Noam Chomsky - The Attack - Hintergruende Und Folgen

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Noam ChomskyThe Attack

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Aus dem Amerikanischen von Michael Haupt

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NOAM CHOMSKY

THE ATTACKHINTERGRÜ NDE UND FOLGEN

Europa VerlagHamburg • Wien

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Ich möchte David Peterson und Shifra Stern für ihreunschätzbare Hilfe bei der Nachforschung in den Mediendanken.

Noam Chomsky

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Ein Titelsatz für diese Publikation ist beiDer Deutschen Bibliothek erhältlich.

Die Originalausgabe »9-11« wurde 2001 als Interviewband beiSeven Stories Press, New York, veröffentlicht. © 2001 by NoamChomsky

Deutsche Erstausgabe© Europa Verlag GmbH Hamburg, Januar 2002Lektorat: Aenne GlienkeUmschlaggestaltung: Kathrin Steigerwald, HamburgFoto: dpaInnengestaltung: H & G Herstellung, HamburgDruck und Bindung: Clausen & Bosse, LeckISBN 3-203-76013-4

Informationen über unser Programm erhalten Sie beim EuropaVerlag, Neuer Wall 10, 20354 Hamburg oder unterwww.europaverlag.de

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Inhalt

I. Der Angriff und seine Ursachen 7

II. Ideologische Begleitmusik 19

III. Staatsverbrechen 27

IV. Usama Bin Ladin und die USA 41

V. Terrorismus und Zivilisation 53

VI. Der Angriff und seine Folgen 67

Anhang 83

Literaturempfehlungen 90 Zum

Autor 91

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I. Der Angriff und seine Ursachen

Die Veränderung der geopolitischen Lage

Die schrecklichen Ereignisse vom 11. September besitzenzweifellos eine neue Qualität, die nicht in ihrem Umfangoder ihrem Charakter besteht, sondern im Ziel der An-griffe. Seit 1812 haben die Vereinigten Staaten keinen An-griff auf ihr Territorium mehr erlebt; es wurde noch nichteinmal bedroht.

Viele Kommentatoren fühlten sich an Pearl Harbor er-innert, aber diese Analogie ist irreführend. Am 7. Dezember1941 wurden Militärstützpunkte in zwei US-Kolonienangegriffen, nicht jedoch das Heimatland selbst. DenUSA galt Hawaii als heimatliches Territorium, tatsächlichaber war es eine Kolonie. Während der letzten zweihundertJahre haben die USA die eingeborene BevölkerungNordamerikas (Millionen von Menschen) vernichtet,halb Mexiko erobert (de facto das Territorium der dortlebenden Völker, aber das ist eine andere Sache), Hawaiiund die Philippinen besetzt (und dabei Hunderttausendevon Filipinos getötet) und nach dem Zweiten Weltkriegihre Form der Gewaltanwendung auf fast alle Regionender Erde ausgedehnt. Das hat enorme Opfer gekostet,aber nun sind die Kanonen zum ersten Mal herumgedrehtworden. Das ist eine dramatische Veränderung.

Das gleiche gilt für Europa, das allerdings im Unter-schied zu den USA durch interkontinentale Kriege an den

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Rand der Zerstörung getrieben wurde. Die europäischenMächte hat das jedoch nicht davon abgehalten, die Weltmit brutaler Gewalt zu erobern, ohne Gegenschläge ihrerOpfer befürchten zu müssen: England wurde nicht vonIndien, Belgien nicht vom Kongo, Italien nicht vonÄthiopien, Frankreich nicht von Algerien angegriffen(auch Algerien galt in Frankreich nicht als »Kolonie«).Kein Wunder, daß Europa den 11. September als ebensol-chen Schock erfuhr wie die Vereinigten Staaten.

Was das genau zu bedeuten hat, ist noch ungewiß.Aber daß es etwas Neues ist, liegt auf der Hand.

Wo liegen die Ursachen?

Welche Gruppe hinter dem Angriff steckt und was sie da-durch erreichen will, ist umstritten, aber unzweifelhaft liegtihr Nährboden in der Verbitterung und dem Zorn, den vieleMenschen angesichts der US-amerikanischen Politik in derarabischen Region empfinden, wobei auch die ehemaligeKolonialherrschaft der Europäer davon nicht ausgenommenwird. Nach dem 11. September beschäftigte sich das WallStreet Journal mit den Ansichten muslimischer Bankiers,Freiberufler und Geschäftsleute, die im Nahen Ostenarbeiten und Verbindungen zu den Vereinigten Staatenunterhalten. Sie beklagten, daß die USA autoritäre Staatenunterstütze und fördere und damit die unabhängige Ent-wicklung und Demokratisierung der Region verhindere.Vor allem aber kritisierten sie Washingtons Haltung gegen-über dem Irak und der israelischen Besatzungspolitik. Dienotleidende Bevölkerung muß erleben, daß der Reichtumder Region in den Westen und in den eigenen Ländern zuden westlich orientierten Eliten fließt, die, mögen sie auch

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brutal und korrupt sein, doch vom Westen unterstützt wer-den. Mit ihren jetzigen Aktionen werden die VereinigtenStaaten diese Probleme nur verschärfen.

»Krieg« gegen den internationalen Terrorismus?

Zunächst war von einem »Kreuzzug« die Rede, aber dieUSA begriffen bald, daß sie einen anderen Terminus ver-wenden mußten, wenn sie in der islamischen Welt Ver-bündete gewinnen wollten. Also führten sie den Begriff»Krieg« ein. Auch der Golfkrieg von 1991 wurde so be-zeichnet, während die Bombardierung Serbiens eine»humanitäre Intervention« gewesen sein soll. DieserAusdruck ist nicht neu; im neunzehnten Jahrhunderthaben die europäischen Imperialmächte ihre übersee-ischen Unternehmungen generell so genannt. Ein wis-senschaftliches Standardwerk bringt für die Zeit direktvor dem Zweiten Weltkrieg drei Beispiele für eine »hu-manitäre Intervention«: Japans Besetzung der Man-dschurei, Mussolinis Einmarsch in Äthiopien und HitlersAnnektion des Sudetenlandes. Natürlich betont der Autor,daß diese Verbrechen jeweils unter dem Deckmantel der»humanitären Intervention« begangen wurden.

Ob der Kosovo-Krieg darunter fällt, hängt davon ab,was dort tatsächlich geschah. Leidenschaftliche Rhetorikallein genügt nicht, weil nahezu jede Form der Gewalt-anwendung in dieser Weise gerechtfertigt werden kann.Im Fall des Kosovo lassen sich humanitäre Absichten nurschwer nachweisen, und die eigentlichen Gründe der Re-gierung liegen auf einem ganz anderen Feld. Aber darüberhabe ich anderswo detaillierter berichtet (siehe Literatur-empfehlungen im Anhang, Anm. d. Lekt.).

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Die Rolle der Geheimdienste

Für die westlichen Geheimdienste war der Angriff vom11. September sicherlich eine böse Überraschung. Aller-dings darf nicht übersehen werden, daß die CIA in denachtziger Jahren in Zusammenarbeit mit dem pakista-nischen Geheimdienst radikale islamische Fundamen-talisten ausgebildet und bewaffnet hat, damit sie einen»Heiligen Krieg« gegen die russischen Invasoren in Af-ghanistan führen konnten.

Heute gibt es Versuche, die USA zum unschuldigenZuschauer zu machen, und selbst respektable Journalistenbeten die offizielle CIA-Version nach, aber die Wirklichkeitsieht anders aus.

Nachdem die Sowjets sich aus Afghanistan zurückge-zogen hatten, wandten viele der Fundamentalisten (die,wie Bin Ladin, gar keine Afghanen waren) ihre Aufmerk-samkeit anderen Gebieten zu. In Tschetschenien und Bos-nien genossen sie zumindest die stillschweigende Unter-stützung der USA; in Bosnien wurden sie darüber hinausvon der Regierung willkommen geheißen und erhieltenals Dank für ihre militärischen Leistungen die bosnischeStaatsbürgerschaft. In Westchina kämpfen chinesischeMuslime gegen die Zentralregierung; einige von ihnenwurden offensichtlich schon 1978 von China nach Afgha-nistan geschickt, um sich an der Guerillarebellion gegendie dortige Regierung zu beteiligen. Rußland marschierte inAfghanistan ein, um die Aufstände niederzuschlagen (dasalles erinnert sehr stark an die US-Amerikaner in Vietnam,die im Süden ein Marionettenregime installierten, das siedann »verteidigen« mußten). Die Muslime schlössen sichden von der CIA unterstützten Streitkräften an, die gegendie Besatzungsmacht kämpften. Mittlerweile

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sind die islamischen Fundamentalisten auch auf den süd-lichen Philippinen und in Nordafrika auf dem Vormarsch.Und sie haben ihre Hauptfeinde - Saudi-Arabien, Ägyptenund, seit den neunziger Jahren, auch die USA — insVisier genommen. Für Bin Ladin ist die Präsenz der USA inSaudi-Arabien die Verletzung heiligen Territoriums undim Grunde eine ähnliche Invasion wie die der UdSSR inAfghanistan.

Abgesehen davon sind die Geheimdienste und welt-weiten Kontrollsysteme (wie Echelon) sehr viel wenigereffektiv, als gemeinhin angenommen wird. Es hat immerwieder kolossale Fehler gegeben, auch bei Zielobjekten,die besser zugänglich sind als das Terrornetzwerk von BinLadin, das zweifellos so stark dezentralisiert, enthier-archisiert und über viele Länder verteilt ist, daß es schwersein dürfte, dort einzudringen. Sicher werden die Ge-heimdienste jetzt etatmäßig aufgestockt, aber gegen dieseArt von Terrorismus läßt sich nur wirksam vorgehen,wenn man die Ursachen bekämpft, die zu seiner Heraus-bildung geführt haben.

Der »islamische Fundamentalismus« -einneuer Feind?

Im Grunde haben die USA (und viele andere westlicheStaaten) gegen religiösen Fundamentalismus an sich nichtseinzuwenden, er ist in der Alltagskultur der VereinigtenStaaten sogar weit verbreitet und kann extreme Formenannehmen. In der islamischen Welt ist neben dem Taliban-Regime Saudi-Arabien ein stark fundamentalistischausgerichteter Staat, der allerdings von Anfang an

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ein Satellit der USA war; die Taliban sind Abkömmlingeder saudischen Version des Islam.

Radikale islamische Extremisten, die oft als »Fun-damentalisten« bezeichnet wurden, gehörten in den acht-ziger Jahren zu den Lieblingen der US-amerikanischenPolitik, weil unter ihnen die besten Killer waren, die manbekommen konnte. Einer der Hauptfeinde der USA wardamals die katholische Kirche, die sich in Lateinamerikaunverzeihlicherweise auf die Seite der Armen geschlagenhatte. Für dieses »Verbrechen« wurde sie schwer bestraft. Inder Wahl seiner Feinde verfährt der Westen durchausökumenisch. Entscheidend ist die Unterordnung unter dieVormacht, nicht die Religion.

Auf jeden Fall ist der Angriff vom 11. September einRückschlag für die Sache der Palästinenser. Die Israelisnutzen die Gelegenheit, um ihren Druck auf die palästi-nensische Bevölkerung weiter zu verstärken. In den erstenTagen nach dem Angriff rückten israelische Panzer in Jenin,Ramallah und (zum ersten Mal) Jericho ein, wobei einigeDutzend Palästinenser ums Leben kamen. Das ist dieübliche Spirale der Gewalteskalation, die wir auch ausanderen Gebieten kennen.

Und es ist ein Rückschlag für die Gegner des Globali-sierungsprozesses, weil solche Anschläge Wasser auf dieMühlen repressiver Kräfte hier wie dort sind und gernedazu genutzt werden, um die Militarisierung der Gesell-schaft, den Abbau von Sozialprogrammen und die Um-verteilung des Reichtums zugunsten der Besitzenden zubeschleunigen. Aber das wird auf Widerstand stoßen undwohl nur kurzfristig Erfolg haben.

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Läßt sich der Krieg gegen den Terrorismusgewinnen?

Zunächst ist anzumerken, daß die USA in vielen Teilender Welt aus guten Gründen für einen der führenden ter-roristischen Staaten gehalten werden.

Den gegen uns gerichteten Terrorismus können wir be-kämpfen, indem wir die Situation entschärfen oder dieBedrohung eskalieren. Eskalation ist keine zwingendeNotwendigkeit: Als in London IRA-Bomben explodierten,forderte niemand, West-Belfast oder Boston zu bom-bardieren, zwei Hauptquellen für die Gelder der IRA.Vielmehr bemühte man sich, die Schuldigen zu fassenund die Hintergründe des Terrors aufzudecken. Als inOklahoma auf das Gebäude einer Bundesbehörde einSprengstoffattentat verübt wurde, forderten viele einenVergeltungsschlag gegen den Mittleren Osten, der auchgekommen wäre, wenn es sich um arabische Täter gehandelthätte. Als man herausfand, daß die einheimische ul-trarechte Szene dahintersteckte, ertönte nicht der Ruf,Montana und Idaho mit Bomben zu belegen. Vielmehrsuchte und fand man den Täter, stellte ihn vor Gerichtund verurteilte ihn. Auch hier war man darum bemüht,die Hintergründe des Anschlags aufzuhellen. Jedes Ver-brechen, der Straßenüberfall ebenso wie ein Massaker,hat Ursachen, und zumeist sind einige von ihnen sehrernst zu nehmen und müssen behoben werden.

Auch gegen schwere und lang andauernde Verbrechenläßt sich mit den Mitteln des Gesetzes vorgehen. Dafürgibt es Beispiele. Eins davon ist Nicaragua, in den acht-ziger Jahren Ziel terroristischer Angriffe seitens der USA,bei denen Zehntausende starben und das Land verwüstetwurde. Es hat sich bis heute nicht davon erholt. Hinzu

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kam ein Wirtschaftskrieg, den das kleine Land kaumüberstehen konnte. Aber Nicaragua warf keine Bombenauf Washington. Es rief den Weltgerichtshof an, der zuseinen Gunsten entschied, die USA zur Beendigung desTerrorkriegs und zur Zahlung von Reparationsleistungenaufforderte. Die Vereinigten Staaten erkannten das Urteilnicht an und eskalierten den Krieg. Daraufhin appellierteNicaragua an den UN-Sicherheitsrat. Der wollte eineResolution verabschieden, in der alle Staaten aufgefordertwurden, das geltende internationale Recht zu beachten.Die USA legten ihr Veto ein. In der Vollversammlungerhielten sie eine ähnliche Resolution, die mit den Gegen-stimmen der ewigen Neinsager - USA und Israel - ver-abschiedet wurde. Das ist der Rechtsweg, den auch dieVereinigten Staaten beschreiten können, und daran würdesie niemand hindern. Genau das erwartet man von ihnen inder arabischen Region.

Die Regierungen im Mittleren Osten und Nordafrikawürden sich nur allzu gerne dem Kampf der USA gegendie Terrorgruppen anschließen, denn sie stehen (wie dasseinerseits terroristische Regime in Algerien) im Faden-kreuz der islamischen Fundamentalisten. Aber sie wollenBeweise und eine sei's auch nur minimale Berücksichti-gung des internationalen Rechts. Die ägyptische Position istnoch schwieriger. Ägypten ist Teil des Systems, das dieradikalen islamistischen Kampfgruppen ausgebildet hat,zu denen auch die Organisation von Bin Ladin gehörte,und Ägypten war eines der ersten Opfer, als Anwar el-Sa-dat ermordet wurde. Man wäre die Radikalislamistengerne los, wünscht aber Beweise dafür, wer in diese Ter-rornetze verstrickt ist. Außerdem sollten Gegenaktionenim Rahmen der UN-Charta und unter der Schirmherr-schaft des Sicherheitsrats stattfinden.

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Wenn man diesen Kurs einschlägt, wird man die Eska-lation von Gewalt vermeiden. Wenn man mit Gewalt zu-rückschlägt, wird man weitere Gewalt heraufbeschwören.

Anmerkung

l United States Code Congressional and Administrative News, 98.Kongreß, 2. Sitzungsperiode, 19. Oktober 1984, Bd. 2, § 3077, 98STAT. 2707 (West Publishing Co., 1984).

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II. Ideologische Begleitmusik

Die Rolle der Medien

Zunächst ist festzuhalten, daß die Berichterstattung inden US-amerikanischen Medien weniger uniform ist, alssie im Ausland erscheinen mag. Sogar die New York Timesräumte dieser Tage ein, daß die Stimmung in New Yorkganz anders ist, als bisher von den Mainstream-Medien(und auch von der New York Times selbst) vermitteltwurde. Sie berichtet jetzt, daß »die Kriegstrommel in denStraßen von New York kaum zu hören ist« und derWunsch nach Frieden auch dort, wo um die Opfer getrauertund ihr Verlust beklagt wird, »stärker ist als der Ruf nachVergeltung«. Und das gilt nicht nur für New York. Wirsind uns alle darin einig, daß die Drahtzieher des Attentatsaufgespürt und bestraft werden müssen, aber ich glaube,die Mehrheit will nicht, daß blind zurückgeschlagen wirdund dabei Unschuldige umkommen.

Es ist typisch für die großen Medien und die vorgeb-lichen Intellektuellen, bei einer Krise sich auf die Seite derMacht zu stellen und zu versuchen, die Bevölkerung mit-zuziehen. Das geschah bei der Bombardierung Serbiensund auch während des Golfkriegs - und ist historisch ge-sehen eine ganz geläufige Taktik.

