NOËLLE HARRISON Wie die Sterne am Himmel · ausgezeichnet.»Wie die Sterne am Himmel« ist ihr...

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NOËLLE HARRISON Wie die Sterne am Himmel

Transcript of NOËLLE HARRISON Wie die Sterne am Himmel · ausgezeichnet.»Wie die Sterne am Himmel« ist ihr...

  • NOËLLE HARRISON

    Wie die Sterne am Himmel

  • Buch

    Ein kleiner Ort im Südosten von Irland: Barbara ist gerade acht-zehn Jahre alt, und es ist ihre größte Sehnsucht, der kleinbürger-lichen Enge der Dorfgemeinschaft zu entõiehen. Als sie von einerAu-pair-Stelle in London hört, packt sie deshalb sofort ihren Kofferund begibt sich auf die Reise.Von nun an ist sie das Kindermädchenvon Matilda, der sechsjährigen Tochter von Olivia und John Finch.Vom ersten Zusammentreffen an wirkt Olivia auf Barbara kalt undlieblos. Außerdem entgeht selbst der unerfahrenen Achtzehnjähri-gen nicht, dass Olivia ein Verhältnis mit Gareth hat, einem Jugend-freund ihres Mannes. John Finch hingegen ist Barbara sofort sym-pathisch, nicht zuletzt, weil er sich liebevoll um Matilda kümmert,die immer wieder von unerklärlichen Krampfanfällen geplagt wird.Zunächst ist das kleine Mädchen misstrauisch und abweisend. DochBarbara gelingt es, das Vertrauen von Matilda zu gewinnen. Immerstärker verspürt sie das Bedürfnis, das Kind zu beschützen, denn esbeschleicht sie die dunkle Ahnung, dass in der Familie vieles nichtso ist, wie es scheint. Doch Barbara hat die Situation auf gefährliche

    Weise völlig falsch eingeschätzt …

    Autorin

    Noëlle Harrison wurde 1967 in London geboren und zog 1991 nachIrland. Ihre Theaterstücke und Kurzgeschichten wurden mehrfachausgezeichnet. »Wie die Sterne am Himmel« ist ihr dritter Roman.Die Autorin lebt mit ihrem Sohn und ihrem Lebensgefährten in

    Oldcastle, County Meath.

  • Noëlle HarrisonWie die Sterne

    am Himmel

    Roman

    Deutschvon Sonja Hauser

  • Die Originalausgabe erschien 2008unter dem Titel »I Remember« bei Macmillan,

    an imprint of Pan Macmillan Ltd, London.

    Verlagsgruppe Random House FSC-DEU-0100Das FSC®-zertiôzierte Papier Holmen Book Cream für dieses Buch

    liefert Holmen Paper, Hallstavik, Schweden.

    1. AuõageTaschenbuchausgabe Januar 2011

    Copyright © der Originalausgabe 2008by Noëlle Harrison

    Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2009by Page &Turner/Wilhelm Goldmann Verlag, München,

    in der Verlagsgruppe Random House GmbHUmschlaggestaltung: Uno Werbeagentur München

    Umschlagfoto: Bildagentur HuberRedaktion: Irmi Perkounigg

    BH · Herstellung: Str.Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck

    Printed in GermanyISBN: 978-3-442-47389-2

    www.goldmann-verlag.de

  • F ü r c o r e y u N d H e l e N a ,B r u d e r u N d s c H W e s t e r

  • vergessen könne man nur, indem man sich erinnere,sagt sigmund Freud

  • e i N s

    ihre augen erinnerten mich an die meines Bruders mattie;sie hatten die Farbe von feuchtem schiefer, Holzschattenin einem Kindergesicht, gezeichnet von schmerz oder vor-ahnungen. sie machten mir bewusst, warum ich dazu be-stimmt war, mich in einem fremden land zu verlieren, al-lein, getrennt von ihr, die mich brauchte. Alles geschieht auseinem Grund, pflegte mammy vor dem »unfall« zu sagen.Zufälle gibt es nicht.

