dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 demDeutschen Reich zugeschlagen und blieb bis zum Ende des ErstenWeltkriegs Teil Deutschlands. Noch im Juli 1875 übernahmSchweitzers Vater kurz nach der Geburt des Sohnes eine Diaspora-pfarrstelle in Günsbach im Münstertal, wo er bis zu seinem Tod imJahre 1925 bleiben sollte. Schweitzer war zwar gebürtiger Kaysers-berger, aber in seinen Kindheitserinnerungen vor allem Güns-bacher, später als Student Straßburger und stets eines: ein Alsate.

    1880 wurde AlbertSchweitzer einge-schult.

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    Bis heute feiern Deutsche wie Franzosen den berühmten Elsässerals einen der Ihren. Bei der Verleihung des Friedensnobelpreises anAlbert Schweitzer beanspruchten beide Länder den großen Sohnfür sich:

    Als dem «deutschen Gelehrten» 1953 der Friedens-Nobelpreis zuer-kannt wurde, protestierte Frankreich, das ihn im Ersten Weltkrieginterniert gehalten hatte, in Stockholm [richtig: Oslo]: Schweitzersei Franzose. Der Urwalddoktor selbst zur Frage der Neutralität:Homo sum (Ich bin ein Mensch).2

    Völkerrechtlich wurde Schweitzer als Bürger des Deutschen Reichsgeboren und war im Besitz eines deutschen Passes. 1920 wurde ermit dem Vertrag von Versailles als Elsässer französischer Staatsbür-ger. Aber wie fühlte er sich selbst – als Deutscher oder als Franzose?Welche Rolle spielten politische Fragen im oberelsässischen Pfarr-haus seines Vaters Louis? Schweitzer wurde wie so viele andere

    Das elterliche Pfarrhaus in Günsbach um 1890.

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    Elsässer und Lothringer als «Zufallsdeutscher» geboren und fühltesich auch so.3 Er wurde nicht in einem «nationalen Geist» im enge-ren patriotischen Sinne erzogen. Seine Familie galt politisch alsfrankophil und stand theologisch den liberalen Lutheranern nahe.Nach dem Krieg von 1870/71 waren die Schweitzers in ihrer Mehr-zahl «politisch nach Paris hin orientiert».4 So hatte sich seine engsteFamilie 1871 einstimmig gegen die deutsche Annektierung des El-sass ausgesprochen, und die beiden Brüder von Louis Schweitzer,Auguste und Charles, der Großvater von Jean-Paul Sartre, entschie-den sich bewusst dafür, fortan in Paris zu leben, während das Ver-hältnis von Louis Schweitzer gegenüber den neuen deutschenImmigranten als «recht kühl» beschrieben wird.5 Wie bei vielenElsässern ist die Sprache immer auch ein wichtiger politischer Fak-tor. So wurden die Briefe innerhalb der Familie, auch von Albert,auf Französisch geschrieben, während man im Günsbacher Pfarr-haus den typischen Elsässer Dialekt sprach, den der mit einer rechthohen, fast singenden Stimme parlierende Schweitzer auch in Lam-barene nicht ablegen sollte. So wuchs er, wie so viele Elsässer, zwei-sprachig auf. Das Deutsche betrachtete er jedoch als seine Mutter-

    Die Familie Schweitzer 1888: Louise, Albert und Adele (stehend v. l. n. r.)sowie Marguerite, Paul und die Eltern (sitzend).

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    sprache.6 Sowohl in der Schule wie auch später an der Universitätwar Schweitzers Unterrichtssprache Deutsch.