Geläufig ist auch die Auffassung westlicher Intellektu-eller, die Ursache für den Angriff auf das World TradeCenter liege in »der Globalisierung«. Aber damit schließt

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man die Augen vor den eigentlichen Zusammenhängen.Der ägyptische Präsident Anwar el-Sadat wurde nichtwegen der Globalisierung umgebracht. Auch der ersteAnschlag auf das World Trade Center, 1993, hatte damitnichts zu tun. Und die von der CIA unterstützten »afgha-nischen« Milizen kämpften nicht wegen der Globalisie-rung gegen die Sowjets.

In Ägypten und anderen Ländern der arabischen Regionsind selbst pro-amerikanisch eingestellte Angehörige derreicheren Schichten enttäuscht und verbittert über diePolitik der USA. Das hat aber überhaupt nichts mit dersogenannten Globalisierung, McDonalds oder Jeans zutun. Und in der breiten Bevölkerung sind diese Ressenti-ments ebenso, nur sehr viel stärker, ausgeprägt.

Die Vereinigten Staaten und die Länder des Westensmachen es sich mit dieser Entschuldigung zu einfach. Inder New York Times hieß es: »Die Täter handelten ausHaß gegen die im Westen geheiligten Werte wie Freiheit,Toleranz, Wohlstand, religiöser Pluralismus und allgemeinesWahlrecht.«1 Die Politik der USA ist unwichtig und mußdaher gar nicht erwähnt werden. Das ist ein beruhigendesBild und eher die Norm als die Ausnahme. Es steht querzu allem, was wir wissen, dient aber der Selbst-beweihräucherung und der kritiklosen Unterstützung derMacht. Leider erhöht diese Haltung das Risiko weitererGreueltaten - womöglich schlimmerer als die vom 11.September.

Was Bin Ladin und seine Organisation betrifft, so sindihnen Globalisierung und kulturelle Hegemonie der USAebenso egal wie die Armen und Unterdrückten im Mitt-leren Osten, denen sie seit Jahren Schaden zufügen. Worumes ihnen geht, sagen sie laut und deutlich: Sie befinden sichin einem Heiligen Krieg gegen die korrupten, unter-

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drückerischen und »unislamischen« Regimes der Regionund ihre Unterstützer. Sie haben schon in den achtzigerJahren einen Heiligen Krieg gegen die Sowjets geführtund tun das jetzt in Tschetschenien, Westchina, Ägyptenund anderswo.

Bin Ladin selbst hat vielleicht nie etwas von Globalisie-rung gehört. Robert Fisk, der ein längeres Interview mitihm führte, berichtet, Bin Ladin wisse so gut wie nichtsvon der Welt und verlange auch nicht danach. Wir könnennatürlich diese Tatsachen und auch die Wurzeln solcherHaltungen wie die von Bin Ladin und seiner Verbündetenignorieren, bringen uns damit aber selbst in Gefahr.

Warum nun sind die Menschen im Mittleren Osten,gleich welcher Bevölkerungsschicht sie angehören, soenttäuscht und verbittert? Ein gewichtiger Grund, derweder in den Vereinigten Staaten noch in Europa richtigverstanden wird, ist die Politik der USA gegenüber Israeleinerseits und dem Irak andererseits.

Im Irak habe, so lautet die Kritik, die US-Politik in denletzten zehn Jahren die Zivilgesellschaft zerstört und Sad-dam Hussein gestärkt. Man weiß natürlich, daß die USASaddam bei seinen schlimmsten Greueltaten, wie denGasangriffen auf die Kurden 1988, geholfen haben. WennBin Ladin in seinen Ansprachen, die in der Region über-tragen werden, auf solche Vorkommnisse hinweist, stim-men ihm selbst diejenigen zu, die ihn verabscheuen. Überdie USA und Israel sind hierzulande selbst die wichtigstenTatsachen nahezu unbekannt, das gilt insbesondere fürdie intellektuelle Elite. Ebensowenig teilen die Menschen inden arabischen Ländern die in den Vereinigten Staatengehegten Illusionen über die »großzügigen« Angebote,die im Sommer 2000 in Camp David gemacht wordensein sollen. Es gibt hierüber genügend gut dokumentierte

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Materialien aus einwandfreien Quellen, aber niemandkennt sie.

Im übrigen bietet der Kampf gegen Bin Ladin für dieUSA eine Gelegenheit, andere innen- und außenpoliti-sche Ziele durchzusetzen, wie etwa die Militarisierungdes Weltalls, den Abbau von Sozialprogrammen usw. Au-ßerdem läuft es darauf hinaus, den Gegnern von Globali-sierung und Umweltzerstörung das Wasser abzugraben.Die Militärschläge gegen Afghanistan kommen wiederumBin Ladin höchst gelegen. Wie üblich gibt es auf beidenSeiten viele Bin Ladins.

Der Sender »AI-Dschasira«

Während in den Vereinigten Staaten selbst die Be-schränkung der Informationsfreiheit in Kriegssituationennur selten auf Regierungseinwirkung zurückgeht,sondern eher Sache der Selbstzensur ist — im Augen-blick ist die Lage sogar besser als gewöhnlich —, gibt eseinige überraschende Vorstöße der Regierung, den freienInformationsfluß im Ausland zu unterbinden. Diearabische Welt hat eine freie und offene Nachrichten-quelle: den TV-Sender Al-Dschasira in Qatar, der nachdem Vorbild der BBC gestaltet wurde und über Satelli-tenfernsehen empfangen werden kann. Er findet in derarabischen Welt enorme Beachtung, weil er als einzigerSender unzensiert arbeitet. Al-Dschasira bringt sehr vielewichtige Nachrichten, aber auch Live-Diskussio-nen undläßt ein breites Spektrum an Meinungsäußerungen zu.Ein paar Tage vor dem 11. September kamen dort ColinPowell und der israelische Premierminister Barak zuWort (sogar ich wurde um meine Meinung ge-

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beten). Al-Dschasira ist auch, wie das Wall Street Journalvermeldete, »der einzige internationale Nachrich-tensender, der Reporter im von den Taliban besetztenTeil Afghanistans unterhält«. Unter anderem gelang esihm, die Zerstörung der großen Buddha-Statuen zu fil-men, die in aller Welt mit Recht Empörung hervorgerufenhat. Ferner hat er umfangreiche Interviews mit Bin Ladingeführt, die sicherlich von den westlichen Ge-heimdiensten eingehend geprüft wurden, aber auch fürall diejenigen von Interesse sind, die wissen wollen, was erdenkt. Sie wurden übersetzt und von der BBC erneutausgestrahlt, einige davon stammen aus der Zeit nachdem 11. September.

Al-Dschasira wird von den Diktaturen in der Regiongefürchtet, weil er ohne Umschweife ihre Menschen-rechtsverletzungen anprangert. Mittlerweile gehörenauch die USA zu den Ländern, die Al-Dschasira mit Arg-wohn beobachten. Die BBC berichtete: »Die VereinigtenStaaten sind nicht die ersten, denen die Berichterstattungvon Al-Dschasira mißfällt. Schon vorher haben Algerien,Marokko, Saudi-Arabien, Kuwait und Ägypten sich ver-ärgert gezeigt, weil der Sender politische Dissidenten zuWort kommen ließ.«

Der Emir von Qatar bestätigte, daß »WashingtonQatar gebeten hat, den einflußreichen und journalistischunabhängigen Fernsehsender an die Kandare zunehmen«, heißt es in der BBC weiter. Der Emir, der auchbei der 56 Länder umfassenden Islamischen Konferenzden Vorsitz hat, informierte in Washington die Pressedarüber, daß Außenminister Powell Druck auf ihnausgeübt habe, damit er »Al-Dschasira überrede, dieBerichterstattung zu mäßigen«, wie der Sender selbstverlauten ließ. Als der Emir zu den Versuchen der

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Einflußnahme befragt wurde, sagte er: »Das ist richtig.Wir haben dergleichen von dieser und der vorigen US-Regierung gehört.«2

Diese Nachricht fand, meinen Nachforschungen zu-folge, praktisch nur im Wall Street Journal größerenWiderhall, wo auch die, natürlich empörten, Reaktionenarabischer Intellektueller und Gelehrter wiedergegebenwerden. Der Bericht fügt hinzu, daß »viele arabischeKommentatoren darauf hinweisen, daß der grassierendeAnti-Amerikanismus letztlich auf WashingtonsWeigerung zurückgeht, sich mit der Situation derMenschenrechte in offiziell pro-amerikanischen Ländernwie Saudi-Arabien zu befassen«3. Auch die Interviews mitBin Ladin und andere Informationen aus Afghanistanblieben lange unbeachtet.

Der Sender wurde berühmt, nachdem er ein Interviewmit Bin Ladin ausgestrahlt hatte, das für die westlichePropaganda von Nutzen war und sofort Schlagzeilenmachte. Die New York Times lobte den Sender als »denCNN der arabischen Welt, der rund um die Uhr Nach-richten und politische Berichte ausstrahlt, die Millionenvon Zuschauern erreichen«: Das Netzwerk hat den Ruferworben, eine unabhängige und bahnbrechende Bericht-erstattung zu betreiben, die sich deutlich von der andererarabischer Sender abhebt [und] sich auf Themen konzen-triert, die in den meisten Teilen der arabischen Welt alssubversiv gelten: das Fehlen demokratischer Institutio-nen, die Verfolgung politischer Dissidenten und die Un-gleichbehandlung der Frauen.«4 Weiter heißt es in derNew York Times, daß sich US-amerikanische Politikerüber die Ausstrahlung von Interviews mit Bin Ladin unddie »anti-amerikanische Rhetorik« von Kommentatoren,Gästen und Anrufern bei Diskussionsrunden »besorgt

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gezeigt« hätten. Der Rest bleibt unerwähnt, auch wenn esam nächsten Tag eine milde Ermahnung im Leitartikelgab.

Anmerkungen

1 Serge Schmemann, New York Times vom 16. September 2001.2 BBC vom 4. Oktober 2001, unter Berufung auf Reuters.3 Wall Street Journal vom 5. Oktober 2001.4 Elaine Scholino in der New York Times vom 9. Oktober 2001.

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I. Staatsverbrechen

Der Krieg gegen den Terrorismus wird, so heißt es, um»hehrer Ziele« willen verfolgt. Aber was sind »hehreZiele«? War es ein hehres Ziel, die Sowjets 1979 in die»afghanische Falle« gelockt zu haben, dessen ZbigniewBrzezinski sich rühmt? Den Widerstand gegen die Inva-sion der UdSSR im Dezember 1979 zu unterstützen, isteine Sache. Aber diese Invasion provoziert zu haben, wieBrzezinski behauptet, und eine Terroristenarmee ausislamischen Fanatikern auf die Beine zu stellen, um eigeneZiele zu verfolgen, ist eine andere Sache.

Eine weitere Frage betrifft das Bündnis gegen den Ter-rorismus, das die USA, die, man muß daran erinnern,selbst ein führender Schurkenstaat sind, zu schließen sichbemühen. Was ist mit den Bündnispartnern — Rußland,China, Indonesien, Ägypten, Algerien -, die sich alleüber die Entstehung eines von den USA geförderteninternationalen Systems freuen, innerhalb dessen sie ihreeigenen terroristischen Greueltaten begehen können?Rußland zum Beispiel wäre glücklich über die US-ame-rikanische Unterstützung seines mörderischen Kriegs inTschetschenien, in dem wiederum Afghanen kämpfen,die aller Wahrscheinlichkeit nach ihrerseits für terroristi-sche Anschläge in Rußland sorgen. Indien hofft auf dieBereinigung des Kaschmir-Konflikts, Indonesien möchteseine Massaker in Aceh ungestört fortsetzen und Algerienseinen staatlichen Terrorismus ausweiten.

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Natürlich kann nicht jeder in diese erlesene Koalitionaufgenommen werden. »Die Regierung Bush wies [am 6.Oktober] darauf hin, daß die linksgerichtete Partei derSandinisten in Nicaragua, die im nächsten Monat dieWahlen zu gewinnen hofft, Verbindungen« zu terroristi-schen Staaten und Organisationen pflegt und daher»nicht in das internationale Bündnis gegen den Terroris-mus, das die Regierung schmieden will, einbezogen wer-den.«1 »Wie wir bereits erklärten, gibt es keine neutraleHaltung zwischen denen, die den Terrorismus bekämp-fen, und denen, die ihn unterstützen«, insistierte ElizaKoch, die Sprecherin des US-Außenministeriums. Ob-wohl die Sandinisten bekunden, die sozialistische Politikund anti-amerikanische Rhetorik der Vergangenheit ab-gelegt zu haben, zeigt Kochs Erklärung, daß die Regie-rung diese Behauptungen bezweifelt.

Die Zweifel sind verständlich, denn Nicaragua hat inden achtziger Jahren die USA so furchtbar angegriffen,daß Ronald Reagan sich am 1. Mai 1985 gezwungen sah,den »Ausnahmezustand« auszurufen, weil »die Politikund die Handlungen der Regierung von Nicaragua eineaußergewöhnliche Bedrohung für die nationale Sicherheitund Außenpolitik der Vereinigten Staaten darstellen«. Die»aggressiven Handlungen der nicaraguanischen Regie-rung in Mittelamerika«, die zu diesem Ausnahmezustandführten, beantwortete er mit einem Embargo.

Es ist also nur logisch, daß die USA verläßliche Garantienfür gutes Verhalten benötigen, ehe sie einem vonSandinisten geführten Nicaragua erlauben, sich dem vonWashington geführten Bündnis der Gerechten im Kampfgegen den Terrorismus, den die USA seit zwanzig Jahrenbestreiten, anzuschließen.

Oder nehmen wir die »Nordallianz«, die jetzt von

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Rußland und den Vereinigten Staaten gemeinsam unter-stützt wird. Es handelt sich dabei um eine Ansammlungvon Kriegsherren, die zuvor in Afghanistan für so vielZerstörung und Terror gesorgt hatten, daß die Bevölke-rung die Taliban mit offenen Armen empfing. Außerdemsind sie aller Wahrscheinlichkeit nach in den Drogen-transfer nach Tadschikistan verwickelt. Sie kontrollierenden größten Teil der Grenze zwischen beiden Ländern,und Tadschikistan gilt als Dreh- und Angelpunkt für dieWeiterleitung der Drogen nach Europa und den USA.Wenn die Vereinigten Staaten dem Beispiel Rußlands folgenund diese Streitkräfte für eine Offensive bewaffnen, wirdder Zufluß von Drogen unter den herrschenden Be-dingungen chaotischer Flüchtlingsströme zunehmen.

Im übrigen betreiben die Vereinigten Staaten ihren in-ternationalen Terrorismus wie eh und je. Nehmen wireinige vergleichsweise bescheidene Beispiele. Alle hier beiuns waren entsetzt über den Bombenanschlag von Okla-homa2, und einige Schlagzeilen verkündeten damals:»Oklahoma City sieht aus wie Beirut.« Nirgendwowurde darauf hingewiesen, daß auch Beirut wie Beirutaussieht, was zum Teil damit zusammenhängt, daß dieRegierung Reagan dort 1985 einen terroristischen Bom-benanschlag verübte, der dem von Oklahoma City sehrähnelte. Vor einer Moschee war ein Lastwagen mit einerBombe geparkt worden, deren Zünder so eingestellt war,daß möglichst viele Leute beim Verlassen der Moscheegetötet werden sollten. Einem Bericht der WashingtonPost zufolge, der erst drei Jahre danach erschien, wurden80 Menschen getötet und 250 verletzt, darunter sehr vieleFrauen und Kinder. Zielobjekt des Anschlags war einmuslimischer Geistlicher, den die US-Regierung haßte.Aber sie verfehlte ihn. Und welchen Namen soll man ei-

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ner Politik geben, die zum Tod von vielleicht einer MillionZivilisten und einer halben Million Kinder im Irak führt,während die Außenministerin erklärte, das sei der Preis,den man zahlen müsse? Die Unterstützung israelischerGreueltaten ist ein anderer Fall.

Oder denken wir an den Krieg der türkischen Regie-rung gegen die Kurden im eigenen Land, für den die Re-gierung Clinton 80 Prozent der Waffen stellte. Es handeltsich hierbei um einen der schlimmsten Feldzüge in denneunziger Jahren, über den kaum etwas bekannt wurde,weil die USA dafür mitverantwortlich waren. Und wennunhöflicherweise doch einmal die Rede darauf kam, war eseben ein marginaler Fleck auf unserer ansonsten weißenWeste im entschlossenen Kampf gegen Unmenschlichkeitüberall auf dem Planeten.

Ferner ist da noch die Zerstörung der pharmazeuti-schen Fabrik Al-Shifa im Sudan, eine kleine Fußnote inder Geschichte des staatlichen Terrors, die schon bald inVergessenheit geriet. Wie hätten die USA reagiert, wenndie Organisation von Bin Ladin dort die Hälfte derpharmazeutischen Vorräte samt den technischen Her-stellungsapparaturen in die Luft gesprengt hätte? DerVergleich ist zwar unfair, doch die Folgen für den Sudansind sehr viel schlimmer. Wir aber sagen nur: »Oh je,ziemlich schlimm, ein Versehen. Gehen wir zum näch-sten Thema über.« In anderen Regionen denkt man nichtso. Wenn Bin Ladin diese Bombardierung erwähnt, stößter auch bei denen auf Widerhall, die ihn fürchten oderverachten.