    ich sehe meine mutter mit dem rücken zu mir an derKüchenspüle stehen, bis zu den unterarmen im schmutzi-gen Wasser, wie sie, verträumt vor sich hin murmelnd, in-nehält, um durch das Fenster die dahinjagenden Wolken zubetrachten, in Gedanken bei ihren Göttern. diese Bilder ausmeiner Kindheit kehren leuchtend klar zurück, wie licht-flecken in einem sehr dichten Wald. im finstersten Winkeldieses Waldes, der meine erinnerung ist, inmitten des wildwuchernden Gestrüpps, steht die kleine matilda Finch mitden augen meines Bruders und einem Namen, ähnlich demseinen.auf sie passte ich auf, als ich achtzehn jahre und zweimonate alt war.

    ich erinnere mich an den leichten druck ihrer kleinenHand in der meinen und an die silhouette ihres Gesichts inder mittelmeersonne, wie sie mich mit ein wenig schräg ge-legtem Kopf anblickte, nach vorn deutete, mir zu verstehengab, dass ich etwas unternehmen solle.

  • Wir ächzten in der Hitze, matilda ihrer Krankheit, ich derWärme wegen, denn ich war das stickig schwüle Klima nichtgewöhnt. ich kannte nur die feuchten, kühlen sommer zuHause. Wir befanden uns in einem unwirklichen land, aufhalbem Weg zwischen Himmel und Hölle, wo sich Wasserund sonne über den salzebenen zu einem dunstigen schim-mer verbanden. Wir schwebten als winzige teile einer Fatamorgana des meeres dahin, zwei verstoßene engel, die dieöde landschaft und der schwere Himmel in sich aufnahmen.Wir passten aufeinander auf. unsere nackten Füße glittenüber die heißen sanddünen, immer weiter, die längste stre-cke, die matilda in zwei Wochen zurückgelegt hatte. Weg,weg von einem ort, der uns beiden angst machte.

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    Z W e i

    ich stehe vor Winchester Gardens Nr. 5, einen hellbrau-nen Kunstlederkoffer in der Hand, den reißverschluss derroten Bomberjacke bis zum Kinn zugezogen, immer nochmit flauem magen nach dem hohen Wellengang auf derFähre. obwohl es in strömen gießt, lasse ich mir Zeit, dasschmiedeeiserne tor zu öffnen, den Kiesweg zu den stein-stufen entlangzugehen und schließlich den großen mes-singklopfer an der königsblauen tür zu betätigen. meinBlick gleitet über mein neues Zuhause, über das erkerfens-ter im erdgeschoss und die anderen stockwerke des Back-steingebäudes; ich zähle insgesamt vier. daheim haben wirnicht einmal mehr eine treppe. ich schaue hinauf zu dendrei winzigen Fenstern unter dem schieferdach und hoffe,dass mein Zimmer sich nicht oben befindet. sogar der Kel-ler wäre mir lieber als diese luftigen Höhen, denn dort fühleich mich ungeschützt. trotz des merkwürdig hellen, blauenHimmels landen tropfen auf meinen Wangen. Hinter demsilbern glänzenden dach des Hauses entdecke ich einen re-genbogen, der zwischen den Ästen einer großen rosskas-tanie verschwindet.

    Ein gutes Zeichen, sagte mammy immer. Ein Regenbogenbringt Glück.

    doch mir wird plötzlich bange. am liebsten würde ichwieder nach Hause fahren. Warum nicht? Nichts hält michauf. ich könnte mich einfach umdrehen, schnurstracks zur

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    u-Bahn-station zurückgehen und noch rechtzeitig dieNachtfähre in Holyhead erreichen. Genug Geld hätte ich.

