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NomosLehrbuch Kriminologie Nomos Neubacher

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NomosLehrbuch

Kriminologie

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Neubacher

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ISBN 978-3-8329-5313-3

BUC_Neubacher_5313-3.indd 1 29.07.11 08:43

Nomos

NomosLehrbuch

Kriminologie

Prof. Dr. Frank Neubacher M.A., Universität zu Köln

BUT_Neubacher_5313-3.indd 3 22.08.11 10:43

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1. Auflage 2011© Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2011. Printed in Germany. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wie-dergabe und der Übersetzung, vorbehalten.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-8329-5313-3

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Vorwort

Das „Rätsel Kriminalität“1 ist weit weniger geheimnisvoll als es vielleicht vor 40 Jahrenoder länger zurück den Anschein gehabt haben mag. Zur Entzauberung des „Bösen“haben gerade jene empirisch und kriminalsoziologisch orientierten Strömungen der Kri-minologie beigetragen, die es anfangs schwer hatten, sich gegen die überkommenen Vor-annahmen der älteren Kriminologie durchzusetzen. Die Kriminologie hat, obschon nochvergleichsweise jung, einen weiten Weg zurückgelegt. In Deutschland hat er durch dieDunkelheit wissenschaftlicher Anmaßung in die Komplizenschaft mit einem rassistischenRegime geführt, das meinte, Menschen in „Herren-“ und „Untermenschen“ bzw. Straf-täter in „rassisch gesunde“ oder „minderwertige Volksschädlinge“ einteilen zu können.Die Abwendung von der Kriminalbiologie und die Öffnung für die Sozialwissenschaftenhaben die Kriminologie jedoch rehabilitiert. Heute lässt sich auf eine Fülle von Erkennt-nissen blicken, von denen vor 40 Jahren noch keine Rede sein konnte. Gewiss: Die Kri-minologie hat nicht alle Rätsel entschlüsselt, und es kommen manchmal neue hinzu! Abersie ist eine Wissenschaft, deren systematisch generierte Ergebnisse sich von bloßen Mei-nungen oder Spekulationen über Kriminalität unterscheiden und die deswegen dringlichbenötigt wird. Ihr Fundus an Erkenntnissen kann ebenso wie eine bestimmte wissen-schaftliche Denkungsweise an Studierende weitergegeben werden.

So können nicht einfach die Gene oder die Umwelt für strafbares Verhalten des Einzelnenverantwortlich gemacht werden. Weder eine schlechte Kindheit noch Arbeitslosigkeitoder falsche Freunde können alleine Kriminalität erklären. Tatsächlich gestaltet sich dasZusammenspiel von kriminogenen Faktoren komplizierter. Es gibt auch protektive Fak-toren, die manche selbst unter schwierigsten Umständen befähigen, ein straffreies underfülltes Leben zu führen oder aus einer kriminellen Karriere „auszusteigen“. Und au-ßerdem dürfen gesellschaftliche Veränderungen nicht aus dem Auge geraten: Der sozialeWandel, die Veränderung unserer Lebensbedingungen haben, wie die Beispiele desSelbstbedienungsladens, des Nahverkehrs ohne Zugangskontrolle und des Internets zei-gen, Tatgelegenheitsstrukturen radikal verändert. Mit ihnen ist es auch auf der Reakti-onsseite zu Veränderungen gekommen, die etwa die Sensibilität gegenüber Normverlet-zungen, das Maß der sozialen Kontrolle und die Anzeigebereitschaft betreffen. In derKonsequenz erscheint es naheliegender, die in Kriminalstatistiken registrierte, langfristigsteigende Kriminalität als Ausdruck dieser Wandlungsprozesse zu deuten und sie nichtals Indikator für die Schlechtigkeit der Menschen und einen wie auch immer geartetenWerteverfall zu begreifen. Solch eine nüchterne Analyse wird helfen zu verstehen, dasses „den Verbrecher“ nicht gibt, dass Kriminalitätsursachen vielfach weniger in Defiziteneines Individuums als in konkreten Situationen zu suchen sind. Dieser Perspektiven-wechsel führt zu der Einsicht, dass nicht bestimmte Täter-„Typen“ sondern „ganz nor-male Menschen“ und sogar Mächtige als Täter in Erscheinung treten.

Dieses Buch ist aus meinen Vorlesungen entstanden, und für die Studierenden habe iches konzipiert. Als Lern- und Studienbuch soll es das Wesentliche festhalten und zu eige-nen Überlegungen anregen. Es ist in zwei Hauptteile gegliedert, von denen der erste,umfangreichere die Grundlagen der Kriminologie erläutert, während der zweite sichspeziellen Deliktsgruppen zuwendet. Dieser zweite Teil bezieht seine Bedeutung aus demUmstand, dass erst mit ihm ein lebensnahes Bild der sehr verschiedenartigen Kriminali-tätsphänomene gewonnen werden kann und zugleich die allgemeinen Lehren an beson-

1 Lange, Das Rätsel Kriminalität. Was wissen wir vom Verbrechen? 1970.

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deren Fall- bzw. Deliktgruppen überprüft werden können. Ein Studienbuch dieses Zu-schnitts gibt es in aktueller Fassung gegenwärtig nicht.2 Diese Lücke will das vorliegendeStudienbuch schließen. Es dient der Vor- und Nachbereitung der Vorlesungen desSchwerpunktbereichs „Kriminologie“ und dem erfolgreichen Abschluss des universitä-ren Schwerpunktexamens. Zu diesem Zweck sind am Ende des Buches einige Original-Prüfungsaufgaben mit den dazu gehörenden Antworten wiedergegeben. Aus Gründender unumgänglichen Beschränkung habe ich auf einen Abschnitt zu den methodologi-schen Fragen des kriminologischen Forschungsprozesses ebenso verzichten müssen wieauf ein gesondertes Kapitel über Kriminalprognosen. Das werden mir die Leserinnen undLeser nicht nachtragen, zumal zu beiden Aspekten geeignete Schriften vorliegen.3

Für juristisch geschulte Studierende ist es eine ungewohnte Erfahrung, sich in sozialwis-senschaftliche Disziplinen hineinzudenken, die weniger dogmatisch sind und weithin aufDefinitionen, Lehrsätze und Regeln für den mündlichen und schriftlichen Ausdruck ver-zichten. Daraus resultieren manchmal Unsicherheit und der Eindruck, es handele sichbei der Kriminologie um eine zwar spannende Wissenschaft, in der sich letztlich aberirgendwie alles behaupten ließe. Das ist falsch, und deshalb ist es mir ein besonderesAnliegen, Orientierung zu bieten und am Ende eines Kapitels zusammenfassend zu bi-lanzieren, was sich – wie immer in der Wissenschaft: bis zum Beweis des Gegenteils – mitGewissheit sagen lässt.

Wissenschaft macht Spaß, und das soll es auch! Deshalb greife ich neben Abbildungengelegentlich auf eine Karikatur, einen Zeitungsausriss oder auf ein bemerkenswertes Zi-tat zurück, welche das zuvor Gesagte wie in einem Brennglas bündeln. Der Vertiefungdienen die ausgesuchten Literaturhinweise am Ende der Kapitel, die zum Selbststudiumanstiften sollen. Auch dort wartet das „Abenteuer Denken“!

Das Buch ist meinen Studentinnen und Studenten gewidmet, deren Neugierde und Un-voreingenommenheit mich anspornen. Für eine kritische Durchsicht des Manuskriptsdanke ich meinen wiss. Mitarbeitern Mario Bachmann und Michael Stroh, der auch dasStichwortverzeichnis besorgt hat. Durch Prof. em. Dr. Michael Walter erhielt ich weitereAnregungen, von Ferdinand Goeck willkommene Hinweise von studentischer Seite.