Die Zerstörung der Fabrik im Sudan ist zwar nur eineFußnote, aber eine höchst instruktive. Interessant ist vorallem die Reaktion, wenn man wagt, davon zu reden. Dashabe ich in der Vergangenheit getan und ebenso jetzt, als

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ich kurz nach dem Attentat vom 11. September auf Fragenvon Journalisten antwortete. Ich erwähnte, daß dieVerluste dieses »entsetzlichen Verbrechens«, das (umRobert Fisk zu zitieren) mit »Bösartigkeit und furcht-erregender Grausamkeit« begangen wurde, mit den Folgenvergleichbar wären, die Clintons Bombardierung derFabrik von Al-Shifa im August 1998 hervorgerufen hätte.Diese Bemerkung füllte viele Zeitschriften undWebseiten mit bizarren Anschuldigungen, auf die ichhier nicht weiter eingehen will. Wichtig ist nur, daß diesereine Satz, der sich bei näherem Hinsehen eher als eineUntertreibung herausstellt, von einigen Kommentatorenals höchst skandalös angesehen wurde. Offensichtlichhalten sie im tiefsten Herzen, auch wenn sie es vor sichselbst leugnen, unsere Verbrechen gegen die Schwachenfür so normal wie die Luft, die wir atmen. UnsereVerbrechen, für die wir als Steuerzahler verantwortlichsind, weil wir keine Reparationen bezahlen, sondern denTätern noch Zuflucht und Immunität gewähren und dieschrecklichen Tatsachen einfach ins schwarze Loch derGedächtnislosigkeit sinken lassen.

Die Folgen der Zerstörung dieser Fabrik lassen sich nurschätzen. Der Sudan rief die UNO an, um zu erfahren, obund wie die Bombardierung sich rechtfertigen ließe, aberselbst das wurde von Washington verhindert. WeitereNachforschungen scheint es kaum gegeben zu haben. Wirsollten sie jedoch anstellen und uns dabei an einige Bin-senweisheiten erinnern, sofern wir an Menschenrechtenüberhaupt interessiert sind. Wenn wir abschätzen, wieviele Opfer ein Verbrechen gekostet hat, dann zählen wirnicht nur die unmittelbar Getöteten, sondern auch dieje-nigen, die an den Spätfolgen starben. Also betrachten wir indiesem Fall nicht nur diejenigen, die in Khartum durch

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den Einsatz von Marschflugkörpern gestorben sind, son-dern auch die Opfer der weiterreichenden Folgen diesesVerbrechens, das zwar die gängigen politischen und ideo-logischen Funktionsweisen reflektiert, aber darum —selbst wenn man persönliche Probleme von PräsidentClinton in Rechnung stellt (was ich zweifelhaft finde) -doch ein Verbrechen bleibt.

Diese Binsenweisheiten behalten wir im Auge undwenden uns nun den Informationen zu, die den Main-stream-Medien mühelos zu entnehmen waren. Mit einerAnalyse der Rechtfertigungen, die Washington lieferte,halte ich mich nicht weiter auf, denn sie sind angesichtsder Folgen in moralischer Hinsicht von untergeordneterBedeutung.

Ein Jahr nach dem Angriff »ist, als Folge der Bombardie-rung, die Todesrate im Sudan ohne die lebensrettende Me-dizin [aus der zerstörten Fabrik] langsam angestiegen...Zehntausende von Menschen, darunter viele Kinder, sindan Malaria, Tuberkulose und anderen heilbaren Krankheitengestorben... [Al-Shifa] produzierte bezahlbare Arzneimittelfür Menschen und Tiere im Sudan. 90 Prozent derpharmazeutischen Produkte des Landes kamen von dort...Die Sanktionen gegen den Sudan machen es unmöglich,Arzneimittel in dem Umfang zu importieren, der die Lückeschließen könnte, die durch die Zerstörung der Fabrik ent-standen ist... Millionen von Menschen müssen sich fragen,was der Internationale Gerichtshof in Den Haag ein Jahrnach diesem Vorfall dazu sagen wird.«3

»Der Verlust dieser Fabrik ist für die Landbewohner,die auf die Arzneimittel angewiesen sind, eine Tragödie.«4

Al-Shifa produzierte einen Großteil »der Arzneimitteldes Sudans, und ihre Zerstörung hat das Land seiner Vor-räte an Chloroquin, dem wichtigsten Heilmittel gegen

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Malaria, beraubt«. Monate später jedoch verweigerte sichdie britische Regierung Anfragen, »Chloroquin für denNotfall zur Verfügung zu stellen, bis der Sudan seinepharmazeutische Produktion wieder aufbauen kann«.5

Al-Shifa war »die einzige Fabrik, die Mittel gegen Tu-berkulose herstellte - für mehr als 100 000 Patienten, fürein britisches Pfund im Monat. Teure Importe könnensich die meisten nicht leisten - und auch nicht ihre Männer,Frauen und Kinder, die sich seitdem angesteckt haben. Al-Shifa produzierte auch sämtliche Arzneimittel gegenTierkrankheiten in diesem großen herdenreichen Land.Sie stellte vor allem Mittel gegen die Parasiten her, die vonden Herden auf die Hirten übergehen und eineHauptursache für die Kindersterblichkeit sind.«6

Die Todesrate steigt weiter an.Die Berichte stammen von renommierten Journalisten

führender Zeitschriften. Eine besondere Ausnahme bildetdabei Jonathan Belke, der für die Near East FoundationRegionalprogramme leitet und weitreichende Kenntnisseüber die Lage im Sudan besitzt. Diese Organisation isteine hochachtbare Institution für Entwicklungshilfe, diebereits im Ersten Weltkrieg gegründet wurde. Sie bietetarmen Ländern in Afrika und im Mittleren Osten tech-nische Unterstützung an, wobei lokale, von Einhei-mischen betriebene Projekte im Vordergrund stehen.Dabei arbeitet sie eng mit großen Universitäten, Wohl-fahrtsorganisationen und dem US-Außenministeriumsowie bekannten Diplomaten und prominenten Per-sönlichkeiten im Bildungs- und Entwicklungssektor desMittleren Ostens zusammen.

Glaubhaften Untersuchungen zufolge hat die Zerstö-rung von Al-Shifa, bezogen auf die Einwohnerzahl desSudan, die gleichen Auswirkungen, als wenn die Terror-

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Organisation von Bin Ladin bei einem Angriff auf dieUSA »Hunderttausende von Menschen - darunter vieleKinder - an leicht heilbaren Krankheiten sterben« ließe,wobei diese Analogie nicht fair sein kann. Der Sudan ist»eines der am wenigsten entwickelten Gebiete der Erde.Das rauhe Klima, die geringe Siedlungsdichte, gesund-heitliche Risiken und eine zerfallende Infrastruktur be-deuten für viele Sudanesen einen beständigen Kampf umsÜberleben. Tuberkulose- und Malariaepidemien und an-dere Krankheiten, periodische Ausbrüche von Hirnhaut-entzündung oder Cholera«, ganz zu schweigen von derweitverbreiteten Aidskrankheit, machen preiswerte Arz-neimittel zur absoluten Notwendigkeit.7 Ferner besitztder Sudan nur in sehr begrenztem Umfang landwirt-schaftlich nutzbare Flächen, leidet unter einem chro-nischen Mangel an Trinkwasser, einer hohen Sterblich-keitsrate, verfügt kaum über Industrie, ist gegenüber demAusland hoch verschuldet, leidet unter einem Bürger-krieg, der das Land verwüstet, und an umfangreichenSanktionen. Was dort wirklich geschieht, läßt sich nurerahnen. Belke schätzt, daß innerhalb eines Jahres bereitsZehntausende an den Folgen der Zerstörung von Al-Shifagestorben sind.

Und das ist nur die Oberfläche.Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch

berichtete, daß als unmittelbare Folge der Bombardierung»alle in Khartum ansässigen UN-Einrichtungen und vieleandere Hilfsorganisationen ihre amerikanischen Mitarbeiterevakuiert haben«, so daß »viele Projekte auf unbe-stimmte Zeit verschoben sind, darunter ein sehr wichtiges[in einer Bezirkshauptstadt], das von dem US-amerikani-schen Internationalen Rettungskomitee betrieben wird.Dort sterben täglich mehr als fünfzig Südsudanesen... Im

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Süden, wo nach Schätzungen von UN-Mitarbeitern fastzweieinhalb Millionen Menschen dem Hungertod nahesind«, kann die Aussetzung der Hilfsprogramme zu einer»schrecklichen Krise« führen.

Überdies scheint das Bombardement »den allmählichsich abzeichnenden Kompromiß zwischen den Bürger-kriegsparteien erschüttert« und vielversprechende Ansätze zueiner Beendigung der inneren Auseinandersetzungen, inderen Verlauf seit 1981 eineinhalb Millionen Menschengestorben sind, zunichte gemacht zu haben. Ansätze, dieauch zum »Frieden in Uganda und dem gesamten Nil-becken« hätten führen können. Gestorben sind damitauch die Hoffnungen, daß »die islamistische Regierungdes Sudan ihre Politik zugunsten pragmatischerer Be-ziehungen mit dem Ausland neu orientiert«, um dieeinheimische Krise zu bewältigen, dem Terrorismus dieUnterstützung zu entziehen und den Einfluß radikalerIslamisten zurückzudrängen.8

Angesichts dieser Folgen können wir das Verbrechenim Sudan mit der Ermordung von Patrice Lumumbavergleichen, die den Kongo in jahrzehntelange Bürger-kriege stürzte, oder mit dem Sturz der demokratischenRegierung von Guatemala 1954, die zu einer vierzigJahre währenden Schreckensherrschaft führte. WeitereBeispiele lassen sich finden.

Hubands Folgerungen werden drei Jahre später vonJames Astill in dem bereits zitierten Artikel wieder auf-gegriffen. Er reflektiert über die »politischen Kosten, dieein Land zahlen muß, das sich [vor dem Angriff] von einertotalitären Militärdiktatur, einem ruinösen Islamismusund einem langwährenden Bürgerkrieg zu befreienversuchte«, nun aber »in den Alptraum jenes fruchtlosenExtremismus zurückfällt, dem es entkommen wollte«.

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Diese »politischen Kosten« können den Sudan im End-effekt teurer zu stehen kommen als die Zerstörung seiner»ohnehin nicht sattelfesten medizinischen Versorgungs-strukturen«, meint Astill.

Er zitiert dann noch Idris Eltayeb, einen führenden su-danesischen Pharmakologen und den Vorsitzenden desVerwaltungsrats von Al-Shifa. Ihm zufolge ist das Verbre-chen »ebenso ein Akt des Terrorismus wie der Anschlagauf das World Trade Center - mit dem Unterschied, daßwir wissen, wer die Fabrik in die Luft gejagt hat. Ich binsehr traurig wegen der Opfer [in New York und Washing-ton], aber im Hinblick auf die Anzahl der Toten und dieFolgekosten für ein armes Land war [der Anschlag im Su-dan] schlimmer.« Er dürfte, was die »Anzahl der Toten«angeht, recht haben, auch wenn wir die langfristigen »po-litischen Kosten« nicht in Betracht ziehen.

Die »Folgekosten« will ich nicht bewerten, und selbst-verständlich ist es unsinnig, Verbrechen dieser Art über-haupt gegeneinander abwägen zu wollen, auch wenn esvernünftig und wissenschaftlich haltbar ist, die jeweiligeZahl der Opfer miteinander in Beziehung zu setzen. DieZerstörung der Fabrik hat auch für die Bevölkerung derVereinigten Staaten schwerwiegende Folgen gehabt, wiedie Geschehnisse vom 11. September in aller Deutlichkeitgezeigt haben. Bemerkenswerterweise spielte der Vorfallim Sudan in der Erörterung des Versagens der Geheim-dienste überhaupt keine Rolle.

Kurz vor dem Angriff auf die Fabrik waren im Sudanzwei Männer unter dem Verdacht festgenommen worden,Bombenattentate auf amerikanische Botschaften in Ost-afrika verübt zu haben. Wie US-Regierungsbeamte bestä-tigen, wurde Washington davon in Kenntnis gesetzt. Aberdie USA lehnten das sudanesische Angebot zur Zusam-

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menarbeit ab, un'd nach dem Angriff setzte der Sudan dieVerdächtigen »verärgert auf freien Fuß«.9 Ein weitererGrund für die Freilassung wird aus kürzlich durchgesik-kerten FBI-Memoranden ersichtlich: Das FBI bemühtesich um die Auslieferung der Inhaftierten, aber das Au-ßenministerium verhielt sich ablehnend. Ein »hochrangigerCIA-Angehöriger« bezeichnete diese Ablehnung dersudanesischen Bereitschaft zur Kooperation als »dasschlimmste Versagen des Geheimdienstes« im Hinblickauf den Anschlag vom 11. September. Denn der Sudanhätte »den Schlüssel zu dieser Affäre« liefern und Bela-stungsmaterial gegen Bin Ladin vorlegen können, wennnicht die US-Regierung wegen ihres »irrationalen Has-ses« gegen den Sudan alle Angebote ausgeschlagen hätte.Der Sudan besaß nämlich »umfangreiche geheimdienst-liche Informationen über Usama Bin Ladin und mehr alszweihundert Mitglieder seiner Terrororganisation Al-Qaida«, die zur Verfügung zu stellen er bereit war.Washington wurde »umfangreiches Aktenmaterial mitFotografien und detaillierten Lebensläufen vieler Füh-rungsmitglieder und wichtige Informationen über dieweltweiten finanziellen Transaktionen von Al-Qaida«offeriert. Washington lehnte ab. »Vernünftigerweise mußman sagen, daß wir mit diesen Daten die Angriffevielleicht hätten verhindern können.« Soweit der CIA-Angehörige.10

Das Gleiche gilt für »unsere kleine Gegend hier«, wie dereinstige US-Außenminister Henry Stimson die westlicheHemisphäre genannt hat. Wenn der US-amerikanischenDoktrin zufolge Opfer von Terrorangriffen das Recht ha-ben, mit Mitteln der Gewalt darauf zu antworten, hätteKuba allen Anspruch darauf, weil die Insel seit 1959 vonden Vereinigten Staaten terroristisch attackiert wird.

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Aber das alles interessiert die Öffentlichkeit hier-zulande wenig, wie auch das folgende Beispiel zeigt. Am16. September berichtete die New York Times, daß dieUSA von Pakistan verlangt hätten, seine Hilfslieferun-gen an Lebensmitteln nach Afghanistan einzustellen.Hinweise hatte es schon vorher gegeben, aber jetzt wurdees unwidersprochen behauptet. Washington habe, so JohnBurns aus Islamabad, unter anderem gefordert, »dieLastwagenkonvois, die Lebensrnittel und andere Güteran die afghanische Bevölkerung liefern, zu stoppen«. Dasbedeutet, daß ungezählte Afghanen dem Hungertodausgeliefert werden. Und es sind keine Tali-ban, sondernderen Opfer, vielfach Menschen, die an der Fluchtgehindert werden. Die Forderung an Pakistan lief daraufhinaus, weite Teile der afghanischen Bevölkerungverhungern zu lassen.

Und wie wurde darauf reagiert?Ich habe fast den ganzen nächsten Tag damit verbracht,

Radio- und Fernsehberichte zu verfolgen. In Europa oderden USA gab es so gut wie keine Reaktion, im Gegensatzzu anderen Teilen der Welt. Wie hätten wir darauf reagiert?Nehmen wir an, eine Macht wäre stark genug, um zu ver-fügen, daß eine große Anzahl von Amerikanern Hungersstirbt. Wäre das ein ernstzunehmendes Problem? Aberauch diese Analogie geht am Kern der Sache vorbei. Af-ghanistan ist nach der sowjetischen Invasion und den vonWashington unterstützten Kriegen seinem Schicksal über-lassen worden. Es ist großenteils zerstört und die Bevölke-rung verzweifelt. Was sich dort abzeichnet, ist eine derschlimmsten humanitären Krisen der Gegenwart.

Die Vereinigten Staaten kaschieren ihren Terrorismusmit der Doktrin von der »Kriegsführung niederer Intensi-tät«, zu der sie sich offiziell verpflichtet haben. Wenn man

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die gängigen Definitionen dieser Art von Kriegsführungmit den Definitionen von »Terrorismus« im US-Strafge-setzbuch oder in Armeehandbüchern vergleicht (siehedazu Kap. I), so gleichen sie sich aufs Haar. Terrorismusist der Einsatz von Zwangsmitteln gegen die Zivilbevöl-kerung, um politische, religiöse oder andere Ziele zu er-reichen. Genau das war der Angriff auf das World TradeCenter, ein besonders erschreckendes terroristisches Ver-brechen.

Den offiziellen Definitionen zufolge ist TerrorismusBestandteil staatlichen Handelns, was natürlich nicht nurfür die Vereinigten Staaten gilt. Und er ist gerade nicht,wie oft behauptet wird, »die Waffe der Schwachen«.

Anmerkungen

1 George Gedda, AP, 6. Oktober 2001. [Die Sandinisten verloren dieWahl. Anm. d. Üb.}

2 Anm. d. Üb.: Der Attentäter, Timothy McVeigh, wurde eher durcheinen Zufall gefaßt und zum Tode verurteilt. Er starb durch eine Gift-spritze.