    Dass es überhaupt zur Einschulung des jungen Albert in dieGünsbacher Volksschule im Jahr 1880 kommen würde, war bei sei-ner Geburt alles andere als sicher, denn der später gesundheitlich sorobuste Schweitzer wurde untergewichtig und kränklich geboren.Im Dorf hieß es: «Das Bueble isch die erschte Beerdigung, wo derneue Pfarrer halten wird.»7 Doch Albert erholte sich wider Erwar-ten rasch. Die gewonnene körperliche Kraft war es dann auch, dieihn als Kind mit dem Wesen ethischer Konflikte bekannt machte.Nach einem gewonnenen Ringkampf mit seinem SchulkameradenGregor Nitschelm erinnerte sich Schweitzer noch Jahrzehnte späterin seinen Memoiren Aus meiner Kindheit und Jugendzeit an dessenvorwurfsvolle Worte: «Ja, wenn ich alle Woche zweimal Fleisch-suppe zu essen bekäme wie du, da wäre ich auch so stark wie du!»Die in diesem Satz steckende Kritik an den standesgemäßen An-nehmlichkeiten, die mit seiner Herkunft verbunden waren, nahmsich der heranwachsende Schweitzer zu Herzen: «Die Fleischsuppewurde mir zum Ekel. Sowie sie auf dem Tisch dampfte, hörte ichGeorg Nitschelms Stimme.»8 Was Schweitzer in besonderem Maßestörte, war, dass er von seinen Kameraden als «Herrenbüble» wahr-genommen wurde.9 Der daraus resultierende Drang, sich den ande-ren Kindern anzupassen, sollte ihn in weitere moralische Dilem-mata führen. So berichtete Schweitzer, dass er mit einem anderenSchulkameraden, Heinrich Bräsch, Steinschleudern baute, um da-mit im Rebberg bei Günsbach auf Vögel zu schießen. Doch als esfür den achtjährigen Mitläufer zum Schwur kommen sollte und Al-bert von Heinrich zum Schuss aufgefordert wurde, da läuteten imDorf die Kirchenglocken:

    Ich tat die Schleuder weg, scheuchte die Vögel auf, daß sie wegflo-gen und vor der Schleuder meines Begleiters sicher waren, und flohnach Hause. Und immer wieder, wenn die Glocken der Passionszeitin Sonnenschein und kahle Bäume hinausklingen, denke ich ergrif-fen und dankbar daran, wie sie mir damals das Gebot «Du sollstnicht töten» ins Herz geläutet haben.10

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    Hier deutet sich das von Schweitzer formulierte Prinzip der «Ehr-furcht vor dem Leben» an, und hier liegen auch die Anfänge einerTierliebe, die Schweitzer später zum Eigentümer eines Wildtierzoosin Lambarene machte und die gleichzeitig zum Spott über den «Re-genwurmretter» führte. Er duldete auf seinem Schreibtisch inLambarene den täglichen Durchzug einer Ameisenstraße und för-derte ihn sogar noch durch die Bereitstellung eines Zuckerbreis.

    Neben ethischen Fragen wurde auch die Musik prägend fürSchweitzers Jugendzeit. Sein Großvater Johann Jakob Schillingeraus Mühlbach war ein bekannter Orgelbauer, und drei seiner On-kel waren Organisten, so dass Albert schon als Fünfjähriger vonseinem Vater auf dem Tafelklavier von Großvater Schillinger un-terrichtet wurde, bereits mit acht Jahren mit der Orgel vertrautgemacht wurde und im Alter von neun Jahren den GünsbacherOrganisten im Gottesdienst vertrat.11 Sein Musiklehrer und Orgel-meister war der von der Berliner Hochschule für Musik an diereformierte Stephanskirche zu Mülhausen gewechselte EugenMünch. Dieser bildete ihn so gut an einer Orgel mit drei Manu-alen und 62 Registern aus, dass der sechzehnjährige Schüler denLehrer bereits nach einem Jahr im Gottesdienst vertreten durfte.Doch was auf den ersten Blick wie die Begabung eines Natur-talents aussah, entpuppte sich bei näherem Hinsehen als harte Ar-beit mit vielen Rückschlägen. Eugen Münch stellte seinem neuenSchüler anfangs Aufgaben, die dieser aus Sicht des Lehrers nurunzureichend und hölzern erfüllte: «Wenn einer halt kein Gefühlhat, so kann ich ihm auch keines geben.»12 Das war nach einer nurunzureichend geübten Mozartsonate das so harte wie verfrühteUrteil seines Orgellehrers, das Schweitzer dazu bewegte, Münchbeim nächsten Mal mit Felix Mendelssohn Bartholdys «Lied ohneWorte» in E-Dur das Gegenteil zu beweisen – mit Erfolg:

    Mein Lehrer sagte nicht viel, sondern schlug mir nur fest auf dieSchulter und spielte mir selber ein neues Lied ohne Worte vor.Dann bekam ich ein Stück von Beethoven auf. Nach einigen Stun-den wurde ich würdig befunden, mit Bach anfangen zu dürfen.Und wieder einige Stunden später wurde mir eröffnet, nach meinerKonfirmation dürfte ich auf der großen schönen Orgel der Ste-

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    phanskirche Orgelunterricht nehmen. Damit ging ein im stillengehegter Traum in Erfüllung.13

    Schweitzers Lehrer Münch wusste, wie man junge Menschen moti-viert, und Schweitzer sollte aus dieser Episode lernen, dass dieeigene Motivation keine hinreichende, wohl aber eine notwendigeBedingung persönlicher Erfolgserlebnisse ist. Wie sehr er seinenLehrer verehrte, wird daran deutlich, dass er seine erste Publika-tion Münch widmete.14 So war es auch Münch, der ihn mit seinerLiebe zu Bach ein Leben lang prägte und der ihn schwanken ließ,ob die Theologie oder die Musik seine Profession werden sollte.Doch auch nach der Entscheidung für die Theologie hielt AlbertSchweitzer der Orgel die Treue und ging 1893 bei seinem späterenMeisterlehrer Charles-Marie Widor in Paris in die Lehre.

    Nicht nur die Liebe zur Orgel, sondern auch die Wurzeln vonSchweitzers liberaler Theologie wurden im elterlichen Pfarrhausvorgezeichnet. Der aus der Kaysersberger Diaspora nach Günsbachim Münstertal entsandte Pfarrer Louis Schweitzer war mehr als eindurchschnittlich gebildeter und halbwegs musikalischer Dorfgeist-licher. Schon Schweitzers Großvater Johann Jakob Schillinger warein «Eiferer für Aufklärung» gewesen.15 Wie später Albert Schweit-zer hatte auch sein Vater Louis seine theologische Ausbildung inStraßburg absolviert. In diesem Klima eines theologisch liberalen,dem Rationalismus verpflichteten lutherischen Pfarrhauses wurdeAlbert Schweitzer theologisch wie kulturell geprägt. Er hatte schonfrüh Fragen zu biblischen Geschichten, von denen er im Kinder-gottesdienst und Konfirmandenunterricht gehört hatte: Wie, sowollte der Achtjährige wissen, war es möglich, dass Jesu Eltern alsarm galten, obwohl sie doch von den Weisen aus dem Morgenlandso reichlich beschenkt worden waren? Und wieso wurden aus denHirten, die doch die Geburt des Heilandes selbst gesehen hatten,nicht die ersten Jünger? Fragen wie diese hätten bei vielen vonLouis Schweitzers Amtsbrüdern von vornherein keinen Platz ge-habt. Albert aber durfte sie stellen, und ebensolchen Fragen sollteer sein Leben lang nachgehen können. Er lernte, den Mut aufzu-bringen, die scheinbar banalen, elementaren Fragen immer wieder

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    neu zu stellen und einzukalkulieren, dass der, der Fragen stellt,auch mit unbequemen Antworten rechnen muss. Nach einem reg-nerischen Sommer bemerkte Albert gegenüber seinem Vater, dasses doch jetzt fast vierzig Tage geregnet hätte, dass aber von einerSintflut in Günsbach nichts zu bemerken sei. Der Vater erklärtedem kaum siebenjährigen Rationalisten, dass es zu Zeiten Noahsmit viel dickeren Tropfen «aus Kübeln» geschüttet hätte. Dasleuchtete Albert zunächst ein. Als seine Lehrerin aber erneut dieGeschichte von der Sintflut erzählte, ohne die dicken Tropfen zuerwähnen, bemerkte der aufgeweckte Schüler: «Fräulein Lehre-rin […] du mußt die Geschichte auch richtig erzählen. […] Du mußtsagen, daß es damals nicht in Tropfen regnete, sondern wie wennman Wasser aus Kübeln ausschüttet.»16

