NS- „Euthanasie“ im deutschen Südwesten · 1. Die NS-„Euthanasie“-Verbrechen in Grafeneck...

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MATERIALIEN „Wohin bringt ihr uns?“ Geschichte Quellen Arbeitsblätter NS- „Euthanasie“ im deutschen Südwesten Grafeneck 1940

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www.lpb-bw.de

„Wohin bringt ihr uns?“

GeschichteQuellenArbeitsblätter

NS- „Euthanasie“ im deutschen Südwesten

Grafeneck 1940

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VORWORT

„Euthanasie“, der „schöne Tod“, diesen Begriff prägten die Griechen für ein leichtes Sterben. Die Nationalsozialisten ver- schleierten damit die Tötung von Menschen mit geistigen und seelischen Gebrechen, die nicht in ihre Wahnvorstellungen von der „reinen Rasse“ und dem „gesunden Volkskörper“ passten, die als „unnütze Esser“ nur die Volkswirtschaft und die Sozial-systeme belasten würden und ihrer Auffassung nach daher „lebensunwert“ waren. Ihr Tod in den Gaskammern der ver-schleiernd als „Pflegeanstalten“ ausgegebenen Einrichtungen, in unserem Land die in Grafeneck auf der Alb, war nicht „schön“, sondern Mord. Auch nach den damals geltenden Gesetzen.

„Euthanasie“ ist folglich ein belasteter Begriff. Er hat Bedeutung für die Fragen, welche Werte eine Gesellschaft dem Recht auf Leben, der Ausgestaltung des menschlichen Zusammenlebens und der Rechte des Einzelnen insgesamt zugrunde legt. Ebenso für die Frage, wie weit der Fortschritt der medizinischen und biologischen Forschung umgesetzt werden kann, ohne dass Einzelne oder Gruppen „Nützlichkeitserwägungen“ unterworfen werden und ob und inwieweit sie selbstständig darüber ent-scheiden können und dürfen.

Wir wollen mit diesem Arbeitsheft die historischen Ereignisse in Erinnerung rufen und damit auch auf die ganz konkrete Bedeu-tung des heutigen Verfassungsgebots der Unverletzlichkeit der menschlichen Würde und der unveräußerlichen Persönlichkeits-rechte hinweisen.

Diese Arbeitshilfe ersetzt die seit 2000 erschienenen Auflagen von »„Euthanasie“ im NS-Staat: Grafeneck im Jahr 1940«. Die Autoren Franka Rößner und Thomas Stöckle von der Gedenkstätte Grafeneck machen uns mit diesen MATERIALIEN ihre langjährigen Erfahrungen im pädagogischen Umgang mit diesem Thema zugänglich. Wir danken den Autoren für dieses Entgegenkommen sowie der Gedenkstätte Grafeneck für die erneute kollegiale Kooperation.

Stuttgart, im März 2011

Lothar Frick Konrad Pflug Direktor Fachbereich Gedenkstättenarbeit

Landeszentralefür politische BildungBaden-Württemberg

Stafflenbergstraße 3870184 StuttgartTel. 0711.16 40 99-0, Fax [email protected] www.lpb-bw.de

Die Landeszentralefür politische Bildung

•isteineüberparteilicheEinrichtungdes Landes Baden-Württemberg

•willfürdieDemokratiebegeistern•hilftzureigenenMeinung•befähigtzurMitwirkung•veranstaltetSeminare,Tagungen,Vorträge,

Studienreisen, Symposien, Ausstellungen, Politische Tage

•veröffentlichtBücher,Broschürenund Zeitschriften und bietet didaktisch- methodische Arbeitshilfen und Spiele an

•betreibtalsTagungszentrumdas»Hausaufder Alb« in Bad Urach mit Bibliothek/ Mediothek

•undLpB-ShopsamHauptsitzStuttgart und in den Außenstellen Freiburg und Heidelberg

Impressum

HerausgegeberLandeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg (LpB)

AutorenFranka Rößner M.A., wissenschaftlich-pädagogische Mitarbeiterin der Gedenkstätte GrafeneckThomas Stöckle M.A., Leiter der Gedenkstätte Grafeneck DokumentationszentrumGrafeneck 372532 GomadingenTel. 0049 (0)7385/966-206Fax 0049 (0)7385/966-208info@gedenkstaette-grafeneck.dewww.gedenkstaette-grafeneck.de

RedaktionKonrad Pflug, LpB

TitelfotoZwei der grauen Busse von Grafeneck, heimlich fotografiert in der Diakonie Stetten i.R. 1940.(Archiv Gedenkstätte Grafeneck)

Layout und Satzmedien+dialog,Haigerloch,www.medien-und-dialog.de

UmschlagLucia Winckler, Tübingen

Alle Rechte vorbehalten.Abgabe gegen Schutzgebühr.

Stuttgart 2011

PfortezurHeilanstaltkurznachderErbauung des Pförtnerhauses ca. 1931/1932 Foto: Stadtarchiv Ravensburg

Denkmal der Grauen Busse in der Alten Pforte des Zentrums für Psychiatrie Ravensburg-Weissenau vonAndreasKnitzundHorstHoheisel

Foto: Andreas Knitzwww.dasdenkmaldergrauenbusse.de

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VORWORT

„Euthanasie“, der „schöne Tod“, diesen Begriff prägten die Griechen für ein leichtes Sterben. Die Nationalsozialisten ver- schleierten damit die Tötung von Menschen mit geistigen und seelischen Gebrechen, die nicht in ihre Wahnvorstellungen von der „reinen Rasse“ und dem „gesunden Volkskörper“ passten, die als „unnütze Esser“ nur die Volkswirtschaft und die Sozial-systeme belasten würden und ihrer Auffassung nach daher „lebensunwert“ waren. Ihr Tod in den Gaskammern der ver-schleiernd als „Pflegeanstalten“ ausgegebenen Einrichtungen, in unserem Land die in Grafeneck auf der Alb, war nicht „schön“, sondern Mord. Auch nach den damals geltenden Gesetzen.

„Euthanasie“ ist folglich ein belasteter Begriff. Er hat Bedeutung für die Fragen, welche Werte eine Gesellschaft dem Recht auf Leben, der Ausgestaltung des menschlichen Zusammenlebens und der Rechte des Einzelnen insgesamt zugrunde legt. Ebenso für die Frage, wie weit der Fortschritt der medizinischen und biologischen Forschung umgesetzt werden kann, ohne dass Einzelne oder Gruppen „Nützlichkeitserwägungen“ unterworfen werden und ob und inwieweit sie selbstständig darüber ent-scheiden können und dürfen.

Wir wollen mit diesem Arbeitsheft die historischen Ereignisse in Erinnerung rufen und damit auch auf die ganz konkrete Bedeu-tung des heutigen Verfassungsgebots der Unverletzlichkeit der menschlichen Würde und der unveräußerlichen Persönlichkeits-rechte hinweisen.

Diese Arbeitshilfe ersetzt die seit 2000 erschienenen Auflagen von »„Euthanasie“ im NS-Staat: Grafeneck im Jahr 1940«. Die Autoren Franka Rößner und Thomas Stöckle von der Gedenkstätte Grafeneck machen uns mit diesen MATERIALIEN ihre langjährigen Erfahrungen im pädagogischen Umgang mit diesem Thema zugänglich. Wir danken den Autoren für dieses Entgegenkommen sowie der Gedenkstätte Grafeneck für die erneute kollegiale Kooperation.

Stuttgart, im März 2011

Lothar Frick Konrad Pflug Direktor Fachbereich Gedenkstättenarbeit

Landeszentralefür politische BildungBaden-Württemberg

Stafflenbergstraße 3870184 StuttgartTel. 0711.16 40 99-0, Fax [email protected] www.lpb-bw.de

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AutorenFranka Rößner M.A., wissenschaftlich-pädagogische Mitarbeiterin der Gedenkstätte GrafeneckThomas Stöckle M.A., Leiter der Gedenkstätte Grafeneck DokumentationszentrumGrafeneck 372532 GomadingenTel. 0049 (0)7385/966-206Fax 0049 (0)7385/966-208info@gedenkstaette-grafeneck.dewww.gedenkstaette-grafeneck.de

RedaktionKonrad Pflug, LpB

TitelfotoZwei der grauen Busse von Grafeneck, heimlich fotografiert in der Diakonie Stetten i.R. 1940.(Archiv Gedenkstätte Grafeneck)

Layout und Satzmedien+dialog,Haigerloch,www.medien-und-dialog.de

UmschlagLucia Winckler, Tübingen

Alle Rechte vorbehalten.Abgabe gegen Schutzgebühr.

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PfortezurHeilanstaltkurznachderErbauung des Pförtnerhauses ca. 1931/1932 Foto: Stadtarchiv Ravensburg

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Foto: Andreas Knitzwww.dasdenkmaldergrauenbusse.de

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MATERIALIEN

Grafeneck 1940„Wohin bringt Ihr uns?“NS-„Euthanasie” im deutschen Südwesten

GeschichteQuellenArbeitsblätter

Broschu?re NS-Euthanasie:Layout 1 23.03.2011 13:26 Uhr Seite 1

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Inhaltsverzeichnis

1. Die NS-„Euthanasie“-Verbrechen in Grafeneck 1939-1941 S. 5

2. Materialien und Arbeitsblätter für den Unterricht S. 9

Übersicht:

A. Das Verbrechen: Organisation und Durchführung: S. 10Die 'Aktion T4' in den Jahren 1939 bis 1941 alsarbeitsteiliges Großverbrechen (M.1 - M.5)

B. Die Opfer von Grafeneck (M.6 - M.12) S. 18

C. Rassenlehre, Rassenhygiene und die Forderung S. 30der "Vernichtung lebensunwerten Lebens"(M.13 - M.15)

D. Reaktionen - Beendigung der zentralen S. 36"Euthanasie" Morde 1940/41. Der Mordan den europäischen Juden ("Holocaust")

3. Die Gedenkstätte und Dokumentationszentrum Grafeneck S. 44

4. Geschichte und Gedächtnis: 70 Jahre “Euthanasie”-Verbrechen S. 45

5. Weiterführende Literatur - Medien - Links S. 47

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1. Die NS-„Euthanasie“-Verbrechen in Grafeneck 1939-1941Thomas Stöckle

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Vom 8. Juni bis zum 5. Juli 1949 währte der TübingerGrafeneck-Prozess. Vor Gericht standen acht Angeklagte.Ihnen wurde die Beteiligung an der Ermordung von10.654 Menschen - Männer, Frauen und Kinder - in Gra-feneck zur Last gelegt. Die Anklage lautete: "Beihilfezum Mord" und "Verbrechen gegen die Menschlichkeit".Zu Grunde gelegt wurde von den Tübinger Richternnicht das deutsche Strafrecht, sondern das Alliierte Kon-trollratsgesetz Nr. 10. Das Gericht ließ hiermit keinenZweifel daran, wie es die Tötungen von geistig behin-derten und psychisch erkrankten Menschen rechtlichbewertet – nämlich als Verbrechen gegen die Mensch-lichkeit. Vier Jahre der Vorermittlungen gingen demProzess voran. Heute wird dieser Verbrechenskomplexin der Regel als NS-"Euthanasie“ oder "Krankenmord"oder als so genannte "Aktion T4“ bezeichnet. "Grafen-eck 1940“, der Ort und das Jahr an denen die Mordestattfanden, ist Teil dieses Komplexes. Wie lassen sichdie hinter diesem Kürzel verborgenen Verbrechen be-schreiben und wie aus geschichtlicher, wie aus ge-schichtswissenschaftlicher Perspektive erklären? Werwaren die Opfer, wer die Täter dieser Verbrechen? Waswaren die Motive und was waren die Bedingungen, dieihre Tat ermöglichten?

Der Begriff der EUTHANASIEDen Begriff der Euthanasie voraussetzungslos im hi-storischen Kontext zu verwenden, ist bedenklich undwenig ratsam. Zu viele Bedeutungen schwingen mit, dievon Sterbehilfe über die "Tötung auf Verlangen" bis hinzur "Vernichtung lebensunwerten Lebens" reichen. Ob-wohl von den Tätern als "Euthanasie“ und "Gnadentod“verharmlost, ist die NS-"Euthanasie" angemessen nur alsMord zu beschreiben. In der im Mittelpunkt stehendenPhase von 1939 bis 1941 meint NS-"Euthanasie" indu-striellen Massenmord, gleich ob die Beschreibung aushistorischer, juristischer oder allgemein ethischer Per-

spektive geschieht. Im folgenden wird deshalb der Eu-thanasie-Begriff in Anführungszeichen gesetzt, bzw. mitdem Zusatz NS-Verbrechen versehen.Ebenso bringt der oft in Wissenschaft und Publizistikverwendete Begriff vom Krankenmord gewisse Pro-bleme mit sich, basiert dieser doch auf einem oftmalsnicht reflektierten Krankheitsbegriff oder der Anwen-dung eines solchen. De facto verfügen weder die Ge-schichtswissenschaft noch die Medizingeschichte überInstrumente, um zu klären, ob es sich bei allen Opfernum Menschen mit psychischen Erkrankungen gehan-delt hat oder nicht. Auch der Krankheitsbegriff unter-liegt in seiner Definition einem historischen Wandel.Für die Beschreibung des Sachverhalts und den Statusder Betroffenen als Opfer sowie für die Beschreibungihrer Tötung als Mord spielt dies keine Rolle. Ihnen al-lein gemeinsam war ihre Einstufung durch die Täter als"lebensunwertes Leben" und ihre Deportation aus Ein-richtungen der Behindertenhilfe und der Psychiatrienach Grafeneck. Für eine vorsichtige und reflektierteBenutzung des Begriffs des Krankenmordes sprichtauch die Tatsache, dass unter den 10.654 Opfern einegroße Zahl an Menschen mit geistiger Behinderungwaren. Eine Behinderung wiederum ist jedoch nichtmit Krankheit gleichzusetzen oder unter einen Krank-heitsbegriff zu subsumieren.