    ich lecke über meine lippen. sogar der regen ist hieranders. Zu Hause schmeckt er nach salz, klebt an der Hautwie ein dunstschleier, verklebt die Wimpern und durch-dringt den Wollpullover, während er in london wie mit Na-deln gegen meine Wangen prasselt. so stelle ich mir einensturm in den tropen vor. es ist schwül; ich schwitze untermeiner Plastikjacke. Bei lyons war sie mir noch todschickvorgekommen. Hier wirkt sie billig. ich bin noch nie eineso prächtige straße entlanggegangen. Nicht einmal in dub-lin, als ich meinen Pass abholte. mit meinen durchweich-ten schuhen mache ich einen schritt vorwärts, auf die erstestufe. ich kann nicht zurück. Nicht mehr. sogar mammysagte, ich solle gehen. Zu Hause war mir nichts geblieben,kein job, nichts. meine Kinderwelt der Feen und Wälder,moore und meere, meine träume von einem leben miteinem jungen Gott in der Wildnis hielten der realität nichtstand. seit meinem neunten lebensjahr war ich eine Ge-fangene meiner vergangenheit, an die mich die täglichenGespräche meiner mutter mit den toten und die abwesen-heit meines vaters erinnerten. daheim konnte ich mir keinleben aufbauen. die chance dazu verbrannte zusammenmit unserem Haus, am tag des »unfalls«. ich musste michverabschieden.

    ich hatte zwei alternativen: amerika (dort hätte ich beimeiner cousine deirdre unterkommen und illegal in einereisdiele auf long island arbeiten können) oder england.mein abschlusszeugnis war nicht gut genug fürs college;den Gedanken, das letzte jahr zu wiederholen, fand ich un-erträglich, und Krankenschwester wollte ich nicht werden.

    Warum also entschied ich mich für diesen Weg? Fionas

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    schwester carmel hatte ein jahr lang das Gleiche gemachtund offenbar einen mordsspaß dabei gehabt. die Freundeihrer Gastfamilie beschäftigten alle irischeau-pair-mädchen,die sich an ihren freien tagen trafen. sie lernten jede mengejungen kennen; manche hatten sogar englische Freunde.

    carmel war damals mit der Familie in den Ferien nachamerika gefahren, hatte alles bezahlt bekommen und sogardisneyland gesehen. sie war nicht mehr nach irland zu-rückgekehrt, hatte jetzt einen guten job bei selfridges, eineWohnung in london und einen verlobten, also ein richti-ges leben, und war nach wie vor mit ihren früheren arbeit-gebern befreundet. die Kinder liebten sie.

    all das erzählte Fiona mir in sligo beim shoppen, kurznach der abschlussfeier. ich kaufte mir von meinem erspar-ten ein leuchtend pinkfarbenes und blaues sweatshirt mitweiten Ärmeln, Fiona wählte eine Karottenjeans, die ihrwegen ihrer schlanken Figur prima stand.

    »Warum machst du’s nicht selber, wenn das au-pair-leben so toll ist?«, fragte ich sie.

    »ach, das liegt mir nicht.« Fiona schüttelte den Kopf undfischte einen schokoladensplitter aus ihrem eis. Wir saßenvon möwen umflattert auf einer Bank am Fluss und sahenden enten zu. »ich weiß, was ich will.«

    Fionas Herzenswunsch war es seit jeher gewesen, lehre-rin zu werden. schon als kleines mädchen drängte sie michzu öden schulspielen, bei denen ich als eine ihrer schüle-rinnen neben ihren Puppen und teddys sitzen musste. mitdem tacker ihres vaters heftete sie sogar arbeitsblocks fürihre »Klasse« zusammen, und sie hatte eine kleine tafelund Kreide. mich langweilte das zu tode, doch Fiona warin ihrem element. ich kannte niemanden sonst, der für die-sen Beruf so geeignet gewesen wäre.

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    »tja, stimmt wohl«, pflichtete ich ihr bei und biss die sah-nige spitze von meinem eis ab. »möchtest du denn nichtdie Welt sehen?«

    Fiona betrachtete mit zusammengekniffenen augen nach-denklich einen schwan, der majestätisch den Fluss entlang-glitt.