3 Jonathan Belke, Boston Globe, 22. August 1999.4 Tom Carnaffin, ein technischer Manager, der »gute Kenntnisse« über

die zerstörte Fabrik besitzt; zit. in Ed Vulliamy, Henry McDonald,Shyam Bhatia und Martin Bright, London Observer, 23. August 1998,Titelgeschichte, S. 1.

5 Patrick Wintour, Observer, 20. Dezember 1998.6 James Astill, Guardian, 2. Oktober 2001.7 Jonathan Belke und Kamal El-Faki, Lageberichte für die Near East

Foundation.8 Mark Huband, Financial Times, 8. September 1998.9 James Risen, New York Times, 30. Juli 1999.

10 Vgl. David Rose, Observer, 30. September 1999, über eine Recherchedieser Zeitung.

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IV. Usama Bin Ladin und die USA

Bin Ladin und seine Ziele

Ob Bin Ladin nun hinter dem Anschlag steckt oder nicht, erteilt auf jeden Fall, wie die ausführlichen Interviewszeigen, die Robert Fisk mit ihm geführt hat, den in derarabischen Region weitverbreiteten Zorn über die Politikder USA im Nahen und Mittleren Osten - vor allem überdie US-amerikanische Militärpräsenz in Saudi-Arabienund die Unterstützung der israelischen Palästina-Politik.

Viele, die sich mit der Lage in Afghanistan auskennen,bezweifeln, daß Bin Ladin über die notwendigen logisti-schen Fähigkeiten verfügt, einen so raffiniert geplantenAnschlag von einer Höhle in den Bergen aus zu steuern.Aber daß seine Organisation daran beteiligt war, isthöchst plausibel, und daß er seine Anhänger zu motivierenvermag, ist bekannt. Es handelt sich bei diesen Terror-organisationen um dezentralisierte, nichthierarchischeStrukturen, deren Kommunikation untereinander mögli-cherweise sehr begrenzt ist. Vielleicht sagt Bin Ladin dieWahrheit, wenn er angibt, von der Operation nichts ge-wußt zu haben.

Hingegen weiß er sehr genau, was er will, und läßt dar-über weder den Westen noch die arabische Welt, die erdurch seine Interviews und Verlautbarungen erreicht, imUnklaren. Für ihn werden Saudi-Arabien und andereStaaten der Region von korrupten und unterdrücken-

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sehen Regierungen beherrscht, die nicht wirklich »islami-stisch« sind. Und er ist mit seiner Organisation bereit,Muslime überall dort zu unterstützen, wo sie gegen die»Ungläubigen« kämpfen, also in Tschetschenien, Bos-nien, Kaschmir, Westchina, Südostasien, Nordafrika. DieseOrganisationen haben einen Heiligen Krieg geführt, umdie Sowjets (die sich in den Augen der Taliban von Britenund Amerikanern nicht wesentlich unterscheiden) ausAfghanistan zu vertreiben, und ihnen ist noch mehr darangelegen, die US-Amerikaner aus Saudi-Arabien zuverdrängen, weil dort die heiligen Stätten des Islam behei-matet sind.

Seine Forderung, korrupte und brutale Gangsterregimeszu stürzen, findet ebenso großen Widerhall wie seineEmpörung über Greueltaten, die er und andere, durchausnicht grundlos, den USA anlasten. Andererseits schadenseine Verbrechen den Armen und Unterdrückten in derRegion; und der Angriff auf das World Trade Center war fürdie Palästinenser alles andere als hilfreich. Aber was vonaußen betrachtet unlogisch erscheint, kann sich inarabischer Perspektive ganz anders darstellen. In seinemKampf gegen durchaus reale Unterdrücker gilt Bin Ladinauch dann als Held, wenn seine Politik der armenBevölkerungsmehrheit schadet. Und sollte es den Ver-einigten Staaten gelingen, ihn zu töten, gewinnt er alsMärtyrer vielleicht sogar noch mehr Einfluß. Er ist, fürdie USA, aber auch für große Teile der arabischen Bevöl-kerung, nicht nur eine objektive, sondern auch eine sym-bolische Macht.

Man muß ihn und seine Ziele unbedingt ernstnehmen.Außerdem dürften seine Verbrechen die CIA eigentlichnicht überrascht haben. Die von den USA, Ägypten,Frankreich und Pakistan organisierten radikal-islamisti-

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sehen Organisationen begannen schon sehr früh zurück-zuschlagen, indem sie 1981 den ägyptischen PräsidentenSadat töteten, obwohl er zu den energischsten Unterstüt-zern des Heiligen Kriegs gegen die Sowjets in Afgha-nistan gehört hatte.

Dieser »Rückstoß« erfolgte äußerst direkt und war seinerArt nach aus einer fünfzigjährigen Geschichte bekannt,samt Drogenhandel und Gewalt. Nehmen wir nur einBeispiel. In dem bereits erwähnten Buch Unholy Warsberichtet John Cooley, daß die CIA der Einreise desägyptischen Radikalislamisten Scheich Omar Abdel Rah-man in die USA 1990 »bewußt zugestimmt« hätte. Ägyptenhatte bereits einen Haftbefehl für ihn ausgestellt, weil manihn terroristischer Verbrechen beschuldigte. 1993 war er indas Bombenattentat auf das World Trade Centerverwickelt, das offensichtlich nach dem Muster von CIA-Handbüchern gestrickt war, mit deren Anleitung die»afghanischen« Milizen gegen die Sowjets gekämpft hatten.Es gab Pläne, das UNO-Gebäude sowie die Lincoln-undHolland-Tunnel in die Luft zu sprengen. Omar AbdelRahman wurde wegen Verschwörung zu einer mehr-jährigen Gefängnisstrafe verurteilt.

Das Problem der Auslieferung

Es ist, wie gesagt, nicht so einfach, eindeutige Beweise fürdie Urheberschaft Bin Ladins vorzulegen. Wie schwierig esist, wurde am 5. Oktober deutlich, als der britischePremierminister Tony Blair mit großem Aplomb verkün-dete, die Verantwortung von Bin Ladin und der Talibansei »zweifelsfrei« erwiesen. Die vorgelegte Dokumentati-

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on muß den intensivsten Recherchen entsprungen sein,die es je in der Geschichte gegeben hat. Alle westlichenund einige andere Geheimdienste waren daran beteiligt.Trotz der Plausibilität der Anschuldigung ist die Be-weislage jedoch erstaunlich dünn und dürftig. Nur einkleiner Teil bezieht sich überhaupt auf die Anschlägevom 11. September und würde als Belastungsmaterialgegen westliche Staatsverbrecher oder ihre Satelliten nichternst genommen. Das Wall Street Journal beschrieb dieUnterlagen als »Schuldzuweisung, die kaum als Be-weismaterial bezeichnet werden kann« und verwies denArtikel auf eine der hinteren Seiten. Außerdem zitiert dieZeitung einen hochrangigen US-Regierungsbeamten, dersagte: »Der Verbrechensfall selbst ist irrelevant. Es gehtdarum, Mr. Bin Ladin und seine Organisation auszulöschen.«Die Dokumentation dient vor allem dazu, daß Blair, derGeneralsekretär der Nato und andere der Welt versichernkönnen, die Beweise seien »eindeutig und zwingend«.

Ob das im Mittleren Osten auch so gesehen wird, istfragwürdig. Berichten von Robert Fisk zufolge reagiertdie Bevölkerung eher skeptisch, während die Regierungenund ihre Organisationen für den Schulterschluß mit demWesten eigene Gründe haben. Außerdem läßt sich fragen,warum Washingtons Propagandaspezialisten Blair den Fallpräsentieren ließen. Vielleicht sollte der Eindruck erwecktwerden, er habe noch »aus Sicherheitsgründen« ganzüberzeugende Beweismaterialien in der Hinterhand. Oderman hoffte auf eine gelingende Churchill-Imitation.

Außerdem lauern im Hintergrund weitere Minenfel-der, die von den Strategen sorgfältig berücksichtigt werdenmüssen. Die indische Schriftstellerin Arundhati Roybemerkt sehr treffend: »Die Reaktion der Taliban auf die

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Forderung der USA, Bin Ladin auszuliefern, war unge-wöhnlich vernünftig: Zeigt uns die Beweise, und wirgeben ihn euch. Präsident Bush reagierte mit der Be-merkung, das sei keine Frage von Verhandlungen.« Siefügt einen der Gründe hinzu, warum ein solches Vor-gehen für die USA unakzeptabel ist: »Wenn es um Aus-lieferungen geht, würde Indien gerne einen Nebenantragauf die Auslieferung des US-Bürgers Warren Andersenstellen. Er war der Vorsitzende der Union Carbide undals solcher verantwortlich für den Giftgasunfall in Bhopal,der 1984 16 000 Menschen tötete. Wir haben dienotwendigen Beweise. Es steht alles in den Akten.Könnten wir ihn, bitte, haben?«1

Wir brauchen keine Beispiele zu erfinden. Die RegierungHaitis hat die Vereinigten Staaten um die Auslieferung vonEmmanuel Constant ersucht, einen der brutalsten parami-litärischen Führer zu der Zeit, als die Regierungen Bushsen. und Clinton (anders als gern geglaubt wird) der damalsherrschenden Junta und ihrer reichen Wählerschaft still-schweigende Unterstützung gewährten. Constant wurde inHaiti für seine Verantwortung für die Massaker in Abwe-senheit zu einer lebenslangen Gefängnisstrafe verurteilt. Ist erausgeliefert worden? Haben die Medien sich um die An-gelegenheit gekümmert? Die Antworten fallen negativ aus,und dafür gibt es handfeste Gründe: Die Ausweisungkönnte zur Aufdeckung unliebsamer Verbindungen zwi-schen Washington und der Junta führen. Und überdies sindbei den von ihm initiierten Greueltaten ja nur etwa 5000Personen umgekommen. Solche Beobachtungen rufen beivielen Leuten im Westen, die sich als Liberale bezeichnen,wahre Wutanfälle hervor. Aber für den, der seine mora-lische Integrität bewahrt hat, und auch für viele Opfer sinddiese Beispiele höchst instruktiv.

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Der von Arundhati Roy erwähnte Fall gehört sogarnoch zu den geringfügigeren, auch weil es sich dabei nichtum ein Staatsverbrechen handelte. Nehmen wir an, derIran würde die Auslieferung hoher Beamter der RegierungenCarter und Clinton fordern, jedoch die Beweise - die esgibt - für die von ihnen ins Werk gesetzten Verbrechenverweigern. Oder Nicaragua würde die Auslieferung desneuernannten UN-Botschafters der USA fordern, einesMannes, der in Honduras, praktisch einem Lehensbesitzder Vereinigten Staaten, als (wie er genannt wurde)»Prokonsul« tätig war, wo er die Verbrechen der vonihm unterstützten Staatsterroristen aus nächster Nähebeobachten konnte, und der von dort aus den terroristi-schen Krieg gegen Nicaragua kontrollierte. Wären dieUSA bereit, diese Personen auszuliefern? Oder würdedie Forderung bloß Gelächter hervorrufen?

Und das wäre nur der Anfang. Besser, man läßt die Türengeschlossen und bewahrt das hoheitliche Schweigen, dasherrscht, seit jemand, der die vom InternationalenGerichtshof als Terrorismus verurteilten Operationen lei-tete, nun dazu berufen wurde, einen »Krieg gegen denTerrorismus« zu führen. Da würde es selbst JonathanSwift die Sprache verschlagen.

Vielleicht ist das der Grund, warum die PR-Expertender Regierung den mehrdeutigen Ausdruck »Krieg« demunzweideutigen Ausdruck »Verbrechen« vorzogen. DerAnschlag vom 11. September war, wie Robert Fisk, MaryRobinson und andere richtig sagten, ein »Verbrechen gegendie Menschheit«.

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Wie auf Gewalt reagieren?

Wenn Staaten angegriffen werden, verteidigen sie sich,sofern sie dazu in der Lage sind. Allerdings sind die we-nigsten willens oder fähig, Gleiches mit Gleichem zu ver-gelten, sonst hätten Nicaragua, Südvietnam, Kuba undviele andere Länder US-amerikanische Städte bombardierenmüssen, und die Palästinenser hätten für ihre Anschläge inIsrael Beifall verdient. Die Vergeltungsdoktrin hatte Europanach zwei Weltkriegen an den Rand der Selbst-vernichtung geführt, weshalb die Nationen der Weltdanach sich bemühten, die zwischenstaatliche Politik an-deren Grundsätzen zu unterstellen. So ist Gewaltan-wendung nur als Reaktion auf einen bewaffneten Angrifferlaubt, bis der UN-Sicherheitsrat Maßnahmen zumSchutz von Frieden und Sicherheit ergreift. Vor allem sindVergeltungsschläge verboten. Da die Vereinigten Staatengemäß Artikel 51 der UN-Charta keinem bewaffnetenAngriff ausgesetzt sind, sollte die Reaktion entsprechendaussehen — zumindest, wenn wir befürworten, daß diePrinzipien der internationalen Rechtsprechung auch füruns gelten und nicht nur für unsere Gegner.

Außerdem wissen wir aus jahrhundertelanger Erfah-rung, daß die von vielen Kommentatoren ins Feld geführteDoktrin der Vergeltung in einer Welt mit Massenver-nichtungswaffen schnell zur finalen Katastrophe führenkann, weshalb die Europäer vor fünfzig Jahren sich dazuentschlossen, der Strategie wechselseitiger Vernichtungabzuschwören.

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Terrorakte und »Freudenausbrüche«

Tatsächlich haben weltweit nur sehr wenige Menschen dieAnschläge auf New York und Washington gefeiert; selbst inRegionen, die lange unter dem Stiefel der USA standen,wurden diese Verbrechen zutiefst bedauert. Ich möchtedennoch auf zwei ganz groteske Beispiele für Freuden-taumel angesichts terroristischer Gewalttaten verweisen.

1965 putschte sich, von den USA unterstützt, in Indo-nesien die Armee an die Macht. Danach kam es zur Er-mordung von hunderttausenden Indonesiern, die meistendavon Bauern ohne Landbesitz. Die CIA verglich dieGreueltaten mit den Verbrechen von Hitler, Stalin undMao. Im Westen gab es dazu eine umfangreiche Bericht-erstattung, die in den US-Medien und anderenorts un-bändige Euphorie auslöste.

Als Nicaragua unter den US-Angriffen zusammen-brach, lobten die großen Zeitungen und Zeitschriften denErfolg der eingesetzten Methoden, nämlich die »Zerstö-rung der Wirtschaft und die Betreibung eines langen undtödlichen Stellvertreterkriegs, bis die erschöpfte Bevölke-rung die unerwünschte Regierung von selbst stürzt«, wobeifür uns nur »minimale« Kosten entstehen, während denOpfern »zerstörte Brücken, beschädigte Kraftwerke undruinierte Bauernhöfe« bleiben. Dadurch kann der vonden USA favorisierte Präsidentschaftskandidat »aufSiegerkurs« gehen und »die Verarmung der nicaragua-nischen Bevölkerung« beenden, schrieb Time damals.Über diesen Ausgang sind wir, wie es in der New YorkTimes hieß, »in Freude vereint«.

Im übrigen ist der jetzt von Bush verkündete »Krieggegen den Terrorismus« nichts Neues und schon gar nichtdas, was zu sein er beansprucht. Wir sollten uns daran er-

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Innern, daß die Regierung Reagan vor zwanzig Jahren ihrAmt mit der Verkündigung antrat, der »internationaleTerrorismus« (der damals noch weltweit von der Sowjet-union gefördert wurde) sei die größte Bedrohung für dieUSA, ihre Verbündeten und Freunde. Folglich mußtenwir uns in einen Krieg stürzen, um diesen »Krebs«, diese»Pest«, die die Zivilisation zerstörte, auszurotten. Folglichorganisierten die Reaganisten weltweite Feldzüge, derenTerrorismus außerordentliche Zerstörungen hervorriefund sogar zu einer Verurteilung durch den InternationalenGerichtshof führte. Außerdem unterstützten die USAzahlreiche ausländische Terrorregierungen wie etwa inSüdafrika, wo allein während der Amtszeit der RegierungReagan eineinhalb Millionen Menschen getötet undSachschäden in Höhe von sechzig Milliarden Dollarverursacht wurden. Die Hysterie über den »internationalenTerrorismus« erreichte ihren Höhepunkt in den achtzigerJahren, während die Vereinigten Staaten und ihreVerbündeten den Krebs, den auszurotten sie forderten, eifrigselbst verbreiteten.

Wir können in einer Welt bequemer Illusionen lebenoder aber, wenn wir es wollen, die jüngstvergangene Ge-schichte mitsamt den unverändert gebliebenen institutio-neilen Strukturen und den Plänen, die verkündet wurden,betrachten - und die Fragen entsprechend beantworten.Ich sehe keinen Grund für die Annahme, daß die lang-fristigen Motivationen oder politischen Ziele sich, abge-sehen von taktischen Anpassungen an gewandelte geänderthaben sollten.

Zudem sollten wir uns daran erinnern, daß die Intellek-tuellen eine ihrer hervorragenden Aufgaben darin sehen,alle paar Jahre einen »Kurswechsel« zu proklamieren undeinen wie immer gearteten Schlußstrich unter die Vergan-

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genheit zu ziehen, während wir in eine ruhmreiche Zu-kunft marschieren.