Die historische Bedeutung:Die nationalgeschichtliche Dimension Grafeneck besitzt für die Geschichte Deutschlands undSüdwestdeutschlands im Nationalsozialismus eine aus-sergewöhnliche und einzigartige Bedeutung.

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Am 18. Januar 1940 begann auf dem Gelände desSchlosses Grafeneck der NS-"Euthanasie“- Kranken- undBehindertenmord: die "Aktion T4". Aus geschichtlicherund aus geschichtswissenschaftlicher Sicht ist die Ge-schichte Grafenecks in eine Vielzahl von Deutungs- undInterpretationsdimensionen eingebunden. Grafeneck inden Jahren 1939 bis 1941 steht für:• die systematisch-industrielle Ermordung von Men-

schen im NS-Staat überhaupt• den Beginn der Morde der "Aktion T4" im NS-Staat:

Grafeneck als erstes von sechs Vernichtungszentren(Materialienteil A.)

• die Ermordung von ausgegrenzten und als "lebens-unwertes Leben" stigmatisierten Menschen auspsychiatrischen Kliniken und Behinderteneinrich-tungen (Materialienteil B.)

• eines der „arbeitsteiligen Großverbrechen“ des NS-Staates und die "arbeitsteilige Täterschaft" innerhalbdes NS-Staates

• den Komplex von Rassenlehre, Eugenik und Rassen-hygiene sowie "Euthanasie" im Sinne der "Vernich-tung lebensunwerten Lebens" (Materialienteil C.)

• das Zusammenspiel von Zustimmung, Verweigerung,Protest und Widerstand zu den Verbrechen des NS-Staates und Handlungsspielräumen unter den Bedin-gungen einer Diktatur (Materialienteil D.)

• den Ausgangspunkt und den Beginn einer Entwick-lung von ungeheuerlichen Verbrechen gegen dieMenschheit. Die "Euthanasie"-Täter und die "Eutha-nasie"-Mordverfahren kommen bei der Ermordungder europäischen Juden erneut zum Einsatz

• den Umgang mit den Verbrechen des NS-Staates: Ge-sellschaft und Staat, Angehörige der Opfer und Insti-tutionen, Kirchen, Diakonie und Caritas zwischenVergessen und Verdrängung, Erinnerungsverweige-rung sowie frühen Formen der Erinnerung, des Ge-denkens und umfassender Aufarbeitung.

Die landes- und regionalgeschichtlicheDimensionGrafeneck besitzt eine herausragende Bedeutung fürdie südwestdeutsche Landesgeschichte und für die Ge-schichte des heutigen Bundeslandes Baden-Württem-berg. Untrennbar verbunden ist der Ort Grafeneck mitder Landesgeschichte Baden-Württembergs, mit all sei-nen Landesteilen, seinen Städten und Ortschaften.Nach dem heutigen Wissensstand waren es exakt 40 Be-hinderteneinrichtungen und psychiatrische Einrich-tungen in Baden-Württemberg – 22 württembergische,17 badische und mit Sigmaringen eine hohenzolleri-sche – aus denen die Opfer in die Tötungsanstalt Gra-feneck gebracht wurden. Insgesamt, rechnet man diebayerischen und nordrhein-westfälischen hinzu, warenes sogar 48. Für diese Einrichtungen, die heute zum al-lergrößten Teil noch existieren, ist Grafeneck histori-scher Bezugspunkt schlechthin.

Die stadt- und ortsgeschichtliche DimensionEine weitere Bedeutungsebene liegt in der Herkunftder Opfer, aber auch der Täter und der Tatbeteiligten.Fragt man nach ihrem jeweiligen Geburts- oder Wohn-ort, so eröffnet dies eine weitere Perspektive, nebender nationalen und der regionalen, eine stadt- und orts-geschichtliche. Bereits eine oberflächliche Betrachtungder Akten zeigt, dass die über 10.600 Opfer aus allenvier Regierungsbezirken in Baden-Württemberg, allenStadt- und Landkreisen, allen größeren, aber auch einerungeheuer großen Zahl mittlerer und kleiner Gemein-den Baden-Württembergs stammten.

Die Dimension Individuum und FamilieZuletzt ist Grafeneck nicht nur ein Faktor der nationa-len Geschichte und der Landesgeschichte, sondernauch einer, der sich in 10.654 Familiengeschichten hin-ein erstreckt. Ihr Leben wurde im Jahr 1940 gewaltsambeendet, die Opfer grausam ermordet. Dieses histori-sche Faktum wirkt fort bis in die Gegenwart. JedeWoche wenden sich Verwandte der Opfer, Ältere, diedie Opfer noch persönlich gekannt haben, aber auchJüngere an die Gedenkstätte und suchen nach Aus-künften über einen oftmals jahrzehntelang verdrängtenund tabuisierten Teil der familiären Geschichte. Rück-blickend auf das letzte Jahrzehnt erkennt man klar, dassdie Zahl der anfragenden Nachkommen und Angehöri-gen beständig angestiegen ist. Eine Erklärung hierfürkann sein, dass erst die Zeit Barrieren beseitigt hat undparadoxerweise dadurch die Vergangenheit näher andie Gegenwart herangerückt ist, eine Vergangenheit, dienicht vergeht.

Das historische GeschehenIm Oktober 1939 wurde die bestehende Behinderten-einrichtung vom Württembergischen Innenministe-rium "für Zwecke des Reichs“ beschlagnahmt. Am 18.

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Januar 1940 begannen die Morde in Grafeneck, denenbis zum Dezember 1940, wie das Tübinger Gericht be-reits 1949 feststellte, über 10.600 Menschen – Männer,Frauen und Kinder – zum Opfer fielen. Die Täter ver-wendeten eine stationäre Gaskammer, eingebaut in einGebäude auf dem Gelände des Schlosses. Die Mordevon Grafeneck waren Teil eines noch größeren, reichs-weiten Geschehens, eines der größten Verbrechen, diedas nationalsozialistische Deutschland hervorgebrachtund ermöglicht hat: die Ermordung von über 70.000Menschen mit geistigen Behinderungen und psychi-schen Erkrankungen in den Jahren 1940 und 1941, ge-nannt "Aktion T4". Diesem Verbrechen gingen weitereMordaktionen des NS-Staates voraus, beziehungsweisefolgten nach, die von der historischen Forschung eben-falls dem Komplex der NS-"Euthanasie"-Verbrechen zu-geordnet werden. Zu diesen zählen:

• die Kinder-"Euthanasie": Morde an 5.000 Säuglingenund Kindern in so genannten "Kinderfachabteilun-gen" innerhalb bestehender Kliniken 1939 bis 1945

• die dezentrale "Euthanasie": Ermordung von ungefähr30.000 Menschen innerhalb der psychiatrischen Kli-niken durch Medikamente und Nahrungsmittelent-zug 1941 bis 1945

• die "Euthanasie" im Osten: Morde an Psychiatriepa-tienten in Polen und der UdSSR

Den Opfern wurde bereits seit Ende des 19. Jahrhun-derts eine doppelte Minderwertigkeit zugeschrieben.Sie galten als Gefahr und gleichzeitig als Bürde und Lastfür den so genannten „gesunden Volkskörper“. Zumeinen waren dies eugenische/rassenhygienische, zumanderen ökonomische Gründe, die angeführt wurden,um den „Lebenswert“ und damit auch das „Lebens-recht“ von psychisch erkrankten und geistig behinder-ten Menschen in Anstalten zu bestreiten. In der Haupt-sache waren es dann Kriterien von Produktivität undArbeitsfähigkeit, die vor dem Hintergrund des ZweitenWeltkrieges, über Leben und Tod in den Anstalten undKliniken entschieden.

Mit der Erfassung aller jüdischen Patienten in denpsychiatrischen Einrichtungen Württembergs und Ba-

dens und deren Ermordung in Grafeneck sowie der spä-teren Übernahme der Technologie und des Personalsder Gasmordanstalten begann ein Weg, der in den „Ho-locaust“, die Ermordung der deutschen und europä-ischen Juden, mündete. Im Dezember 1940 endeten dieMorde in Grafeneck. Als Gründe hierfür können dasScheitern der Geheimhaltungsbemühungen und zu-nehmende Proteste von Kirchen, Angehörigen, Ein-richtungen sowie aus Kreisen der NSDAP gelten.Protest und Widerstand waren aber für den Abbruchder Morde von untergeordneter Bedeutung. Die Ver-setzung des Grafenecker Täterpersonals ins hessischeHadamar, ebenfalls eine Vernichtungseinrichtung, legtaber auch den Schluss nahe, dass die Täter ihre Ziele imdeutschen Südwesten erreicht hatten.

Der Umgang mit den „Euthanasie“-Verbre-chen von 1945 bis 1990:Strafprozesse, Geschichtsvergessen undfrühe Formen der Erinnerung

Nach den Morden nutzte die Führung der Hitler-Ju-gend/Gauleitung Württemberg das Schloss als einenOrt der Kinderlandverschickung, an dem Jugendlicheaus bombenkriegsgefährdeten Regionen untergebrachtwurden. In Etappen kehrte bereits während des Krie-ges die Samariterstiftung nach Grafeneck zurück. Diefranzösische Besatzungsmacht war es schließlich, diedas Schloss der Samariterstiftung zurückerstattete unddamit einen Neuanfang für die Arbeit mit behindertenMenschen ermöglichte. Die bei Kriegsbeginn vertrie-benen behinderten Menschen, die den Krieg überlebthatten, zogen erneut ins Schloss ein. Grafeneck ist seit-her wieder ein von der Samariterstiftung genutzter Ort- Lebensraum, Wohnort und Arbeitsplatz für behinderteMänner und Frauen. Eine juristische Auseinanderset-zung mit den "Euthanasie"-Verbrechen wurde von denalliierten Besatzungsmächten aber auch deutschen Be-hörden angestoßen. Sie mündete in zwei Grafeneck-Prozessen, die 1948 in Freiburg, für den badischen

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Landesteil, und 1949 in Tübingen, für den württember-gischen Landesteil, stattfanden. In Freiburg standenzwei Angeklagte vor Gericht, in Tübingen acht Perso-nen. Die Freiburger Angeklagten, beide leitende Beamtedes badischen Innenministeriums, wurden zu hohenGefängnisstrafen verurteilt, jedoch bereits in den1950er Jahren begnadigt. Der Grafeneck-Prozess, der1949 in Tübingen stattfand, versuchte ebenfalls denmonströsen Verbrechen von Grafeneck Rechnung zutragen. Das Urteil fiel sehr milde aus: fünf Freisprüchenstanden drei Verurteilungen gegenüber. Die Gefängnis-strafen lagen hierbei zwischen fünf und eineinhalb Jah-ren. Die hohe Bedeutung des Tübinger Prozesses liegtdarin begründet, die Verbrechen akribisch rekonstru-iert und die Zahl der Opfer von 10.654 genau bestimmtzu haben. Die moderne Geschichtswissenschaft hat dievom Gericht genannte Größenordnung der Opfer be-stätigt. In Grafeneck wurden die Spuren, die an die „Eu-thanasie“-Morde erinnern, in den 1950er und 1960erJahren sichtbar. Ein früher Gedenkort entstand auf demFriedhof der Einrichtung. Im gleichen Zeitraum erfolgteaber der Abriss des Vernichtungsgebäudes. Seit 1982 er-innert eine erste Texttafel an die Verbrechen von 1940.Der eigentliche Ort des Mahnens und Gedenkens, eineoffene Kapelle, entstand 1990 in unmittelbarer Nähezum Friedhof unter dem Leitgedanken: „Das Gedenkenbraucht einen Ort“.

Das Grundgesetz der BundesrepublikDeutschlandDas Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, dasnur wenige Wochen vor dem Tübinger Grafeneck-Pro-zess verabschiedet wurde, ist als eine explizite Antwortauf die Verbrechen des NS-Staates im allgemeinen, aberauch der NS-"Euthanasie"-Verbrechen im besonderenzu lesen und zu interpretieren. Wenn der Grundsatz, ausder Geschichte lernen zu wollen, Anwendung findet,dann hier. Artikel 1 des Grundgesetzes beinhaltet denSchutz der Menschenwürde. Er lautet in seinem erstenAbsatz: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Er ge-hört zu den tragenden Verfassungsgrundsätzen und hatelementare Bedeutung für alle anderen Bestimmungendes Grundgesetzes. Bewusst findet hier der Begriff derWürde Verwendung. Er widerspricht dem Begriff desWerts bzw. des Unwerts. Letzterer koppelte den Wertdes Menschen an seine Verwertbarkeit, an seine Pro-duktivität und in letzter Instanz an seine Nützlichkeitfür die Gesellschaft. In dieser Hinsicht ist er Ausdruckdes Vorrangs der Gemeinschaft, im National-sozialismus als Volksgemeinschaft bezeichnet, vor demIndividuum. Die durch den Artikel 1 eingeleitetenGrundrechte verstehen sich in strikter Abgrenzung zudieser Vorstellung als Individualrechte. Artikel 1 des GGbesitzt einen 2. Teil. Auch er ist von eminenter Bedeu-tung. Er lautet in Bezug auf die Würde des Menschen:Sie zu achten und zu schützen ist Aufgabe aller staatli-chen Gewalt. Auch dies lässt sich als eine unmittelbareReaktion auf die Verbrechen des NS-Staates lesen,waren diese doch auch und gerade Verbrechen desStaates. Ohne dessen Organe, Institutionen und Beamte