    »Nein«, antwortete sie schließlich, einen eisschnurrbartüber den lippen. »du weißt doch, dass ich mich zu Hauseam wohlsten fühle. aber du, Barbara, gehörst nicht hier-her.«

    Plötzlich hört es zu regnen auf. ich stehe mit beiden Füßenauf der untersten stufe zu meinem neuen Zuhause, als diesonne hervorbricht und dampf von dem feuchten stein auf-zusteigen beginnt. Warum nur habe ich solche angst?

    Vertraue deinem Instinkt, sagte mammy immer.Gerade als ich beschließe umzudrehen, meinem instinkt

    zu folgen, nehme ich aus den augenwinkeln eine Bewegunghinter einem der Fenster im Keller wahr. die sonne scheintso hell, dass ich nur die sich im Glas spiegelnden Wolken,das licht und mich erkennen kann. ich luge über die stein-balustrade, die Finger um den rand geklammert, durch dieBambuspflanzen. in dem moment öffnet sich die eingangs-tür, und es ist zu spät wegzugehen.

    olivia Finch sieht mich von oben herab an, ohne ein Wort zusagen. sie wirkt überrascht, obwohl sie mich erwartet habenmuss. ich haste die stufen zu ihr hinauf, versuche zu lächeln,merke aber, wie ich vor Nervosität zu zittern beginne.

    »die agentur schickt mich«, stammle ich.sie nickt und mustert mich von oben bis unten. ich winde

    mich unter ihrem kritischen Blick. das bin ich von zu Hause

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    nicht gewöhnt. sogar in dublin begrüßen Fremde einandermit einem freundlichen lächeln. ich weiß nicht, was ichsagen oder tun soll.

    »Wie alt bist du?«, fragt sie. sie ist keine engländerin,das höre ich.

    »achtzehn«, antworte ich leise.»Wirklich?« sie hebt die augenbrauen. »ihr irischen

    mädchen seht alle so jung aus!«sie dreht sich um und geht ins Haus hinein. ich bleibe auf

    der schwelle stehen. sie hält am Fuß der treppe inne undlegt die Hand aufs Geländer. »Nun komm schon rein«, for-dert sie mich auf, den Blick auf die Wand gerichtet, an derein großes abstraktes Gemälde hängt.

    ich trete mit tropfnassen Haaren ein, weil ich fürchte,beim ausschütteln die makellos sauberen cremefarbenenmauern von olivia Finchs piekfeinem londoner Hausschmutzig zu machen.

    »schließ die tür«, weist sie mich an.als ich sie zudrücke, umfangen uns schatten.Was für eine

    erleichterung, aus dem grellen sonnenschein heraus zu sein!im Haus ist es kühl; es riecht nach den lilien, die in einerriesigen vase auf einem Glastisch im Flur stecken. ich habeschreckliche angst, mit meinen nassen schuhe spuren aufdem hellen, tiefen teppich zu hinterlassen.

    »Komm«, sagt sie, geht den Flur entlang und dreht sicham oberen ende der treppe nach unten zu mir um.

    ich folge ihr in einen allzweckraum im Keller, aus demdas Geräusch einer laufenden Waschmaschine dringt. oli-via Finch reicht mir ein weißes, flauschiges Handtuch auseinem regal. Noch nie im leben habe ich ein so weichestuch berührt.

    »Hat dich der regen erwischt?«

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    ich nicke. »ja.«»es war die ganze Zeit heiß und schwül«, fährt sie fort.

    »Bei solchem Wetter mag ich nicht hinausgehen. Zu Hausein Frankreich ist es im sommer noch heißer, aber nicht sounangenehm. endlich regnet es. das tut mir und matildagut.«

    sie führt mich in die tadellos aufgeräumte Küche; nur aufder arbeitsfläche stehen zwei halb geleerte tassen.