Zu all diesen Problemen gibt es eine umfangreiche Li-teratur. Man muß lediglich die Tatsachen bedenken, dienatürlich den Opfern wohlbekannt sind, wenngleich nurwenige von ihnen das Ausmaß oder das Wesen der terro-ristischen Angriffe, denen sie ausgesetzt sind, zu erkennenvermögen.

Man kann nur hoffen, daß die Attentate vom 11. Sep-tember nicht zu Terrorangriffen auf Zivilisten im Auslandeinerseits und zu einer Einschränkung der bürgerlichenFreiheiten in den USA und andernorts andererseitsführen, obwohl man die Fähigkeit gutgeölter Propagan-damaschinerien, die Menschen zu irrationalen, mörderi-schen und selbstmörderischen Verhaltensweisen zu trei-ben, nicht unterschätzen darf. Nehmen wir ein Beispiel,das zeitlich lange genug zurückliegt, um mit einiger Lei-denschaftslosigkeit betrachtet zu werden: den ErstenWeltkrieg. Alle Beteiligten zogen in einen ihrer Ansichtnach edlen Krieg, in dem sie für die höchsten Zielekämpften. Die Soldaten marschierten mit außergewöhnli-cher Begeisterung in die Schlacht und das Schlachten, be-gleitet und bestärkt von Beifallsrufen der Intellektuellenund ihrer Helfershelfer von links bis rechts, eingeschlossendie seinerzeit weltweit stärkste politische Kraft derLinken, die deutsche Sozialdemokratie. Die Ausnahmenlassen sich praktisch an einer Hand abzählen, und fürmanche prominenten Kritiker des Krieges endete das pa-zifistische Engagement im Gefängnis, wie etwa für RosaLuxemburg, Bertrand Russell und den amerikanischenPazifisten und Arbeiterführer Eugene Debs. Dank derUnterstützung von Woodrow Wilsons Propagandaagen-turen und dem enthusiastischen Beifall liberaler Intellek-

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tueller wurden die Vereinigten Staaten, ein pazifistischesLand, innerhalb weniger Monate in eine anti-deutscheHysterie gestürzt, voller Rachsucht gegen ein Land, dasgrausame Verbrechen begangen hatte, die jedoch zumeistvom britischen Propagandaministerium erfunden wordenwaren. Aber solche Entwicklungen sind nicht unvermeidbar,und wir sollten den zivilisatorischen Effekt der Bür-gerrechtsbewegungen in diesem Land nicht vergessen.Wir müssen nicht der Katastrophe entgegeneilen, nurweil entsprechende Marschbefehle ausgegeben wurden.

Anmerkung

l Guardian vom 29. September 2001.

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V. Terrorismus und Zivilisation

Staatliche Gewalt im Zeichen des »Kriegs gegen denTerrorismus«

An einem konkreten Beispiel will ich zeigen, was die Aus-weitung staatlicher Gewaltmaßnahmen im Kampf gegenden Terrorismus bedeuten kann. Am 21. Septemberdruckte die New York Times einen Kommentar von Mi-chael Walzer, einem geachteten Intellektuellen, der alsmoralische Instanz gilt.1 Er rief zu einem »ideologischenFeldzug auf, bei dem alle Argumente und Entschuldigungenfür den Terrorismus aufgeboten und widerlegt« werdensollten. Da er weiß, daß es für den von ihm gemeintenTerrorismus keine vernünftigen Argumente und Ent-schuldigungen gibt, läuft seine Aufforderung eigentlichdarauf hinaus, die Ursachen für die Terrorakte gegen dievon ihm unterstützten Staaten nicht näher zu erforschen.Dann schließt er sich auf konventionelle Weise denen an,die »Argumente und Entschuldigungen für den Terroris-mus« vortragen, wobei er den politischen Mord still-schweigend billigt, genauer, den politischen Mord vonIsraelis an Palästinensern, die der Unterstützung des Ter-rorismus verdächtigt werden, ohne daß Beweise vorgelegtoder für notwendig befunden werden und in vielen Fällender Verdacht selbst unbegründet erscheint. Auch die un-vermeidlichen »Kollateralschäden« - Frauen, Kinder,Nachbarn - werden in gewohnter Manier abgehakt. Von

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den USA zur Verfügung gestellte Angriffshubschrauberwerden seit zehn Monaten für solche Morde benutzt.

Walzer setzt den Ausdruck »politischer Mord« in An-führungszeichen, weil er seiner Meinung nach in denRahmen der »von Leidenschaft getrübten und höchst ver-zerrten Berichte über die Blockade des Irak und den Kon-flikt zwischen Israel und Palästina« gehört. Er beziehtsich dabei auf kritische Äußerungen über die von denUSA gedeckten isralischen Greueltaten in den Gebieten,die seit 35 Jahren unter einer brutalen Besatzung zu leidenhaben, sowie auf Kritik an der Politik gegenüber demIran, die Saddam Hussein stärkte, aber die irakische Zivil-gesellschaft zerstörte. Derlei Kritik ist in den USA nichtgerade sehr verbreitet, aber für Walzer offenbar schon zuviel. Mit den »verzerrten Berichten« meint er vielleichtgelegentliche Hinweise auf die Äußerung der damaligenAußenministerin, Madeleine Albright, die im öffent-lichen Fernsehen gefragt wurde, was sie von Schätzungenhalte, denen zufolge aufgrund der amerikanischen Sankti-onspolitik eine halbe Million Kinder im Irak sterbenmüßten. Das sei zwar hart, meinte sie, »aber wir glauben, esist den Preis wert«.

Daran läßt sich erläutern, was die »Lockerung staat-licher Gewaltmaßnahmen« tatsächlich bedeutet. Vielemörderische Staaten haben ihre Handlungen mit dem»Kampf gegen den Terrorismus« gerechtfertigt, wie etwadie Nationalsozialisten ihr Vorgehen gegen die Partisa-nen. Und es finden sich immer wieder respektable Intel-lektuelle, die solche Verbrechen rechtfertigen.

Ein weiteres Beispiel stammt aus der jüngsten Ge-schichte. Im Dezember 1987, als die Besorgnis über deninternationalen Terrorismus ihren Höhepunkt erreichte,nahm die Generalversammlung der Vereinten Nationen

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eine grundlegende Resolution zu diesem Thema an, in dersie den Terrorismus umstandslos verurteilte und die Na-tionen dazu aufrief, ihn mit aller Macht zu bekämpfen.Die Resolution erhielt 153 Ja-Stimmen; Honduras ent-hielt sich, und nur die Vereinigten Staaten und Israelstimmten dagegen, weil sie eine Passage beanstandeten, inder es hieß, daß »das aus der UN-Charta abgeleiteteRecht auf Selbstbestimmung, Freiheit und Unabhängigkeitvon den Bestimmungen dieser Resolution unberührt bleibt,und Völker, denen dieses Recht gewaltsam vorenthaltenwird... insbesondere Völker unter kolonialen undrassistischen Regimes und fremder Besatzung oder anderenFormen kolonialer Herrschaft... das Recht haben, darum[in Übereinstimmung mit der Charta und andereninternationalen Rechtsprinzipien] zu kämpfen und Un-terstützung zu fordern und zu erhalten«. Das wurde vonden USA und Israel ebensowenig akzeptiert wie von ihremdamaligen Verbündeten Südafrika. Für Washington warder Afrikanische Nationalkongreß (ANC) eine »ter-roristische Organisation«, aber Südafrika galt natürlichnicht (wie zum Beispiel Kuba) als »terroristischer Staat«.Natürlich zeitigt Washingtons Interpretation von »Terro-rismus« in der Praxis Folgen, unter denen die Menschen zuleiden haben.

Im Augenblick ist häufig davon die Rede, eine umfas-sende Konvention gegen den Terrorismus zu formulieren,was keine leichte Aufgabe sein dürfte. Der Grund, der inden Berichten meist verschwiegen wird, liegt darin, daßdie USA und ihre Verbündeten eine Passage wie die ebenzitierte zu akzeptieren nicht bereit sind, wenn die Definitionvon Terrorismus mit den offiziellen Definitionen im US-Strafgesetzbuch oder in den Armeehandbüchernübereinstimmt. Sie muß also so umformuliert werden,

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daß sie den Terrorismus der Mächtigen und ihrer Satellitenausschließt.

Der Terror und die »internationaleStaatengemeinschaft«

Die »internationale Staatengemeinschaft« wendet sich gegenden Terror der Mächtigen ebenso wie gegen dieschrecklichen Verbrechen vom 11. September. Aber die»internationale Staatengemeinschaft« handelt nicht. Wennwestliche Staaten und Intellektuelle sich diesesAusdrucks bedienen, meinen sie die westliche Staaten-gemeinschaft. Ihrer Rhetorik zufolge wurde die Bombar-dierung Serbiens durch Nato-Streitkräfte von der »inter-nationalen Staatengemeinschaft« durchgeführt, obwohlalle, die nicht ihren Kopf in den Sand gesteckt hatten,wußten, daß diese Bombardierung von den meisten Staaten,oftmals ganz explizit, abgelehnt wurde. Wer dieAktionen der reichen und mächtigen Nationen nichtunterstützt, gehört eben nicht zur »internationalen Staa-tengemeinschaft«, so wie »Terrorismus« üblicherweisebedeutet: »Terrorismus, der sich gegen uns und unsereFreunde richtet«.

Es kann nicht überraschen, daß die Taliban in Afgha-nistan jetzt die USA bei ihrer Suche nach Verbündetennachahmen und die islamischen Staaten um Unterstüt-zung bitten. Sie dürften allerdings sehr viel weniger Erfolghaben. Selbst wenn sie von der übrigen Welt wenigwissen, wird den Taliban durchaus bekannt sein, daß dieislamischen Staaten ihnen alles andere als freundlich ge-sonnen sind, waren sie doch wiederholt terroristischenAngriffen seitens jener radikal-islamistischen Streitkräfte

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ausgesetzt, die vor zwanzig Jahren für den Heiligen Krieggegen die Sowjetunion organisiert und ausgebildet wurdenund schon bald danach ihre eigenen terroristischen Zielezu verfolgen begannen.

Kampf zwischen zwei Zivilisationen?

Das ist eine modische, aber wenig sinnvolle Redeweise.Nehmen wir einige vertraute historische Beispiele. Derbevölkerungsreichste islamistische Staat ist Indonesien,ein von den USA gehätschelter Liebling, seit Suharto1965 dort die Macht übernahm und mit US-amerikani-scher Unterstützung ein riesiges Blutbad anrichtete, wasim Westen eine Euphorie auslöste, die sich im nachhineinso verwirrend ausnimmt, daß sie aus der Erinnerung ge-löscht wurde. Suharto blieb auch »unser Typ«, wie ihndie Regierung Clinton nannte, als er Verbrechen beging,deren Ausmaß im späten zwanzigsten Jahrhundert kaumeine Parallele finden.

Der fundamentalistischste aller Islam-Staaten nebenden Taliban ist Saudi-Arabien, seit seiner Gründung einSatellit der USA. In den achtziger Jahren bildeten die Ver-einigten Staaten, unterstützt vom pakistanischen Ge-heimdienst sowie Saudi-Arabien, Großbritannien undanderen, die extremistischsten islamischen Fundamentalistenaus, die sie finden konnten, um den Sowjets in Af-ghanistan den größtmöglichen Schaden zuzufügen. DieseBemühungen, so Simon Jenkins in der Londoner Times,»zerstörten ein gemäßigtes Regime und führten zu einemfanatischen, das aus Gruppen bestand, die rücksichtslosvon den Amerikanern finanziert wurden« (wobei die mei-sten Gelder vermutlich aus saudi-arabischen Quellen

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stammten). Zu denen, die indirekt davon profitierten, ge-hörte Usama Bin Ladin.

Ebenfalls in den achtziger Jahren unterstützten dieUSA und Großbritannien ihren Freund und VerbündetenSaddam Hussein, der zwar nicht sonderlich religiös war,aber, trotz seiner diversen Greueltaten, doch auf der »isla-mischen« Seite des »Kampfes der Kulturen« stand.

Und genau zu jener Zeit trugen die Amerikaner einenKrieg in Mittelamerika aus, der an die 200 000 gefolterteund verstümmelte Leichen sowie Millionen von Waisenund Flüchtlingen hervorbrachte. Ein Hauptangriffszielder USA war die katholische Kirche, die dazu aufrief, sichfür die Armen einzusetzen.

Zu Beginn der neunziger Jahre machten die USA, vorallem aus zynischen Machterwägungen heraus, bosnischeMuslime zu ihren Satelliten, was diesen indes nicht gutbekam.

Wo also finden wir den »Clash«, den »Kampf der Kul-turen«? Müssen wir folgern, daß es einen »Zusammen-stoß« mit der katholischen Kirche in Lateinamerika aufder einen und den USA samt der islamischen Welt undihren radikalsten Elementen auf der anderen Seite gibt?Natürlich ziehe ich eine solche Absurdität nicht in Erwä-gung. Aber was müssen wir aus den Bündniskonstellationenvernünftigerweise folgern?

Für die von der CIA mobilisierten radikalen Islamistenund ihre Verbündeten ist klar, wen sie hassen. Die USAhaben ihren Haß und ihre Gewalt unterstützt, solange siesich gegen die Feinde der Vereinigten Staaten richteten.Jetzt erkennen sie mit Schrecken, daß das, was sie nährten,sich nun gegen sie selbst richtet.

Zwar sind die Angriffe vom 11. September keine »di-rekte« Folge der US-amerikanischen Politik, indirekt, das

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ist unbestritten, aber schon. Es besteht kaum ein Zweifeldaran, daß die Täter aus dem terroristischen Netzwerkkommen, dessen Wurzeln in den Söldnerarmeen liegen,die von den USA und anderen Ländern für den Kampfgegen die sowjetische Besatzung ausgebildet wurden. DieHintergründe dieser ganzen Sache sind nach wie vor et-was dunkel. Dem ehemaligen Sicherheitsberater von Prä-sident Carter, Zbigniew Brzezinski, zufolge, begann derAufbau dieser Streitkräfte 1979. Jedenfalls behauptet er,Mitte jenes Jahres für die geheime Unterstützung vonMudschahedin-Kämpfern gegen die afghanische Regie-rung gesorgt zu haben, um die Sowjets zum Einmarsch inAfghanistan zu verleiten. Tatsächlich schickte die Regie-rung der UdSSR sechs Monate später Truppen in dasLand, um die Regierung zu stützen. Die Folgen sind be-kannt. Die Vereinigten Staaten bauten ein riesiges Söld-nerheer aus radikalen Islamisten auf, die zumeist nicht ausAfghanistan stammten, sondern, wie Bin Ladin, aus an-deren Ländern der Region kamen.

Bin Ladin schloß sich den Kämpfern in den achtzigerJahren an. Er war an der Gründung der Terrororganisationenbeteiligt, die wahrscheinlich noch heute existieren. Siekämpften gegen die sowjetische Besatzungsmacht, trugenden Terror in das Gebiet der UdSSR und gewannen denKrieg, um dann ihren Aktionsradius zu erweitern. 1981ermordeten sie Anwar el-Sadat, und 1983 vertrieben siemit einem Selbstmordattentat das US-Militär aus demLibanon.

1989 hatten sie ihren Heiligen Krieg in Afghanistan ge-wonnen. Als die USA in Saudi-Arabien militärischeStützpunkte errichteten, war das nach Meinung dieserKrieger mit der sowjetischen Besetzung von Afghanistanzu vergleichen, und so wurden die Vereinigten Staaten,

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zusammen mit Ägypten und Saudi-Arabien zu ihremHauptfeind.

1997 ermordeten sie in Ägypten an die sechzig Touri-sten und brachten die dortige Fremdenverkehrsindustriean den Rand des Abgrunds. Seit Jahren erstrecken sichihre Aktivitäten auch auf andere Regionen und Länder.Das ist eine Folge des Kriegs gegen die Sowjets und dievon ihnen gestützte Regierung Afghanistans. Ihr Haß aufdie Amerikaner wird, wie erwähnt, von vielen Bewoh-nern der arabischen Länder geteilt.

Die »Kultur des Terrorismus«

Die USA bleiben vorerst das einzige Land, das vom Inter-nationalen Gerichtshof des internationalen Terrorismusbeschuldigt und wegen »ungesetzlicher Anwendung vonGewalt« zu politischen Zwecken - so die Begründung -verurteilt wurde. Die Vereinigten Staaten scherten sichnicht darum und eskalierten den Krieg gegen Nicaraguaweiter, wobei die offizielle Politik darin bestand, »weicheZiele« wie Landwirtschaftskollektive und Krankenhäuseranzugreifen, nicht aber die nicaraguanische Armee. DieTerroristen konnten diese Instruktionen durchführen,weil die US-Luftwaffe den Luftraum über Nicaragua be-herrschte und die Gegner der Sandinisten über hervor-ragende Kommunikationsnetze verfügten.

Die terroristischen Aktionen fanden in den US-Medienbreite Zustimmung. Ein bekannter Kommentator aus demliberalen Lager, Michael Kinsley, meinte, wir sollten dieBegründungen des Außenministeriums für terroristischeAngriffe auf »weiche Ziele« nicht einfach verwerfen: eine»sensible Politik« müsse »den Test der Kosten-Nutzen-

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Analyse bestehen«, das heißt »das Ausmaß von Blut undElend« abwägen gegen »die Wahrscheinlichkeit, daß amEnde die Demokratie steht« - »Demokratie« im Sinneder USA, natürlich. Daß die US-Eliten das Recht haben,die Analyse durchzuführen und das Projekt umzusetzen,falls der Test positiv ausfällt, wird für selbstverständlichgehalten.

