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Prof. Dr. Dagmar Richter INP PAN Warszawa Institut für Rechtswissenschaften der Polnischen Akademie der Wissenschaften [email protected] Universität des Saarlandes, WS 2014/15 Vorlesung „Staatsrecht I“ Nr. 12: Fundamente des Staates und Änderungsfestigkeit des GG

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Prof. Dr. Dagmar Richter

INP PAN WarszawaInstitut für Rechtswissenschaften der Polnischen Akademie der Wissenschaften

[email protected]

Universität des Saarlandes, WS 2014/15

Vorlesung „Staatsrecht I“

Nr. 12: Fundamente des Staates und Änderungsfestigkeit des GG

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Fundamentalprinzipien (Art. 20, 79 III GG):

� Demokratieprinzip

� Rechtsstaatsprinzip

� Sozialstaatsprinzip

� Bundesstaatsprinzip

� Republikprinzip

Vgl. zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit auch „freiheitliche demokratische Grund-

ordnung“ (Art. 21 II GG) → Verteidigung einer rechtsstaatlichen Herrscha9sordnung

auf der Grundlage der Selbstbestimmung des Volkes (BVerfGE 2, 1, 12 f. – SRP).

„Einfache“ staatsrechtliche Prinzipien:

� Umweltschutz und Tierschutz (Art. 20a GG);

� Völkerrechtsfreundlichkeit (Art. 1 II, 9 II, 25 GG);

� Friedlichkeit in den internationalen Beziehungen (Präambel, Art. 26, 87a II GG).

� Haushaltsdisziplin (Art. 109 III, 115 GG) – Prinzip der Nachhaltigkeit,

Generationengerechtigkeit?2

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Prinzipien und Regeln:

→ grundlegend Robert Alexy (Theorie der Grundrechte, 1986): Prinzipien sind Optimierungsgebote.

Regeln:

� ordnen Rechtsfolge unmittelbar an;

� Abweichungen und Ausnahmen bedürfen der Anordnung.

� Anwendung durch Subsumtion eines Sachverhalts unter den Tatbestand der Norm und Ableitung der Rechtsfolge.

Prinzipien

� beanspruchen nur prima facie- Wirkung;

� werden im Falle der Kollision mit anderen Verfassungsgütern erst durch optimierende Abwägung zur Regel konkretisiert.

� Anwendung von Prinzipien erfordert Abwägung von Prinzipien.

� Auch Grundrechte? (Alexy: ja. Siehe aber Art. 1 III GG).3

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Staatsfundamentalprinzipien:

→ Staatsfundamentalprinzipien sind objektive Rechtssätze, die für alle staatlichen Funktionsträger und Einrichtungen verbindlich sind.

→ Sie verleihen i.d.R. keine subjektiv-öffentlichen Rechte, d.h. Einzelne können sich nicht unmittelbar auf sie berufen. Ausnahmen, Besonderhei-ten:

� Sind Fundamentalprinzipien in „Unterprinzipien“ ausdifferenziert, können sich teilweise auch Individuen auf Letztere berufen.

Beispiel: Prinzip der Rechtssicherheit als Unterprinzip des Rechtsstaatsprinzips (s.u.).

� Berührt die Nichtbeachtung von Fundamentalprinzipien die Menschenwürde (Art. 1 I GG), können Einzelne ihre Beachtung einfordern.

Beispiel: Gewährung des Existenzminimums als Teil des Sozialstaatsprinzips.

� Die Bundesländer können sich gegenüber dem Bund unmittelbar auf das Bundes-staatsprinzip berufen, sofern keine spezielleren Ausformungen vorhanden sind.

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Art. 20 GG (Auszug)

(1) Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.

(2) Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volk in Wahlen und Abstim-mungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.

Art. 21 GG

→ Innere Ordnung der Parteien „muss demokraKschen Grundsätzen entsprechen“ (Art. 21 I 2 GG);

→ Wehrhafte Demokratie: Parteien, die sich gegen die „freiheitliche demokratische Grundordnung“ richten, kann BVerfG für verfassungswidrig erklären (Art. 21 II GG).

Art. 79 III GG

→ „Ewigkeitsklausel“: Der Kerngehalt des Demokratieprinzips kann selbst durch Ver-fassungsänderung nicht beseitigt werden.