    »möchtest du einen Kaffee?«ich traue mich nicht zu sagen, dass ich lieber einen tee

    hätte, und antworte ja, gern.obwohl die Kaffeemaschine auf der arbeitsfläche vor sich

    hin blubbert, schaltet sie den Wasserkocher ein und holt einGlas maxwell House aus dem Wandschrank.

    »setz dich doch bitte.«olivia deutet auf einen hohen Hocker auf der anderen

    seite der arbeitsfläche. ich stelle meinen Koffer auf demBoden ab und öffne den reißverschluss meiner jacke. aus-ziehen möchte ich sie nicht, weil das t-shirt an meiner ver-schwitzten Haut klebt. ich kann nur hoffen, dass ich nichtunangenehm rieche.

    »vergiss nicht«, beginnt olivia, holt eine Packung Zi-garetten aus der schublade unter der arbeitsfläche, steckteine zwischen die lippen und sucht in der schublade nacheinem Feuerzeug, »dass du meinem mann davon nichts er-zählst, ja?« sie deutet auf die Zigarette, zündet sie an undinhaliert tief. »seiner meinung nach schadet rauchen mirund matilda. ich will nicht, dass er sich sorgen macht. erhält sich nämlich für den chef.« sie überrascht mich miteinem lachen. ich drücke mit vor aufregung trockenemmund die Hände in den schoß. Gern würde ich sagen,ich habe mich getäuscht, müsse gehen, es tue mir leid, ich

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    könne nicht bleiben. Wenn ich ein anderer mensch wäre,würde mir sicher etwas Geistreiches einfallen, das ihr zeigt,dass ich den mund halten und ihr eine gute Freundin seinwerde.

    olivia Finch mustert mich beim rauchen intensiv.»du siehst so jung aus«, wiederholt sie mit einem Kopf-

    schütteln und gießt kochendes Wasser in eine große tasse.dann holt sie milch aus dem Kühlschrank und reicht siemir zusammen mit dem Kaffee. sie macht sich nicht diemühe, mir Zucker anzubieten. als ich milch in den Kaffeegebe, zittert meine Hand; hoffentlich fällt ihr das nicht auf.ich nehme einen schluck und verbrühe mir die lippen. dasZeug ist bitter und widerlich stark.

    »du arbeitest das erste mal als au-pair-mädchen?«, fragtsie inhalierend.

    »ja, aber ich hab zu Hause oft die Nachbarskinder ge-hütet.«

    »das weiß ich aus deinem lebenslauf«, sagt sie gelang-weilt, stippt die asche zum offenen Fenster hinaus und wen-det sich wieder mir zu. mit ihrer maßgeschneiderten schwar-zen Hose, den hohen absätzen und der weißen Bluse wirktsie wie ein elegant gekleidetes Püppchen. die dunklen Haareträgt sie als Bubikopf; der Pony akzentuiert ihre hohen Wan-genknochen und großen augen mit den stark getuschtenWimpern. im vergleich zu dieser verkörperung des franzö-sischen chic komme ich mir vor wie ein landei.

    »du schaffst das schon«, meint sie. dabei spielt ein kleineslächeln um ihre lippen.

    sie drückt die Zigarette aus, hält den stummel unters lau-fende Wasser und wirft ihn in den abfall, bevor sie das Päck-chen wieder in die schublade legt. dann öffnet sie das Fens-ter weiter und nimmt meinen Koffer in die Hand.

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    »ist das alles, was du hast?«, fragt sie.»ja.«»mein Gott, ist der winzig! ich wünschte, ich könnte auch

    mit so leichtem Gepäck reisen.«Beim vorbeigehen berühren sich unsere arme. die ihren

    sind eisig kalt.»Komm«, sagt sie und dirigiert mich durch die tür. »ich

    stelle dir matilda, deine neue spielkameradin, vor.«und wieder lacht sie dieses freudlose lachen.

    es war abneigung auf den ersten Blick. diese abneigunggegen matilda dauerte mehrere tage lang an.

    ihr Zimmer ist in schlüsselblumengelb gehalten. die wei-ßen, luftigen vorhänge flattern in den raum wie engelsflü-gel. obwohl sie zugezogen sind, dringt sonnenlicht herein,wirft muster auf den teppich und das mädchen, das im Bettsitzt, einen großen Block auf dem schoß, Farbstifte um sichherum verstreut. die Kleine zeichnet übers Papier gebeugtmit hochkonzentrierter miene.