Darüber hinaus hielt man die Vorstellung, daß Nicara-gua ein Recht darauf habe, sich selbst zu verteidigen, fürskandalös. Die USA übten Druck auf die Verbündetenaus, Nicaragua nicht weiter mit Waffen zu beliefern, umdas Land in die Arme der Sowjetunion zu treiben, wasdann auch passierte und propagandistisch ausgeschlachtetwerden konnte. Die Regierung Reagan setzte wiederholtGerüchte in Umlauf, denen zufolge Nicaragua russischeKampfjets erhalte - die die Sandinisten auch durchaus fürdie Verteidigung des Luftraums gegen Angriffe auf »weicheZiele« hätten brauchen können. Die Gerüchte waren falsch,aber die Reaktion sehr bezeichnend. Liberale Pazifistenbezweifelten zwar die Kolportage, meinten aber, falls siedoch zuträfe, müsse Nicaragua bombardiert werden, weilsonst unsere Sicherheit bedroht sei. DatengestützteNachforschungen würden kaum Hinweise darauf ergeben,daß Nicaragua das Recht besitze, sich zu verteidigen. Dasbesagt eine Menge über die im Westen tief verwurzelte»Kultur des Terrorismus«.

Ebenfalls in den achtziger Jahren führten die USA auchim Mittleren Osten terroristische Aktionen großen Um-fangs durch, wie etwa die (bereits erwähnte) Zündung einerAutobombe vor einer Moschee in Beirut, die zwar vieleZivilisten tötete, ihr eigentliches Ziel, einen musli-mischen Geistlichen, jedoch verfehlte. Und die VereinigtenStaaten unterstützten den Terror Israels gegen die

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Palästinenser. Die Invasion im Libanon forderte an die18 000 Opfer, zumeist palästinensische und libanesischeZivilisten, und sie geschah, wie sogleich zugegeben wurde,nicht aus Gründen der Selbstverteidigung. In dendarauffolgenden Jahren kam es zu weiteren Greueltaten,als Israel gegen »terroristische Dorfbewohner« vorging.Auch die Invasionen von 1993 und 1996 wurden von denUSA unterstützt, bis die internationalen Reaktionen aufdas Massaker von Qana 1996 Clinton zu einer Kehrt-wendung zwangen. Allein im Libanon sind nach 1982womöglich an die 20 000 Zivilisten umgekommen.

In den neunziger Jahren lieferten die USA achtzig Pro-zent der Waffen, die von der Türkei in ihrem Feldzug gegendie Kurden im Südosten einsetzten. Zehntausendestarben dabei, bis zu drei Millionen Menschen wurdenvertrieben, 3500 Dörfer zerstört (zehnmal so viel wie vonden Bomben der Nato im Kosovo). Der Umfang der Waf-fenlieferungen nahm 1984, als die Türkei mit den Angriffenbegann, dramatisch zu und ging erst 1999, als dieGreueltaten ihr Ziel erreicht hatten, wieder zurück. Da-nach wurde Kolumbien, in den neunziger Jahren der la-teinamerikanische Staat mit dem größten Ausmaß anMenschenrechtsverletzungen, zum führenden EmpfängerUS-amerikanischer Waffenlieferungen.

In Ost-Timor wurden die indonesischen Aggressorenauch weiterhin von den USA (und Großbritannien) un-terstützt. Sie hatten bereits ein Drittel der Bevölkerungausgerottet und setzten Anfang September 1999 zu einementscheidenden Schlag an, der 85 Prozent der Bevölke-rung aus ihren Häusern vertrieb und das Land zu 70 Pro-zent zerstörte, während die Regierung Clinton an ihrerPosition festhielt, das Ganze liege »in der Verantwortungder indonesischen Regierung, die wir ihr nicht abnehmen

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wollen«. Kurz danach jedoch geriet Clinton unter erheb-lichen innen- und außenpolitischen Druck (vor allemdurch Australien), die Kämpfe in Ost-Timor zu beenden.Schließlich signalisierte er den indonesischen Generälen,das jetzt Schluß gemacht werden müsse. Sie ändertenihren Kurs sofort. Zunächst hatten sie noch darauf be-standen, sich nicht aus Ost-Timor zurückzuziehen undrichteten im indonesischen West-Timor Verteidigungs-anlagen (bestückt mit britischen Kampfbombern, dieweiterhin geliefert wurden) ein, um gegen eine eventuelleInterventionsstreitmacht gerüstet zu sein. Aber dann wi-chen sie dem Druck der amerikanischen Regierung undkündigten den Rückzug an. Ein UN-Friedenskorps unteraustralischer Führung konnte ungehindert in Ost-Timorlanden. Das zeigt sehr deutlich, daß die USA ihren Ein-fluß schon sehr viel eher hätten geltend machen und derseit fünfundzwanzig Jahren betriebenen Ausrottungs-politik Einhalt gebieten können. Statt dessen leisteten sie1978, als der Krieg eskalierte, den Mördern entscheidendemilitärische und diplomatische Hilfe.

Wir lernen sehr viel über die westliche Zivilisation,wenn wir sehen, daß diese schändlichen Vorgänge als Be-weis für unsere neue Entschlossenheit zu einer »humani-tären Intervention« und als Rechtfertigung für die Bom-bardierung Serbiens herhalten müssen.

Was unter »Terrorismus« zu verstehen ist

Ich verstehe den Begriff »Terrorismus« so, wie ihn die of-fiziellen US-Dokumente definieren, nämlich als »kalku-lierte Anwendung oder Androhung von Gewalt, um Zielezu erreichen, die ihrem Wesen nach politisch, religiös

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oder ideologisch sind. Das geschieht durch Einschüchte-rung, Zwang oder die Verbreitung von Furcht.« In Über-einstimmung mit dieser - völlig angemessenen — Defini-tion ist der Angriff vom 11. September zweifellos einterroristischer Akt, besser gesagt: ein schreckenerregendesterroristisches Verbrechen. Darüber herrscht weltweitEinigkeit und sollte es auch.

Aber neben dieser wörtlichen Bedeutung gibt es nocheine propagandistische, die unglücklicherweise die Normist: Hier wird der Begriff »Terrorismus« benutzt, um ter-roristische Handlungen zu bezeichnen, die von Feindengegen uns oder unsere Verbündeten begangen werden.Diese propagandistische Bedeutung ist nahezu universell.Dieser »Terrorismus« wird von allen verurteilt. Auch dieNationalsozialisten wandten sich gegen ihn und lancierten»gegen-terroristische« Angriffe, um die Partisanenabzuwehren.

Die Vereinigten Staaten verfuhren nach dem ZweitenWeltkrieg kaum anders, als sie in vielen Ländern »Gegen-Terrorismus« (counter-terrorism) betrieben. Ihre Programmeberiefen sich ganz explizit auf nationalsozialistischeVorbilder: Offiziere der deutschen Wehrmacht wurdenum Rat gefragt und ihre Handbücher genutzt, um weltweitaufständische und rebellierende Gruppen mittels counter-insttrgency zu bekämpfen. In der propagandistischen Ver-wendung des Begriffs »Terrorismus« können dieselbenMenschen und Handlungen sehr schnell von »Terroristen« zu»Freiheitskämpfern« (und umgekehrt) werden.

Ein Beispiel ist das Kosovo. Hier wurden die Truppender »Kosovo-Befreiungsarmee« (KLA-UCK) 1998 vonder US-Regierung offiziell als »Terroristen« bezeichnet,weil sie serbische Polizisten und Zivilisten angriffen, um,wie sie selbst erklärten, eine übermäßig brutale Reaktion

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Serbiens zu provozieren. Noch im Januar 1999 meintendie Briten — in dieser Angelegenheit die schärfsten Falken inder Nato —, daß die KLA-UCK mehr Personen getötethabe als die serbischen Streitkräfte. Das ist zwar schwervorstellbar, sagt uns aber etwas über die Wahrnehmungs-muster in hohen Nato-Kreisen. Den umfangreichen Do-kumentationen zufolge, die vom US-Außenministerium,der Nato und der OSZE vorgelegt wurden, änderte sichan der Lage bis zum Abzug der OSZE-Überwacher undden Bombardements von Ende März 1999 substantiellnichts. Aber die Politik änderte sich: Die USA und Groß-britannien entschlossen sich zu einem Angriff auf Ser-bien, und damit wurden die »Terroristen« der KLA-UCK zu»Friedenskämpfern«. Als sie nach dem Krieg in Maze-donien, einem US-Verbündeten, aus (wie sie meinten)ähnlichen Gründen ähnlich handelten, waren sie wieder»Terroristen«, »Verbrecher« und »Mörder«.

Alle verurteilen den Terrorismus, aber man muß wis-sen, was darunter jeweils verstanden wird. Ich habe zudiesem Thema in den letzten Jahrzehnten viel geschrie-ben, dabei den Begriff aber immer im wörtlichen Sinngebraucht. Insofern verurteile ich alle terroristischen Ak-tionen, nicht nur die, welche aus propagandistischenGründen so genannt werden.

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Anmerkung

l Anm. d. Üb.: Michael Walzer ist Professor für Sozialwissenschaften inPrinceton und gilt in der Politischen Philosophie als Vertreter desKommunitarismus. Viele seiner Werke wurden ins Deutsche über-setzt, wie etwa Exodus und Revolution, Sphären der Gerechtigkeit,Kritik und Gemeinsinn.

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VI. Der Angriff und seine Folgen

Die Lage in Afghanistan

Fünf Tage nach den Anschlägen auf New York und Wa-shington berichtete John Burns, Korrespondent der NewYork Times, aus Islamabad: »Washington hat [vonPakistan] die Einstellung der Versorgung mit Brenn-stoffen... und den Stopp von Lastwagenkonvois, dieAfghanistans Zivilbevölkerung mit Lebensmitteln undanderen Gütern versorgen, gefordert.«1 Bemerkens-werterweise rief der Bericht im Westen keinerlei Reak-tionen hervor; ein weiterer Hinweis auf den Charakterder westlichen Zivilisation, die deren Politiker und in-tellektuellen Eliten beanspruchen aufrechtzuerhalten.Pakistans Regierung kam den Forderungen Washingtonsnach. Am 27. September berichtete Burns, Regie-rungsbeamte in Pakistan hätten gesagt, »sie würden ihreEntscheidung, die etwa 2000 km lange Grenze zuAfghanistan abzuriegeln, in die Tat umsetzen. Die Re-gierung Bush habe diese Vorgehensweise gefordert, umsicherzugehen, daß sich unter den Flüchtlingsmassenkeine Leute aus Bin Ladins Organisation versteckt hiel-ten.« Drei Tage später schreibt ein anderer Korrespon-dent: »Die Drohung eines Militärschlags beschleunigteden Abzug von Mitarbeitern internationaler Hilfsorga-nisationen, wodurch die Weiterführung entsprechenderProgramme und Aktionen stark gefährdet ist.« Flucht-

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linge, die Pakistan »nach vielen Strapazen erreichen, be-schreiben Szenen der Verzweiflung und Furcht, weil dieDrohung eines Militärschlags unter amerikanischer Füh-rung ihr langwährendes Elend in eine Katastrophe mündenlassen könnte«.2 »Das Leben im Land hing an einemseidenen Faden«, berichtet ein evakuierter Mitarbeiter einerHilfsorganisation, »den wir gerade durchgeschnittenhaben.«3

Der führenden Zeitschrift der Welt zufolge handelteWashington sofort, wobei Tod und Leiden ungezählterAfghanen in Kauf genommen wurden, von denen Millionenohnehin schon dem Hungertod nahe waren. Daraufnämlich laufen die eben zitierten Worte hinaus.

Nach Washingtons Drohung, Afghanistan zu bom-bardieren und die Nordallianz in eine schwerbewaffneteStreitmacht zu verwandeln, haben sich großeMenschenmengen auf den Weg zu den Grenzen ge-macht. Natürlich fürchten sie, daß diese Streitkräfte,wenn sie erst einmal losschlagen können, jene Greuel-taten wiederholen, die das Land damals zerrissen undeinen Großteil der Bevölkerung dazu brachten, dieTaliban als Befreiung zu erfahren, weil diese Kriegs-parteien, die Washington und Moskau jetzt für ihreeigenen Zwecke dienstbar machen wollen, von den ra-dikal-islamistischen Milizen vertrieben wurden.

Die Führer der Nordallianz haben sich nicht mit Ruhmbedeckt, im Gegenteil. Joost Hiltermann, leitender Managerder Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch, hältihre Herrschaft über Afghanistan, die von 1992 bis 1995währte, für »die schlimmste Epoche in der afghanischenGeschichte«. Damals wurden Zehntausende Zivilistengetötet; es gab Massenvergewaltigungen und andereVerbrechen. 1997 ermordeten, Human Rights Watch zufol-

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ge, Truppen der Nordallianz 3000 Kriegsgefangene undführten auch in Gegenden, wo sie Taliban-Sympathisantenvermuteten, massive »ethnische Säuberungen« durch, wobeisie viele niedergebrannte Dörfer zurückließen.4

Zudem dürfte der Terror der Taliban-Milizen, derschon schlimm genug wütete, als Reaktion auf eben dieErwartungen, die zu den Flüchtlingsströmen führte, nochstärker geworden sein.

Wenn die Flüchtlinge die geschlossenen Grenzen errei-chen, sitzen sie in der Falle. Nur wenige können überabgelegene Gebirgspässe entkommen. Keiner weiß, wieviele bereits auf der Flucht gestorben sind. Schon baldsetzt der harte Winter ein. In den Flüchtlingslagern jen-seits der Grenze gibt es einige Reporter und Angehörigevon Hilfsorganisationen. Was sie beschreiben, ist schreck-lich genug, aber sie (und wir) wissen, daß sie diejenigensehen, die in der Lage waren, zu entkommen, und die derHoffnung Ausdruck geben, »daß selbst die grausamenAmerikaner ein bißchen Mitleid mit unserem zerstörtenLand haben« und diesen in aller Stille sich vollziehendenVölkermord beenden.5

Das World Food Program (WFP) der UNO konnteAnfang Oktober einige hundert Tonnen Lebensmittel mitLastwagen nach Afghanistan bringen, obwohl Schätzungenzufolge damit nach dem Abzug der internationalenHilfsorganisationen und dem dreiwöchigen Lieferungs-stopp nach dem 11. September bestenfalls fünfzehn Pro-zent des Gesamtbedarfs abgedeckt werden konnten.Dann aber verkündete das WFP die Einstellung allerKonvois und der Verteilung von Lebensmitteln aufgrundder Luftangriffe vom 7. Oktober. Danach sei »das alp-traumhafte Szenario von bis zu eineinhalb MillionenFlüchtlingen der Realität einen Schritt näher gekom-

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men«, berichtete AFP unter Berufung auf Angehörigevon Hilfsorganisationen. Ein Manager des WFP meinte,daß nun eine humanitäre Katastrophe drohe, »deren Um-fang ich mir nicht vorzustellen wage«. Ein Sprecher desUNHCR warnte: »Wir stehen in Afghanistan vor einerhumanitären Krise allergrößten Ausmaßes. SiebeneinhalbMillionen Menschen sind unzureichend mit Nahrungs-mitteln versorgt und müssen befürchten, Hungers zusterben.« Alle Hilfsorganisationen halten die Versorgungaus der Luft für den letzten Notanker und ziehen Lkw-Transporte vor, die fast das gesamte Land erreichen könnten.Hochrangige NGO-Vertreter äußerten die Ansicht, daßdie geplanten Abwürfe von Lebensmitteln eher ein»Propagandainstrument als eine wirkliche Hilfe für dieAfghanen« seien, weil hier »humanitäre Hilfe für zyni-sche Propagandazwecke ausgeschlachtet« werde, wäh-rend die Bombardements das einzig wirksame Mittel,große Mengen an Nahrung nach Afghanistan zu schaffen -Lkw-Konvois -, zum Erliegen gebracht hätten.6 DieHilfsorganisationen übten »schneidende Kritik an dennächtlichen Lebensmittelabwürfen«. »Sie könnten eben-sogut Flugblätter abwerfen«, kommentierte ein britischerHelfer und spielte damit auf die Propagandabotschaftenauf den Paketen an. WFP-Manager wiesen darauf hin,daß diese Abwürfe »Hilfskräfte am Boden [erforderten],die die Pakete aufsammeln« und verteilen, was »am Tagegeschehen muß« und mit angemessener Vorwarnung.7

Wenn diese Angaben richtig sind, hatten die mit Lebens-mittelabwürfen kombinierten Bombardements den Effekt,die hungernde Bevölkerung gerade nicht mit dem zu ver-sorgen, was sie am dringendsten benötigte. Man kann nurhoffen, daß sich die schlimmsten Befürchtungen hinsichtlichHungersnot und Massenflucht nicht bewahrheiten.

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Allzu optimistisch darf man jedoch nicht sein. Ein imInnenteil der New York Times abgedruckter Bericht er-wähnt beiläufig, daß es »Berechnungen der Vereinten Na-tionen zufolge bald siebeneinhalb Millionen Afghanengeben wird, die dringend wenigstens Brot benötigen...während Bomben fallen«. Die Lieferungen durch Lkwssind um die Hälfte reduziert worden, und der bevor-stehende Wintereinbruch wird die Verteilung von Le-bensmitteln noch komplizieren.8 Weitere Berechnungenwerden nicht angestellt, dürften aber nicht zu schwierigsein. Es ist, was immer auch geschehen mag, bezeich-nend, daß diese Fakten offensichtlich als Marginalien inder Planung auftauchen.