Art. 28 I GG

→ Homogenitätsklausel: Kernelemente der Demokratie gelten kraft Bundesverfas-sung auch für die staatliche Ordnung in den Ländern.

Art. 23 I GG

→ Deutschland wirkt an der Entwicklung eines demokraKschen Europa mit. 5

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Bedeutung:

→ DemokraKe bedeutet Herrschaft (Macht) des Volkes, welche durch be-sondere Mechanismen und Garantien sichergestellt werden muss – in der freiheitlichen Demokratie: durch freie, gleiche und geheime Wahlen in angemessenen Abständen.

Kernelemente der Demokratie (Überblick):

(1) Prinzip der Volkssouveränität;

(2) Ununterbrochene Legitimationskette von der Wahlentscheidung des Volkes bis zur für das Volk handelnden Amtsperson;

(3) Herrschaft auf Zeit (freie Wahlen in angemessenen Abständen);

(4) Mehrheitsprinzip;

(5) Recht auf Opposition, politischer Minderheitenschutz;

(6) Parteienfreiheit und Chancengleichheit der Parteien;

(7) Politische Grundrechte.

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Charakteristische Elemente der Demokratie des GG:

Parlamentarische Demokratie:

Das unmittelbar demokratisch legitimierte Parlament kontrolliert alle anderen Staatsorgane, insbesondere die Regierung.

Repräsentative Demokratie

Das Volk übt die Staatsgewalt nicht unmittelbar, sondern durch besondereOrgane der Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung aus (Art. 20 II 2 GG). Volksbefragungen, die vom Staat ausgehen, sind nur verfassungsgemäß, wenn das Grundgesetz sie ausdrücklich zulässt (siehe Art. 29, 118 GG).

Wehrhafte (streitbare) Demokratie

Das GG enthält Sicherungen dagegen, dass nicht wie unter der WRV die Fein-de der Demokratie sich der Rechte aus der Verfassung bedienen, um die Verfassungsordnung zu beschädigen (insbes. Art. 9 II, 21 II GG).

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Prinzip der Volkssouveränität (Art. 20 II GG):

„Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volk in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der voll-ziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.“

→ Das Volk legiKmiert zur Ausübung von Staatsgewalt.

→ „Volk“ ist die Gesamtheit der Staatsangehörigen (Art. 116 GG).

→ LegiKmierung erschöp9 sich nicht im Wahlakt, sondern wird vom Volk auch kontinuierlich durch besondere Organe ausgeübt (Erfordernis der un-unterbrochenen Legitimationskette von der Wahlentscheidung des Volkes bis zur Entscheidung im Namen des Volkes).

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Ununterbrochene Legitimationskette:

Grundlegend: Ernst-Wolfgang Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip (§ 24),

insbes. Rn. 11-25, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.): Handbuch des Staatsrechts der

Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 3. Auflage, Heidelberg 2004 (s. bereits Vorauflagen).

→ Hoheitliche Befugnisse dürfen nur von Funktionsträgern ausgeübt wer-

den, die sich wenigstens mittelbar auf eine Legitimation durch das Volk

(Wahlentscheidung des Volkes) stützen können.

Beispiel: Kriminalpolizistin P ermittelt im LKA, wo sie der Weisungsbefugnis der

Behördenleitung unterliegt; LKA untersteht Fachaufsicht durch Landesinnen-

minister, den die Ministerpräsidentin berufen hat, die wiederum der Landtag

gewählt hat, dessen Abgeordnete vom Volk gewählt wurden.

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Ununterbrochene Legitimationskette:

BVerfGE 107, 59, 87/88 – Lippeverband (2002)

„Die Ausübung von Staatsgewalt ist dann demokratisch legitimiert, wenn

sich die Bestellung der Amtsträger – personelle Legitimation vermittelnd

– auf das Staatsvolk zurückführen lässt und das Handeln der Amtsträger

selbst eine ausreichende sachlich-inhaltliche Legitimation erfährt, d.h. die

Amtsträger im Auftrag und nach Weisung der Regierung handeln und die

Regierung damit in die Lage versetzen, die Sachverantwortung gegenüber

Volk und Parlament zu übernehmen.“

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Ununterbrochene Legitimationskette:

→ Durchbrechungen der Legitimationskette sind im Interesse anderer Verfas-sungsgüter erlaubt, sofern sie hinreichend kompensiert werden (z.B. durch erhöhte Anforderungen an Beschlussfassung oder verschärfte Kontrolle durch Aufsichtsbehörden).