wären Verbrechen der oben beschriebenen Größen-ordnung und diesen Charakters – arbeitsteilige Groß-verbrechen mit arbeitsteiliger Täterschaft – überhauptnicht denkbar und durchführbar gewesen. Durch dieBindung der staatlichen Gewalt an die Menschenwürdeund die Grundrechte wird ausgedrückt, dass dem Staatoder einem wie auch immer gearteten Kollektiv keinPrimat vor der Menschenwürde zukommt. Diese wirddabei auch nicht vom Staat verliehen, sondern wird alsvorstaatlich gegeben gedacht. Mit diesem Grundrechtwird jedermann ein Abwehrrecht gegen die staatlicheGewalt eingeräumt und gleichzeitig ein Schutzauftraggarantiert, der den Staat verpflichtet den Einzelnen vorVerletzung der Menschenwürde zu bewahren. DasGrundgesetz nimmt im Folgenden jedoch keine nähereDefinition der Menschenwürde vor. "Sie gilt prinzipielldann als verletzt, wenn der Mensch zum bloßen Objektgemacht wird." Praktische Wirksamkeit entfaltet derArt. 1, Absatz 1 nur in Verbindung mit den nachfolgen-den Grundrechten, die als Ausformulierung und Kon-kretisierung des Art. 1 betrachtet werden. Von beson-derer Bedeutung sind in unserem Zusammenhang wei-tere ganz konkrete Artikel des Grundgesetzes, nämlichzum einen Art. 2, Abs. 2, der das Recht auf Leben undkörperliche Unversehrtheit garantiert. Dieses zentraleGrundrecht wurde durch den NS-Staat zehntausend-fach gebrochen. Die Proteste und der Widerstand gegendie NS-"Euthanasie"-Verbrechen hoben immer wiederhierauf ab. Der katholische Bischof von Münster, Grafvon Galen, führte in seiner Predigt im August 1941 aus,dass er bei den Strafbehörden Anzeige wegen Mordesgemacht hatte. Die Proteste betonten wiederholt, dassdie NS-"Euthanasie"-Maßnahmen auf keiner wie auchimmer gegründeten gesetzlichen Grundlage fußten.Ebenso zentral für den kirchlichen Widerstand warnicht nur der Verweis auf jegliche staatliche Rechts-ordnung, deren Grundlage das Recht auf Leben dar-stellt, sondern auch der Verweis auf eine göttlicheOrdnung der christlichen Gebote, die im 5. Gebot eingenerelles Tötungsverbot ausspricht.Zuletzt soll auf Art. 3, Abs. 3, eingegangen werden, derbesagt, dass niemand u.a. wegen seines Geschlechts, sei-ner Rasse, seines Glaubens, seiner religiösen oder poli-tischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugtwerden darf, und dessen letzter Satz lautet: Niemanddarf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.Er wurde erst 1994 in das Grundgesetz aufgenommen.Er besitzt, so sagt es eine neuere Kommentierung desGrundgesetzes aus dem Jahr 2010, eher eine Appell-funktion und wird als Zugeständnis an den Zeitgeist be-wertet. Dass er dies nicht länger bleibt, ist zu hoffen.Die Unterzeichnung der UN-Konvention über dieRechte von Menschen mit Behinderungen durch dieBundesrepublik Deutschland könnte hier ein wegwei-sender Schritt sein. Das Grundgesetz und seine Maß-stäbe lassen sich bis heute als Antwort auf dieGeschichte und als eine Herausforderung begreifen, Ge-genwart und Zukunft an gerade dieser zu messen. EinWissen über die Geschichte kann hierfür als Wegwei-ser dienen.

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Aufbau und Nutzung Der vorliegende Materialienband behandelt ein Kapi-tel deutscher Geschichte, Landesgeschichte, Regional-und Stadtgeschichte sowie Familiengeschichte wel-ches Jahrzehnte aus dem öffentlichen Bewusstsein na-hezu ausgeklammert und im schulischen Curriculumnicht auftauchte. Dies hat sich in den letzten Jahrenverändert. Das geschichtliche Kapitel NS-"Euthanasie"-Verbrechen, das in unserem heutigen Bundesland un-trennbar mit dem Ort Grafeneck verknüpft ist, erfuhrin den letzten Jahren eine verstärkte Aufmerksamkeit.Offensichtlich hat dies der zunehmende zeitliche Ab-stand zu diesem Teil unserer Geschichte erst möglichgemacht. Erinnerung, Forschung und Dokumentationsetzten erst Anfang der 1990er Jahre ein. Mit der übli-chen Verzögerung von ein bis zwei Jahrzehnten trans-formieren sich diese Erkenntnisse in "Schulwissen".Der Materialienband soll weniger Anleitungen als An-regungen und Impulse geben, dieses Thema im Unter-richt, sei es Geschichte oder Gemeinschaftskunde,Deutsch, Religion oder Ethik zu behandeln oder zuvertiefen. Er kann überdies ein Anstoß sein, einen Be-such an der Gedenkstätte Grafeneck vor- bzw. nachzu-bereiten. Ausgewählt wurden insgesamt 20Materialien (M1 bis M20), die unterschiedlich Quel-lenarten abdecken, wie Schriftquellen, Bildquellen, Fo-tografien und Landkarten.

Kurzübersicht

A. Das Verbrechen: Organisation undDurchführung: Die 'Aktion T4' in denJahren 1939 bis 1941 als arbeitsteiligesGroßverbrechenM.1 - M.5 (S. 10 - 17)

Chronologische und geografische Einordnung, - Diesechs Vernichtungszentren der “Aktion T4” - "Euthana-sie"-Auftrag A. Hitler vom Oktober 1939, - Vom "ar-beitsteiligen Großverbrechen" zur "arbeitsteiligenTäterschaft:” Berlin-Stuttgart-Grafeneck, - "Verlegungs-Erlass” des Württembergischen Innenministers

B. Die Opfer von GrafeneckM.6 - M.12 (S. 18 - 29)

Kurzbiografie eines Opfers: Theodor K., Meldebogen - Erfassung und Selektion, - Merkblatt - Erfassung undSelektion, Deportation und Ermordung, - "Keks" - De-portation und Wissen, - Begleitbrief/"Trostbrief" an An-gehörige

C. Rassenlehre, Rassenhygiene und die For-derung der "Vernichtung lebensunwertenLebens"M.13 - M.15 (S. 30 - 35)

Prof. Karl Binding/Prof. Alfred Hoche 1922, - Fort-pflanzungs- und Degenerationstheorie, - "Hier trägstDu mit": "Erbkranke" als biologische und ökonomischeLast

D. Reaktionen - Beendigung der zentralen"Euthanasie" Morde 1940/41. Der Mordan den europäischen Juden ("Holocaust")M.16 - M.20 (S. 36 - 43)

Angehörige zwischen Zustimmung, Indifferenz undProtest, - Das Bekanntwerden der „Euthanasie“-Morde– Reaktionen von Angehörigen, - Bischof der Evangeli-schen Landeskirche in Württemberg, - Predigt des ka-tholischen Bischofs von Münster Clemens August vonGalen vom 3. August 1941, - Das Ende der Morde vonGrafeneck - Hadamar - Auschwitz

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2. Materialien und Arbeitsblätter für den Unterricht

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A. Das Verbrechen: Organisation und Durchführung: Die “Aktion T4” in den Jahren 1939 bis 1941 als “arbeitsteiliges Großverbrechen”

M.1 Karte: Chronologische und geografische EinordnungM.2 Foto: Grafeneck

Die sechs Vernichtungszentren der “Aktion T4” 1939 – 1941

Grafeneck am Vorabend der NS-Verbrechen 1930

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Themenbereiche: Die NS-"Euthanasie"1939 bis 1941: “Aktion T4”

Die NS-"Euthanasie"-Verbrechen in der Phase 1939bis 1941 werden nach dem Sitz der Planungs- undLenkungsbehörde in der Tiergartenstraße Nr. 4 inBerlin 'Aktion T4' genannt. Merkmale dieses staatli-chen und arbeitsteiligen Großverbrechens waren

• die zentrale Planung und Lenkung durch die T4-Behörde in Berlin

• die Einrichtung von sechs Vernichtungszentrenauf dem Gebiet des Deutschen Reichs

• die Ermordung von insgesamt 70.273 Menschenmit Kohlenstoffoxidgas (CO-Gas)

Die Vorbereitungen begannen unmittelbar bei Be-ginn des Zweiten Weltkrieges. Da die Planer undTäter um Adolf Hitler eine gesetzliche Regelung ab-lehnten – aus Rücksicht auf Bevölkerung, Kirchenund Ausland – fanden die Morde an psychisch er-krankten und geistig behinderten Menschen als

“Geheime Reichsache” statt. Von den Tätern ge-nauestens kalkuliert, erleichterte der Krieg die Ge-heimhaltung. Protest und Widerstand von Ange-hörigen der Opfer sowie von Bevölkerung und Kir-chen wurden nicht oder nur sehr eingeschränkt er-wartet. Gleichzeitig lieferte das Kriegsszenarionicht nur die Möglichkeit, sondern auch einen Be-gründungszusammenhang für die "Vernichtung le-bensunwerten Lebens": die Beseitigung biolo-gischer, sozialer und ökonomischer Last. Nahezu zeitgleich begannen im Januar 1940 die"Euthanasie"-Morde im Südwesten und im Nord-osten Deutschlands. Als erstes von sechs Vernich-tungszentren wurde Grafeneck, 60 km südlich vonStuttgart auf der Schwäbischen Alb in einer länd-lich abgeschiedenen und dünn besiedelten Region,eingerichtet. Grafeneck wurde im Sprachgebrauchder Täter als 'Anstalt A', Brandenburg bei Berlin als'Anstalt B' bezeichnet. In Grafeneck wurden zwi-schen Januar und Dezember 1940 10.654 Men-schen, Männer, Frauen und Kinder aus Heil- undPflegeeinrichtungen, ermordet. Die Opfer von Gra-feneck stammten mehrheitlich aus Südwest-deutschland, dem heutigen Baden-Württemberg,aber auch aus Bayern und Nordrhein-Westfalen.

Fragen / Arbeitsaufträge:

Was sind die Kennzeichen der NS-"Euthanasie"-Aktion T4?

Warum wählten die Täter den Weg der Geheimhaltung?

Wie ist die Gleichzeitigkeit von NS-"Euthanasie" und Kriegsbeginn zu erklären?

Warum eignete sich Grafeneck in den Augen der Täter als Schauplatz der "Vernichtunglebensunwerten Lebens"?

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M.3 Schriftquelle/Fotos: Auftrag A. Hitler vom Oktober 1939

Auftragsschreiben Adolf Hitlers vom Oktober 1939, rückdatiert auf den 1. September

Philipp Bouhler (1898-1945) Dr. med. Karl Brandt (1904-1948)

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Themenbereiche: NS-"Euthanasie"-Ver-brechen als industrialisierter Massen-mord

Die Planer und Täter der NS-"Euthanasie" stütztensich auf einen zuerst mündlich, dann auch schrift-lich erteilten Auftrag Adolf Hitlers vom Oktober1939, der auf den Tag des Kriegsbeginns zurückda-tiert wurde. Der Auftrag ging an eine Gruppe umReichsleiter Bouhler aus der Kanzlei des Führersder NSDAP und Dr. med. Karl Brandt, den Begleit-arzt Hitlers. Diese beiden sollten Ärzte ermächtigen,angeblich 'unheilbar Kranken' den 'Gnadentod' zu gewähren. Das Auftragsschreiben verschleierte be-

wusst - und tut dies auch noch heute – die histori-sche Realität. Zu keiner Zeit ging es den Tätern umLeidensverminderung und Leidensverkürzung, nie-mals um Sterbehilfe, niemals um 'Gnadentod' undErlösung. Hinter den Zeilen steht der Auftrag zueinem staatlichen Verbrechen, ein Auftrag zum in-dustrialisierten Massenmord aus rassenhygie-nischen Motiven und ökonomischen Kosten-Nutzen-Überlegungen. In den Worten der Planerund Täter: "Beseitigung unnützer Esser" und "Ver-nichtung lebensunwerten Lebens" (Vgl. C.1 bisC.4). Der handschriftliche Zusatz stammt vonReichsjustizminister Dr. Franz Gürtner, der über dieNS-"Euthanasie" informiert war und eine gesetzli-che Grundlage und Regelung forderte.

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Fragen / Arbeitsaufträge:

Wer wurde von Hitler mit der Durchführung der NS-"Euthanasie"-Verbrechen beauftragt?

Warum legten die zuerst mündlich Beauftragten, Philipp Bouhler und Dr. Karl Brandt,solch großen Wert auf einen schriftlichen Auftrag?

Wer sollte die NS-"Euthanasie" ausführen?

Welche Begriffe wählten die Täter?

Warum hat Hitler den Auftrag auf den Tag des Kriegsbeginns zurückdatiert?

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M.4 Fotos: Vom "arbeitsteiligen Großverbrechen" zur "arbeitsteiligen Täterschaft”:Berlin-Stuttgart-Grafeneck

BERLIN – Tiergartenstraße 4 STUTTGART – Württembergisches Innenministerium

GRAFENECK – Schloss

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Themenbereiche: Arbeitsteiliges Groß-verbrechen und Täterschaft

Ein staatliches Verbrechen dieser Dimension(70.273 Opfer im Reich, 10.654 Opfer in Grafen-eck) brauchte zu seiner Planung, Vorbereitung undDurchführung eine Vielzahl von staatlichen undparteiamtlichen Organen und Stellen. Da das Ver-brechen hochgradig arbeitsteilig und bürokratischorganisiert war, brachte dies auch eine arbeitstei-lige Täterschaft mit sich. Auf der zentralen Ebenedes Reichs waren die T4-Behörde in der Tiergarten-straße 4 und das Reichsinnenministerium zustän-dig. Von hier aus wurden die Verbrechen ko-ordiniert und die Opfer ausgewählt. In einem er-sten Schritt wurden alle Heil- und Pflegeanstalten

Deutschlands angeschrieben (ungefähr 500 Ein-richtungen mit 350.000 Patienten und Heimbe-wohnern), die potentiellen Opfer mit Hilfe vonFragebogen erfasst, die wiederum an Gutachter undObergutachter weitergeleitet wurden, die die Opferschließlich selektierten und bestimmten. Das Würt-tembergische Innenministerium in Stuttgart unddas Badische Innenministerium in Karlsruhe ord-neten die Deportationen nach Grafeneck, "Verle-gungen" genannt, an. In Grafeneck erwartete dasPersonal der Täter, das aus knapp einhundert Män-nern und Frauen bestand und im Schlossgebäudeuntergebracht war, die Opfer. Deren Ermordungfand meist noch am Tag ihrer Ankunft in Grafeneckstatt.