Köln/Hannover, im März 2011 Frank Neubacher

2 Siehe aber v. Danwitz, Examens-Repetitorium Kriminologie, 2004.3 Einerseits Walter/Brand/Wolke, Einführung in kriminologisch-empirisches Denken und Arbeiten, 2009; ande-

rerseits Schöch in: Schneider (Hrsg.), Internationales Handbuch der Kriminologie, Bd. 1, 2007, S. 359 ff.; Kröber/Dölling/Leygraf/Sass (Hrsg.), Handbuch der forensischen Psychiatrie, Bd. 3: Psychiatrische Kriminalprognoseund Kriminaltherapie, 2006; s. ferner Walter/Neubacher, Jugendkriminalität, 4. Aufl. 2011, Rn. 492-506.

Vorwort

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Inhalt

Vorwort 5

Abbildungsverzeichnis 13

Abkürzungsverzeichnis 15

Grundlagen der KriminologieErster HauptteilKriminalwissenschaften, Kriminologie und Kriminalistik1. Kapitel: 19

Abgrenzung zur KriminalistikA. 19Ges. Strafrechtswissenschaft – abweichendes Verhalten – VerbrechensbegriffBegriff und Erkenntnisinteressen der KriminologieB. 21Sozialwissenschaft – Interdisziplinarität – InternationalitätGeschichte der KriminologieC. 24Beccaria, Lombroso, v. Liszt – Kriminalsoziologie – „New Penality“

Kriminalpolitik und ihre Akteure2. Kapitel: 29„Innere Sicherheit“ und internationale KriminalpolitikA. 29Politikfeld Kriminalität – Subjektivierung – Globalisierung – EUVerhältnis Kriminologie – KriminalpolitikB. 30Zwei ZahnräderWeitere kriminalpolitische AkteureC. 30Ministerien – Verbände – Massenmedien – Polizei und Justiz

Hell- und Dunkelfeld3. Kapitel: 34Verhältnis von Hell- und DunkelfeldA. 34Relatives/absolutes Dunkelfeld – Definitionsprozess – konstante VerhältnisseEin Beispiel: Die LeichenschauB. 36Obduktion – äußere Leichenschau – ReformAnzeigebereitschaftC. 38Strafanzeige/-antrag – Determinanten des Anzeigeverhaltens – KontrolldeliktAusschöpfung des Dunkelfeldes? – Das Beispiel JugendgewaltD. 40Anzeigerate – erhöhte Sensibilität – Gesetzesänderungen – Online-AnzeigeDunkelfeldforschungE. 43Crime Victim Survey – Periodischer Sicherheitsbericht – Methoden

Kriminalstatistiken4. Kapitel: 45Von Missverständnissen und MissbräuchenA. 45Verdachtsstereotypen – AufklärungsquotenDer FilterprozessB. 47Verfahrenseinstellungen – Abgeurteilte – VerurteiltePolizeiliche KriminalstatistikC. 49Ausgangsstatistik – Echttäterzählung – Falscherfassungen – Einflussfaktoren

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StrafverfolgungsstatistikD. 53VerurteiltenzifferStrafvollzugsstatistikE. 54Stichtagserhebung

Struktur und Entwicklung der registrierten Kriminalität5. Kapitel: 56DeliktsstrukturA. 56Häufigkeitszahl – TatverdächtigenbelastungszahlLangfristige EntwicklungB. 57Gesamthäufigkeitszahl – WellenbewegungErklärungC. 59Tatgelegenheiten – Stadt-Land-Gefälle – Reaktionsseite – Demographie

Kriminalität und Alter6. Kapitel: 63Die Age-Crime-KurveA. 63Adoleszenz – peergroup – Ubiquität – Ageing out – SpontanbewährungLebenslaufforschung und sog. IntensivtäterB. 65Definitions-/Prognoseproblem – Mehrfaktorenansatz – KohortenstudienDie Theorie der altersgestuften informellen SozialkontrolleC. 69Wendepunkte – Bindungen – Lebensstil

Kriminalität und Geschlecht7. Kapitel: 71Veränderte SichtweisenA. 71Biologische Andersartigkeit – EmanzipationWeibliche Delinquenz im Hell- und DunkelfeldB. 72Geringe Kriminalitätsbelastung – Frauenbonus?Erklärungsansätze zur FrauenkriminalitätC. 74Geschlechtsrollen – Erfolgsdruck – Ritterlichkeit – Aufsicht

Klassische Kriminalitätstheorien8. Kapitel: 77Zur eingeschränkten Reichweite von KriminalitätstheorienA. 77Mikro-/Makrotheorien – Kultureller Kontext – Modell JugendkriminalitätAlte und neue biologische AnsätzeB. 77Zwillingsforschung – Serotonin – NeurobiologieTheorie des rationalen Wahlhandelns (rational choice)C. 80Strafdrohung – Affekttat – Einschätzung des EntdeckungsrisikosSozialökologische AnsätzeD. 82Kriminalgeographie – broken windows – defensible spaceLerntheorienE. 84Lernen am Modell/durch Erfolg – differentielle Assoziation –NeutralisierungstechnikenAnomietheorieF. 85Sozialstruktur– Anpassungsdruck – Innovation – WohlstandskriminalitätBindungstheorieG. 88attachment – commitment – belief – involvement – Kombination von Theorien

Inhalt

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Neuere Erklärungsansätze9. Kapitel: 90Niedrige Selbstkontrolle (Gottfredson/Hirschi)A. 90Triebverarbeitung – Erziehungsmängel/Veranlagung – Persönlichkeitszug –KonstruktAllgemeine Drucktheorie (Agnew)B. 91Veränderungsdruck – Coping – Nichterreichen von Zielen – positive/negativeStimuliRoutine-Aktivitäts-Ansatz (Cohen/Felson)C. 92Tatgelegenheiten – Tatziel – schutzbereite Dritte – Motivation –Verdrängungseffekt

Labeling approach (Etikettierungsansatz)10. Kapitel: 96Eine Theorie der KriminalisierungA. 96Reaktionsseite – Konflikt – Paradigmenwechsel – selbsterfüllende ProphezeiungDefinieren, Konstruieren, EtikettierenB. 98Zuschreibung – Definitions-/Beschwerdemacht – Selektivität – sekundäreDevianzRückblick – nach 40 JahrenC. 100Reaktionsseite – Parteinahme

Sozialpsychologische Experimente und ihre Deutung11. Kapitel: 103Bedeutung sozialpsychologischer ExperimenteA. 103Situation – Konformität – GehorsamMilgrams Experiment zum Gehorsam gegenüber AutoritätB. 104Autorisierung – graduelle Steigerung – SituationsdefinitionZimbardos Stanford Prison ExperimentC. 110Simulation einer Extremsituation – Dynamik – drei UntergruppenFolgerungenD. 111Situative Zwänge – gefährliche Situation – Kriminalprävention

Viktimologie12. Kapitel: 113Opfer und ihre Lage nach der ViktimisierungA. 113Opfertypologie – sekundäre Viktimisierung – PosttraumatischeBelastungsstörungOpferschutzgesetzgebungB. 116Verfahrensbeteiligter – Nebenklage – OpferanwaltKriminalitätsfurchtC. 118Paradoxon – Dimensionen der Furcht – Furchttheorien – Vulnerabilität

Kriminalprävention13. Kapitel: 121Wiederentdeckung der PräventionA. 121Sicherheitsgefühl – Verhältnismäßigkeit – Politisierung – ÖkonomisierungEinzelne Maßnahmen und kriminologische KritikB. 123Präventionsstrategien – Videoüberwachung

Inhalt

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Evaluation kriminalpräventiver ProgrammeC. 124Qualitätsstandards – Erfolg – Verdrängung