BVerfGE 107, 59, 88 – Lippeverband (2002)

[Leitsatz 1] „Außerhalb der unmittelbaren Staatsverwaltung und der gemeindli-chen Selbstverwaltung ist das Demokratiegebot des Art. 20 Abs. 2 GG offen für Formen der Organisation und Ausübung von Staatsgewalt, die vom Erfordernis lückenloser personeller demokratischer Legitimation aller Entscheidungsbefugten abweichen. Es erlaubt, für abgegrenzte Bereiche der Erledigung öffentlicher Auf-gaben durch Gesetz besondere Organisationsformen der Selbstverwaltung zu schaffen.“

[S. 88] „Ein Amtsträger ist uneingeschränkt personell legitimiert, wenn er sein Amt im Wege einer Wahl durch das Volk oder das Parlament oder durch einen seinerseits personell legitimierten Amtsträger oder mit dessen Zustimmung erhal-ten hat. Wird er von einem Gremium mit nur zum Teil personell legitimierten Amtsträgern bestellt, erfordert die volle demokratische Legitimation, dass die die Entscheidung tragende Mehrheit aus einer Mehrheit unbeschränkt demokratisch legitimierter Mitglieder des Kreationsorgans besteht (Prinzip der doppelten Mehrheit, …).“

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Problem: „Funktionale Selbstverwaltung“

→ Öffentlich-rechtliche Einrichtung, die nicht Gebietskörperschaft ist, nimmt bestimmte öffentliche Aufgaben für die Allgemeinheit kraft Autonomie wahr. Ihre Organe werden nicht durch das Volk, sondern nur durch Verbandsmit-glieder gewählt.

Beispiel „Wasserverband Lippe“ (BVerfGE 107, 59 ff.): Verband nimmt nahezu alle wesentlichen wasserwirtschaftlichen Aufgaben für das Gebiet der Lippe wahr. Verbandsmitglieder sind das Land Nordrhein-Westfalen, Unternehmen der öf-fentlichen Wasserversorgung und andere Wasserentnehmer, kommunale Körper-schaften sowie Eigentümer von Bergwerken oder sonst wasserrelevanter Grund-stücke oder Anlagen.

→ Problem: Es entscheidet nicht das ganze Volk (Landes- oder Bundesvolk) vermittels ununterbrochener Legitimationskette, sondern nur eine Betroffe-nengruppe („Betroffenheitsdemokratie“).

→ Betroffenheitsdemokratie = defizitäre Form der Demokratie!

→ Das LegiKmaKonsdefizit muss in geeigneter Weise kompensiert werden! S.u.

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Anforderungen an die „funktionale Selbstverwaltung“

BVerfGE 107, 59 [Leitsätze 2 u. 3] – Lippeverband (2002)

„Die funktionale Selbstverwaltung ergänzt und verstärkt das demokrati-sche Prinzip. Der Gesetzgeber darf ein wirksames Mitspracherecht der Betroffenen schaffen und verwaltungsexternen Sachverstand aktivieren, einen sachgerechten Interessenausgleich erleichtern und so dazu beitra-gen, dass die von ihm beschlossenen Zwecke und Ziele effektiver erreicht werden.

Verbindliches Handeln mit Entscheidungscharakter ist den Organen von Trägern funktionaler Selbstverwaltung aus verfassungsrechtlicher Sicht nur gestattet, weil und soweit das Volk auch insoweit sein Selbstbestim-mungsrecht wahrt. Das erfordert, dass die Aufgaben und Handlungs-befugnisse der Organe in einem von der Volksvertretung beschlossenen Gesetz ausreichend vorherbestimmt sind und ihre Wahrnehmung der Aufsicht personell demokratisch legitimierter Amtswalter unterliegt.“

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Problem: „Ministerialfreie Räume“

→ DemokraKe setzt voraus, dass gewählte Amtsträger (insbes. Minister u. Ministerinnen) Entscheidungen gegenüber untergeordneten Verwaltungs-einheiten durchsetzen können (hierarchische Verwaltungsstrukturen).

→ Einrichtungen, die öffentlich-rechtliche Befugnisse ausüben, ohne ministerialer Weisung zu unterliegen, sind nur ausnahmsweise zulässig.