    »matilda«, begrüßt olivia sie, tritt ans Bett und setzt sichans Fußende. »das ist das neue au-pair-mädchen …« oliviaschüttelt den Kopf und sieht mich fragend an. »tut mir leid,ich hab deinen Namen vergessen.«

    »Barbara.«»ja. danke.«sie legt der Kleinen die Hand auf den unterarm, damit sie

    mit dem Zeichnen aufhört. als matilda ihre mutter ansieht,habe ich das Gefühl, dass diese kurz zusammenzuckt. siestreicht ihrer tochter unsanft das Haar aus der stirn, nimmtihre Finger in die ihren, wirft einen Blick darauf. »schau nur,wie schmutzig du dich machst«, murmelt sie und fügt mitklarerer stimme hinzu: »das ist Barbara.«

  • 1�

    matilda hebt den Blick und mustert mich kühl. als sieniest, zieht ihre mutter ein Papiertuch aus der Box auf demNachttischchen und putzt ihr die Nase. matilda versucht,sich dem Griff olivias zu entwinden, und schaut mich an.obwohl sie mit ihren blonden Haaren und den graublauenaugen keinerlei Ähnlichkeit mit ihrer mutter hat, erscheintsie mir sofort vertraut.

    »Hallo«, sage ich, mache unsicher einen schritt auf siezu und werfe einen Blick auf ihren Block. »Was zeichnestdu denn da?« ich versuche, freundlich und gut gelaunt zuklingen.

    ohne mir Beachtung zu schenken, sieht die Kleine oli-via böse an.

    »mummy, ich will kein au-pair-mädchen. Warum mussich unbedingt eins haben?«

    »Weil daddy das sagt.« olivia klopft kurz aufs Bettzeugund steht auf.

    »ich mag sie nicht, mummy. sie hat eine rote jacke undrote Haare. Warum kannst du dich nicht um mich küm-mern?«, kreischt matilda.

    ich werde tiefrot, doch olivia scheint die situation keinbisschen peinlich zu sein.

    »Weil ich die Hilfe brauche, ma petite!«, antwortet sie,die Hände in die Hüften gestemmt.

    »ich will sie nicht«, jammert matilda.»sei nicht so egoistisch«, sagt olivia, als wäre ihre sechs-

    jährige tochter eine erwachsene. »ich komme nicht alleinzurecht.«

    ich trete einen schritt zurück. das Ganze ist ein Feh-ler, ich sollte jetzt lieber gehen, bleibe aber wie angewurzeltstehen. ein so unhöfliches Kind und eine so merkwürdigemutter habe ich noch nie erlebt.

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    »mama«, meint matilda mit leiser, fast flüsternderstimme.

    »ja, mein schatz?«»mir ist übel.«»augenblick. ja, so ist’s gut.«olivia holt eine Porzellanschüssel unter dem Bett hervor.

    sie hält sie matilda gerade noch rechtzeitig unters Kinn,bevor sie sich heftig übergibt.

    »Braves mädchen.« olivias stimme klingt sanfter alsnoch ein paar minuten zuvor. »ich glaube, die neuen medi-kamente taugen nichts. Wir müssen wohl daddy Bescheidsagen, was?«