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Fragen / Arbeitsaufträge:

Warum spricht man von einem staatlichen und arbeitsteiligen Großverbrechen?Warum von einer arbeitsteiligen Täterschaft?

Wer war zuständig für die Auswahl der Opfer,wer für deren Deportation,wer für ihre Ermordung?

Warum war das Verbrechen auf so viele Orte, Organe und Stellen verteilt?

Was bedeutet dies für den einzelnen Täter? Was bedeutet dies für Verantwortung, Schuldund mögliche strafrechtliche Konsequenzen?

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M.5 Schriftquelle/Foto: Erlass des Württembergischen Innenministers

Erlass des Württembergischen Innenministers vom 23. November 1939 an dieHeil- und Pflegeanstalten

Dr. jur. Jonathan Schmid, (1888 – 1945)Württembergischer Innen- und Justizminister

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Themenbereiche: Die Innenministerien inWürttemberg und Baden

Ohne die Beteiligung und Mitwirkung der staatli-chen Behörden auf Länderebene, hier der Innen-ministerien, wären die NS-"Euthanasie"-Verbrechennicht in der beschriebenen Art und Weise möglichgewesen. Der Erlass des Württembergischen In-nenministers vom 23. November 1939 verdeutlichden bürokratischen und arbeitsteiligen Charakterder NS-"Euthanasie"-Verbrechen. Unterzeichnet warder Erlass vom Leiter der Abteilung X des Innenmi-nisteriums, Ministerialrat Dr. med. Eugen Stähle. Ihmund seinem Stellvertreter Dr. Otto Mauthe unter-standen direkt und indirekt die staatlichen, priva-ten und konfessionellen Heil- und Pflegeein-richtungen im Land. Analog galt das für ihre badi-schen Kollegen im Innenministerium in Karlsruhe,Dr. med. Ludwig Sprauer und Dr. med. ArturSchreck. Der Erlass vom November 1939 kündigtden Heil- und Pflegeanstalten in Württemberg diebevorstehenden "Verlegungen" nach Grafeneck an,ohne den wahren Zweck bekannt zu geben oderGrafeneck beim Namen zu nennen. Die Direktorender württembergischen Anstalten wurden AnfangFebruar 1940 ins Ministerium beordert und über

die bereits angelaufene "Euthanasie"-Aktion infor-miert und zur Geheimhaltung verpflichtet. Jedeeinzelne Deportation, die in die Gaskammer vonGrafeneck führte, wurde durch das Innenministe-rium angeordnet. Dies gilt analog für das badischeund das bayerische Innenministerium in Karlsruheund München. Was aus dem Schreiben nicht hervorgeht, ist die Tat-sache, dass bereits die Wahl Grafenecks als Stand-ort für das reichsweit erste Vernichtungszentrumauf Anregung des Württembergischen Innenmini-steriums stattfand. Das Württembergische Innen-ministerium wollte vermeiden, dass die staatlicheHeilanstalt Zwiefalten herangezogen werdenwürde. Am 14. Oktober 1939 wurde Grafeneck, alsnicht staatliche Einrichtung im Besitz der evangeli-schen Samariterstiftung Stuttgart, für "Zwecke desReichs" beschlagnahmt. Ein Teil der Opfer wurde direkt durch die Beamtendes Württembergischen Innenministeriums selek-tiert. Die Zusammensetzung der Namenslisten, dieaus Berlin kamen, konnte in Stuttgart verändertwerden. Im Falle dass einzelne Einrichtungen in Württem-berg die Daten von Heimbewohnern und Patientennicht geliefert hatten, erledigten dies die Ministeri-albeamten.

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Fragen / Arbeitsaufträge:

Welche Rolle spielten die Innenministerien der Länder Württemberg und Baden undwarum sind sie für die "Euthanasie"-Verbrechen von großer Bedeutung?

Wer waren die Empfänger des Schreibens und welchen Eindruck sollten diese gewinnen?

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B. Die Opfer von Grafeneck

M.6 Foto/Text: Kurzbiografie eines Opfers: Theodor K.

Charkow 1904 – Grafeneck 1940Der Lebens- und Leidensweg des 1904 geborenen Theodor K. bleibt weitgehend im Dunkeln. Er lebte mit seinenEltern, dem Maschinentechniker Karl K. und dessen Frau Ottilie Marie K. im württembergischen Göppingen. Alsjunger Mann wurde er mit der Diagnose Schizophrenie in die Göppinger Privatheilanstalt Christophsbad einge-wiesen. Dort gehörte er zu den Staatspfleglingen, den auf öffentliche Kosten untergebrachten Patienten. Am 14.Oktober 1940 wurde er auf Anordnung des Württembergischen Innenministeriums zusammen mit 74 weiterenmännlichen Patienten aus Göppingen in die württembergische Heilanstalt Winnenden verlegt. Am 29. November1940 wurden 16 der Göppinger Patienten – unter ihnen Theodor K. - zusammen mit Insassen von verschiedenenAnstalten (Stetten i.R., Schwäbisch Hall, Paulinenpflege Winnenden und dem Bürgerhospital Stuttgart) von Win-nenden aus nach Grafeneck verlegt und dort am selben Tag ermordet.

Die vom Standesamt Grafeneck ausgestellte Sterbeurkunde und der sogenannte Trostbrief an die Eltern nach Göp-pingen sind im Original erhalten. Sie tragen das Datum vom 3. Dezember und 4. Dezember 1940. Die Fälschungvon Todestag und Todesursache waren hierbei ein bewusst eingesetztes Mittel der Täuschung der Angehörigen.Als Todesursache war „Lungentuberculose, Blutsturz” angegeben. Unterzeichnet waren die Schreiben der Lan-des-Pflegeanstalt Grafeneck mit den ebenfalls gefälschten Unterschriften Dr. Ott und des Standesbeamten Zorn.

Theodor Heinrich K.

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Themenbereiche: Lebens- und Leidens-wege der Opfer der NS-„Euthanasie“,lokale und regionale Bezüge, ErinnerungDie 10 654 Opfer von Grafeneck stammten ausallen großen Städten und einer Vielzahl kleinererGemeinden des heutigen Bundeslandes Baden-Württemberg und darüber hinaus. Wie Theodor K.verbrachten sie ihre Schulzeit oder ihr Arbeitslebenan diesen Orten. Sie schlossen Freundschaften, ver-liebten sich, heirateten und gründeten eine Fami-lie. Andere wuchsen schon als Kinder in einerAnstalt auf, aber blieben vielfach durch ihre Ver-wandten oder Freunde mit ihren Herkunftsortenund deren Bewohnern verbunden. Manche Men-schen hingegen erhielten keinen Besuch oderkonnten die Klinik bzw. Behinderteneinrichtungnur selten verlassen.Einen Einblick in das Leben von Psychiatrie-Patien-ten, nicht nur während der 1930er Jahre, bietetdas Museum MuSeele-Museum für Psychiatriege-

schichte und Psychiatriegeschichten im Christophs-bad in Göppingen oder andere wie das Württem-bergische Psychiatriemuseum in Zwiefalten. In Göppingen erinnert ein Stolperstein vor dem frü-heren Wohnhaus der Familie Theoder K.s an seinSchicksal. Auch in vielen anderen Städten wurdenStolpersteine für „Euthanasie“-Opfer an den ehe-maligen Wohnorten oder Geburtsorten verlegt. Inganz Baden-Württemberg existieren heute Geden-korte, die an die Opfer der „Euthanasie“-Verbre-chen in Grafeneck erinnern. Sie befinden sich aufFriedhöfen wie dem zentralen städtischen Friedhofin Karlsruhe oder dem Friedhof der Stadt Konstanz.Aber auch in den Behinderteneinrichtungen undKliniken, aus denen die Opfer deportiert wurden,entstanden ab den 1980er Jahren eigene Formendes Gedenkens. Seit 2009 erinnert in Winnendenein Denkmal an die Opfer der Heil- und Pflegean-stalt Winnental.

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Fragen / Arbeitsaufträge:

Skizziere die Lebensstationen Theodor K.s mit Hilfe einer Karte/Bildern und eines Zeit-strahls. An welchen dieser Stationen wird heute an Theodor K. erinnert?

Finde die Namen der 48 Heil- und Pflegeanstalten heraus, von denen 1940 über10 600 Menschen nach Grafeneck deportiert wurden (Sie sind u.a. zu finden unterwww.gedenkstaette-grafeneck.de.). Trage die 40 baden-württembergischen aufeiner Landkarte des heutigen Bundeslandes Baden-Württemberg ein.

Befindet sich eine der Kliniken/Behinderteneinrichtungen an Deinem Wohnort/Schulortoder in dessen Umgebung?

Beschreibe, wie in dieser Klinik/Behinderteneinrichtung heute der Opfer gedacht wird.Gibt es ein Denkmal und wie sieht dieses aus, was steht darauf geschrieben?

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M.7 Schriftquelle: Meldebogen - Erfassung und Selektion

Der Meldebogen mit dem die Opfer erfasst wurden

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Themenbereiche: Arbeitsteilige Organi-sation des Massenmordes, Erfassung derOpfer

Vom Reichsinnenministerium in Berlin wurden abOktober 1939 Meldebogen an Heime für geistig be-hinderte und seelisch erkrankte Menschen im Deut-schen Reich verschickt. Die von den Anstaltenausgefüllten Meldebogen wurden anschließend von„ärztlichen Gutachtern“ geprüft. Ohne die Patien-ten jemals gesehen haben, setzten sie ein Plus oderein Minus in den schwarz umrandeten Kasten. Plusfür Tod, Minus für Leben. Die Mehrzahl der Behin-derteneinrichtungen und Kliniken im südwest-deutschen Raum erledigte pflichtgemäß die vomReichsinnenministerium gemachten Auflagen. Na-hezu reibungslos funktionierte die Erfassung der

Anstaltsbewohner und –patienten in den staatli-chen Heil- und Pflegeanstalten. Nicht so glatt ver-lief die Erfassung in privaten oder konfessionellenEinrichtungen.Mit der Diagnose Schizophrenie war Theodor K. ab1932 Patient der Göppinger Privatheilanstalt Chri-stophsbad. Die Meldebogen des Reichsinnenmini-steriums werden von Christophsbad nicht ausge-füllt. Die Anstalt wollte ihre Staatspfleglinge, fürderen Unterbringung das Land Württemberg be-zahlte, nicht verlieren. Das Württembergische In-nenministerium ordnete deshalb die Verlegung derPatienten des Christophsbads in staatliche Heil- undPflegeanstalten an. Theodor K. wurde über Win-nenden, das nur Zwischenstation war, nach Gra-feneck verlegt.

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Fragen / Arbeitsaufträge:

Wo wurde der Meldebogen für Theodor K. ausgefüllt?

Wer fertigte den Meldebogen von Theodor K. an?Aus welchem Grund weigerte sich die Privatanstalt Christophsbad, die Meldebogen aus-zufüllen?

Einige wenige andere Anstaltsleiter, wie der Heimleiter Heinrich Hermann der evangeli-schen Anstalt in Wilhelmsdorf, weigerten sich aus anderen Gründen, die Meldebogen ab-zugeben. Vergleiche Materialteil D.Formuliere eine Begründung dieses vereinzelten Protestes von Anstaltsleitern gegen dieplanwirtschaftliche Erfassung von Geisteskranken.

Was sagt die Weigerung mancher Anstaltsleiter darüber aus, was diese über den Zweckund das Ziel der Erfassung wussten?

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M.8 Schriftquelle: Merkblatt - Erfassung und Selektion

Das Merkblatt – Erfassungs- und Selektionskriterien

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Themenbereiche: Selektion

Zu Opfern der NS-„Euthanasie“ wurden:- Patienten und Heimbewohner mit eingeschränk-ter oder nicht vorhandener Arbeitsfähigkeit,- Langzeitpatienten,- vom Gericht in eine Psychiatrie eingewiesenePatienten,- jüdische Patienten sowie Sinti und Roma. Das Merkblatt zu den geforderten Meldebogenlegte die Kriterien fest, nach denen die Opfer se-lektiert wurden. Maßstab für den Wert eines Men-schenlebens wurden während des Nationalsozial-

ismus medizinische, rassistische und ökonomischeKriterien. War ein Mensch nicht nützlich oderbrauchbar, endete sein Recht auf Leben. Das jüngsteOpfer war bei seiner Ermordung 4 Jahre alt, das äl-teste über 90. Es waren Mädchen und Jungen,Frauen und Männer, die aus verschiedenen Ortenkamen und völlig unterschiedliche Lebenswegeund Pläne für ihre Zukunft hatten. Gemeinsam hat-ten die 10 654 Opfer der „Euthanasie“, dass sie inAnstalten lebten. Von den Tätern und größeren Tei-len der Gesellschaft wurden sie als „lebensunwert“und als Last für die Volksgemeinschaft angesehen.

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Fragen / Arbeitsaufträge:

Warum wurde für Theodor K. ein Meldebogen ausgefüllt?Vergleiche die Kurzbiographie mit dem Merkblatt.

Worüber wurde der Wert eines Menschenlebens während der NS-Zeit definiert? Wie wurde es begründet?