Beispiel: § 12 BundesbankG

„Die Deutsche Bundesbank ist bei der Ausübung der Befugnisse, die ihr nach diesem Gesetz zustehen, von Weisungen der Bundesregierung unabhängig. Soweit dies unter Wahrung ihrer Aufgabe als Bestandteil des Europäischen Systems der Zentralbanken möglich ist, unterstützt sie die allgemeine Wirt-schaftspolitik der Bundesregierung.“

→ Unabhängigkeit der Bundesbank ist unabdingbar, um ein anderes Ver-fassungsgut (Wahrung der Währungsstabilität) zu verteidigen.A.A. bis 1993 Frankreich: Auch Zentralbank muss demokratischer Kontrolle unterliegen; heute ist Banque de France unabhängig.

Siehe auch Art. 282 III 3 AEUV: Unabhängigkeit der EZB gegenüber EU und Mitgliedstaaten! 14

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Herrschaft auf Zeit:

� Es müssen in angemessenen, regelmäßig wiederkehrenden Abständen(max. 5-6 Jahre) Wahlen durchgeführt werden, durch welche die bisherige Minderheit die Chance erhält, zur Mehrheit zu werden.

� Die Wahlen müssen allgemein, frei, gleich und geheim sein.

� Das amtierende Parlament darf allenfalls die künftige Wahlperiode in Maßen verkürzen oder verlängern, nicht jedoch seine eigene.

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Mehrheitsprinzip:

� Legislative Entscheidungen werden im Rahmen freiheitlicher Demokratie durch Mehrheit, nicht einstimmig getroffen (vgl. Art. 42 Abs. 2 GG).

(Anders „identitäre“ Demokratiemodelle im Rousseau’schen Sinne!)

� Die Mehrheit bildet die Regierung.

� Je höher die Anforderungen an das Quorum (z.B. 2/3-Mehrheit für Verfassungsänderungen), desto stärker das Gewicht der Minderheit.

� Aber: Kein „Mehrheitsabsolutismus“! Grundkonflikt Interesse der Mehr-heit ↔ Grundrechte des Individuums muss schonend aufgelöst werden.

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Recht auf Opposition/ politischer Minderheitenschutz:

→ Opposition muss effektive Chance haben, sich im Parlament mithilfe angemessener Instrumente Gehör zu verschaffen (z.B. Rede- und Anfrage-rechte) und die Mehrheit zu kontrollieren (z.B. mithilfe von Untersuchungs-ausschüssen gem. Art. 44 GG).

Politische Parteien

→ müssen ungehindert vom Staat gegründet und betrieben werden können (Parteienfreiheit) und gleiche Ausgangschancen in Bezug auf den Wahlerfolg haben (Chancengleichheit). Sie müssen im Inneren demokratisch organisiert sein und staatsfern bleiben, damit die Willensbildung vom Volk zum Staat und nicht umgekehrt verläuft.

Politische Grundrechte

→ Meinungs- und Informationsfreiheit, Pressefreiheit, Rundfunkfreiheit, Versammlungsfreiheit und Vereinigungsfreiheit) müssen gewährleistet sein, damit das Volk einen freien Willen bilden kann, der allein die demokratische Legitimation der Staatsorgane bewirkt.

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Parlamentsvorbehalt für „wesentliche“ Entscheidungen:

� Alle wesentlichen Entscheidungen muss der Gesetzgeber selbst treffen („Wesentlichkeitstheorie“).

� Delegation von Rechtsetzungsbefugnis an die Exekutive ist nur in engen Grenzen erlaubt. Art. 80 I GG (s.a. entsprechende Vorschriften im Landes-verfassungsrecht) verlangt:

� Ermächtigung an die Exekutive zum Erlass von Rechtsverordnungen nur „durch Gesetz“ (Parlamentsgesetz).

� Ermächtigendes Gesetz muss „Inhalt, Zweck und Ausmaß“ der Er-mächtigung bestimmen. Grund: Gesetzgeber muss künftige Rechts-verordnungen in den Grundzügen „vorprogrammieren“.

� Ermächtigungsgrundlage ist in der Verordnung anzugeben (Zitier-gebot).

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Inhalt:

Formell: Alle staatliche Macht ist an Gesetz und Recht gebunden (“ruleof law“).