    ich stehe verlegen an der tür, weiß nicht, ob ich gehenoder bleiben soll. matildas Haare fallen ihr in schlaffen, dun-kelblonden strähnen in die stirn. ich sehe die blauen aderndurch ihre blasse Gesichtshaut. sie ist weder dünn noch zier-lich; ihre Wangen sind rund, wenn auch weiß wie schnee.alssie den Blick hebt, wirken ihre augen fast schwarz. Wiederspüre ich diese unheimliche vertrautheit, als wäre ich ihrschon einmal begegnet. die Kleine lehnt sich in die Kissenzurück. ihre mutter wischt ihr das Gesicht mit einem tuchab und winkt mich heran, um mir die Porzellanschale mitdem erbrochenen zu reichen. »Würdest du das bitte weg-bringen?«, fragt sie. »schnell.«

    ich haste hinaus, ohne zu wissen, wo sich das Bad befindet.Hinter der ersten tür, die ich öffne, ist ein großes schlafzim-mer – bestimmt das der Finches – mit einem riesigen Bett,auf dem eine lilafarbene tagesdecke sowie jede menge blaueund goldene Kissen liegen. an den weiß gestrichenen Wän-den hängen meist moderne, abstrakte Bilder. ich schließe dietür sofort wieder, weil ich angst habe, etwas von dem er-brochenen, gegen dessen Geruch mein ohnehin schon labi-

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    ler magen zu rebellieren beginnt, auf den makellos sauberenteppich zu verschütten.

    Beim dritten versuch (zuvor entdecke ich ein kleines ar-beitszimmer) finde ich das Bad mit polierten armaturen undglänzendem marmor. ich schütte den inhalt der schüsselin die toilette, betätige die spülung, wasche mir die Händeund trinke ein paar schluck Wasser. dann spüle ich dieschüssel in der Badewanne aus und werfe einen Blick inden spiegel über dem Waschbecken. meine zu einem Pfer-deschwanz gefassten Haare haben sich gelockert. ich löse sieganz, kämme sie mit den Fingern und verdrehe sie zu einemKnoten. Sie hat rote Haare. matildas Worte. Warum mag siekeine roten Haare? ich würde sie eher als kastanienbraunbezeichnen.als ich meine Brauen glätte, fällt mir zum erstenmal auf, wie dicht sie sind. meine augen haben die Farbevon moorwasser, wie daddy einmal scherzte, oder von see-tang, meint Fiona. eines ist dunkler grün als das andere. ichwirke tatsächlich so jung und dumm, wie olivia Finch sagt,und komme mir vor wie eine außerirdische, fehl am Platz indiesem großen, prächtigen Haus. ich gehöre nicht hierher,und das kleine mädchen ist ein ungeheuer.

    trotzdem möchte ich nicht zurück nach irland,nicht mehr.ich brauche distanz zu unserem Haus in culleenamore, zuder erinnerung an die ruinen eines glücklicheren lebens,die allmählich von unkraut und Gestrüpp überwuchert wer-den. dann sind da noch die Worte von mattie, die meinemutter seit neun jahren tagtäglich heraufbeschwört, weilsie ihn nicht loslassen kann.

    und das Geheimnis: ich bin schuld. mammy hat recht; esgibt keine Zufälle. ich habe es vor ihr zu verbergen versucht,gedacht, es würde einmal eine Zeit geben, da sie mir verzei-hen könnte, doch je älter ich werde, desto besser begreife ich

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    das ausmaß ihrer trauer und dass sie nie in der lage seinwird zu vergeben. also schweige ich, und mein Nichtgeste-hen klafft wie eine Wunde in meiner seite, die wächst undwächst, bis ich mich vollkommen leer fühle.

    »Barbara.«ich zucke zusammen, lasse fast die schüssel auf den Flie-

    senboden fallen.vor der tür steht olivia Finch.»Warum brauchst du so lang?«, fragt sie verärgert, nimmt

    mir die schüssel aus der Hand und stellt sie auf den Bodenvor matildas Zimmer. »sie schläft jetzt. Komm, ich zeig dir,wo du untergebracht bist.«

    ich hole meinen Koffer vom treppenabsatz. Zu meinerüberraschung gehen wir nicht weiter hinauf, sondern sieöffnet die tür zu dem raum neben dem von matilda, in denich bei meiner suche nach dem Bad noch nicht geschauthabe.