Die humanitäre Katastrophe ist bereits eingetreten unddürfte sich noch verschlimmern. Die bereits erwähnte in-dische Schriftstellerin Arundhati Roy hat die Situationauf höchst angemessene Weise beschrieben, als sie zurOperation »Unendliche Gerechtigkeit« (Infinite Justice) -so die zunächst von der Regierung Bush gewählte Be-zeichnung - bemerkte: »Wir sind Zeugen der unendlichenGerechtigkeit dieses neuen Jahrhunderts. Zivilistenverhungern, während sie darauf warten, getötet zu wer-den.«9

Ihr Urteil verliert nichts an Schärfe, nachdem PR-Spe-zialisten der Regierung erkannten, daß diese »UnendlicheGerechtigkeit« wohl doch zu sehr an Gott gemahnte. Eswar ebenso ein Fehler, wie die Verwendung des Begriffs»Kreuzzug«. Also änderte man den Namen der Operationin »Dauerhafte Freiheit« (Enduring Freedom). Auch dazuerübrigt sich jeglicher Kommentar.

Am 25. September vermerkte die New York Times ineiner Randnotiz, daß an die sechs Millionen Afghanenauf Lebensmittellieferungen von UN-Organisationen an-

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gewiesen seien; hinzu kämen noch dreieinhalb Millionen inFlüchtlingslagern außerhalb Afghanistans, die offen-sichtlich versorgt werden müssen. Natürlich erkennen dieStrategen, daß sie sich als humanitäre Helfer präsentierenmüssen, denen daran gelegen ist, die schreckliche Tragödieabzuwenden, die sich nach den Angriffsdrohungen undder von den USA geforderten Schließung der Grenzenabzeichnete. »Experten drängen die Vereinigten Staaten, ihrImage zu verbessern, indem sie die Hilfe für afghanischeFlüchtlinge verstärken und den Wiederaufbau derWirtschaft unterstützen.«10 Selbst ohne PR-Spe-zialistensollten die Regierungsbeamten begreifen, daß sie dieFlüchtlinge wie auch die hungernde Bevölkerung inAfghanistan unterstützen müssen, nicht nur, »um Lebenzu retten«, sondern »um bei der Suche nach TerrorgruppenHilfe zu bekommen«.11

Die Hilfsleistungen müssen so umfassend wie möglichsein, damit die Tragödie nicht in ein paar Wochen Wirk-lichkeit wird.

Was kommt nach den Taliban?

Die US-Regierung könnte den Prozeß des stillschweigen-den Völkermords, der jetzt im Gange ist, weiterführenund ihn durch humanitäre Gesten ergänzen, um den Beifallderer zu erlangen, die angetreten sind, das Loblied der edlenpolitischen Führer zu singen, weil diese zum ersten Mal inder Geschichte »Grundsätzen und Werten« verpflichtetsind und die Welt in eine »neue Epoche« voller Idealismusführen, in der überall der »Unmenschlichkeit ein Ende«bereitet wird. Die Türkei schließt sich Washingtons»Krieg gegen den Terrorismus« nur allzu gern

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an und ist sogar bereit, Bodentruppen zu entsenden, denndie Türken sind, wie Premierminister Ecevit betonte, denUSA »besonderen Dank« schuldig, weil Washington, imGegensatz zu den europäischen Ländern, »Ankara in sei-nem Kampf gegen den Terrorismus« unterstützt hat. Ermeinte damit den bereits erwähnten Völkermord an denKurden. Zudem lobte Washington die Türkei, weil siesich den humanitären Bemühungen im Kosovo ange-schlossen hatte, wo sie die gleichen von den USA geliefertenF-16-Kampfbomber einsetzte, die sie bei ihren eigenen»ethnischen Säuberungsaktionen« verwendet hatte.Außerdem könnte die Regierung versuchen, die Nordallianzin eine lebensfähige Streitmacht zu verwandeln und nochandere, ihr feindlich gesonnene warlords einbeziehen, wieWashingtons früheren Favoriten Gulbuddin Hekmatyar,der sich jetzt im iranischen Exil aufhält. Wahrscheinlichwerden britische und US-amerikanische Kommandos inAfghanistan auf Terroristenjagd gehen und dabei dieBombardements so herunterschrauben, daß dieRadikalislamisten nicht noch weiteren Zulauf erhalten.

Die jetzigen Aktionen sind allerdings mit der fehl-geschlagenen sowjetischen Invasion der achtziger Jahrenur bedingt vergleichbar. Die Sowjets sahen sich einerschlagkräftigen Armee von etwa 100 000 Soldaten gegen-über, die von der CIA und ihren Verbündeten ausgebildetund bewaffnet worden waren. Die US-Armee trifft aufeinen zusammengewürfelten Haufen in einem Land, dasseit mehr als zwanzig Jahren systematisch zerstört wurde,wofür ein nicht geringer Teil der Verantwortung bei unsliegt. Die Taliban-Milizen können, abgesehen von einemharten Kern, sehr schnell zusammenbrechen.

Zu erwarten ist, daß die Bevölkerung Afghanistans

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eine Invasionsmacht begrüßt, sofern diese nicht allzu of-fensichtlich mit den mörderischen Banden verquickt ist,die das Land vor der Machtergreifung der Taliban an denAbgrund gewirtschaftet haben. Viele sind vielleicht schon soweit, daß sie selbst Dschingis Khan willkommen heißenwürden.

Und was dann? Exilierte Afghanen und, wie es scheint,auch einige Personen, die nicht dem inneren Kreis der Ta-liban angehören, haben an die Vereinten Nationen appel-liert, eine Übergangsregierung einzusetzen, damit dasLand wieder stabilisiert wird. Das kann nur mit einer um-fangreichen Aufbauhilfe gelingen, die über unabhängigeund glaubwürdige Organisationen laufen muß. Die Ver-antwortung dafür liegt bei denen, die dieses verarmteLand zu dem gemacht haben, was es heute ist. Der Wie-deraufbau ist nur möglich, wenn die reichen und mächtigenNationen entsprechende Anstrengungen unternehmen.Gegenwärtig hat die Regierung Bush dergleichenausgeschlossen und verkündet, die USA würden sichnicht am »nationalen Wiederaufbau« beteiligen — oder, sojedenfalls sah es am 30. September aus -, den sehr vielehrenwerteren und humaneren Weg einschlagen, ohnesich einzumischen, substantielle Hilfe für einen Wieder-aufbau durch andere Kräfte leisten, die dieses Unterneh-men mit einiger Aussicht auf Erfolg in Angriff nehmenkönnten. Aber diese Ablehnung muß ja keinen Ewigkeits-wert besitzen.

Was in anderen Regionen geschieht, hängt von den je-weiligen politischen Konstellationen (bei denen die USAaus ersichtlichen Gründen eine Hauptrolle spielen) undvon den weiteren Geschehnissen in Afghanistan ab. Umwirklich gültige Aussagen zu treffen, gibt es allzu vieleMöglichkeiten, die abzuwägen hier nicht der Ort ist.

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Mögliche geopolitische Entwicklungen

Washington bewegt sich im Mittleren Osten und in derGolfregion auf höchst unsicherem Terrain. Wir müssenbedenken, um was es geht - nämlich um die größtenEnergiereserven der Welt, die sich vor allem in Saudi-Ara-bien, aber auch in der übrigen Golfregion und, in nichtunbeträchtlichem Maße, in Zentralasien befinden. Afgha-nistan spielt da keine vordringliche Rolle, ist aber seit Jahrenals mögliches Transitland für Pipelines im Gespräch, wasden USA bei dem schwierigen Prozeß helfen könnte, dieKontrolle über zentralasiatische Ressourcen zu gewinnen.Im Norden Afghanistans liegen Staaten, die von innererGewalt zerrissen werden; Usbekistan ist der wichtigstevon ihnen. Das Land kämpft gegen islamische Rebellenund ist von Human Rights Watch wegen Men-schenrechtsverletzungen angeprangert worden. Tadschi-kistan, wo die Situation vergleichbar ist, gilt als Relais fürden Drogentransfer nach Europa. Es arbeitet eng mit derNordallianz zusammen, die einen Großteil der afgha-nisch-tadschikischen Grenze kontrolliert und eine derHauptquellen für den Drogenhandel war, bis die Talibandem Mohnanbau ein Ende setzten. Die Flucht von Af-ghanen in den Norden könnte zu allen möglichen innen-politischen Problemen führen. Pakistan, bislang derhauptsächliche Unterstützer der Taliban, ist in seiner Sta-bilität von einer starken radikal-islamistischen Bewegungbedroht. Die Entwicklung dort ist kaum vorhersehbar undkann gefährlich werden, wenn das Land offensichtlich alsStützpunkt für US-amerikanische Operationen inAfghanistan genutzt wird. Außerdem bereitet die Tatsa-che, daß Pakistan über Kernwaffen verfügt, berechtigteKopfschmerzen. Das pakistanische Militär erhofft sich

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zwar Hilfe seitens der USA (die bereits versprochen ist),hat aber die recht stürmischen Beziehungen der letztenJahre nicht vergessen und fürchtet auch ein möglicherweisefeindseliges Afghanistan, das sich mit Indien, PakistansFeind im Osten, verbündet. Die Pakistani sind nicht er-freut darüber, daß die Nordallianz von Tadschiken, Usbekenund anderen afghanischen Minderheiten, die Pakistanfeindlich gesonnen sind, angeführt und von Indien, demIran und Rußland (und jetzt auch den USA) unterstütztwird.

In der Golfregion herrscht allgemeine Verbitterungüber die Nahost-Politik der USA. Bin Ladin wird zwarvon vielen abgelehnt, aber insgeheim als »Gewissen desIslam« bezeichnet.12 Insgeheim, weil die dortigen Regie-rungen keine Meinungsfreiheit kennen; die Menschensind auch deshalb verbittert, weil die Vereinigten Staatendie repressiven Regimes unterstützen. Innere Konfliktekönnten sich sehr schnell ausweiten, mit unvorherseh-baren Folgen, falls die US-amerikanische Kontrolle überdie Energiereserven bedroht wird. Ähnliche Problemestellen sich in Nordafrika und Südostasien, hier in ersterLinie Indonesien. Wenn in die Länder dieser Regionenmehr und mehr Waffen fließen, werden militärische Kon-flikte wahrscheinlicher; überdies profitieren davon auchTerrororganisationen und Drogenhändler. Die Regierungenwiederum schließen sich Washingtons »Krieg gegen denTerrorismus« an, um, wie Rußland und die Türkei, ihreeigenen terroristischen Kriege führen zu können.

Eine weitere Gefahr stellt der Kaschmir-Konflikt zwi-schen Indien und Pakistan dar. Indien gibt vor, in Kaschmirden islamischen Terrorismus zu bekämpfen, währendPakistan behauptet, Indien verweigere Kaschmir dieSelbstbestimmung und habe dort selbst terroristische

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Aktionen größeren Umfangs durchgeführt. Unglück-licherweise sind alle diese Behauptungen grundsätzlichrichtig. Um Kaschmir wurden schon diverse Kriege ge-führt, zuletzt 1999, als beide Staaten bereits über Atom-waffen verfügten. Bis heute konnte das Ganze unterKontrolle gehalten werden, aber es gibt keine Garantiedafür, daß das auch in Zukunft so sein wird. Die Gefahreines nuklearen Krieges wächst, wenn die VereinigtenStaaten auf ihrem Raketenabwehrprogramm bestehen.Die Pläne dafür sehen die Unterstützung für den Ausbauvon Chinas Nuklearkapazitäten vor, damit China derMilitarisierung des Weltraums zustimmt. Indien und Pa-kistan werden dann versuchen nachzuziehen. IndiensKernwaffenarsenal wird von dem ehemaligen Leiter desU.S. Strategie Command als »äußerst gefährlich« undeine der größten Gefahrenquellen in der Region be-zeichnet.

Außenpolitische Wende in den USA?

Präsident Bushs strikt »unilateralistische Haltung« (be-sonders deutlich in seiner Weigerung, das Protokoll vonKyoto zur Begrenzung von Schadstoffemissionen zu un-terzeichnen) ist nur die Fortsetzung bzw. Ausweitung einerschon vor ihm geübten Praxis. 1993 setzte Clinton dieVereinten Nationen davon in Kenntnis, daß die USA auchweiterhin »multilateral handeln werden, wenn es möglich,aber unilateral, wenn es nötig ist«. Und so verfuhr er dannauch. Diese Haltung wurde von der UN-BotschafterinMadeleine Albright und 1999 von VerteidigungsministerWilliam Cohen bekräftigt, der sogar erklärte, die Ver-einigten Staaten seien zum »unilateralen Einsatz militari-

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scher Macht« verpflichtet, um lebenswichtige Interessenzu verteidigen, wozu er »den ungehinderten Zugang zuSchlüsselmärkten, Energievorräten und strategischenRessourcen« rechnete. De facto fällt darunter alles, wasWashington zufolge dem Bereich der eigenen Rechtspre-chung subsumiert werden kann. Allerdings ging Bushnoch darüber hinaus und löste damit unter den Verbün-deten beträchtliche Besorgnis aus. Die augenblicklicheNotwendigkeit, ein breites Bündnis herzustellen, wirddie unilateralistische Rhetorik abschwächen, jedochkaum die Politik ändern. Die Mitglieder des Bündnissessollen die Sache der USA stillschweigend und gehorsamunterstützen, ohne gleichberechtigte Partner zu sein. DasRecht auf eigenständiges Handeln bleibt den VereinigtenStaaten vorbehalten, die es im übrigen sorgsamvermeiden, sich, wie es das Völkerrecht erfordert, aninternationale Institutionen zu wenden. Manche Gestenscheinen das Gegenteil zu bekunden, doch fehlt ihnenjegliche Glaubwürdigkeit. Die Regierungen der anderenStaaten werden, wie üblich, das Spiel mitspielen undhaben dafür ihre jeweils eigenen Gründe.

Ebensowenig wird es eine neue Palästina-Politik geben,obwohl Außenminister Colin Powell so etwas angekündigthat. In der New York Times dazu zitierte Quellen weisendarauf hin, daß Bush und Powell noch nicht einmal soweit gehen werden wie Clinton mit seinen Vorschlägenvon Camp David. Doch auch die waren schon völliginakzeptabel, wie man sich leicht begreiflich machenkann, wenn man eine Landkarte betrachtet.

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Bürgerbewegungen und internationale Politik

Wenn die Bürgerbewegungen in dieser Situation sich mitKritik und Aktionen zurückhalten, werden sie den Kreis-lauf der Gewalt nur verstärken und die Wahrscheinlichkeitweiterer Greueltaten, die vielleicht noch schlimmerausfallen als die Anschläge vom 11. September, erhöhen.Außerdem helfen sie damit den reaktionärsten Gruppenim politisch-ökonomischen Machtsystem, Pläne durch-zusetzen, die der Bevölkerung hier und im Ausland großenSchaden zufügen und sogar das Überleben derMenschheit bedrohen können. Wenn sie das Gegenteil er-reichen und Freiheit, Menschenrechte und Demokratiebefördern wollen, müssen sie ihre Bemühungen, die Hin-tergründe dieser und anderer Verbrechen aufzudecken,noch verstärken und die gerechte Sache, der sie sich bis-lang verpflichtet fühlten, energisch weiter betreiben. Siesollten zuhören, wenn der Bischof der südmexikanischenStadt San Cristobal de las Casas, der genug Elend undUnterdrückung gesehen hat, die Nordamerikaner drängt,»darüber nachzudenken, warum sie so verhaßt sind«,nachdem die USA »ihre wirtschaftlichen Interessen mitGewalt geschützt haben«.13

Sicher ist es schmeichelhafter, liberalen Kommentatorenzuzuhören, die uns versichern, daß »sie uns hassen, weilwir für eine »neue Weltordnung« kapitalistischer, in-dividualistischer, säkularisierter und demokratischer Pro-venienz eintreten, die überall zur Norm werden sollte«.14

Oder wir folgen Anthony Lewis, der uns glauben machenwill, die von den USA in der Vergangenheit betriebenePolitik sei nur insoweit von Bedeutung, als sie »die Ein-stellung der Öffentlichkeit in der arabischen Welt gegen-über den Bestrebungen der Antiterror-Koalition negativ

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beeinflußt« habe.15 Ansonsten, so erklärt er im Brusttonder Überzeugung, hat unsere Politik mit den Zielen derTerroristen nichts zu tun. Was sie sagen, ist so nebensäch-lich, daß man es ignorieren kann. Ebenso können wir dieÜbereinstimmung zwischen ihren Worten und ihren Taten,die seit zwanzig Jahren terroristischer Aktionen bekanntist und über die seriöse Journalisten und Wissenschaftlerinformiert haben, ignorieren. Es ist eben einfach wahr undkeines Beweises bedürftig, daß die Terroristen »eineunheilbar sündhafte und ungerechte Welt mit Gewaltverändern wollen« und lediglich für einen »apoka-lyptischen Nihilismus« stehen (hier zitiert Lewis zustim-mend Michael Ignatieff). Die Ziele und Aktionen, zudenen sich die Terroristen bekennen, sind uns ebensogleichgültig wie die Einstellungen der Bevölkerung in derGolfregion, selbst wenn es sich dabei um pro-amerikani-sche Kuwaiter handelt. Wir sind an solchen Reaktionenganz und gar unschuldig.