Materiell: Staatliches Handeln muss die Maßstäbe der Fairness (insbes. auch Verfahrensfairness) und Verhältnismäßigkeit beachten.

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Normen:

� Einzige Erwähnung in Art. 28 Abs. 1 GG:

„Die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern muß den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Sinne dieses Grundgesetzes entsprechen. [...]“

� Prinzip der Gewaltentrennung (Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG):

„Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volk in Wahlen und Abstim-mungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.“

Siehe auch Art. 80 I GG: Begrenzung der Delegation gesetzgeberischer Befugnisse an die

Exekutive.

� Prinzip der Gesetzmäßigkeit (Art. 20 Abs. 3 GG):

„Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden.“

� Rechtsschutzgarantie (Art. 19 Abs. 4 GG).

� Wesensgehaltsgarantie (Art. 19 Abs. 2 GG).

� Verbot der Einzelfallgesetzgebung (Art. 19 Abs. 1 GG).20

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Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung (Art. 20 III GG):

(1) Prinzip des Vorrangs des Gesetzes

� Vollziehende Gewalt und Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht (= ungeschriebenes Recht [str.]) gebunden, sie müssen alle geltenden Rechtsnormen beachten; Gesetzgeber ist an „verfassungsmäßige Ord-nung“ (= alle Normen des GG) gebunden.

� Beachtung der Normenhierarchie: höherrangiges Recht, insbesondere Verfassungsrecht, darf nicht durch niederrangiges überlagert oder ver-drängt werden (= Voraussetzung für die Gesetzmäßigkeit des Handelns der Verwaltung).

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Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung (Art. 20 III GG):

(2) Prinzip des Vorbehalts des Gesetzes

→ Exekutive darf in bestimmten Bereichen nur handeln, wenn formelles Gesetz (Parlamentsgesetz) hierzu ermächtigt:

Eingriffsverwaltung

→ bei Eingriff in Grundrechte, muss Gesetzgeber durch formelles Gesetz alle „wesent-lichen“ Entscheidungen selbst treffen (sog. ‚Wesentlichkeitstheorie‘ → s.a. Demokra-tieprinzip).

Leistungsverwaltung

→ Gesetzesvorbehalt gilt nur ausnahmsweise, wenn z.B. bei Subventionierung Gleichheitsrechte Dritter betroffen sind.

Organisationsvorbehalt?

→ nach h.M. gibt es keinen allgemeinen Organisationsvorbehalt bzw. institutionellen Gesetzesvorbehalt. Siehe aber VerfGH NRW, NJW 1999, 1243 ff., betr. Zusammenlegung von Justiz- und Innenministerium (→ Gesetz nöKg wegen Grundrechtsrelevanz).

„Out of Area“- Einsätze der Bundeswehr

→ für Einsatz der Bundeswehr außerhalb (der Verteidigung) des Bündnisgebiets verlangt das Bundesverfassungsgericht einen Beschluss des Bundestages gem. Art. 42 II GG (sog. „konstitutiver Parlamentsvorbehalt“).

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Vertikale Gewaltentrennung

• Bund - Länder → Bundesstaats-prinzip

Horizontale Gewaltentrennung

• Legislative – Exekutive – Jurisdiktion → FunkKonale Gewaltentrennung (Art. 20 II GG)

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Funktionale Gewaltentrennung (Art. 20 II 2 GG):

→ Staatsgewalt ist in drei Funktionsbereiche getrennt („besondere Organe“ i.S.v. Art. 20 II 2 GG). Gründe:

� Freiheitssichernde Funktion durch wechselseitige Mäßigung und Kontrolle der Staatsorgane (“checks and balances“).

z.B.: Parlament (Gesetzgebung) kontrolliert Regierung (= Verwaltungsspitze), u.a. durch Fragerechte, Untersuchungsausschüsse, konstruktives Misstrauensvotum); Bundesverfassungsgericht (Rechtsprechung) kontrolliert Gesetzgeber.

� Qualitätssichernde Funktion: Entscheidungen soll die funktional sachnächste, auf den Bereich spezialisierte Staatsgewalt treffen,

d.h. Gesetze durch Gesetzgebungskörperschaften, Gerichtsurteile durch Gerichte.