Sanktionsforschung14. Kapitel: 128Entwicklung der SanktionierungspraxisA. 128Zweispurigkeit – Große Strafrechtsreform – Bewährungshilfe – GefangenenrateWirksamkeit von SanktionenB. 130Nothing/something works – Behandlungsprogramme – Rückfall – Bundes-zentralregisterDas Problem der „Falsch-Positiven“C. 133Kriminalprognosen – natürliches Experiment – Maximierung von Sicherheit

Spezielle Tat- und TätergruppenZweiter HauptteilAlterskriminalität15. Kapitel: 135

Spät-/Bagatellkriminalität – Ausgliederungsprozesse

Kriminalität von Zuwanderern („Ausländerkriminalität“)16. Kapitel: 137Nichtdeutsche – spezifische Delikte – Strukturunterschiede – „Ehrenmord“

Eigentums- und Vermögenskriminalität17. Kapitel: 141Diebstähle – „Kriminalität der Normalen“ – Abrechnungsbetrug –Normanerkennung

Straßenverkehrskriminalität18. Kapitel: 145Fahrlässigkeits-/Gefährdungsdelikte – Verkehrstote – Alkohol am Steuer –Fahrerlaubnis

Drogenkriminalität und Alkohol19. Kapitel: 147Doping – Rauschtrinken – Cannabis – Beschaffungskriminalität – Drogenpolitik

Wirtschaftskriminalität20. Kapitel: 152Sonderfall – Begriffe – white collar crime – Schäden – Konzentration – Absprachen

Kriminalität der Mächtigen21. Kapitel: 157Systemunrecht – Staats-/Makro-/Regierungskriminalität – Techniken der Macht

Extremismus und Terrorismus22. Kapitel: 160Politisch motivierte Kriminalität – Propagandadelikte – Radikalisierungsprozess

Organisierte Kriminalität23. Kapitel: 163Begriff – Strukturen – italienische Mafia – ̀ Ndrangheta – omertà – Mafia-Prozesse

Gewaltkriminalität24. Kapitel: 168Konstruktionen – Intimizid – Gewalt in der Pflege – school shooting

Sexualkriminalität25. Kapitel: 172Sexualisierte Gewalt – Beziehungsdelikte – Sanktionierung – Rückfall –Behandlung

Inhalt

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Internet-Kriminalität26. Kapitel: 175Täuschungs- und Schädigungsvarianten – Phishing – Tatgelegenheiten

10 Gebote für angehende Kriminologen und Kriminologinnen 178

Literaturverzeichnis 179

Prüfungsfragen und -antworten 190

Stichwortverzeichnis 199

Inhalt

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Kriminalstatistiken

Von Missverständnissen und MissbräuchenVerdachtsstereotypen – Aufklärungsquoten

Polizei- und Rechtspflegestatistiken „messen nicht ‚das‘ Hellfeld der Kriminalität, son-dern sie messen jeweils die Ergebnisse der Tätigkeit und der Sachverhaltsbewertung vonPolizei, Staatsanwaltschaft oder Gericht.“1 Sie sind so etwas wie eine virtuelle Strichliste,die die Behörden bei ihrer Tätigkeit führen, nicht zuletzt um einen Arbeitsnachweis zuführen und zu dokumentieren, wie viele Fälle sie mit welchem Erfolg zum Abschlussgebracht haben. Außerdem sind sie in hohem Maße abhängig von den Kriterien der sta-tistischen Erfassung, die sich nicht selten verändern. Wenn man das alles nicht berück-sichtigt, sitzt man schnell Missverständnissen auf, etwa dergestalt, dass statistische Ver-änderungen in jedem Fall auf „echte“ Wandlungen im Kriminalitätsgeschehen schließenlassen. Daneben gibt es ausgesprochen missbräuchliche Verwendungen von kriminal-statistischen Daten, denen die Polizei zum Teil dadurch begegnet, dass sie bereits in derKriminalstatistik darauf hinweist, welche Schlüsse sich aus den Daten ziehen lassen undwelche nicht. Solche Hinweise werden aber oft, z.B. in der Politik oder den Massenme-dien, nicht zur Kenntnis genommen oder bewusst ignoriert. Es kann sogar geschehen,dass die Polizei selbst in unangemessener Weise mit ihren Daten umgeht.

Die trocken anmutende Materie der Kriminalstatistiken ist alles andere als langweilig.Das und die verschiedenen Probleme sollen, bevor wir uns den statistischen Details kon-kret zuwenden, an drei Beispielen illustriert werden.

Beispiel 1: Racial Profiling Aus Studien in den USA, England und in Südosteuropa weißman, dass Ausländer bzw. fremdländisch aussehende Menschen ein ungleich höheres Risikohaben, auf der Straße von der Polizei kontrolliert zu werden. Sie fallen optisch eher auf, passenin das „Aufmerksamkeitsraster“ der Polizei und bewegen sich (v.a. als junge Männer) ohnehinverstärkt im öffentlichen Raum, was ihre Sichtbarkeit erhöht. Belege für die intensivere Kon-trolle fanden sich etwa im Straßenverkehr. Auf dem New Jersey Turnpike, einer stark fre-quentierten Autobahn im Nordosten der USA, stellten 1993 Afroamerikaner 13 % der Ver-kehrsteilnehmer, 15 % der Zuschnellfahrer, aber 35 % der zu Kontrollzwecken von der Po-lizei gestoppten Fahrer. In Maryland waren 1996/97 lediglich 17 % der Verkehrssünder Afro-amerikaner, ihr Anteil an den durchsuchten Fahrern betrug hingegen 71 %. Ein höheres Ri-siko, polizeilich kontrolliert zu werden, wurde auch für Roma in Bulgarien und Ungarn fest-gestellt. Polizeibeamte operieren offenbar auf der Basis von Verdachtsstereotypen, die sieselbst für Erfahrung halten („sechster Sinn“). Besonders hoch ist demzufolge die Wahrschein-lichkeit einer Polizeikontrolle, wenn eine in dieses „Profil“ passende Person angetroffen wird,die „nicht in diese Gegend gehört“, „verdächtig aussieht“ und nachts unterwegs ist.2

Beispiel 2: Rechtsextremistische Taten in Sachsen-Anhalt 2007 Einen regelrechtenSkandal, der sogar zum Rücktritt des Direktors des LKA führte, gab es 2007 in Sachsen-Anhalt. Das Bundesland stand wegen einer Vielzahl von rechtsextremen Übergriffen und desVorwurfs, nicht energisch genug dagegen vorzugehen, politisch gehörig unter Druck. ImSommer verkündete der Innenminister des Landes stolz, die Zahl der Taten mit rechtsextre-mem Hintergrund habe im ersten Halbjahr um 50 % reduziert werden können. Tatsächlichwiesen die entsprechenden Daten der PKS einen solchen Rückgang aus. Nachforschungen

4. Kapitel:

A.

1 BMI/BMJ, Zweiter Periodischer Sicherheitsbericht, 2006, S. 13.2 Miller u.a. EJCrim 2008, S. 161 ff., 174.; s. auch Reichertz KrimJ 1990, S. 194, der die Worte eines Kriminalkommis-

sars wiedergibt: „Meine Schweine erkenne ich am Gang“.

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ergaben jedoch, dass die niedrigen Zahlen dadurch zustande gekommen waren, dass entgegender bisherigen Zählweise und der Zählpraxis in den anderen Bundesländern Taten nur nochdann als „Delikte mit rechtsextremistischem Hintergrund“ gezählt wurden, wenn sie weitge-hend aufgeklärt waren. Selbst Hakenkreuzschmierereien und „Sieg-Heil-Rufe“ waren als„politisch uneindeutig“ bewertet worden – mit der Begründung, der politische Hintergrundkönne nur bei einem bekannten Täter sicher beurteilt werden. Selbstverständlich hätten aberauch unaufgeklärte Verdachtsfälle, in denen der rechtsextremistische Hintergrund nicht sicherfeststand, sondern nur zu vermuten war, wie bisher gezählt werden müssen. Offensichtlichhatte jemand darauf gedrungen oder es gab ein gemeinsames Interesse daran, nicht unnötigviele Taten zu registrieren. So hatten sich die Kritiker das geforderte energische Vorgehengegen Rechtsextremismus natürlich nicht vorgestellt!