    Schweitzers spätere Skepsis gegenüber «unbestreitbarer» kirch-licher Lehre und Dogmatik hatte ihre Wurzeln im GünsbacherPfarrhaus, in dem Louis Schweitzer das kritische Denken seinesSohnes zuließ. Das war alles andere als selbstverständlich. Von sei-nem Konfirmandenunterricht beim alten Pfarrer Wennagel berich-tete Schweitzer:

    In einem Punkte, dies fühlte ich klar, dachte ich anders als er, beialler Verehrung, die ich ihm entgegenbrachte. Er wollte uns be-greiflich machen, daß vor dem Glauben alles Nachdenken verstum-men müsse. Ich aber war überzeugt, und ich bin es noch, daß dieWahrheit der Grundgedanken des Christentums sich gerade imNachdenken zu bewähren habe.17

    Bereits zu diesem Zeitpunkt waren durch Schweitzers religiöse Er-ziehung im Elternhaus die Grundlagen für sein späteres Interesseam historischen Jesus gelegt. Schweitzer machte im Rückblick zweiSeiten seines kindlichen und jugendlichen Charakters aus. Zumeinen beschrieb er sich als «verträumt»,18 als einen introvertierten«Lesewütigen», der für sein junges Alter ethisch äußerst reflektiert,ja sensibel war, was bereits an der Episode von der Vogeljagd imRebberg deutlich wird. Andererseits erkannte Schweitzer an sichselbst eine Seite, die so gar nicht zum gelehrten Universalgenie undzum Bild des stets freundlichen und geduldigen Urwalddoktors

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    passen will. So räumte er in seiner Autobiographie ein, dass er beialler Verschlossenheit leidenschaftlich, mitunter gar jähzornig seinkönne. Diese Eigenschaft habe er von seiner Mutter geerbt, und soerklären sich bei all seiner Schüchternheit auch zahlreiche Raufe-reien. Diese Impulsivität war mehr als ein kindliches Aufbrausenund belastete Schweitzer. Von einem Kartenspiel mit seiner Schwes-ter erzählte er:

    Mit neun oder zehn Jahren schlug ich einst meine Schwester Adele,weil sie in einem Spiele eine lässige Gegnerin war und mir durchihre Gleichgültigkeit einen leichten Sieg zukommen ließ. Von jenerZeit an bekam ich Angst vor meiner Spielleidenschaft und gab nachund nach alles Spielen auf. […] Sehr schwer habe ich gegen Jähzornanzukämpfen gehabt.19

    Auch aus der Zeit im Thomasstift in Straßburg berichteten Ohren-zeugen von lautstarken Unmutsäußerungen Schweitzers.20 In Lam-barene konnte er vor allem dann ungehalten werden, wenn nicht sogearbeitet wurde, wie er sich dies vorstellte. So wurde der alteSchweitzer mit der hohen, ruhigen Stimmlage von Besuchern wiedem Spiegel-Redakteur Claus Jacobi als robust und zuweilen her-risch beschrieben, wenn er mit seinen afrikanischen Arbeitern un-zufrieden war. Schweitzer war sich dieses Charakterzuges schonfrüh bewusst und bemühte sich zeitlebens, ihm entgegenzuwirken.Dies tat er offenbar mit Erfolg, denn trotz mancher Ohrfeige ist vonhärterer körperlicher Gewalt in Lambarene nichts bekannt. So er-scheint auch der Abschluss der Jugenderinnerungen Schweitzersmit dem Jesuswort aus der Bergpredigt «Selig sind die Sanftmüti-gen» glatter, als es der Charakter Schweitzers wohl tatsächlich war.Dieser konnte sanftmütig sein, aber eben auch das Gegenteil.