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Erlaubte Durchbrechung der Gewaltentrennung:

→ Art. 20 II 2 GG ist erst dann verletzt, wenn eine Gewalt in den Kernbereicheiner anderen Gewalt eingreift.

Einzelne Überschneidungen und Verflechtungen werden hingenommen oder sind sogar institutionell vorgesehen, z.B.:

� Mitglieder der Bundesregierung sind zugleich Abgeordnete des BT;

� Mitwirkung der BReg an Gesetzgebung (Art. 76 GG);

� Rechtsverordnungsbefugnis der Regierung (Art. 80 GG).

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Verbot der Einzelfallgesetzgebung (Art. 19 I GG):

→ Unterfall des Gebots der Gewaltentrennung.

→ Einzelfallregelungen sind Aufgaben der Verwaltung bzw. Rechtsprechung, nicht jedoch der Gesetzgebung.

Beispiel: „Südumfahrung Stendal“ → Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz regelt konkreten Einzelfall (Trassenführung). Konsequenzen:

� Sachverstand planungserfahrener Behörden bleibt ungenutzt;

� Verkürzung des Rechtswegs für Einzelne, weil lückenloser Rechtsschutz nur gegen die Verwaltung.

BVerfGE 95, 1 [Leitsätze 1 u. 2] – Südumfahrung Stendal (1996):

„Staatliche Planung ist weder eindeutig der Legislative noch eindeutig der Exekuti-ve zugeordnet.

Auch Detailpläne im Bereich der anlagenbezogenen Fachplanung sind einer ge-setzlichen Regelung zugänglich. Das Parlament darf durch Gesetz eine solche Entscheidung freilich nur dann an sich ziehen, wenn hierfür im Einzelfall gute Gründe bestehen.“

Überzeugende Entscheidung?

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Verhältnismäßigkeitsprinzip:

→ keine ausdrückliche Verankerung im Grundgesetz; Ableitung aus dem Rechtsstaatsprinzip, ggfalls. i.V.m. dem jeweils berührten Einzelgrundrecht.

Beispiel: Saarländisches PolizeiG:

§ 2 Grundsatz der Verhältnismäßigkeit

(1) Von mehreren möglichen und geeigneten Maßnahmen hat die Polizei diejenige zu treffen, die den Betroffenen und die Allgemeinheit am wenig-sten beeinträchtigt.

(2) Eine Maßnahme darf nicht zu einem Nachteil führen, der zu dem er-strebten Erfolg erkennbar außer Verhältnis steht.

(3) Eine Maßnahme ist nur solange zulässig, bis ihr Zweck erreicht ist oder sich zeigt, dass er nicht erreicht werden kann.

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Verhältnismäßigkeitsprinzip:

→ gestu9es Prüfungsprogramm:

(1) Legitimität des mit dem Gesetz/ der Maßnahme verfolgten Zwecks.

(2) Geeignetheit

→ Zwecktauglichkeit der Regelung/ Maßnahme; prinzipielle Eignung zur Förde-rung des erstrebten Erfolgs genügt; u.U. steht dem Gesetzgeber Prognose- oder „Experimentierbefugnis“ zu.

(3) Erforderlichkeit

→ keine mildere Regelung bzw. Maßnahme, die gleichermaßen geeignet ist (den Zweck erfüllt).

Problem: Kann eine kostspieligere Lösung gleich geeignet sein?

(4) Verhältnismäßigkeit i.e.S. (Zumutbarkeit, Angemessenheit):

→ angemessene Zweck-Mittel-Relation: Regelung bzw. Maßnahme muss der be-troffenen Person nach Abwägung aller Umstände (z.B. Intensität der Belastung; Nutzen für die Allgemeinheit) noch zumutbar sein.

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Anwendungsregeln:

� Eine staatliche Maßnahme ist nur verhältnismäßig, wenn sie auf jeder Stufe innerhalb des Rahmens bleibt.

� Das Verhältnismäßigkeitsprinzip bindet alle Bereiche staatlicher Gewalt.

� Dem Gesetzgeber steht ein Beurteilungsspielraum zu, den Gerichte nur auf grobe Fehler hin kontrollieren dürfen.

� Das Gesetz ist nur in seltenen Fällen unverhältnismäßig, weil es sich zu-meist durch „verfassungskonforme Auslegung“ aufrecht erhalten lässt.