Beispiel 3: Die „Bundesliga des Verbrechens“ Als Beispiel für die missbräuchliche Ver-wendung von PKS-Daten durch die Medien kann hier fungieren, was sich als „Bundesliga desVerbrechens“ bezeichnen lässt. Dabei werden einzelne Daten aus der Polizeilichen Kriminal-statistik (z.B. zur Häufigkeit bestimmter Delikte, zur Aufklärungsquote) herausgegriffen, alsIndikatoren für die Gefährlichkeit einer Stadt, Region bzw. eines Bundeslandes oder für dieGüte der dortigen Polizeiarbeit gedeutet und mit den Daten anderer Gebiete verglichen. Dabeiist hinlänglich bekannt und ohne Weiteres einsehbar, dass die Aussagekraft dieser Daten be-grenzt ist. Die Aufklärungsquote bezieht sich auf das Verhältnis der aufgeklärten an allenpolizeilich registrierten Fällen. Als aufgeklärt gilt ein Fall, wenn ein Tatverdächtiger nament-lich bekannt ist oder auf frischer Tat gefasst wurde. 2009 erreichte die Gesamtaufklärungs-quote (für alle registrierten Straftaten) mit 55,6% einen Höchststand, wie der Bundesinnen-minister nicht ohne Zufriedenheit vermeldete. Die Aufklärungsquote kann nicht als Güteaus-weis der Polizeiarbeit herangezogen werden, weil sie von Delikt zu Delikt sehr unterschiedlichist und stark von den Charakteristika des Gebiets abhängt, für das sie ermittelt wurde. BeimDiebstahl, besonders unter erschwerenden Umständen (z.B. Einbruchs-/Einsteigediebstahl,Wegnahme eines angeschlossen Fahrrads), ist sie traditionell sehr gering; eine Ausnahme stelltallerdings der Ladendiebstahl dar, bei dem die Tatverdächtigen zu fast 100 % von den An-zeigeerstattern, oft privaten Sicherheitsdiensten, der Polizei übergeben werden. Es ist folglichvor allem die Kriminalitätsstruktur, die die Gesamtaufklärungsquote einer Polizeibehörde be-stimmt. Außerdem erleichtert eine vor der Tat bestehende Täter-Opfer-Beziehung die Auf-klärung, weil das Opfer Hinweise auf Identität oder Aufenthaltsort des Täters geben kann.3

Zum Teil lässt sich damit die hohe Aufklärungsquote für Tötungsdelikte (einschließlich ver-suchter Taten, 2009: 96 %) erklären, die häufig Beziehungsdelikte sind und als solche denKreis der Tatverdächtigen einschränken. Auch Betrugstaten werden vergleichsweise häufigaufgeklärt (2009: 81 %), weil der Tat in der Regel eine persönliche Kontaktaufnahme zumOpfer vorausgeht.

Für Köln wies die Statistik 2009 eine Aufklärungsquote von 44,8 % aus. Das war unterallen Großstädten ab 200.000 Einwohner ein niedriger Wert (noch niedriger: Münstermit 44,4 %) und deshalb recht pikant, weil die Kölner Polizei 2004 die ehrgeizige „Vision2010: Köln – sicherste Millionenstadt“ ausgegeben hatte. Es verwundert daher nicht,dass sich die Presse auf diesen Umstand stürzte (s. Abb. 5). Ihre Berichterstattung hätteaber viel grundsätzlicher ansetzen müssen. Da zwischen einer hohen Aufklärungsquoteund einem niedrigen Straftatenanteil des Diebstahls (und umgekehrt) ein Zusammen-hang besteht,4 wirkt sich die hohe Zahl von Taschendiebstählen tatsächlich ungünstigauf die Quote der Kölner Polizei aus. Hinzu kommt, dass es sich zu einem großen Teilum Diebesbanden umherreisender Täter handelt, zu denen die bestohlenen Anzeigeer-statter keine Angaben machen können. Auch das Beispiel des Kölner Karnevals zeigt,

3 Vgl. Feltes Krim 2009, S. 37, 39.4 Vgl. PKS 2009, S. 66 f.

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dass eine Stadt spezifische, für Straftäter attraktive Gelegenheitsstrukturen aufweist unddass nicht wenige, die in Köln eine Straftat begehen, von außerhalb anreisen. Insofernkann man nicht sagen, dass die niedrige Aufklärungsquote auf eine schlechte Polizeiar-beit zurückzuführen wäre. Neben der Sache liegt freilich der Hinweis auf die „mildeJustiz“, der auf die kriminologisch höchst zweifelhafte Abschreckungswirkung von Be-strafung anspielt (dazu s. 14. Kap) und eher der Entlastung der Polizei dient („Schwarzer-Peter-Spiel“). Der bundesweite Anstieg der Gesamtaufklärungsquote auf fast 56 % istübrigens allem Anschein nach ebenso wenig der Leistung der Polizei zu verdanken, son-dern der veränderten Kriminalitätsstruktur. In den letzten Jahren sind nämlich vermehrtBetrugsdelikte (mit hoher Aufklärungsquote) an die Stelle von schweren Diebstählen (mitniedriger Aufklärungsquote) getreten.5

Abbildung 5: Aufklärungsquote in Köln

Quelle: Kölnische Rundschau vom 20.5.2010, S. 1

Der FilterprozessVerfahrenseinstellungen – Abgeurteilte – Verurteilte

Wir hatten schon gesehen, wie im Wege der Selektion einige Taten bzw. Tatverdächtigeaus dem Dunkel- ins Hellfeld geraten und andere nicht. Dieser Prozess war abhängig vonder Normsetzung, der Wahrnehmung des Normbruchs bzw. seiner Bewertung, von An-zeigen Privater und vom polizeilichem Kontrollverhalten („Herstellen von Kriminali-tät“). Jetzt soll es darum gehen, dass sich dieser Filterprozess im Hellfeld weiter fortsetzt.Ein Strafverfahren besteht aus dem Ermittlungs-, dem Haupt- und dem Vollstreckungs-verfahren. Tatverdächtige, Beschuldigte, Angeschuldigte, Angeklagte (s. § 157 StPO) so-wie Verurteilte können zu unterschiedlichen Zeitpunkten, auf unterschiedlichen Ebenenund aus unterschiedlichen Gründen, gleichsam „auf dem Weg in die Haftanstalt“, ausdiesem Prozess „aussortiert“ werden. Zunächst sind bekannt gewordene Fälle von er-mittelten Tatverdächtigen zu unterscheiden (s. Abb. 6). Von gut 6 Mio. Fällen, die imJahr 2009 der Polizei bekannt wurden, konnten nur rund 3,3 Mio. aufgeklärt werden.Es gibt also auch hier so etwas wie ein „doppeltes Dunkelfeld“ (s.o. 3. Kap. Rn. 2). Denndie kriminalstatistischen Daten sagen weder etwas über das echte Dunkelfeld noch über

B.