Welcher der Punkte des Merkblatts verdeutlicht das Kosten-Nutzen-Denken, das hinterder Ermordung geistig behinderter und psychisch erkrankter Menschen stand?

Weshalb spielte die Arbeitsfähigkeit bei der Erfassung der jüdischen Anstaltsbewohnerund -patienten für die Nationalsozialisten keine Rolle?

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M.9 Foto: Deportation und Ermordung

Die grauen Busse von Grafeneck - Heil- und Pflegeanstalt Stetten i.R. 1940 (heimliche Aufnahme, vermutlich v. Mitarbeiter der AnstaltStetten)

Vernichtungsgebäude von Grafeneck. In den mittleren beiden Räumen befand sich die Gaskammer

M.10 Foto: Deportation und Ermordung

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Themenbereiche: Deportation und indu-strieller Massenmord

Von Grafeneck aus fuhren während des Jahres 1940mehrmals pro Woche drei Busse los, um die für dieErmordung vorgesehenen Menschen aus den An-stalten zu holen. Die grauen Busse stehen heute alsSinnbild für den Massenmord an behinderten undpsychisch erkrankten Menschen. Obwohl dieFrauen, Männer und Kinder gar nicht in den Bus-sen, sondern in einer Gaskammer ermordet wur-den. Die Busse hatten Milchglasscheiben. Man konntevon außen nicht hineinsehen. Personal der Tö-tungsanstalt begleitete die Transporte. Ein Pfleger der Heilanstalt Winnental schildertewährend des Grafeneck-Prozesses den Abtransportder Patienten aus Winnenden: „Man kann nichtsagen, dass die Transporte in Ruhe abgegangen

sind. So hat einmal ein Kranker geschrien, man solle ihm eine halbe Stunde Zeit lassen, er wolleans Grammophon und der Welt verkünden, wasvor sich gehe. Ein anderer Kranker ist vor denOmnibussen niedergekniet und hat gefleht, mansolle ihn doch da lassen; er wurde aber von denGrafenecker Transportleuten ins Auto gebracht.“In Grafeneck angekommen, wurden die Menschensofort den Ärzten zu einer letzten Untersuchungvorgeführt, diese dauerte nur etwa eine Minute. Siediente u.a. dazu, auffallende Kennzeichen zu notie-ren, die für die spätere Fälschung der Todesursa-che von Bedeutung sein konnte. Danach wurdendie Opfer in das Tötungsgebäude gebracht. 10 654Menschen wurden mit Kohlenmonoxid-Gas er-mordet, jeweils etwa 75 gleichzeitig.Neben dem Gaskammer-Gebäude befand sich einKrematorium. Die Leichen der Opfer wurden ver-brannt, ihre Asche in Urnen an die Angehörigen ver-schickt.

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Fragen / Arbeitsaufträge:

Was konnte die Bevölkerung in der Region und der unmittelbaren Umgebung Grafenecksvon der „Euthanasie“-Aktion beobachten?

Wie ging das Grafenecker Transportpersonal beim Abtransport der Patienten und Bewoh-ner aus den Heil- und Pflegeanstalten vor?

In Grafeneck wurden Menschen systematisch-industriell ermordet. Was sind die Kennzei-chen für einen industriellen Massenmord?

Weshalb wurden die Leichen der Opfer verbrannt?

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M.11 Foto: "Keks" - Deportation und Wissen

Keks mit der Aufschrift "Mörder". Von der Privatklinik Christophsbad in Göppingen Anfang 1941 der Familie als Teil des Nachlassesvon Theodor Heinrich K. übergeben

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Themenbereiche: Geheimhaltung, Angstund Wissen

Der Nachlass des Theodor K. wurde nach seinemTod an die Eltern in Göppingen geschickt. Der Keks,in den er das Wort „Mörder“ eingeritzt hat, zeigt dieAngst und Verzweiflung des 36-jährigen. Das Fotodes Kekses wird heute im Haus der Geschichte desLandes Baden-Württemberg gezeigt. Zum Zeitpunkt der ersten Deportationen glaubtenviele Bewohner und Patienten noch, dass sie mitden Bussen zu einem Ausflug fahren oder nur in einanderes Heim umziehen müssten. Schnell wurdeaber klar, dass diejenigen, die einen der Busse be-stiegen hatten, nicht wieder kamen. Die Todes-

nachrichten verbreiteten sich in den Anstalten, ausdenen die Opfer kamen schnell. Etwa 50% aller An-staltspatienten im heutigen Baden-Württembergwurden innerhalb eines Jahres ermordet. Das be-deutet, dass jeder zweite Bewohner einer Klinikoder Behinderteneinrichtung während des Jahres1940 nach Grafeneck gebracht worden ist.Die Eltern des Theodor K. konnten durch die er-fundene Todesursache in der Sterbeurkunde nichtgetäuscht werden. Sie wandten sich Ende Dezem-ber 1940 oder Anfang des Jahres 1941 an einenSchulfreund von Theodor und baten um Hilfe. DerSchulfreund war inzwischen Pfarrer in Bad Boll. Erverfasste am 20. Januar 1941 einen Brief an dieLandes-Pflegeanstalt Grafeneck. Das Schreibenwurde mit Ausflüchten und Lügen beantwortet.

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Fragen / Arbeitsaufträge:

Wieso wählte Theodor K. einen Keks für seine Botschaft an die Nachwelt?

Warum und woher konnten Theodor K. und andere Opfer vor oder während ihrer Depor-tation wissen oder zumindest ahnen, was mit ihnen wirklich passieren wird?

Überlege dir verschiedene Reaktionen von Eltern oder anderen Familienmitgliedern, alssie von der Verlegung und dem Tod eines Angehörigen erfuhren oder persönliche Habse-ligkeiten zurück geschickt bekamen. Diese kannst Du z.B. in Form eines Briefes, eines Be-richts oder eines Tagebucheintrages notieren.

Diskutiert Möglichkeiten, die es für die Verwandten unter den Bedingungen der NS-Dikta-tur gab, um gegen die Ermordung eines Angehörigen zu protestieren.

Wen konnten sie um Hilfe bitten?

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M.12 Schriftquelle: Begleitbrief/"Trostbrief" an Angehörige

Begleitbrief der "Landespflegeanstalt Grafeneck" an die Eltern von Theodor Heinrich K.

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Themenbereiche: „Tötungsbürokratie“und Verschleierung der Verbrechen, Re-aktionen der Angehörigen

Die vom Sonderstandesamt in Grafeneck ausge-stellte Sterbeurkunde für Theodor K. und der so ge-nannte Trostbrief an die Eltern nach Göppingensind im Original erhalten. Sie tragen das Datumvom 3. Dezember und 4. Dezember 1940. Als To-desursache waren auch in den Sterbeurkunden deranderen Opfer Lungentuberculose, Blutsturz oderdementsprechend natürliche Todesursachen ange-geben. Die Fälschung von Todesursache und

Todestag war ein bewusst eingesetztes Mittel zurTäuschung der Angehörigen. Weil der Tod zu vielerMenschen am selben Tag und am selben Ort Ver-dacht erregen musste, wurde ab Frühjahr 1940 eineso genannte Absteck-Abteilung eingerichtet. Im Ab-steckzimmer in Grafeneck befanden sich mehrereKarten und Stadtpläne an der Wand. Auf diesen Kar-ten wurde mittels farbiger Nadeln der Geburts-oder Wohnort der Opfer abgesteckt. So legten dieTäter die falschen Sterbedaten unterschiedlich fest. Die Trostbriefe waren alle nach demselben Schemaverfasst, es wurde lediglich der Name, die Todesur-sache und das Datum eingesetzt.

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Fragen / Arbeitsaufträge:

Wie wird die Verlegung von Theodor K. nach Grafeneck begründet?

Wann wurden die Angehörigen über die Verlegung informiert?An welchem Tag ist Theodor K. nach Angaben der Täter gestorben?

Mit welchen Lügen versuchten die Täter die Ermordung gegenüber den Verwandten ge-heim zu halten? (Vgl. hierzu auch die Kurzbiografie.)Überlege dir die Gründe, warum die Tötungen vor den Angehörigen vertuscht werdensollten.

Weshalb wurden Hinterbliebene dennoch misstrauisch?

Welcher Teil des Briefes sollte angeblich ein „Trost“ für die Angehörigen sein?

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C. Rassenlehre, Rassenhygiene und die Forderung der "Vernichtung lebensunwertenLebens"

M.13 Schriftquelle: Prof. Karl Binding/Prof. Alfred Hoche 1922

“Wenn wir die Zahl der in Deutschland zurzeit gleichzeitig vorhandenen, in Anstaltspflegebefindlichen Idioten zusammenrechnen, so kommen wir schätzungsweise etwa auf eineGesamtzahl von 20-30 000. Nehmen wir für den Einzelfall eine durchschnittliche Lebens-dauer von 50 Jahren an, so ist leicht zu ermessen, welches ungeheure Kapital in Form vonNahrungsmitteln, Kleidung und Heizung, dem Nationalvermögen für einen unprodukti-ven Zweck entzogen wird. Dabei ist hiermit noch keineswegs die wirkliche Belastung aus-gedrückt.

Die Anstalten, die der Idiotenpflege dienen, werden anderen Zwecken entzogen; soweit essich um Privatanstalten handelt, muß die Verzinsung berechnet werden; ein Pflegeperso-nal von vielen tausend Köpfen wird für diese gänzlich unfruchtbare Aufgabe festgelegtund fördernder Arbeit entzogen; es ist eine peinliche Vorstellung, daß ganze Generationenvon Pflegern neben diesen leeren Menschenhülsen dahinaltern, von denen nicht wenige 70Jahre und noch älter werden.

Die Frage, ob der für diese Kategorien von Ballastexistenzen notwendige Aufwand nachallen Richtungen hin gerechtfertigt sei, war in den verflossenen Zeiten des Wohlstands nichtdringend; jetzt ist es anders geworden, und wir müssen uns ernstlich mit ihr beschäftigen.Unsere Lage ist wie die der Teilnehmer an einer schwierigen Expedition, bei welcher diegrößtmögliche Leistungsfähigkeit aller die unerläßliche Voraussetzung für das Gelingender Unternehmung bedeutet, und bei der kein Platz ist für halbe, Viertels- und Achtels-kräfte. Unsere deutsche Aufgabe wird für lange Zeit sein: eine bis zum höchsten gesteigerteZusammenfassung aller Möglichkeiten, ein Freimachen jeder verfügbaren Leistungsfä-higkeit für fördernde Zwecke. Der Erfüllung dieser Aufgabe steht das moderne Bestrebenentgegen, möglichst auch die Schwächlinge aller Sorten zu erhalten, allen, auch den zwarnicht geistig Toten, aber doch ihrer Organisation nach minderwertigen Elementen Pflegeund Schutz angedeihen zu lassen - Bemühungen, die dadurch ihre besondere Tragweite er-halten, daß es bisher nicht möglich gewesen, auch nicht im Ernste versucht worden ist,diese Defektmenschen von der Fortpflanzung auszuschließen.”

Karl Binding/Alfred Hoche, Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form. 2. Auflage Leipzig 1922, S. 54f. (Erstauflage 1920).

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Themenbereiche: Politische Biologie inDeutschland: Eugenik, Rassenhygieneund "Euthanasie" - Teil I

Der im Januar 1940 einsetzende Mord an Anstalts-patienten besitzt eine lange Vorgeschichte. BereitsEnde des 19. Jahrhunderts entwickelten sich, aus-gehend von sozialdarwinistischen Vorstellungen,Ideen der Erbgesundheitspflege und der Eugenik,in Deutschland Rassenhygiene genannt. Zusätzlichbehauptete die Vererbungslehre für sogenannte"Minderwertige" eine deutlich höhere Fortpflan-zungsrate als für „Voll-" und „Hochwertige". Hierausentwickelten sich Forderungen, die Träger von an-geblich „erblicher Minderwertigkeit” an der Fort-pflanzung zu hindern. Dies sollte in erster Linieüber Zwangssterilisierungen geschehen, radikali-sierte sich stufenweise bis hin zu der Forderungnach der „Vernichtung lebensunwerten Lebens”.Das wichtigste argumentative Bindeglied dieses Ra-dikalisierungsprozesses von der Zwangssterilisation"minderwertigen Lebens" zur "Vernichtung lebens-unwerten Lebens" ist die Kosten-Nutzen-Frage. DemStaat und der Medizin wurde hierbei die Aufgabezugewiesen den "Erbstrom" des Volkes zu steuernund zu lenken. Neben erbbiologische und euge-nisch/rassenhygienische Begründungen, die Fort-pflanzung, bzw. deren Unterbindung zu steuern,traten volkswirtschaftliche, finanzielle und öko-

nomische Begründungen. Nach dem Ende des Er-sten Weltkriegs wurden diese Argumente in wei-ten Bevölkerungskreisen, den christlichen Kirchen,rechten aber auch linken politischen Kräften auf-genommen. Unter dem Eindruck von Kriegsnie-derlage, Reparationen, Inflation und (Welt-)Wirt-schaftskrise verstärkten sich diese Tendenzen. Dasmit Sicherheit am stärksten nachwirkende Doku-ment ist das Buch der beiden bekannten Professo-ren Karl Binding und Alfred Hoche, das erstmals1920 publiziert wurde. Binding war Jurist und Pro-fessor für Recht in Leipzig, Hoche Medizinprofes-sor in Freiburg im Breisgau. Sie beklagten denrassenbiologischen Niedergang Deutschlands unddie ungeheure Verschwendung nationaler Ressour-cen durch die "Anstaltspflege", also durch die Un-terbringung behinderter und psychisch erkrankterMenschen in Anstalten. Finanzen, Nahrungsmittel,Pflege- und medizinische Kräfte würden so füreinen ganz und gar "unproduktiven Zweck" einge-setzt und damit vergeudet. Gerade in politischenund ökonomischen Krisenzeiten, "in verflossenenZeiten des Wohlstands", sei dies nicht zu rechtferti-gen. Die Autoren fordern daher als Minimalforde-rung die Ausschließung der "Defektmenschen vonder Fortpflanzung" und noch weitergehend, so derTitel des Buchs "Die Freigabe der Vernichtung le-bensunwerten Lebens".