    »es ist das Beste, wenn du in der Nähe von matilda bist.sie braucht in der Nacht oft Hilfe«, erklärt olivia.

    mir gefällt das Zimmer. es ist sonnig und hell und hübscheingerichtet. so stelle ich mir ein Hotelzimmer vor, mitschneeweißen laken, rosenblütentapete und rosafarbenenspitzenvorhängen.

    »john hat es für matilda gestaltet, aber es gefällt ihr nicht.sie mag rosa und rot nicht; meine lieblingsfarben sind dasauch nicht. rosa ist mir zu fahl, und rot«, olivia betrachtetmeine jacke mit verzogenem mund. »Nun, rot mangelt esan subtilität. also habe ich ihr Zimmer in sommerlichemGelb gehalten. das ist ihr lieber.«

    ich lege meinen Koffer aufs Bett.»Würdest du in ein paar minuten nach unten kommen,

    damit ich dir deine aufgaben erklären und mit dir über ma-

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    tilda sprechen kann? Hat die agentur dich über ihren Zu-stand informiert?«

    »ich weiß, dass sie unter anfällen leidet, weiternichts …«

    olivia lacht auf. »tja, die genaueren ursachen kennen wirauch nicht. meiner tochter geht es seit ihrer Kleinkinder-zeit nicht gut. im neunzehnten jahrhundert hätte man ihreKrankheit mit dem Wort ›Hysterie‹ umschrieben. manch-mal fühlt sie sich besser, manchmal schlechter. Heute ist keinsonderlich guter tag …«

    sie wendet sich ab, um das Zimmer zu verlassen.»sei in ungefähr zehn minuten unten.«die tür schließt sich hinter ihr.ich trete ans Fenster und blicke hinaus auf den Garten

    mit der großen Kastanie, die mir vorhin schon aufgefallenist.vom wolkenlosen Himmel lacht die spätnachmittäglichesonne. am hinteren ende des makellosen rasens befindensich ein kleines Gewächshaus und ein großer schuppen undin der mitte ein teich, auf dessen oberfläche sattgrüne Was-serlilien treiben. die Beete bersten schier vor Blumen, vondenen ich viele nicht kenne. die szenerie erinnert mich anBeatrix Potters Peter rabbit. Fast erwarte ich, den kleinenbraunen Hasen mit der blauen jacke übers Gras hoppeln zusehen. in der luft brummen träge Fliegen und Bienen. dakommt ein stämmiger mann mit Kelle und Blumentöpfenaus dem schuppen. ist das mr. Finch? er hat dunkelbraunesHaar und scheint ein wenig jünger zu sein als mrs. Finch.Plötzlich bleibt er stehen, als spürte er meinen Blick, undschaut zum Haus herauf. ich weiche hastig vom Fenster zu-rück.

    Nachdem ich die jacke ausgezogen habe, gehe ich wie-der ans Fenster und öffne es laut und vernehmlich. eine

  • UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE

    Noëlle Harrison

    Wie die Sterne am HimmelRoman

    Taschenbuch, Broschur, 288 Seiten, 11,8 x 18,7 cmISBN: 978-3-442-47389-2

    Goldmann

    Erscheinungstermin: Dezember 2010

    Eine bewegende Familiengeschichte über Schuld und Vergebung Die junge Irin Barbara reist nach London, wo sie eine Stelle als Kindermädchen der kleinenMatilda antritt. Schon bald merkt Barbara, dass Matildas herzlose Mutter Olivia ihren MannJohn betrügt. John hingegen ist Barbara sofort sympathisch, nicht zuletzt, weil er sich liebevollum Matilda kümmert, die unter einer seltsamen Krankheit leidet. Doch Barbara ahnt, dass dieFamilie ein dunkles Geheimnis verbirgt; und sie verspürt das Bedürfnis, Matilda zu beschützen.Doch Barbara hat die Situation auf gefährliche Weise völlig falsch eingeschätzt ...