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Grundsatz der Rechtssicherheit:

→ zerfällt in Unterprinzipien:

� Bestimmtheitsgrundsatz

→ Gesetze müssen hinreichend klar und besKmmt formuliert sein, sofern sie sich bestimmt formuliert lassen. Generalklauseln und unbestimmte Rechts-begriffe (z.B. „gute Sitten“) sind hinnehmbar, sofern sie durch Rechtspre-chung konkretisiert werden.

� Vertrauensschutz/ Verbot der Rückwirkung

→ Spezialregelung in Art. 103 II GG (nulla poena sine lege, nullum crimen sine lege).

→ Im Übrigen: Aus dem Rechtsstaatsprinzip in Verbindung mit dem jeweils berührten Grundrecht folgt, dass Einzelne grundsätzlich darauf vertrauen dürfen, dass der Staat ihre grundrechtsgeschützten Dispositionen nicht durch nachträgliche Änderungen der Rechtslage entwertet.

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� Vertrauensschutz/ Verbot der Rückwirkung

� Echte Rückwirkung

→ schon abgeschlossener Vorgang/ Sachverhalt wird nachträg-lich ungünstiger geregelt. Solche Regelungen sind in aller Regel verfassungswidrig.

� Unechte Rückwirkung

→ eine Regelung greift nachteilig in einen noch nicht abgeschlosse-nen Vorgang/ Sachverhalt ein. Entscheidend ist, ob die Verschlech-terung unter Abwägung aller Umstände verhältnismäßig (zumutbar) ist.

z.B.: Gesetzgeber verschärft Zulassungsbedingungen für das Examen. Betroffen sind alle Studierenden bis zum dritten Studiensemester (i.d.R. zumutbare Rückwirkung) oder ausnahmslos alle Studierenden (i.d.R. unzumutbar für höhere Semester und Examenskandidaten)

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Existenz von Grundrechten:

→ Rechtsstaatsprinzip verlangt, dass die elementaren Grundrechte gewähr-leistet sind.

→ kein Grundrecht darf so stark eingeschränkt werden, dass sein „Wesens-gehalt“ angetastet wird (Art. 19 II GG [Wesengehaltsgarantie]). Wesensgehalt = Kerngehalt des Grundrechts, der Menschenwürdequalität hat. Str., ob auch Bezug auf Einzelfall.

Problem: Finaler Todesschuss der Polizei.

Rechtsschutz, Faires Verfahren, Haftung:

� Art. 19 IV GG: Rechtsschutz gegen die Verwaltung;

� Allgemeine Rechtsschutzgarantie: Rechtsschutz in sonstigen Fällen (z.B. gegen Übergriff durch Privatpersonen).

� Recht auf ein faires Verfahren, Unschuldsvermutung (Art. 6 EMRK i.V.m. Rechtsstaatsprinzip des GG).

� Gewährleistung einer Staatshaftung (Art. 34, § 839 BGB).32

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Sozialstaatsprinzip (Art. 20 I GG)

Objektivrechtlicher Gehalt

� Verpflichtung der Staatsorgane, soziale Aspekte grundsätzlich in ihre Entscheidungen mit einzubeziehen;

� Verpflichtung des Staates, Mindestvoraussetzungen für ein menschen-würdiges Dasein sicherzustellen.

� Verpflichtung des Staates, Mindestmaß an sozialer Sicherheit zu garan-Keren (→ Schaffung allgemein zugänglicher Versicherungen gegen ele-mentare Unglücksfälle).

� Verpflichtung der staatlichen Gemeinschaft, grundsätzlich solidarisch für Einzelne mit einzustehen, die ein von der Gesamtheit zu tragendes Schicksal zufällig getroffen hat (z.B. Vertriebene nach dem II. Weltkrieg);

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Sozialstaatsprinzip

Subjektivrechtlicher Gehalt?

� Keine konkreten Verpflichtungen, z.B. kein Verbot des „sozialen Rück-schritts“. SSP bedarf i.d.R. der gesetzlichen Ausgestaltung;

� Keine Individualansprüche. Ausnahme: Anspruch auf das Existenz-minimum (Sozialstaatsprinzip I.V.m. Art. 1 GG).

� Sozialstaatsprinzip ermächtigt Gesetzgeber, Freiheiten zugunsten sozialer Belange einzuschränken (gesetzliche Konkretisierung erforderlich!).