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Fragen / Arbeitsaufträge:

Wer sind die beiden Autoren, welche Berufe haben sie und in welchem Jahr erscheint ihrBuch erstmals?

Welche Begriffe benutzen die Autoren für Menschen in "Anstaltspflege", das heißt behin-derte und psychisch erkrankte Menschen in Einrichtungen?Wie beschreiben sie die Situation Deutschlands? Was lehnen die Autoren ab ("das moderne Bestreben") und was fordern sie?

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M.14 Bildquelle: Pseudowissenschaftliche Fortpflanzungs- und Degenerationstheorie

Ausstellungsplakat und Schulungsmaterial des Reichsnährstandes 1934

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Themenbereiche: Politische Biologie inDeutschland: Eugenik, Rassenhygieneund "Euthanasie" - Teil II

Voraussetzung für die NS-"Euthanasie"-Verbrechenwar neben den Rahmenbedingungen von Diktaturund Krieg die Tatsache, dass das Paradigma von Ras-senhygiene und Nützlichkeitsdenken (utilitaristi-sches Kosten-Nutzen-Denken) in die Gesellschafteingedrungen war und bei politischen und kirchli-chen Entscheidungsträgern weitgehende Akzep-tanz gefunden hatte. Gedanklicher Bezugspunktdieser "Gemeinschaftsideologien" war stets dasVolk, das Volksganze oder die Volksgemeinschaft.Rassenlehre und Rassenhygiene waren beide bio-logistische und damit "naturwissenschaftliche" Kon-zepte, um Gruppen von Menschen einzuteilen undzu klassifizieren. Sie erhoben zur damaligen Zeitden Anspruch auf Wissenschaftlichkeit und genos-sen diesen auch. Aus diesem Grund ist der heutein den Medien häufig verwendete Begriff des "Ras-senwahns" nur bedingt erhellend. Er verstellt denBlick auf die pseudowissenschaftlichen Aspektevon Rassenhygiene und Eugenik. Es entstanden Uni-versitätslehrstühle, Professuren und wissenschaft-liche Fachzeitschriften. Die Vertreter verstandenihre Lehren als anwendungsbezogene Wissenschaft.Sie beanspruchten im Sinne einer Leitwissenschaft

nicht nur die Deutungsmacht über die Gesellschaft,sondern erhoben auch einen Gestaltungs- und Len-kungsanspruch. Die Fortpflanzung sollte nicht län-ger dem Einzelnen überlassen bleiben, sonderndurch einen staatlich-medizinischen Komplex ge-steuert werden. Massiv propagiert wurde diesesGedankengut seit seiner Entstehung Ende des 19.Jahrhunderts, also lange Zeit vor der Entstehung derNS-Ideologie, der NS-Bewegung und dem NS-Staat.Die in den 1920er Jahren entstehende NS-Bewe-gung übernahm das rassenhygienische Gedanken-gut. Das NS-Ausstellungsplakat legitimiert, erläutertund verteidigt das 1933 beschlossene und am 1. Ja-nuar 1934 in Kraft getretene Gesetz zur Verhütungerbkranken Nachwuchses. 350.000 Männer undFrauen wurden auf Grund dieses Gesetzes in derNS-Zeit zwangsweise sterilisiert. Hinter dem Plakatsteht die Vorstellung, dass der im 19. Jahrhundertentstandene Sozialstaat die naturgesetzlichen Re-geln der Vererbung und "Auslese" außer Kraft ge-setzt habe. Die Fortpflanzungsrate der angeblich"Minderwertigen", die im Schaubild 50 Prozent dergesamten Bevölkerung ausmachen, wird als dop-pelt so hoch angenommen, wie die der "Höher-wertigen". Unvermeidlich drohe dem Volk somitder "Volkstod", da sich von Generation zu Genera-tion der Anteil der Minderwertigen vergrößere.

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Fragen / Arbeitsaufträge:

Beschreibe Text - und Bildelemente.Wie werden die „Minderwertigen“ dargestellt? Weshalb nimmt ihre Zahl dabei kontinuierlich zu und die der „Höherwertigen“ ab?

Warum wurden die von den beiden Professoren Binding und Hoche schon 1920 geforder-ten Schritte von Zwangssterilisation und der "Freigabe der Vernichtung lebensunwertenLebens" von den politischen Kräften der Weimarer Demokratie wohl mehrheitlichabgelehnt?

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M.15 Bildquelle: "Hier trägst Du mit": "Erbkranke" als biologische und ökonomische Last

Plakat einer Ausstellung des Reichnährstandes: "Hier trägst Du mit. Ein Erbkranker kostet bis zur Erreichung des 60. Lebensjahres im Durch-schnitt 50.000 RM." In: Volk und Rasse, Illustrierte Monatszeitschrift für deutsches Volkstum 10 (1936), S. 335

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Themenbereiche: Politische Biologie inDeutschland: Eugenik, Rassenhygieneund "Euthanasie" - III

Die Lehren von Eugenik und Rassenhygiene be-stimmten seit 1900 immer stärker das Menschenbild.Das christlich-humanistische Verständnis von der„Gottesebenbildlichkeit“ des Menschen und seinerSchutzwürdigkeit verlor immer mehr an Bedeutung.Das Individuum wurde „bewertet“ und das Lebens-recht an Nützlichkeitskriterien gekoppelt. Im Regel-fall waren dies die Produktivität und dieArbeitsfähigkeit. In der Zeit des Ersten Weltkriegesspielte zusätzlich die Fähigkeit zum Militärdienst einegroße Rolle. Der „Wert“ und der Nutzen des Einzel-nen wurden definiert über den angeblichen Nutzenden das Individuum für die Gesellschaft darstellte. Wodieser Nutzen nicht mehr erkannt wurde, endete derLebensschutz und das Lebensrecht. Die extremsteKonsequenz war die Forderung zur „Vernichtung le-bensunwerten Lebens“. Dies wurde von den Befür-wortern als eine staatliche Aufgabe verstanden undeine gesetzliche Regelung gefordert (Vgl. M.13 Bin-ding/Hoche). Das Ausstellungsplakat „Hier trägst Du mit“ spricht

den Betrachter direkt an. Es zeigt behinderte undkranke Menschen als Last und als Belastung für dieGesellschaft, im Nationalsozialismus Volksgemein-schaft genannt. Sie werden getragen von den ge-sunden und arbeitenden und Steuern zahlendenMitgliedern der Gesellschaft. Der Text verstärkt dieWirkung des Bildes. Er beschreibt diese „Ballastexi-stenzen“ als im doppelten Sinne schädlich: als bio-logische Last und gleichzeitig als ökonomisch-finanzielle Last in dem die Kosten für einen „Erb-kranken“ mir 50.000 Reichsmark bis zur Errei-chung seines 60. Lebensjahres beziffert werden.Der Gebäudekomplex im Hintergrund deutet dieFolgekosten an, die die Anstaltspflege mit sichbringt: medizinische Versorgung, Pflege, Ernährung,der Bau und Unterhalt großer Einrichtungen. DerBetrachter soll dies als Ressourcenvergeudung in-terpretieren. Das Individuum sollte einzig unterdem Kriterium seiner Verwertbarkeit für das Volks-ganze gesehen werden. Allein die Leistungsfähigkeitfür die Volksgemeinschaft wurde zum Maßstab für„Wert" und „Unwert" des Lebens. Auffallend ist dieZurückhaltung in der Darstellung von Lösungsan-sätzen.

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Fragen / Arbeitsaufträge:

Beschreibe Text und Bildelemente. Was fällt auf?

Wie werden die als Last dargestellten Personen gezeichnet? Wofür steht der von der Lastgebeugte Mann?

Wofür stehen die Gebäude im Hintergrund?

Was soll das Bild beim Betrachter hervorrufen?

Warum bietet das Bild keine Lösung für die angeblichen Probleme?

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D. Reaktionen - Beendigung der zentralen "Euthanasie" Morde 1940/41Der Mord an den europäischen Juden ("Holocaust")

M.16 Schriftquellen:Angehörige zwischen Zustimmung, Gleichgültigkeit und Protest

„Da wir wussten, dass in Württemberg schon weithin bekannt war, dass die Kranken um-gebracht wurden, benachrichtigte ich die Angehörigen der 150 auf der ersten Transport-liste angeforderten von der bevorstehenden Verlegung ... Die Wirkung dieses Schreibens warerschütternd und niederschmetternd zugleich. Es kamen viele Angehörige, die unterTränen ... Abschied von den Ihren nahmen. Aber nur wenige brachten den Mut auf, ihreKranken nach Hause zu nehmen und so zu retten, auch wo deren Zustand und die häus-lichen Verhältnisse es bei einigem guten Willen gestattet hätten. Noch weniger ließen sichvon uns bewegen, in das Württ. Innenministerium zu gehen und dort ihren Protest anzu-melden.“

Ludwig Schlaich, Leiter der Einrichtung Stetten i.R. 1947, zit. nach Martin Kalusche, 1997, S. 300-305

M.17 Schriftquellen:Angehörige zwischen Zustimmung, Gleichgültigkeit und Protest

„Christian ist nun doch dem Schicksal der Zeit, welchem wir ihn zu entreißen versuchten,zum Opfer gefallen.“

„Nachdem das erschütternde Geschick, das über meinen Sohn Hermann gekommen ist,seinen Abschluss gefunden .“

„Ich möchte hier Ihnen nicht verhehlen, dass ich über die ministerielle Anordnung gemäßWeisung des R.V.Kommissars wohl im Bilde bin.“

„Laut Benachrichtigung wird Hilde von Grafeneck in eine andere Anstalt weiter trans-portiert. Wozu dies alles?“

„Nach Bernburg geschleppt, wo er am 26. November gestorben ist.“

„Über die gewaltsame Wegnahme meines Sohnes Richard aus seiner Heimat Mariabergfinde ich keine Worte.“„Maria kann doch noch schaffen.“

„Ihre Mitteilung vom 1. Oktober, wonach mein Bruder Walter in eine andere Anstalt über-führt worden ist, überrascht mich schmerzlich.“

„Denn sie werden glauben, dass es für die Eltern nichts leichtes ist, in nächster Zeit eineNachricht in der Form einer Todesanzeige erfahren zu müssen.“

„So etwas hat man noch nie erlebt, solange die Welt steht.“

Briefauszüge von Eltern und Geschwistern an die Anstalt Mariaberg nach dem Erhalt der Todesnachricht (Archiv Mariaberg)

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Themenbereiche: Das Bekanntwerdender „Euthanasie“-Morde – Reaktionenvon Angehörigen

Schon wenige Wochen nach Beginn der „Euthana-sie“-Morde in Grafeneck am 18. Januar 1940 warendie Verbrechen nicht mehr geheim. Große Teile derBevölkerung, die beiden Kirchen, Diakonie und Ca-ritas als Träger von Einrichtungen, Mitarbeiter der-selben, Angehörige und ebenso die Opfer selbsterfuhren von den Verbrechen. Nur wenige Anstalts-leiter und Direktoren brachten den Mut auf, sichden von den staatlichen Ministerien angeordneten„Verlegungen“ zu wiedersetzen. Manche versteck-ten ihre Patienten und Pfleglinge, entließen sie indie Familien oder forderten diese auf, ihre Angehö-rigen abzuholen. Sie vermittelten sie auf Arbeits-plätze in Industrie und Landwirtschaft, oderübertrieben deren Arbeitsleistung, um ihren „Le-benswert“ zu behaupten. Jedoch waren diese Be-mühungen im Regelfall vergeblich. Die wenigenEinrichtungen, die 1940 die Deportationen nachGrafeneck verzögern konnten, wurden 1941 erfasst

und ihre Heimbewohner nach Hadamar in Hessen deportiert und dort ermordet. Reale Protestversu-che bildeten den Kern für Widerstandslegenden, dienach dem Krieg aufkamen und sich bis heute hart-näckig halten. Nahezu jede der 48 Einrichtungen,aus denen Menschen nach Grafeneck gebrachtwurden, reklamierte nach 1945 für sich, Leben ge-rettet zu haben. Ludwig Schlaich, Leiter der Ein-richtung Stetten im Remstal berichtet (M.16), wieer Angehörige informierte, um sie zu bewegen ihreVerwandten heim zu holen. Er beklagte nach demKrieg 1947, wie wenige hierzu den Mut aufgebrachthatten und dass noch weniger den Weg des Prote-stes gegangen waren.Die Briefauszüge (M.17) bringen Verzweiflung, Wut,Schmerz, Leid und Gleichgültigkeit zum Ausdruck.Die Briefe an die Einrichtung Mariaberg sind eineReaktion auf die Todesnachrichten an die Familien.Diese stammten meist, aber nicht immer, von der„Landespflegeanstalt Grafeneck“. Sie dokumentie-ren das weitgehende Wissen der Verwandten umdie Vorgänge.

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Fragen / Arbeitsaufträge:

Beschreibe das Verhalten von Verwandten und Eltern der Heimbewohner als sie von derEinrichtung aufgefordert werden, diese nach Hause zu holen?

Was steht in den Briefen der Verwandten als sie die Todesnachricht erhalten haben?

Warum schreiben die Verwandten nach Mariaberg und nicht direkt nach Grafeneck?

Was lassen die Briefe vermuten?Lassen sich Rückschlüsse auf die Einstellung der Bevölkerung allgemein ziehen?

In welchem Satz gipfeln die Aussagen der Verwandten?