    Schul- und JugendzeitSchul- und Jugendzeit

    1880 wurde Albert Schweitzer in Günsbach eingeschult. Lesen undSchreiben zu lernen bereitete ihm nicht unerhebliche Mühe.21 Zu-dem war Schweitzer kein Stubenhocker. Er wollte im Dorf dazuge-

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    hören und von der Dorfjugend akzeptiert werden. Als er sich wei-gerte, Fingerhandschuhe statt Fäustlinge und Lederschuhe stattder in weniger begüterten Haushalten üblichen Holzschuhe zu tra-gen, ohrfeigte ihn sein Vater dafür. Louis Schweitzer sperrte ihngar in den Keller, als sich Albert weigerte, einen neuen Mantelanzuziehen, damit ihn seine Kameraden nicht für dünkelhaft hiel-ten.22 Da dieser Versuch aber erfolglos blieb, passte er sich im El-ternhaus äußerlich an und aß die verhasste Fleischsuppe, währender sich draußen den Erwartungen der Spielkameraden stellte, aller-dings nur so weit, wie ihn dies nicht nötigte, die eigene rote Liniezu überschreiten – wie etwa an jenem Morgen beim Vogelschießenam Rebberg.

    Schweitzer war gegenüber seinen Mitmenschen sehr sensibel. Alser an einem Hochzeitsgottesdienst teilnahm, den sein Vater als Pfar-rer hielt,23 sah er eine junge körperlich behinderte Frau. In scheinba-rer Naivität fragte Schweitzer, ob das die Braut sei. Der so Fragendewurde nur belächelt, denn wer außer einem Kind käme schon auf dieabsurde Idee, ein behindertes Mädchen zu heiraten. Nach diesemVorfall beschloss Albert, dieses Mädchen schon deshalb zu heiraten,weil die Welt sie nicht für voll nahm, ohne überhaupt nach den cha-rakterlichen Zügen und dem Liebenswerten an diesem Mädchen zufragen. Was aber zunächst wie eine jener schwärmerisch-weltfrem-den Absichtserklärungen erscheint, die Kinder zuweilen von sich ge-ben, klang beim jungen Albert anders. Der Wunsch, anders zu seinals die Welt, der Impuls, etwas tun und ändern zu wollen, sollte spä-ter immer wieder für seinen Lebensweg prägend sein. Sein Motivdafür, dieses Mädchen heiraten zu wollen, war ja nicht ihre Behinde-rung, sondern die Zurückweisung als «Krüppel», die Schweitzer be-merkte und die ihm ausgerechnet in einer Kirche als einem Ort auf-fiel, an dem er dies nicht vermutet hätte.

    Allerdings war Schweitzer selbst keineswegs immer ein coura-gierter Schüler. So erzählte er in seiner Autobiographie vom JudenMausche aus dem Nachbardorf, einem Viehhändler, auf den es dieJungen in Günsbach abgesehen hatten, und das allein deshalb, weiles in ihrem Dorf keine Juden gab. Als nun jener Mausche einesTages mit seiner Eselskarre den Fluss Ferch überschritt, wurde er

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    wie so oft von einer johlenden Meute Kinder verfolgt. Schweitzerschloss sich den Dorfkindern an und bewunderte sogar die «Muti-gen», die aus ihren Jacken Schweineohren falteten und Mauschedamit direkt vor seinem Gesicht zuwedelten. Aber gleichzeitig be-obachtete und bewertete er das Geschehen aus kritischer Distanz:

    So verfolgten wir ihn vors Dorf hinaus bis an die Brücke. Mauscheaber, mit seinen Sommersprossen und dem grauen Bart, ging so ge-lassen fürbaß wie sein Esel. Nur manchmal drehte er sich um undlächelte verlegen und gütig zu uns zurück. Dieses Lächeln überwäl-tigte mich. Von Mausche habe ich zum ersten Male gelernt, was esheißt, in Verfolgung stilleschweigen. Er ist ein großer Erzieher fürmich geworden. […] Es ging das Gerücht, er sei ein Wucherer undGüterzerstückler. Ich habe es nie nachgeprüft. Für mich ist er derMausche mit dem verzeihenden Lächeln geblieben, der mich nochheute zur Geduld zwingt, wo ich zürnen und toben möchte.24