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Wesen des Bundestaats:

→ Siehe bereits Lerneinheit Nr. 5 (Bundesrat u. bundesstaatliches Gefüge).

Normen:

→ Art. 20 I, 28, 79 III GG.

Inhalte:

� Eigenstaatlichkeit und Verfassungsautonomie.

� Spielraum der Länder für eigene Gestaltung → RestrikKve Auslegung des Art. 28 GG, Beachtung der Kompetenzverteilung, Schutz vor schleichender Kompetenz-verschiebung.

� Subsidiaritätsprinzip (vgl. Art. 5 III EUV) auch im GG? → wohl nicht, da GG die Kompetenzen umfassend zwischen Bund und Ländern aufteilt.

� Prinzip der Bundestreue.

� Aufgabengerechte Finanzausstattung; Solidarität im Falle existentieller finanzieller Bedrohung (Art. 104a ff. GG).

� Solidarische Unterstützung in Notfällen (z.B. Art. 35 I, II GG).

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Erhöhter Schutz der Bundesländer/ Verstärkung der Bundesstaatlichkeit

durch Art. 79 III GG:

� Unabänderliche Garantie der Existenz von Ländern, „Gliederung des Bundes in Länder“ (Art. 79 III GG; siehe aber auch Art. 29 GG).

� Unabänderliche Mitwirkung der Länder an der Bundesgesetzgebung (Art. 79 III GG) → durch den Bundesrat.

� Unabänderlichkeit der in Art. 20 GG niedergelegten Grundsätze (umfasst auch Kernelemente des Bundesstaatsprinzips!).

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Bekenntnis des GG zur Republik (Art: 20 I GG):

→ früher: „Freistaat“ (Verbindung zum Demokratieprinzip), siehe aber heute noch „Freistaat Bayern“ und „Freistaat Sachsen“.

� Verbot der Wiedereinführung der Monarchie.

� Gemeinwohlbindung des Staates, Gebot unparteilicher Staatsführung (i.E.strittig).

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Art. 79 GG:

→ bindet den verfassungsändernden Gesetzgeber (= pouvoir constitué).

� Änderung des GG nur durch Gesetz und nur mit 2/3-Mehrheit in BT und BR (Art. 79 II GG).

� Materielle Schranken der Verfassungsrevision → Art. 79 III GG („Ewigkeitsklausel“).

� Gliederung des Bundes in Länder → verbietet Zentralstaat.

� Grundsätzliche Mitwirkung an der Gesetzgebung des Bundes.

� In Art. 1 GG niedergelegte Grundsätze.

� In Art. 20 GG niedergelegte Grundsätze.

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Art. 79 III GG:

→ Kann die „Ewigkeitsklausel“ ein Abgleiten in die Diktatur ausschließen?

Dazu Ernst-Wolfgang Böckenförde, Staat, Gesellschaft, Freiheit, 1976, S. 60:

„Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist. Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der morali-schen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert. Anderseits kann er diese inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus, das heißt mit den Mitteln des Rechtszwanges und autoritativen Gebots zu garantieren suchen, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben und – auf säkularisierter Ebene –in jenen Totalitätsanspruch zurückzufallen, aus dem er in den konfessionellen Bürgerkriegen herausgeführt hat.“

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Anfang und Ende des GG:

Präambel

BVerfGE 36, 1, 17 – Grundlagenvertrag (1973) betr. Wiedervereinigungsgebot gem. Präambel a.F.:

„… Dem Vorspruch des Grundgesetzes kommt nicht nur politische Bedeutung zu, er hat auch rechtlichen Gehalt. …“

Art. 146 GG

→ Das GG erkennt verfassunggebende Gewalt des Deutschen Volkes (= pouvoirconstituant) an. D.h. das GG weicht gfalls. einer neuen Verfassung, sofern diese vom deutschen Volk in freier Entscheidung beschlossen werden sollte.

Probleme:

� Verhältnis zwischen Art. 146 GG und Art. 79 III GG → Ist auch der verfassung-gebende Gesetzgeber (wie der verfassungsändernde) an Art. 79 III GG gebunden?

� Eröffnet Art. 146 GG die Möglichkeit, Deutschland gfalls. zum Gliedstaat eines europäischen Bundesstaats zu machen?

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