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M.18 Schriftquelle: Bischof der Evangelischen Landeskirche in Württemberg

“Sehr geehrter Herr Reichsminister!... Durch zahlreiche Anfragen aus Stadt und Land und aus den verschiedensten Kreisen ver-anlaßt, halte ich es für meine Pflicht, die Reichsregierung darauf aufmerksam zu machen,daß in unserem kleinen Lande diese Sache ganz großes Aufsehen erregt. Zunächst einmaldeshalb, weil sich eine der in Betracht kommenden Anstalten, das Schloß Grafeneck, inwelches die Pfleglinge eingeliefert werden und wo ein Krematorium und ein Standesamterrichtet worden ist, in Württemberg befindet. Grafeneck ist Eigentum einer Anstalt der In-neren Mission, der Samariterstiftung, die an verschiedenen Orten körperlich und geistigBehinderte seit vielen Jahren aufnimmt und verpflegt. Sie wurde bei Kriegsausbruch aufWeisung des württ. Innenministeriums in das Kloster Reute in Oberschwaben verlegt; Gra-feneck wurde für die Aufnahme der aus anderen Anstalten herbeigeschafften Pfleglingebestimmt. Das Schloß liegt auf einer Anhöhe der Schwäbischen Alb inmitten eines spärlichbewohnten Waldgebiets. Um so aufmerksamer verfolgt die Bevölkerung der Umgegend dieVorgänge, die sich dort abspielen. Die Krankentransporte, die auf den kleinen BahnhofMarbach a. L. ausgeladen wurden, die Autobusse mit undurchsichtigen Fenstern, die dieKranken von entfernteren Bahnhöfen oder unmittelbar von den Anstalten bringen, deraus dem Krematorium aufsteigende Rauch, der auch auf größere Entfernungen wahrge-nommen werden kann, - dies alles erregt die Gemüter um so mehr, als niemand Zutritt zudem Schloß bekommt... Es ist gewiß ein großer Schmerz für Eltern, wenn unter ihren Kin-dern ein nicht vollsinniges ist; aber sie werden, solange Gott dieses Kind am Leben läßt, esihre ganze Liebe spüren lassen; eine gegenteilige Handlungsweise, die natürlich auch vor-kommt, wird durch das Volksempfinden verurteilt. ... Wird nun aber eine so ernste Sachewie die Fürsorge für hunderttausende leidende und pflegebedürftige Volksgenossen ledig-lich vom Gesichtspunkt des augenblicklichen Nutzens aus behandelt und im Sinne einerbrutalen Ausrottung dieser Volksgenossen entschieden, dann ist damit der Schlußstrichunter eine verhängnisvolle Entwicklung gezogen und dem Christentum als einer das in-dividuelle und das Gemeinschaftsleben des deutschen Volkes bestimmenden Lebensmachtendgültig der Abschied gegeben. ... Der etwaige Nutzen dieser Maßregel wird je länger jemehr aufgewogen werden durch den Schaden, den sie stiften werden. Wenn die Jugendsieht, daß dem Staat das Leben nicht mehr heilig ist. Welche Folgerungen wird sie darausfür das Privatleben ziehen? Kann nicht jedes Rohheitsverbrechen damit begründet werden,daß für den Betreffenden die Beseitigung eines anderen von Nutzen war? Auf dieser schie-fen Ebene gibt es kein Halten mehr. ... Entweder erkennt auch der nationalsozialistischeStaat die Grenzen an, die ihm von Gott gesetzt sind, oder er begünstigt einen Sittenverfall,der auch den Verfall des Staates nach sich ziehen würde. Wenn ich trotzdem diese Darle-gungen gemacht habe, so tat ich es in erster Linie deshalb, weil die Angenörigen der be-troffenen Volksgenossen von der Leitung einer Kirche einen solchen Schritt erwarten. ...Dixi et salvavi animam meam [Das sage ich zur Rettung meiner Seele! Hesekiel 3.19]!" HeilHitler! Ihr ergebener (gez.) D. Wurm”

Schreiben von Dr. Theophil Wurm, Bischof der Evangelischen Landeskirche in Württemberg vom 19. Juli 1940, (Bundesarchiv Berlin R 22, 5021, 81 ff.)

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Themenbereiche: Protest des Evangeli-schen Landesbischofs in Württembergvom Juli 1940

Das Schreiben des Württembergischen Landesbi-schofs Dr. Theophil Wurm zeigt, wie detailliert dasWissen der Kirche um Grafeneck war. Erste Hin-weise waren bereits ab Februar 1940 eingegangen,als die ersten Heimbewohner ("Pfleglinge") einerevangelisch diakonischen Einrichtung nach Gra-feneck deportiert und ermordet worden waren.Grafeneck selbst gehörte bis zu seiner Beschlag-nahmung im Oktober 1939 ("für Zwecke desReichs") zur Samariterstiftung Stuttgart. Die Sama-riterstiftung war Mitglied des Landesverbands derInneren Mission in Württemberg, Vorläufer des heu-tigen Diakonischen Werks und eng in evangelisch-kirchliche Strukturen eingebunden. Aus diesenGründen war auch die Diakonie sehr früh schonüber die Morde in Grafeneck informiert. Landesbi-schof Wurm verfasste eine Vielzahl von Protest-schreiben gegen die NS-"Euthanasie"-Verbrechen.Sie waren an Reichsstellen, wie den Reichsinnen-minister Wilhelm Frick oder den Reichskirchenmi-nister gerichtet, aber auch an Staat und Partei aufwürttembergischer Landesebene, wie den Reichs-verteidigungskommissar und Gauleiter WilhelmMurr. Unbeantwortet blieb eine Denkschrift an das

Oberkommando der Wehrmacht (OKW) vomHerbst 1940. Landesbischof Wurm benennt in sei-nem Schreiben an Reichsinnenminister Frick klarund unmissverständlich die Verbrechen. Er sprichtvon einer "brutalen Ausrottung" und nicht von Gna-dentod oder "Euthanasie". Er bestreitet den Täterndas Motiv des Mitleids und der Leidverminderungund nennt deren wahre Motive: ein radikales Ko-sten-Nutzen-Denken, das das Existenzrecht des Ein-zelnen bestreitet. Wurm spricht in theologischerSprache, von der christlichen Lebensheiligkeit, diedurch den Staat verletzt werde. Der Bruch diesesgöttlichen Gebots bedeutet eine Grenzüberschrei-tung, einen "Zivilisationsbruch", der unweigerlichden Verfall des Staates nach sich ziehen muss("Schiefe Ebene"). Im Unterschied zur Protestpre-digt des katholischen Bischofs von Münster, Kardi-nal von Galen, zielte das Schreiben Bischof Wurmsnicht auf die Öffentlichkeit. Dieses wurde voneinem Teil der evangelischen Pfarrer in Württem-berg bereits 1940 kritisiert. Die Vielzahl der inSchriftform geäußerten Proteste, zeigte den Täternin Berlin, Stuttgart und Grafeneck das Scheitern derGeheimhaltung einerseits und den Unwillen vonTeilen der Kirche und Bevölkerung andererseits.Für das Ende der Morde in Grafeneck im Dezember1940 spielen die Proteste jedoch keine entschei-dende Rolle.

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Fragen / Arbeitsaufträge:

Was weiß der Landesbischof über Grafeneck und warum ist er gegen die "Ausrottungdieser Volksgenossen" durch den Staat?

Welches Prinzip wird durch dieses Staatshandeln verletzt und welche Konsequenz hatdieses für den Staat selbst?

Welchen Grund sieht er für die Ermordung behinderter und kranker Menschen?

Welche Folgen hat es für das Christentum in Deutschland?Warum unterzeichnet Bischof Wurm mit "Heil Hitler"?Was will er mit dem lateinischen Zusatz aussagen?

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M.19 Schriftquelle: Predigt des katholischen Bischofs von Münster Clemens August Grafvon Galen vom 3. August 1941

“Ich hatte bereits am 26. Juli bei der Provinzialverwaltung der Provinz Westfalen, der dieAnstalten unterstehen, der die Kranken zur Pflege und Heilung anvertraut sind, schriftlichernstesten Einspruch erhoben. Es hat nichts genutzt. Und aus der Heil-und PflegeanstaltWarstein sind, wie ich höre, bereits 800 Personen abtransportiert. So müssen wir damitrechnen, daß die armen wehrlosen Kranken über kurz oder lang umgebracht werden.Warum? Nicht weil sie ein todeswürdiges Verbrechen begangen haben, nicht etwa, weil sieihren Wärter oder Pfleger angegriffen haben, so daß diesem nichts anderes übrig blieb, alsdaß er zur Erhaltung des eigenen Lebens in gerechter Notwehr dem Angreifer mit Gewaltentgegentrat. Das sind Fälle, in denen neben der Tötung des bewaffneten Landesfeindesim gerechten Krieg Gewaltanwendung bis zur Tötung erlaubt und nicht selten geboten ist.Nein, nicht aus solchen Gründen müssen jene unglücklichen Kranken sterben, sonderndarum, weil sie nach dem Urteil irgendeines Amtes, nach dem Gutachten irgendeiner Kom-mission „lebensunwert" geworden sind, weil sie nach diesem Gutachten zu den „unpro-duktiven Volksgenossen" gehören. Man urteilt: sie können nicht mehr Güter produzieren,sie sind wie eine alte Maschine, die nicht mehr läuft, sie sind wie ein altes Pferd, das un-heilbar lahm geworden ist, sie sind wie eine Kuh, die nicht mehr Milch gibt. ... Nein, hierhandelt es sich um Menschen, unsere Mitmenschen, unsere Brüder und Schwestern. ArmeMenschen, kranke Menschen, unproduktive Menschen meinetwegen! Aber haben sie damitdas Recht auf das Leben verwirkt? Hast du, habe ich nur so lange das Recht zu leben, so-lange wir produktiv sind, solange wir von anderen als produktiv anerkannt werden? Wennman den Grundsatz aufstellt und anwendet, daß man den „unproduktiven" Mitmenschentöten darf, dann wehe uns allen, wenn wir alt und altersschwach werden! Wenn man dieunproduktiven Menschen töten darf, dann wehe den Invaliden, die im Produktionsprozeßihre Kraft, ihre gesunden Knochen eingesetzt, geopfert und eingebüßt haben! Wenn mandie unproduktiven Mitmenschen gewaltsam beseitigen darf, dann wehe unseren bravenSoldaten, die als Schwerkriegsverletzte, als Krüppel, als Invaliden in die Heimat zurück-kehren! Wenn einmal zugegeben wird, daß Menschen das Recht haben, „unproduktive"Mitmenschen zu töten - und wenn es jetzt zunächst auch nur arme wehrlose Geisteskranketrifft -, dann ist grundsätzlich der Mord an allen unproduktiven Menschen, also an den un-heilbar Kranken, den Invaliden der Arbeit und des Krieges, dann ist der Mord an uns allen,wenn wir alt und altersschwach und damit unproduktiv werden, freigegeben. Dannbraucht nur irgendein Geheimerlaß anzuordnen, daß das bei Geisteskranken erprobteVerfahren auf andere „Unproduktive" auszudehnen ist, daß es auch bei den unheilbarLungenkranken, bei den Altersschwachen, bei den Altersinvaliden, bei den schwerkriegs-verletzten Soldaten anzuwenden ist. Dann ist keiner von uns seines Lebens mehr sicher. Ir-gendeine Kommission kann ihn auf die Liste der „Unproduktiven" setzen, die nach ihremUrteil „lebensunwert" geworden sind. Und keine Polizei wird ihn schützen und kein Gerichtseine Ermordung ahnden und den Mörder der verdienten Strafe übergeben. ... Wehe denMenschen, wehe unserem deutschen Volke, wenn das hl. Gottesgebot: „Du sollst nicht töten",das der Herr unter Donner und Blitz auf Sinai verkündet hat, das Gott, unser Schöpfer, vonAnfang an in das Gewissen der Menschen geschrieben hat, nicht nur übertreten wird, son-dern wenn diese Übertretung sogar geduldet und ungestraft ausgeübt wird”.

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Themenbereiche: Predigt des katholi-schen Bischofs von Münster, KardinalClemens Graf von Galen, vom 3. August1941

Der Bischof von Münster, Kardinal von Galen,wählte, nachdem Briefe und Eingaben an Staat undPartei ohne Ergebnis geblieben waren, eine öffent-liche Predigt als Form des Widerstandes gegen dieVerbrechen an behinderten und kranken Men-schen. Seine Predigt wird von den Zuhörern mit-geschrieben und verbreitet sich innerhalb wenigerTage in Deutschland. Der Inhalt der Predigt unter-gräbt die Politik des NS-Staates und wird zu einemwichtigen Grund für das Ende der zentralen "Eu-thanasie"-Morde im August 1941, der von der Ge-schichtswissenschaft so genannten "Aktion T4".Seine Predigt markiert den Höhepunkt des kirchli-chen Protestes gegen die "Euthanasie". Der Begriffdes "Widerstandes" scheint hier angemessen. Aberauch der katholische Bischof von Münster ist, wieder evangelische Landesbischof von Württemberg,Theophil Wurm, kein prinzipieller Gegner des NS-Staates. Kritisiert werden Auswüchse und Miss-stände, die die Legitimität des Staates aushebeln und deshalb bekämpft werden müssen. Bischof von

Galen spricht in seiner Predigt ganz deutlich vonMord, er spricht davon, dass Menschen umgebrachtwerden, davon, dass es sich um ein Verbrechen han-delt. Die Tötung von Menschen, so führt er aus, seilediglich in Ausnahmesituationen, wie in Kriegs-handlungen oder Notwehrfällen zulässig. Er be-nennt auch klar die Motive der Täter. Es sind die"unproduktiven Volksgenossen" denen die Ermor-dung droht. Über "Lebenswert" und "Lebensun-wert", so der Bischof, entscheidet die Frage derProduktivität bzw. Unproduktivität. Er spricht beiden Opfern von unseren Mitmenschen, von "Brü-dern und Schwestern". Er benennt die tödlicheKonsequenz, das Lebensrecht an die Eigenschaftmenschlicher Produktivität und Arbeitskraft zuknüpfen. Was geschieht mit Invaliden, Kriegsver-sehrten, alten Menschen? Ist deren Leben ebenfallsbedroht? Der Bischof von Münster argumentiert inseiner Predigt somit auf mehreren Ebenen. Zumeinen bestreitet er die grundsätzliche Legitimitätund Legalität der "Euthanasie"-Morde, die gegenstaatlich-weltliche Gesetze und göttliche Geboteverstoßen, zum anderen reagiert er auf die mögli-che "Entgrenzung" und Radikalisierungstendenz dieder Rassenhygiene und dem "Euthanasie"-Gedan-ken inne wohnten.