5 Dazu Neubacher ZRP 2008, S. 195.

B. Der Filterprozess 4

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die Täter der zwar bekannt gewordenen, aber nicht aufgeklärten Taten aus. Der Begriff„Dunkelfeld“ ist in diesem Zusammenhang zwar irritierend, weil die Taten zum Hellfeldzählen, aber der Hinweis auf die zusätzliche Begrenztheit der polizeilichen Daten ist sehrwichtig. Ein Beispiel: Wenn die Rede davon ist, dass ca. 25 % der registrierten Tatver-dächtigen Jugendliche und Heranwachsende sind, dann kann sich diese Aussage natur-gemäß nur auf die aufgeklärten Taten beziehen, denn in den anderen Fällen ist nichtsüber den Täter bekannt. Da aber nur etwa die Hälfte aller registrierten Taten aufgeklärtwird, ist es durchaus denkbar, dass sich hinter den nicht aufgeklärten Fällen systematischandere Tätergruppen verbergen als sie bei den aufgeklärten Taten sichtbar gewordensind. So ist der hohe Anteil jugendlicher Tatverdächtiger beim Diebstahl von Kraftwagendadurch zu relativieren, dass der Erwachsenenanteil bei den unaufgeklärten Fällen „we-sentlich höher liegen“ dürfte.6 Erwachsene sind demnach nicht unbedingt weniger kri-minell, sondern stellen sich vielleicht nur geschickter an, wissen ihre Täterschaft besserzu verschleiern und sind weniger geständnisbereit.

Abbildung 6: Ausfilterung im Verlauf des Strafverfahrens 2009

Quelle: Statistisches Bundesamt, Justiz auf einen Blick, 2011, S. 67

Wenden wir uns erneut der Abbildung zum Filterprozess (s. Abb. 6) zu. Straßenver-kehrsdelikte blieben, weil in der Polizeilichen Kriminalstatistik nicht enthalten, unbe-rücksichtigt. Die Diskrepanz zwischen den 3,3 Mio. aufgeklärten Taten, zu denen quadefinitione ein Tatverdächtiger ermittelt worden sein muss, und den fast 2,1 Mio. straf-

6 PKS 2006, S. 175.

Erster Hauptteil Grundlagen der Kriminologie4

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mündigen Tatverdächtigen, die für die Relationszahlen die Bezugsgröße bilden (100 %),ist zum Teil damit zu erklären, dass Taten von Personen registriert werden, die im Wegeder sog. Echttäterzählung (s. unter C., Rn. 12) trotz mehrfacher Tatbegehung nur einmalals Tatverdächtige gezählt werden und dass einige der Tatverdächtigen nicht strafmün-dig sind (Kinder unter 14 Jahren, s. § 19 StGB). Im weiteren Verlauf wird das Verfahrengegen mehr als die Hälfte der strafmündigen Tatverdächtigen eingestellt. Die Verfah-renseinstellungen werden von der Staatsanwaltschaft mit Zustimmung des zuständigenGerichts verfügt, wenn die Schuld als nicht schwerwiegend anzusehen wäre (§§ 153,153 a StPO), oder – ohne dass eine gerichtliche Zustimmung erforderlich ist – durch dieStaatsanwaltschaft, wenn die Tat nicht nachzuweisen ist (§ 170 Abs. 2 StPO).

Einstellungen, die die Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren7 vornimmt, werdenweder in der Strafverfolgungsstatistik noch im Bundeszentralregister erfasst. Nach Ab-zug der Tatverdächtigen, deren Verfahren bis zur Eröffnung des Hauptverfahrens(§§ 199, 203 StPO) eingestellt worden ist, bleiben also von den ursprünglich 100 % nurnoch 40 % übrig. Diese Gruppe der Abgeurteilten setzt sich aus den Verurteilten und ausPersonen zusammen, gegen die andere Entscheidungen getroffen wurden (v.a. Freispruchund gerichtliche Einstellung nach Eröffnung des Hauptverfahrens). Der überwiegendeTeil der Abgeurteilten wird verurteilt (Verurteilte einschl. Strafbefehl, § 407 ff. StPO).Auch wenn es vor Gericht nicht so oft zu einem Freispruch kommt (z.B. weil die Schulddes Angeklagten nicht nachgewiesen werden kann oder Rechtfertigungs- oder Entschul-digungsgründe vorliegen), wird die ursprüngliche Bewertung des Tatvorwurfs durch diePolizei doch in nicht wenigen Fällen durch die Justiz korrigiert. So erfolgt beispielsweisein jedem vierten Fall eines registrierten vorsätzlichen Tötungsdelikts ein „Herunterdefi-nieren“ zu einem nicht vorsätzlichen Tötungsdelikt.8

Über 90 % werden zu ambulanten Sanktionen verurteilt, d.h. v.a. zu Geldstrafen desErwachsenenstrafrechts, zu Freiheits- oder Jugendstrafen auf Bewährung und zu Ar-beitsauflagen und Weisungen nach Jugendstrafrecht (s. 14. Kap.). Am Ende dieses Aus-filterungsprozesses (filtering down) bleiben – gemessen an allen ursprünglichen Tatver-dächtigen – gerade einmal 2 % übrig, die zu unbedingten Freiheits- bzw. Jugendstrafen,also stationären Sanktionen, verurteilt werden. Die Hauptselektionsstufen in diesemTrichtermodell, auf denen viele „aussortiert“ werden, sind demnach die Entscheidungender Justiz, ins Hauptverfahren einzutreten und (sofort vollstreckbare) Freiheits- bzw.-Jugendstrafen auszusprechen.

Polizeiliche KriminalstatistikAusgangsstatistik – Echttäterzählung – Falscherfassungen – Einflussfaktoren

Die Daten zum Filterprozess sind der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) und der Straf-verfolgungsstatistik entnommen. Beide sollen im Folgenden ebenso vorgestellt werdenwie die Strafvollzugsstatistik, die für den Stichtag 31. März 2009 fast 62.000 Strafge-fangene auswies (einschließlich 491 Sicherungsverwahrte, aber ohne Untersuchungs-häftlinge). Als bloße Tatverdächtigenstatistik, die nur das Ergebnis der polizeilichen Er-mittlungen wiedergeben kann, ist die PKS mit besonderer Umsicht zu verwenden. Den-noch wird sie häufig herangezogen, was sicher daran liegt, dass sie zeitnah eine große

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7 Siehe auch Heinz in: Kröber/Dölling/Leygraf/Sass (Hrsg.), Handbuch der Forensischen Psychiatrie, Bd. 4, 2009,S. 12-14 (Trichtermodell 2006 mit Erläuterungen).

8 BMI/BMJ, Zweiter Periodischer Sicherheitsbericht, 2006, S. 13.

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Bandbreite an Informationen über registrierte Taten, Tatverdächtige9 und z.T. auchOpfer bereitstellt (mehr als 1.000 sechsstellige Straftaten- und Summenschlüssel, dienach rechtlichen und kriminologischen Merkmalen differenzieren).