    Ganz gleich, ob Schweitzer die Untaten an Mausche damals als sol-che erkannte oder erst später in seinen Kindheitserinnerungen sobewertete: Die meisten Erwachsenen hätten die Erniedrigungeines anderen Menschen wohl verschwiegen, während Schweitzerdieses Geschehen offen schilderte und daraus lernte. Aus der Scharseiner Klassenkameraden stach er auch äußerlich heraus. Wer einfrühes Klassenphoto aus Günsbacher Volksschulzeiten betrachtet,dem fällt sofort in der Mitte ein Junge mit ernstem Blick auf, derals Einziger einen großen, gestärkten weißen Kragen trägt – derPfarrerssohn als gehänseltes «Herrenbüble».25

    1884 wurde der Neunjährige auf die Realschule im nahe gelege-nen Münster umgeschult. Er war in dieser Zeit «schüchtern undverschlossen». Aus Unsicherheit kicherte er oft, was ihm nebenzahlreichen Klassenbucheinträgen den Spitznamen «Isaak» ein-brachte, was auf Hebräisch «er lacht» bedeutet.26 Zu dieser persön-lichen Unsicherheit und einer von seiner Mutter ererbten Scheu, dieeigenen Gefühle zu artikulieren, kamen nach dem nächsten Schul-wechsel auf das Gymnasium von Mülhausen im Jahre 1885 mit-telmäßige Schulleistungen. Finanziell war der PfarrersfamilieSchweitzer der Wechsel ihres Sohnes Albert aufs Gymnasium nurmöglich, weil sich der Halbbruder des Großvaters, der in Mülhau-

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    sen lebende kinderlose Louis Schweitzer, zusammen mit seinerFrau Sophie bereit erklärte, Albert kostenfrei bei sich wohnen zulassen. Als Direktor der Elementarschulen in Mülhausen legte erbeim örtlichen Gymnasium Fürsprache für seinen Großneffen ein –trotz nicht vorhandener erstklassiger Schulleistungen.27 Da auf derRealschule in Münster noch kein Latein unterrichtet wurde,brachte die Umschulung des Dorfjungen in die Quinta des Gymna-siums der Industriestadt Mülhausen Probleme mit sich. Schweitzerhatte Latein nachzulernen, und seine ersten Zeugnisse nährtenZweifel, ob das für ihn bezahlte Schulgeld gut investiert war. Nunwird auch Geistesgrößen wie Albert Einstein oder Politikern wieWinston Churchill nachgesagt, in der Schule eher negativ aufgefal-len zu sein, was ihre späteren Lebensleistungen umso strahlenderund ihre Lehrer umso ignoranter erscheinen lässt. Bei Schweitzer,der sich noch in der Quarta mit dem regulären Lehrstoff schwertat,liegt der Fall etwas komplizierter. Motiviert und gut vorbereitetwar Schweitzer bis in die Studienzeit nur bei Themen, die ihn be-sonders interessierten – wie etwa im Fach Geschichte, oder als ihnin seiner Studienzeit die Frage nach dem historischen Jesus um-trieb. Seine Leistungen in den akademischen Pflichtübungen vomHebraicum bis zum Pfarramtsexamen oder beim philosophischenRigorosum ließen ähnlich zu wünschen übrig wie bereits die Leis-tungen des Gymnasiasten Schweitzer. Er war alles andere als einMusterschüler. Es lag ihm nicht, stur das Pflichtcurriculum zu re-petieren. Abgesehen von einem «recht gut» in Geschichte erreichteer bei der Abschlussprüfung am 18. Juni 1893 nur ein «sehr mittel-mäßiges Reifezeugnis».28