Solche Vorstellungen sind angenehm, aber nicht be-sonders klug, wenn es um die Zukunft geht.

Neue Möglichkeiten, immerhin, tun sich auf. DerSchock über die grauenhaften Anschläge hat auch in denintellektuellen Eliten zu einem Umdenkungsprozeß ge-führt, der noch vor kurzer Zeit nicht vorstellbar gewesenwäre, und das gilt in noch höherem Maße für die breiteÖffentlichkeit. Kritik und Dissidenz werden, wie ich auspersönlicher Erfahrung berichten kann, nicht nur in Eu-ropa stärker wahrgenommen, sondern finden sogar Ein-gang in die Mainstream-Medien der Vereinigten Staaten.

Natürlich gibt es auch diejenigen, die stillschweigendenGehorsam fordern. Das kennen wir von den Ultrarechten,aber in Ansehung der Geschichte müssen wir es auch voneinigen Linksintellektuellen erwarten. Aber es

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ist wichtig, sich nicht von hysterischen Phrasen und Lügeneinschüchtern zu lassen, sondern so weit wie möglichwahrhaftig und aufrichtig zu sein und die Folgen dessen,was man tut oder zu tun unterläßt, zu bedenken. Binsen-weisheiten, an die wir uns hin und wieder erinnern sollten.

Darüber hinaus müssen wir uns den spezifischen Pro-blemen zuwenden, um zu wissen, was wir erforschen undwie wir handeln sollen.

Anmerkungen

1 John Burns, New York Times vom 16. September 2001.2 Douglas Frantz, New York Times vom 30. September 2001.3 John Sifton, New York Times Magazine vom 30. September 2001.4 Vgl. dazu u. a. Charles Sennott, Boston Globe vom 6. Oktober 2001.5 Boston Globe vom 27. September 2001, Titelseite.6 Zitate aus der Financial Times vom 9. Oktober 2001. Der Bericht beruft

sich auf Oxfam, Ärzte ohne Grenzen, Christian Aid, Save theChildren Fund und UN-Vertreter.

7 Financial Times vom 10. Oktober 2001.8 Barry Bearak in der New York Times vom 15. Oktober 2001.9 Guardian vom 29. September 2001.

10 Christian Science Monitor vom 28. September 2001.11 So zitiert der Boston Globe vom 27. September 2001 einen Beamten

des Pentagon, der damit »die Herzen und Köpfe der Menschen ge-winnen will«.

12 Vgl. New York Times vom 5. Oktober 2001, die einen in den USAausgebildeten Anwalt für internationales Wirtschaftsrecht zitiert.

13 Marion Lloyd aus Mexiko City im Boston Globe vom 30. September2001.

14 Ronald Steel in der New York Times vom 14. September 2001.15 New York Times vom 6. Oktober 2001.

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Anhang

AußenministeriumBericht über ausländische TerroristenorganisationenFreigegeben vom Office of the Coordinatorfor Counterterrorism5. Oktober 2001

Hintergrund

Der Außenminister kennzeichnet ausländische Terroristenorganisa-tionen (Foreign Terrorist Organizations, FTOs) in Absprache mitdem Justizminister und dem Finanzminister. Diese Kennzeichnungenerfolgen gemäß dem Gesetz zur Einwanderung und Staatsbür-gerschaft und seiner Ergänzung durch das Gesetz zum Antiterroris-mus und zur Todesstrafe von 1996. FTO-Kennzeichnungen gelten füreinen Zeitraum von zwei Jahren, wonach sie erneuert werden müssenoder automatisch verfallen. Die Neukennzeichnung nach zwei Jahrenist eine positive Maßnahme und stellt eine Entscheidung desAußenministers dar, derzufolge die Organisation weiterhinterroristische Aktivitäten ausführt und den gesetzlich festgelegtenKriterien entspricht.

Im Oktober 1997 stimmte die ehemalige Außenministerin Made-leine K. Albright der Kennzeichnung der ersten 30 Gruppen als aus-ländische Terroristenorganisationen zu.

Im Oktober 1999 bestätigte Ministerin Albright 27 dieser Kenn-zeichnungen, ließ jedoch drei Organisationen aus der Liste streichen,weil sie nicht mehr in terroristische Aktivitäten involviert waren undden Kennzeichnungskriterien nicht mehr entsprachen.

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Ministerin Albright kennzeichnete 1999 eine neue FTO (al-Qaida)und 2000 eine weitere (die Islamische Bewegung Usbekistans).

Außenminister Colin L. Powell hat 2001 zwei neue FTOs ge-kennzeichnet (die Wahre IRA und die AUC).

Im Oktober 2001 bestätigte Minister Powell die Kennzeichnungvon 26 der 28 FTOs nach dem festgelegten Zeitraum von zweiJahren und schloß zwei zuvor gekennzeichnete Gruppen (KahaneChai und Kach) zu einer zusammen.

Gegenwärtige Liste gekennzeichneter ausländischer Terroristen-organisationen (vom 5. Oktober 2001):

1. Organisation Abu Nidal2. Abu Sayyaf3. Bewaffnete Islamische Gruppe4. Aum Shinrikyo (Japan)5. ETA (Baskenland/Spanien)6. Gama'a al-lslamiyya (Islamische Gruppe)7. Hamas (Islamische Widerstandsbewegung)8. Harakat ul-Mudschahedin9. Hisbollah (Gottespartei)10. Islamische Bewegung Usbekistans11. AI-Dschihad (Ägypten)12. Kahane Chai (Israel)13. Kurdische Arbeiterpartei (PKK; Türkei)14. Tamilische Befreiungsbewegung (Sri Lanka)15. Organisation Mudschahedin-e Kalq16. Nationale Befreiungsarmee17. Palästinensischer islamischer Dschihad18. Palästinensische Befreiungsfront (PLO)19. Volksfront für die Befreiung Palästinas (PFLP)20. PFLP-Hauptkommando21.AI-Qaida

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22. Wahre IRA (Nordirland)23. Revolutionäre Bewaffnete Streitkräfte Kolumbiens (FARC)24. Revolutionäre Zellen (früher ELA)25. Revolutionäre Organisation 17. November26. Revolutionäre Volksbefreiungsarmee/-front27. Leuchtender Pfad (Sendero Luminoso; Peru)28. Vereinigte Selbstverteidigungsstreitkräfte Kolumbiens

Hinweis:Beschreibungen dieser FTOs finden sich in »Patterns of GlobalTerrorism: 2000«.

Rechtliche Kriterien für die Kennzeichnung

1. Die Organisation muß ausländisch sein.2. Die Organisation muß gemäß der Definition in Abschnitt 212

(a)(3)(B) des Gesetzes zur Einwanderung und Staatsbürgerschaftterroristische Aktivitäten durchführen.* (siehe unten)

3. Die Aktivitäten der Organisation müssen die Sicherheit US-amerikanischer Staatsbürger oder die nationale Sicherheit(Verteidigung, Außenpolitik oder Wirtschaftsinteressen) derVereinigten Staaten bedrohen.

Folgen der Kennzeichnung

Rechtliche:1. Eine Person oder ein der Rechtsprechung der Vereinigten Staaten

unterstelltes Rechtssubjekt handelt ungesetzlich, wenn diesePerson oder dieses Subjekt einer gekennzeichneten FTOGeldmittel oder andere materielle Unterstützung gewährt.

2. Repräsentanten und bestimmten Mitgliedern einer gekenn-zeichneten FTO können, wenn sie Ausländer sind, Visa verwehrtoder aus den Vereinigten Staaten ausgewiesen werden.

3. US-amerikanische Finanzinstitutionen müssen Kapitalvermögengekennzeichneter FTOs und ihrer Agenten sperren

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und diese Sperrung dem Büro für die Kontrolle ausländischerGeldanlagen (Office of Foreign Assets Control) im US-Finanz-ministerium mitteilen.

Andere:1. Verhinderung von Geschenken und Beiträgen an gekenn-

zeichnete Organisationen2. Erhöhung der öffentlichen Aufmerksamkeit für terroristische

Organisationen3. Mitteilung unserer Besorgnis über gekennzeichnete Organisa-

tionen an andere Regierungen4. Internationale Stigmatisierung und Isolierung gekennzeichneter

Organisationen

Das Procedere

Nach einer erschöpfenden Sichtung geheimdienstlicher und andererErkenntnisse, in der alle Beweise aus geheimen und öffentlichzugänglichen Quellen für die Aktivitäten einer Gruppe geprüftwerden, trifft der Außenminister eine Entscheidung hinsichtlich derKennzeichnung oder Neukennzeichnung von FTOs. Das Außen-ministerium verfertigt, in Zusammenarbeit mit dem Justiz- undFinanzministerium und den Geheimdiensten, eine detaillierte »Re-gierungsvorlage« (administrative record), in der die terroristischenAktivitäten der gekennzeichneten FTO dokumentiert sind. SiebenTage, bevor eine FTO-Kennzeichnung im Bundesregister ver-öffentlicht wird, erhält der Kongreß vom Außenministerium dies-bezüglich eine geheime Mitteilung.

Den gesetzlichen Bestimmungen zufolge können Kennzeich-nungen juristisch überprüft werden. Wird gegen eine Kennzeich-nung vor einem Bundesgericht Einspruch erhoben, verläßt sich dieUS-Regierung auf die Vorlage, um die Entscheidung des Ministers zuverteidigen. Da diese Vorlagen geheimdienstliche Materialienenthalten, sind sie als geheim eingestuft.

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FTO-Kennzeichnungen verfallen nach zwei Jahren, sofern sienicht erneuert werden. Laut Gesetz kann der Außenminister inAbsprache mit dem Justiz- und dem Finanzminister jederzeit wei-tere Gruppen hinzufügen. Der Minister kann auch, wenn er dies fürbegründet hält, Kennzeichnungen widerrufen, nachdem er denKongreß davon in Kenntnis gesetzt hat.

* Das Gesetz zur Einwanderung und Staatsbürgerschaft definiert denBegriff »terroristische Aktivität« wie folgt: Terroristisch ist jeglicheAktivität, die hinsichtlich der Gesetze des Ortes, an dem sieausgeführt wird, ungesetzlich ist (oder die, falls sie in den Ver-einigten Staaten ausgeführt wird, hinsichtlich der Gesetze derVereinigten Staaten oder jedes einzelnen Staates, ungesetzlich wäre)und mindestens eine der folgenden Handlungen einschließt:

(I) Die Entführung oder Sabotage jeglicher Beförderungsmittel(eingeschlossen Flugzeuge, Wasserfahrzeuge oder Landfahr-zeuge).

(II) Die Ergreifung oder Festsetzung eines anderen Individuums,verbunden mit der Drohung, dieses Individuum zu töten, zu ver-letzen oder weiter festzuhalten, mit der Absicht, dadurch eine drittePerson (einschließlich Regierungsorganisationen) zu zwingen, alsexplizite oder implizite Bedingung für die Freilassung des ergriffenenoder festgesetzten Individuums eine Handlung zu vollziehen oder zuunterlassen.

(III) Ein gewaltsamer Angriff auf eine international geschütztePerson (gemäß der Bestimmung in Abschnitt 1116(b)(4) von Titel18, US-Strafgesetzbuch) oder auf die Freiheit einer solchenPerson.

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(IV) Ein politischer Mord.

(V) Die Verwendung von jeglichen

a) biologischen oder chemischen Agentien oder nuklearenWaffen oder Einrichtungen, oder

b) Explosivstoffen oder Feuerwaffen (außer zum rein persön-lichen Gelderwerb), mit der Absicht, die Sicherheit von ei-nem oder mehreren Individuen direkt oder indirekt zu ge-fährden oder Eigentum substantiell zu beschädigen.

(VI) Die Drohung, der Versuch oder die Verschwörung, eine dieserHandlungen auszuführen.

Der Begriff »eine terroristische Aktivität ausführen« bedeutet, alsIndividuum oder als Mitglied einer Organisation eine terroristischeHandlung auszuführen oder eine Handlung auszuführen, von derder Handelnde weiß oder vernünftigerweise wissen sollte, daß sieeinem Individuum, einer Organisation oder einer Regierungmaterielle Unterstützung bei der Durchführung einer terroristischenAktivität zu einer beliebigen Zeit gewährt, wobei diese Aktivitätzumindest eine der folgenden Handlungen einschließt:

(I) Die Vorbereitung oder Planung einer terroristischen Aktivität.

(II) Das Sammeln von Informationen über mögliche Ziele für eineterroristische Aktivität.

(III) Die Bereitstellung jeglicher Art von materieller Unterstützung,einschließlich einer sicheren Unterkunft, Transport- und Kommuni-kationsmittel, Vermögen, falsche Dokumente oder Personalpapiere,Waffen, Explosivstoffe oder Ausbildung, für ein Individuum, von demder Handelnde weiß oder Grund hat, anzunehmen, daß es eine

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terroristische Aktivität ausgeführt hat oder eine solche auszuführenplant.(IV) Das Anwerben von Vermögenswerten oder anderen wertvollenGegenständen für terroristische Aktivitäten oder eine terroristischeOrganisation.

(V) Das Anwerben eines Individuums für die Mitgliedschaft in ei-nerterroristischen Vereinigung, terroristischen Regierung oder fürdie Ausführung einer terroristischen Aktivität.

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Literaturempfehlungen

Noam Chomsky, A New Generation Draws the Line. Kosovo,East Timor and the Standards of the West, Verso 2000 (dt.:People Without Rights. Kosovo, Ost-Timor und der Westen,ab Frühjahr 2002 im Europa Verlag).

Noam Chomsky, Culture ofTerrorism, South End Press 1988.Noam Chomsky, Necessary Illusions, Stoddart Publishing 1991.Noam Chomsky, Pirates and Emperors, Claremont Research &

Publishing 1986.Noam Chomsky & E. S. Herman, Political Economy of Human

Rights, South End Press 1979.John Cooley, Unboly Wars: Afghanistan, America and Inter-

national Terrorism, Pluto Press 1999.Alex George (Ed.), Western State Terrorism, Polity-Blackwell

1991.E. S. Herman, Real Terror Network, South End Press 1982.E. S. Herman & Noam Chomsky, Manufacturing Consent,

Pantheon 1998.E. S. Herman & Gerry O'Sullivan, The »Terrorism« Industry,

Pantheon 1990.Walter Laqueur, Age of Terrorism, Little, Brown and Co. 1987

(dt.: Terrorismus: die globale Herausforderung, Ullstein1987).

Michael McClintock, Instruments of Statecraft, Pantheon 1992.Paul Wllkinson, Terrorism and the Liberal State, NYU Press 1986.

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Zum Autor

Noam Chomsky, geboren am 7. Dezember 1928, politi-scher Aktivist, Sprachtheoretiker und seit 1961 Professoram Massachusetts Institute of Technology (MIT), ist Trägervon zehn Ehrendoktorwürden und etlicher anderer hoherAuszeichnungen und Preise, Mitglied der AmericanAcademy of Art and Sciences und der National Academyof Science und Autor mehrerer Bestseller über Linguistik,Philosophie und Politik. Zuletzt erschienen auf deutsch»Profit Over People. Neoliberalismus und globaleWeltordnung«, eine alarmierende und vernichtendeKritik an der »Logik des freien Markts«, sowie »WarAgainst People. Menschenrechte und Schurkenstaaten«, einehochaktuelle und überfällige Analyse der US-Außenpolitik und -Propaganda.

Im Europa Verlag sind weitere Übersetzungen vonWerken Noam Chomskys in Vorbereitung.

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Chomsky im Europa Verlag

Noam Chomsky ProfitOver PeopleNeoliberalismus undglobale WeltordnungBroschur, 3-203-76010-X

Eine alarmierende und vernichtende Kritikan der »Logik des freien Marktes«

»Noam Chomskys Analysen und Argumentesind einfach bestechend. Ein Pessimist, derMut macht.«THE GUARDIAN

Noam ChomskyWar Against PeopleMenschenrechte und

SchurkenstaatenBroschur, 3-203-76011-8

Schurkenstaaten sind die USA und ihreVerbündeten, und die Menschenrechte sindihr Vorwand, Gegenspieler und Opfer, lautetdie Grundthese dieses brandaktuellen Buchs.

»Chomsky hat eben einfach Recht.«

MARK TERKESSIDIS

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Standardwerke zur NS-Zeit

Wolfgang Mönninghoff DieEnteignung der JudenWunder der Wirtschaft -Erbe der DeutschenGebunden, 3-203-80075-6

Die Enteignung von Juden und ihreAusschaltung aus der Wirtschafi und allenmöglichen Ämtern wurde jahrzehntelangverleugnet - aber profitiert wird von der»Arisierung« heute noch. WolfgangMönninghoff nennt Täter wie auch Opferund stellt das Wunder der Wirtschaß und dasErbe der Deutschen in Frage.

Ulrich VölkleinGeschäfte mit dem Feind

Die geheime Allianz desgroßen Geldes während des

Zweiten Weltkriegs aufbeiden Seiten der Front

Gebunden, 3-203-83700-5

Erst jetzt hat das Nationalarchiv inWashington bislang gesperrte Bestände überdie Kollaboration der Kriegsgewinner freige-geben. Auf Grundlage der Archivalien legtUlrich Völklein die erste Dokumentationdieses speziellen Kapitels deutsch-amerikani-scher Freundschaft vor.