Die PKS wird seit 1953 vom Bundeskriminalamt in Wiesbaden herausgegeben, das 1951dem 1937 gegründeten Reichskriminalpolizeiamt nachgefolgt ist und dem Bundesinnen-minister untersteht. Vorläufer der Statistik gab es im Deutschen Reich ab 1936 für aus-gewählte Deliktsgruppen. Auf Geheiß von Staatssekretär Roland Freisler wurde die Ver-öffentlichung der Daten 1942 wegen der im Krieg stark angewachsenen Kriminalitäteingestellt.10 Seit 1971 wird die PKS als Ausgangsstatistik geführt, d.h. die Daten werdenvor Abgabe des Verfahrens an die Staatsanwaltschaft gemäß den bundeseinheitlichenRichtlinien für die Führung der PKS erhoben. Berichtigungen der Daten sind nur imselben Berichtsjahr möglich. In der PKS werden die von der Polizei bearbeiteten Straf-taten einschließlich der strafbaren Versuche registriert. Nicht enthalten sind Staats-schutz- (seit 1959) und Verkehrsdelikte (seit 1963) sowie Ordnungswidrigkeiten; fernersind nicht enthalten die Delikte, die von den Staatsanwaltschaften (v.a. Wirtschaftskri-minalität), den Finanzämtern (Steuerstraftaten) und dem Zoll unmittelbar und abschlie-ßend bearbeitet werden. Hierzu kommt es, weil diese Behörden selbstständig Ermittlun-gen einleiten und weil sich Anzeigeerstatter direkt an sie wenden. Keine Registrierungerfolgt auch bei Straftaten von Soldaten der Bundeswehr, deren Ermittlung der Diszipli-narvorgesetzte selbstständig durchführt. Vom Zoll bearbeitete Rauschgiftdelikte nachdem BtMG sind wiederum in die PKS einbezogen, ebenso Delikte schuldunfähiger Kinderunter 14 Jahren (s. Rn. 8). Was im Einzelnen als Verkehrsdelikt gilt und was nicht, er-schließt sich einer analytischen Betrachtung nicht ohne Weiteres und ist deshalb in derPKS gesondert erläutert. Danach sind Verkehrsdelikte (und nicht zu erfassen) alle Ver-stöße gegen Bestimmungen, die zur Aufrechterhaltung der Verkehrssicherheit im Stra-ßen-, Bahn-, Schiffs- und Luftverkehr erlassen wurden, alle durch Verkehrsunfälle be-dingten Fahrlässigkeitsdelikte, die Verkehrsunfallflucht sowie alle Verstöße gegen dasPflichtversicherungsgesetz und das Kfz-Steuergesetz i.V.m. § 370 AO. Demgegenüberzählen nicht zu den Verkehrsdelikten (und sind daher zu erfassen) der gefährliche Eingriffin den Bahn-, Luft- und Schiffsverkehr (§ 315 StGB), der gefährliche Eingriff in denStraßenverkehr (§ 315 b StGB) und das missbräuchliche Herstellen, Vertreiben oderAusgeben von Kennzeichen (§ 22 a StVG). Offizieller Grund für diese Unterscheidungenist, dass „Bund und Länder eine besondere Statistik der Straßenverkehrsunfälle führenund eine Doppelerfassung vermieden werden sollte.“11 Seit 1984 wird die „echte Tat-verdächtigenzählung“ (Echttäterzählung) praktiziert, d.h. ein Tatverdächtiger wurde mitdem gleichen Delikt in einem Berichtsjahr je Land nur einmal gezählt, selbst wenn erdieses Delikt (z.B. wiederholte Diebstähle) mehrfach begangen hatte. Auf diese Weiseging man Mehrfachzählungen aus dem Weg, die zu überhöhten Tatverdächtigenzahlenund einer Verzerrung der Tatverdächtigenstruktur geführt hatten. Durch die Umstellungauf die Anlieferung von Einzeldatensätzen beim BKA kann die „echte Tatverdächtigen-zählung“ seit 2009 auch auf Bundesebene durchgeführt werden. Das bedeutet, dass nun-mehr auch Tatverdächtige, die in einem Jahr in mehreren Bundesländern auffällig ge-worden sind, nur einmal gezählt werden. In den neuen Bundesländern wurde die PKS-Zählung 1991 eingeführt; die Daten sind wegen der Umstellungen aber erst ab dem Be-

9 Einschließlich Mittäter, Anstifter und Gehilfen, s. PKS 2009, S. 20.10 In der DDR wurde die Publikation kriminalstatistischer Daten im Statistischen Jahrbuch wegen ihrer politi-

schen Relevanz mehrfach ausgesetzt und revidiert, s. Brings BewHi 2005, S. 71.11 PKS 2009, S. II; genau genommen geht es sicher um die Vermeidung von Abweichungen.

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richtsjahr 1993 hinreichend zuverlässig. Im Berichtsjahr 2009 wurden in der PKS insge-samt 6.054.330 Straftaten und 2.187.217 Tatverdächtige erfasst, von denen zur Tatzeit476.549 (21,8 %) Jugendliche oder Heranwachsende im Alter zwischen 14 und 20 Jah-ren einschließlich waren.

Wenn man sich die zum Teil recht komplexen Richtlinien zur Erfassung von Straftatenin der PKS vor Augen führt, dann kann es nicht verwundern, dass die Wissenschaft vonFalscherfassungen bei der polizeilichen Registrierung von bis zu einem Drittel und mehrausgeht. Diese können die Form einer quantitativen Mehrfacherfassung oder einer Min-dererfassung annehmen, wenn entgegen den Richtlinien zu viel oder zu wenig registriertwurde. Auch die Zuordnung zu einem Straftatbestand bzw. Straftatenschlüssel kannfehlerhaft sein und sich von Dienststelle zu Dienststelle unterscheiden. Von der Polizeiselbst initiierte Studien ergaben eine teilweise erhebliche quantitative Übererfassung vonDelikten. Zudem waren in 35 % der untersuchten Fälle den befragten Polizeibeamtendie PKS-Richtlinien nicht bekannt; 29 % kannten sie zwar, interpretierten sie aber nichtkorrekt.12 Im Dickicht der Richtlinien geht offenbar nicht selten der Durchblick verloren.Ein etwas anders gelagertes Problem ist ein strategisches Registrierungsverhalten, wie esuns bei der Zählung rechtsextremistischer Delikte in Sachsen-Anhalt begegnet ist(s. Rn. 4). Es geht um politisch genehme oder für das eigene Haus förderliche Statistiken.So fiel im Rahmen einer kriminologischen Regionalanalyse auf, dass die PKS-Daten fürdie Polizeibehörde Bonn in den 1990er Jahren eine auffallende Abwärtsbewegung mitanschließendem steilem Aufschwung (1997: + 24 %) zeigten. Der Polizei in Bonn standwegen des Umzugs der Regierung nach Berlin und dem damit verbundenen Verlust vonAufgaben im Bereich Personen- und Objektschutz eine personelle Ausdünnung ins Haus,als auch noch die Kriminalitätsbelastung zurückging. Da wegen des Prinzips der „belas-tungsbezogenen Kräfteverteilung“ zu befürchten war, dass der Behörde deswegen we-niger Beamte zugeteilt werden könnten, veranlasste der besorgte Polizeipräsident eineNachzählung bereits abgeschlossener Vorgänge, um auszuschließen, dass seine Beamtenund Beamtinnen versehentlich zu wenig gezählt hatten. Im Ergebnis wurden auffallendviele „übersehene“ Straftaten gefunden – dies allerdings im Wege von Mehrfachzählun-gen, die den Richtlinien für die PKS-Erfassung nicht entsprachen.13 Offensichtlich kann,zurückhaltend formuliert, die Anreizstruktur Auswirkungen auf die polizeiliche Erfas-sung haben. Kann es vor diesem Hintergrund überraschen, dass der Kriminalitätsrück-gang in New York in den 1990er Jahren durch Polizeiführer erreicht worden ist, die beieinem Kriminalitätsanstieg „gefeuert“ worden wären? Alle diese Beobachtungen mah-nen, die Aussagekraft der PKS – wie die jeder anderen Statistik auch – nicht zu über-schätzen und sich der Bedingungen ihres Zustandekommens zu vergewissern.

Die Polizei selbst weist darauf hin, dass die PKS „kein getreues Spiegelbild der Krimi-nalitätswirklichkeit“ bietet und den Einflussfaktoren Anzeigeverhalten, polizeiliche Kon-trolle, statistische Erfassung und Änderung des Strafrechts unterliegt.14

Anzeigeverhalten: Wie gesehen können verschiedene Beweggründe, u.a. Versicherungs-einflüsse oder der Bekanntheitsgrad zwischen Täter und Opfer, die Anzeigebereitschaftsteuern. Auf Seiten der Polizei kann u.U. eine Unwilligkeit auftreten, Anzeigen entgegenzu nehmen, um sich „Papierkram“ zu ersparen (umgekehrt kann auch ein Bürger die

12 Dazu Feltes Krim 2009, S. 37.13 Vgl. Rüther MschrKrim 2001, S. 298, 301. Zur bewussten Übererfassung beim sog. Stalking Peters NStZ

2009, S. 242.14 PKS 2009, S. 8.