    Durch Erzählungen unterhaltsamer Geschichten aus seinerSchulzeit überspielte er später sein zähes Ringen auf dem Gymna-sium in Mülhausen unter der strengen Beobachtung seines Groß-onkels. Am Tag des mündlichen Abiturs mussten die Kandidatenbeim Straßburger Oberschulrat Dr. Albrecht mit schwarzem Geh-rock und schwarzer Hose antreten. Schweitzer besaß zwar einenalten Gehrock, die Hose aber musste er sich von seinem kleinen,untersetzten Großonkel borgen. Damit die ganze Konstruktionnicht völlig abrutschte, musste er, so berichtete der Abiturient, die

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    Hosenträger mit seinen Schnürbändern verlängern, was aber dieenorme Divergenz zwischen Hosenbund und Weste auch nichtmehr korrigieren konnte und was bei den Anwesenden zu enormerHeiterkeit führte – mit Ausnahme des Prüfers Dr. Albrecht.Schweitzer konnte ihn im Griechischen mit seiner Übersetzung vonHomers Dichtung wenig beeindrucken, wohl aber im Fach Ge-

    Albert Schweitzer (links) 1892 als siebzehnjähriger Gymnasiast mitseinem Freund Matthieu.

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    schichte mit einer Darstellung der Unterschiede zwischen griechi-schen und römischen Kolonisten.

    Angesichts der damaligen hohen Abbrecherquoten auf deutschenGymnasien hätte Schweitzer unter etwas ungünstigeren Umstän-den wohl nie ein Abiturzeugnis erlangt. Die Angst zu scheiternwird für den Heranwachsenden eine wenig erfreuliche Erfahrunggewesen sein. Anfangs waren die Gymnasialzeugnisse so schlecht,dass der Schuldirektor Schweitzers Vater andeutete, dass es viel-leicht besser wäre, Albert vom Gymnasium zu nehmen.29 DieWende wurde nicht etwa durch einen anderen Lernstoff, sonderndurch einen wirklichen Pädagogen eingeleitet, der Schweitzer zuinspirieren vermochte. In der Quarta bekam Schweitzers Klasseeinen neuen Klassenlehrer, Dr. Wehmann, der sofort erkannte, dassdie emotionalen Hemmungen und das mangelnde Selbstbewusst-sein seines Schülers unmittelbar mit dessen Schulleistungen zu-sammenhingen.30 Nach nur drei Monaten hatte sich der QuartanerSchweitzer bereits zum Osterzeugnis um einige Klassenplätze ver-bessert. Dr. Wehmann vermittelte ihm etwas, was «keine Redenund keine Strafen ausrichten können». Noch während seiner Studien-zeit in Straßburg suchte er immer wieder seinen Lehrer auf, um jedoch bei einem Besuch nach seiner Rückkehr aus Afrika 1919 zuerfahren, dass sich der psychisch erkrankte Wehmann das Leben ge-nommen hatte. Diese Nachricht ging an dem zu dieser Zeit psychischwie physisch angegriffenen Schweitzer nicht spurlos vorüber.

    In den beiden letzten Klassen prägte Schweitzer ein zweiter Päda-goge: der Gymnasialdirektor und Althistoriker Wilhelm Deecke.Dieser habe ihm Platon und die antike Philosophie nahegebracht:«Er war für uns ein Stoiker im modernen Gewande.»31 Ein moderner,pflichtbewusster Stoiker – genauso sollte auch Schweitzer Jahrzehntespäter von vielen immer wieder beschrieben werden, wenn es darumging, Ziele zu verfolgen und zu erreichen. «Pflichtbewusstsein ler-nen» – das war etwas, was Schweitzer mit seiner Zeit in Mülhausenverband. Was Schweitzer und seinen Lehrer Deecke voneinander un-terschied, war die Mentalität des Elsässers und des Hanseaten: «Seineetwas steife Art – er war Lübecker – mutete uns anfangs zwar fremd-artig an. Aber wir gewöhnten uns bald daran.»32

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