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offizielle Anzeigenaufnahme scheuen).15 Früher, vor dem Inkrafttreten des Gewalt-schutzgesetzes und des Stalking-Tatbestandes (§ 238 StGB), war polizeiliche „Zurück-haltung“ bei häuslicher Gewalt eher zu beobachten als bei Eigentumsdelikten. Anschei-nend gab es teilweise Hemmungen, in innerfamiliäre Auseinandersetzungen polizeilicheinzugreifen. Nicht auszuschließen ist ferner, dass Anzeigeerstatter mit geringem sozialenStatus und wenig Beschwerdemacht eher abgewiesen werden (z.B. nach einer körperli-chen Auseinandersetzung im Obdachlosenmilieu oder in der Trinkerszene). In solchenFällen kann etwa eine gefährliche Körperverletzung deutend zu einer einfachen Körper-verletzung herabgestuft werden, die als Antragsdelikt einen gesonderten Strafantrag er-fordert. Zudem kann der Geschädigte dann auf den Privatklageweg und einen Sühne-versuch verwiesen werden (§§ 374, 380 StPO).

Polizeiliche Kontrollstrategien: Polizeilicher Ressourceneinsatz und Schwerpunktsetzun-gen (z.B. Bildung spezieller Ermittlungsgruppen) bleiben ebenfalls nicht ohne Auswir-kung auf die PKS. Das gilt für die gezielte Überprüfung von Personen (Milieus) oderOrten (hot spots) und besonders für Kontrolldelikte wie Verstöße gegen das BtMG, derenAufkommen in direktem Zusammenhang mit der Kontrolldichte steht. Allgemein kor-reliert die Zahl der Polizeibeamten stark mit der registrierten Kriminalität, was vermut-lich darauf zurückzuführen ist, dass in kriminalitätsbelasteten Gebieten mehr Polizei-kräfte eingesetzt werden.16 Die nicht unpopuläre Vorstellung, mehr Polizei verringeredas Kriminalitätsaufkommen, ist allerdings trügerisch. Wahrscheinlicher ist, dass ledig-lich das Dunkelfeld weiter ausgeschöpft wird und mehr Personal die Aufklärung vonleichteren Straftaten erhöht.17 Ein lehrreiches Beispiel bildet das sog. Lüchow-Dannen-berg-Syndrom: In dem gleichnamigen Landkreis waren 1981 die Polizeikräfte wegen er-warteter Anti-Atomkraft-Demonstrationen erheblich aufgestockt worden. Da die Ver-stärkung auch nach Beendigung der Demonstrationen erhalten blieb, erhöhte sich dieKontrolldichte erheblich. In der Folge nahm die Zahl der Tatverdächtigen deutlich stär-ker zu als in den umliegenden Landkreisen. Die Polizei hatte also vermehrt kontrolliertund nahezu ausschließlich leichte Delikte der ländlichen Bevölkerung entdeckt. Hinterdem „Kriminalitätsanstieg“ verbarg sich aber keine schwere Kriminalität; die Zahl dieserDelikte war unverändert geblieben.18

Statistische Erfassung: Die Erfassungskriterien der PKS bleiben nicht konstant, sondernwerden immer wieder verfeinert oder geändert. Davon sind keineswegs nur Randberei-che betroffen, die vernachlässigt werden könnten. Die Herausnahme der Verkehrsdelikte1963 (bis dahin immerhin 20 % aller Taten) und die Einführung der Echttäterzählung1984 haben die registrierte Kriminalität deutlich verringert, ohne dass dem Verände-rungen im realen Kriminalitätsgeschehen zugrunde gelegen hätten. Die Modifizierungvon Straftatenschlüsseln, die nicht immer in allen Bundesländern zeitgleich umgesetztwerden, schränkt die Aussagen zu diesen Delikten im Vergleich über die Zeit oder überverschiedene Länder hinweg ein. Schließlich kommt es zu Veränderungen des Erfas-sungsgebiets. So war das Saarland bis 1956 nicht in der PKS erfasst, nach der deutschenVereinigung 1990 kamen fünf neue Bundesländer – und rund 20 Mio. Menschen – hinzu.Polizei und Kriminologie begegnen dem dadurch, dass sie für Zeitreihen relative Zahlenverwenden, also die Zahl von Taten bzw. Tatverdächtigen auf jeweils 100.000 der Be-

15 Den Bereich polizeibekannter, aber trotzdem nicht in der PKS registrierter Taten bezeichnet Antholz Mschr-Krim 2010, S. 410 als „Dämmerfeld“ (zwischen Hell- und Dunkelfeld).

16 Reuter Krim 2009, S. 69.17 So auch Feltes Krim 2009, S. 38.18 Siehe Pfeiffer in: DVJJ (Hrsg.), Und wenn es künftig weniger werden?, 1987, S. 33 ff.

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völkerung errechnen. Die Vereinigung bescherte den Statistikern eine weitere Kuriosität.Anfang der 1990er Jahre stieg in Berlin plötzlich die Zahl von Tötungsdelikten stark an.Bei näherer Überprüfung stellte man fest, dass die Einleitung von Ermittlungsverfahrendurch die ZERV (Zentrale Ermittlungsstelle Regierungs- und Vereinigungskriminalität,angesiedelt beim Berliner Polizeipräsidenten) gegen ehemalige führende DDR-Politikerund NVA-Offiziere wegen der an der Mauer Getöteten die Ursache war. Da die Zahl derTötungsdelikte im Allgemeinen niedrig ist, führten die eingeleiteten Verfahren zu einerVervielfachung der Fallzahlen in Berlin, obwohl die zugrunde liegenden tatsächlichenGeschehen zum Teil Jahrzehnte zurücklagen.

Änderung des Strafrechts: Die Registrierung von Straftaten ist unmittelbar abhängig vonStrafgesetzen, die das entsprechende Verhalten unter Strafe stellen. Die letzte Ursacheeiner Straftat ist, so könnte man in Anlehnung an den labeling approach (s. 10. Kap.)daher sagen, das Gesetz selbst. Und Änderungsgesetze zum Strafgesetzbuch sowie zu denstrafrechtlichen Nebengesetzen sind keine Seltenheit. Ein Beispiel aus jüngerer Zeit ist§ 238 StGB, das sog. Stalking, welches in der Polizeilichen Kriminalstatistik für das Jahr2007, obwohl der Tatbestand erst zum 1.4.2007 in Kraft getreten war, bereits mit über11.000 Fällen zu Buche schlug.

Es ist deutlich geworden, dass, bevor nach den Ursachen von Veränderungen in denKriminalitätslagebildern gefragt werden kann, zunächst überprüft werden muss, ob undinwieweit die Erfassungsdeterminanten konstant geblieben sind. Selbst dann aber sindPKS-Daten keine hinreichende Basis für abschließende Bewertungen. Sie sind vielmehrmit anderen verfügbaren Daten, insbesondere jenen aus der Strafverfolgungsstatistik,abzugleichen.

StrafverfolgungsstatistikVerurteiltenziffer

Die Strafverfolgungsstatistik wird seit 1950 vom Statistischen Bundesamt in Wiesbadenherausgegeben (in der Fachserie 10 – Rechtspflege). Erhoben werden die Daten bei denStaatsanwaltschaften als Strafvollstreckungsbehörden (§ 451 StPO), die sie nach Rechts-kraft der Entscheidung an die jeweiligen Landesämter für Statistik weitergeben. LangeZeit waren die Angaben lückenhaft, weil die Statistik in den neuen Bundesländern wederflächendeckend noch einheitlich geführt wurde. Seit dem Berichtsjahr 2007 melden aberauch Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt die erforderlichen Daten, so dassab diesem Zeitpunkt Informationen zum gesamten Bundesgebiet vorliegen. In der Straf-verfolgungsstatistik werden alle Straftaten berücksichtigt, also im Gegensatz zur PKSauch Straßenverkehrs- und Staatsschutzdelikte. Sie enthält insbesondere Angaben zu denVerurteilten (Altersgruppen, Geschlecht, deutsche Staatsangehörigkeit) sowie zu Art undHöhe der verhängten Sanktionen. Dabei wird nach Bundesländern und Delikten bzw.Deliktsgruppen differenziert. Gesondert ausgewiesen werden die Abgeurteilten, die sichaus den Verurteilten, Freigesprochenen und jenen zusammensetzen, gegen die das Straf-verfahren nach Eröffnung des Hauptverfahrens gerichtlich eingestellt worden ist. Perso-nen werden pro Verfahren nur einmal gezählt; bei mehreren Delikten, die in einem Ver-fahren abgeurteilt werden, zählt das schwerste. Für die Deutschen werden zusätzlichVerurteiltenziffern (Verurteilte je 100.000 Einwohner der entsprechenden Bevölkerungs-gruppe) errechnet.

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Im Jahr 2008 wurden durch deutsche Gerichte 874.691 Personen verurteilt, davon204.942 wegen Straßenverkehrsdelikten (23 %). Der Anteil der Jugendlichen und Her-anwachsenden an allen Verurteilten betrug 17 %. Jedoch unterliegen auch die Daten derStrafverfolgungsstatistik spezifischen Begrenzungen. Zunächst wirken Verzerrungen, dieauf der polizeilichen Ebene beim Übertritt von Geschehnissen ins Hellfeld aufgetretensind (Selektionen), fort. Außerdem fehlen Daten zu denjenigen Personen, deren Verfah-ren durch die Staatsanwaltschaft eingestellt wurden, bevor das Hauptverfahren eröffnetwurde. Diese Gruppe macht wie gesehen immerhin 60 % aller Tatverdächtigen aus; be-sonders groß dürfte sie wegen verfahrensbeendender Absprachen im Bereich der Wirt-schaftskriminalität sein (s. 20. Kap.). Schließlich können sich auch bei Rechtspflegesta-tistiken erhebliche Erfassungsfehler einschleichen.19

StrafvollzugsstatistikStichtagserhebung

Seit 1961 wird die Strafvollzugsstatistik geführt, die gleichfalls das Statistische Bundes-amt herausgibt. Dorthin werden die Meldungen von den Statistischen Landesämtern ge-leitet, die sie ihrerseits von den Justizvollzugsanstalten eines Landes erhalten. Auch inden neuen Bundesländern wird die Statistik ohne Einschränkung geführt. Sie enthält zumeinen Angaben zur Struktur der Strafgefangenen (u.a. Alter, Geschlecht, Art der Straftat)im Erwachsenen- und Jugendstrafvollzug sowie der Sicherungsverwahrten. Zum anderenwerden Zahl und Art der Justizvollzugsanstalten, der Bestand an Gefangenen und Ver-wahrten zu Beginn und zum Ende eines Jahres sowie die dazwischen liegenden Zu- undAbgänge festgehalten. Die Belegung wird im Wege einer Stichtagserhebung ermittelt(zum 31.3., 31.8. und 30.11. eines Jahres), stellt also eine Momentaufnahme dar, bei dernur Gefangene gezählt werden, die tatsächlich physisch anwesend sind.20 In psychi-atrischen Krankenhäusern und Entziehungsanstalten Untergebrachte werden gesondertausgewiesen – 2009 betrug ihre Zahl 9.251. Zum gleichen Zeitpunkt saßen in Justiz-vollzugsanstalten bundesweit zusätzlich 61.878 Personen ein (ohne Untersuchungshaft);davon 491 in der Sicherungsverwahrung und 6.344 im Jugendstrafvollzug.

Das Statistische Bundesamt führt weitere Statistiken, die aber für die Analyse von Kri-minalitätsentwicklungen nur von nachgeordneter Bedeutung sind. Die Bewährungshil-festatistik gibt seit 1963 Auskunft über die Unterstellungen unter einen hauptamtlichenBewährungshelfer sowie über Straferlasse bzw. Widerrufe von zur Bewährung ausge-setzten Strafen. Die Staatsanwaltschaftsstatistik (seit 1981) wiederum ist in erster Linieverfahrensbezogen und informiert über die Art der Erledigung durch die Staatsanwalt-schaft. Die verschiedenen Statistiken erlauben Abschätzungen im Hinblick auf Ausfilte-rungsprozesse, die Arbeitsbelastung der Behörden und Entwicklungen im Hellfeld derregistrierten Kriminalität. Insofern geben sie ein vollständigeres Bild als eine einzige Sta-tistik. Weil aber jede Datensammlung für sich geführt wird, mit eigenen Straftatengrup-pen, Erfassungszeitpunkten und -grundsätzen, kann sie nicht direkt mit anderen vergli-chen werden.21 Es gibt folglich auch keine Verlaufsstatistik, bei der sich eine bestimmtePerson bzw. ein bestimmter Fall über die verschiedenen Ebenen verfolgen ließe.

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19 Am Beispiel Hamburgs in den Jahren 2002-2006 Villmow ZJJ 2007, S. 408 ff.20 Vorübergehend abwesende Gefangene wie Urlauber, Flüchtige und Gefangene im offenen Vollzug, die au-

ßerhalb der Anstalt sind, werden zwar in den Büchern der Anstalt, nicht aber in der Strafvollzugsstatistikerfasst, s. Brings BewHi 2004, S. 89.

21 Vgl. Heinz in: Kröber/Dölling/Leygraf/Sass (Hrsg.), Handbuch der Forensischen Psychiatrie, Bd. 4, 2009, S. 10 f.

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Merke:> Polizeiliche Kriminalstatistik, Strafverfolgungsstatistik sowie Strafvollzugsstatistik erfas-

sen Daten von Personen auf unterschiedlichen Selektionsstufen im Prozess der formellenSozialkontrolle. Dieser Prozess nimmt die Form eines Trichters an.

> Statistiken sind fehleranfällig und bedürfen im Hinblick auf die Einflussfaktoren, die aufsie wirken, einer verständigen Interpretation. Manchmal stehen Veränderungen in derErfassungsweise dem Vergleich von Daten über lange Zeiträume entgegen.

> Daten aus unterschiedlichen Statistiken sollten miteinander abgeglichen werden. Ein di-rekter Vergleich ist aber ebenso wenig möglich wie die Verfolgung eines bestimmten Fallesdurch verschiedene Statistiken hindurch.

Internetadressen:

PKS 2009: http://www.bka.de/pks/pks2009/download/pks-jb_2009_bka.pdf

Strafverfolgungsstatistik 2008: https://www-ec.destatis.de/csp/shop/sfg/bpm.html.cms.cBroker.cls?cmspath=struktur,vollanzeige.csp&ID=1024879

Strafvollzugsstatistik 2009: https://www-ec.destatis.de/csp/shop/sfg/bpm.html.cms.cBroker.cls?cmspath= struktur,vollanzeige.csp&ID=1025305

Zur Vertiefung:Brings, S.: Die amtlichen Rechtspflegestatistiken, BewHi 2004, S. 85-99 (Strafvollzugsstatistik)und BewHi 2005, S. 67-87 (Strafverfolgungsstatistik); BKA: Polizeiliche Kriminalstatistik 2009,2010, S. 7-26 (Vorbemerkungen); Rüther, W.: Zum Einfluss polizeilicher Erfassungskontrollenauf die registrierte Kriminalität, Am Beispiel der Kriminalitätsentwicklung in Bonn in den 90-er Jahren, MschrKrim 2001, S. 294-309

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