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Fragen / Arbeitsaufträge:

Wann fand die Predigt des katholischen Bischofs von Münster statt?Wo liegt der Unterschied zu den Protestbriefen von Bischof Theophil Wurm (Vgl. M18)?

Wie heißt das Verbot das der NS-Staat verletzt, wie das religiöse Gebot?

Welches (Grund-)Recht, das jedes Individuum besitzt, wird vom NS-Staat missachtet?

Welche Entwicklung befürchtet Bischof Galen?

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M.20 Karte/FotoDas Ende der Morde von Grafeneck - Hadamar - Auschwitz

Karte der NS-"Euthanasie" - Orte (1940-1941) und der Vernichtungslager des "Holocaust" (1941-1945)

Auschwitz II – Birkenau – Das Lagertor

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Themenbereiche: Der Mord an krankenund behinderten Menschen und dieErmordung de europäischen Juden:NS-"Euthanasie" und "Holocaust"

Die Landkarte zeigt die sechs Vernichtungszentrender zentralen "Euthanasie"-Aktion T4, in denen - aus-gehend von Grafeneck - 1940/41 über 70.000 gei-stig behinderte und psychisch erkrankte Menschenaus Heil- und Pflegeeinrichtungen ermordet wur-den. Alle 6 Vernichtungsstätten waren mit Gaskam-mern ausgerüstet. Die beiden ersten Zentren,Grafeneck und Brandenburg, wurden Ende 1940 ge-schlossen, die Täter nach Hadamar und Bernburgan der Saale versetzt. Dieser ersten "zentrale Phase"des Mords an kranken und behinderten Menschenfolgte eine zweite Phase, die sich zeitlich bis zumKriegsende erstreckt, die so genannte "dezentralePhase" der NS-"Euthanasie". Charakteristisch für sieist nicht länger der systematische Mord in den Ver-nichtungszentren, sondern das Massensterben vonPatienten und Patientinnen direkt in den vielenhundert Heil- und Pflegeeinrichtungen in Deutsch-land. Die Opfer werden hierbei durch systemati-sche Unterernährung oder Medikamentengabenermordet. Diese Praxis endete erst durch den Ein-marsch der alliierten Armeen und der NiederlageDeutschlands 1945. Die Karte zeigt aber auch dieVernichtungslager des Ostens, die für den Mord anden europäischen Juden, den "Holocaust", stehen.Zwischen diesen beiden großen Verbrechenskom-plexen gibt es eine Vielzahl von Verbindungslinien.Der Mord an den europäischen Juden begann imSommer 1941 durch Massenerschießungen aufdem Gebiet der damaligen Sowjetunion. Um dieMorde effizienter zu gestalten und die Täter der Er-schießungskommandos ("Einsatzgruppen") psy-chisch zu entlasten, wurden die ersten Vernich-tungslager gebaut. Hierfür wurden die "Vernich-tungsspezialisten" der NS-"Euthanasie" eingesetzt,sowohl was den Bau und die Konstruktion der er-sten Lager angeht, als auch was leitende Funktio-

nen betrifft. Kommandant des VernichtungslagersBelzec wurde der erste Leiter des Grafenecker Stan-desamts, Polizeikommissar Christian Wirth vom Po-lizeipräsidium Stuttgart. Später stieg er zumGeneralinspekteur der "Aktion Reinhard" auf. In die-ser Funktion unterstehen ihm die Vernichtungsla-ger, Belzec, Treblinka und Sobibor. Kurt Franz,ebenfalls 1940 in Grafeneck eingesetzt, wird letzterKommandant von Treblinka. Dr. Horst Schumann,der ärztliche Direktor von Grafeneck, steigt auf zumLagerarzt von Auschwitz-Birkenau. Er steht dort ander Rampe und macht medizinische Versuche anMenschen. Insgesamt werden knapp 25 Prozent al-lein der Grafeneck-Täter - über 20 Mann - in denVernichtungszentren des "Holocaust" eingesetzt. Inder Rückschau lässt sich somit der Mord an psy-chisch erkrankten und geistig behinderten Men-schen nicht als "Probelauf" für den "Holocaust"beschreiben, sondern als einen in sich eigenständi-gen Verbrechenskomplex des NS-Staates auf demeine Vielzahl der späteren "Holocaust"-Täter die er-sten Erfahrungen mit "industrialisiertem Massen-mord" machten und diese dann transferierten.Vergleicht man den biologistischen pseudowissen-schaftlichen Zusammenhang zwischen diesen "ar-beitsteiligen Großverbrechen” des NS-Staates, sogibt es auch dort Verbindungslinien. Beiden Opfer-gruppen wurden aus Sicht der Täter eine biologi-sche Minderwertigkeit zugesprochen. In dieserHinsicht weisen "Rassenhygiene" und "Rassenanti-semitismus" weitgehende Übereinstimmungen auf.Die Selektion beim Mord an kranken und behin-derten Menschen wurde aber maßgeblich von öko-nomischen und finanziellen Kosten-Nutzen-Über-legungen bestimmt. Beim Mord an den Juden ent-schied allein die Zugehörigkeit zu einer angeblichminderwertigen Rasse. Für die Opfer spielten dieseÜberlegungen keine Rolle. Sie erklären aber die un-terschiedliche Ausprägung der Verbrechen.

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Fragen / Arbeitsaufträge:

Was man versteht man unter "zentraler", was unter "dezentraler NS-Euthanasie"?

Was verbindet die Großverbrechen des NS-Staates "Euthanasie" und "Holocaust"?

Warum war der Mord an kranken und behinderten Menschen kein Probelauf für denHolocaust?

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Nach 1945 entwickelten sich unterschiedliche Kon-zepte oder Formen der Erinnerung. Zu den empathi-schen Konzepten, die eine "Begegnung mit den Ge-fühlen" ermöglichen, zählt der seit 1979 alljährlich imOktober stattfindende Gottesdienst sowie die Gedenk-stätte Grafeneck als sakraler Ort. Die 1990 erbaute Ge-denkstätte wurde als eine offene Kapelle geschaffen.Der Leitgedanke hierbei lautete: „Der Erinnerung einenOrt geben“. 1998 wurde auch ein Gedenk- und Na-mensbuch angebracht: „Den Opfern einen Namengeben“. Es nennt über 9.000 Namen.Weitere "Konzepte“ sind der Alphabet-Garten sowie dasKunstprojekt des Jahres 2003. Seit 2005 gibt es das Do-kumentationszentrum. Es ergänzt die empathisch-reli-giösen Konzepte durch kognitive Formen der Erinne-rung.

Funktionen und AufgabenDie Gedenkstätte Grafeneck ist heute in erster Linie Er-innerungs- und Mahnstätte, ein Ort individueller Trauerund kollektiven Gedenkens. Sie versteht sich auch alsDokumentations- und Forschungsstätte. Dies geschiehtdurch Veröffentlichungen, Vorträge, Lesungen, durcheine Wanderausstellung sowie durch das 2005 geschaf-fene Dokumentationszentrum. Dessen Kern bildet eineDauerausstellung, die umfassende Möglichkeiten wis-senschaftlichen und pädagogischen Arbeitens mit Be-suchergruppen bietet. Aber auch der Einzelbesucherfindet vertiefte Informationen und kann sich mit derGeschichte des Ortes und den nationalsozialistischen„Euthanasie“-Verbrechen auseinandersetzen.Grafeneck, heute Gedenkstätte und Behindertenein-richtung zugleich, unterstreicht die Bedeutung von De-mokratie, Menschenwürde und Menschenrechten.Diese Perspektive bildet eine Schnittstelle zwischen Er-innerung, historisch-politischer Bildung, Wissenschaftund Begegnung. Die Gedenkstätte erfüllt auch huma-nitäre Aufgaben als Auskunfts- und Informationsstellefür Angehörige und Nachfahren der Opfer, für Städteund Gemeinden ebenso wie für Gerichte in Sachen Ent-schädigungen und Nachlässe.

Grafeneck als Bildungsort - Besucher undBesuchergruppenSeit dem Bestehen der Gedenkstätte kommen Besucheraus allen Altersgruppen nach Grafeneck. Es waren undsind Erwachsene, junge Erwachsene, Jugendliche undSchüler, darunter traditionell viele Konfirmanden- undFirmgruppen. Die Altersgruppe der 13- bis 15jährigenstellt gleichzeitig die jüngsten Besucher. Das andereEnde des Altersspektrums stellen naturgemäß die Se-nioren. Ihr Anteil, auch was die Zahl der Gruppen an-geht, hat in den letzten 15 Jahren deutlichzugenommen. Die Mehrheit der Besuchergruppen stel-len Schüler, Jugendliche und junge Erwachsene.

60 % sind Schulklassen, 12 % Pflegeschüler und -perso-nal, 8 % Zivildienstleistende und Teilnehmende am FSJ.

Grafeneck ist eine Stätte der historischen und politi-schen Bildung. Die Aufgaben sind somit auch in der Zu-kunft nicht nur die Information über ein historischesEreignis, sondern im Sinne einer kritischen Bildungs-aufgabe auch die Auseinandersetzung mit Themen wieder Bioethik- und der neuen „Euthanasie“-Debatte, aberauch mit politischem Extremismus, Rassismus, Antise-mitismus und Fremdenfeindlichkeit.

Bildungsangebote der GedenkstätteGrafeneckInterne Angebote an der Gedenkstätte:

Die sinnvolle zeitliche Untergrenze eines Besuches liegtbei ca. 1,5 Stunden, da sich das Gesamtgelände von Gra-feneck – vom Schloss über Dokumentationszentrumbis zur Gedenkstätte – über einen halben Kilometer er-streckt.

1. Kurzseminar mit anschließendem Rundgang (Dauer: ca. 1,5 bis2 Stunden)

• Seminarteil im Schloss

• Gang über Gelände und Schlossterrasse

• Dokumentationszentrum

• Gedenkstätte mit Gedenkbuch und Alphabet-Garten

2. Seminar mit anschließendem Rundgang (Dauer: ca. 2,5 bis3 Stunden)

1., aber mit der Möglichkeit zur Gruppenarbeit und Präsentation

• Quellenarbeit mit Dokumenten zu Rassenhygiene und NS-Propaganda,

• Täter-und Opferbiografien, Protest und Widerstand

• Selbständige Erkundung des Dokumentationszentrums

• Selbständige Erkundung der Gedenkstätte

3. Workshop (Tagesseminar: Vor- und Nachmittag)Freie oder geleitete Angebote und Vertiefung mit Quellenarbeit und

Filmen zu den Schwerpunkten:

• »Rassenideologie«, »Rassenhygiene/Eugenik« und Propaganda

• Täter-Opfer-Zuschauer, Grafeneck und Auschwitz

• »Euthanasie«-Verbrechen und Erinnerung: Der Umgang mit der Ge-

schichte nach 1945 und »Geschichte als Argument« (Grafeneck als Be-

hinderteneinrichtung, Prozesse 1949, Entstehung der Gedenkstätte

Grafeneck, aktuelle Euthanasie-Debatte und Bioethik)

4. Gruppenspezifische Bildungs- und Fortbildungsangebote (Dauer: ca.3 Stunden bis zum Tagesseminar)

Diese Angebote beziehen sich auf die Geschichte und Gegenwart Gra-

fenecks mit besonderer Berücksichtigung der jeweiligen Gruppeninter-

essen, z.B. Geschichte der Pflege, Psychiatrie, Medizin, Verwaltung,

Polizei, Justiz im NS. Zielgruppen sind Bildungsträger, Bildungswerke,

Volkshochschulen, Akademien, Fachhochschulen und Universitäten, Be-

hörden, Verwaltungen, Diakonie, Caritas und Kirchen.

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3. Die Gedenkstätte und Dokumentationszentrum Grafeneck

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Angebote außerhalb der Gedenkstätte:Hierzu zählen in erster Linie eine Wanderausstellung,die an Schulen, Bildungszentren, Rathäuser und andereInstitutionen ausgeliehen werden kann, aber auch Vor-träge, Vorlesungsreihen, Symposien oder Gesprächs-abende.

Grafeneck als Ort von Wissenschaft undForschungHierfür steht eine kontinuierliche wissenschaftlicheAuseinandersetzung mit der NS-Geschichte und ihrerVerbrechen. Immer deutlicher und plastischer tretenheute die Dimension und das Charakteristikum des Ver-brechens und der Täterschaft zu Tage. Die NS-"Eutha-nasie"-Verbrechen lassen sich in heutiger Perspektiveals ein staatliches "arbeitsteiliges Großverbrechen" be-schreiben. Die sogenannte “Aktion T4” der Jahre 1940und 1941, für die Grafeneck als erstes von sechs Ver-nichtungszentren steht, war das erste zentrale Kapitelder "Euthanasie"-Morde. Die dezentralen Morde ver-folgten in den Heileinrichtungen selbst und wurden biszum Kriegsende fortgesetzt.

nachgehen. Jede Woche wenden sich Verwandte derOpfer, ältere, die die Opfer noch persönlich gekannthaben, aber auch jüngere, an die Gedenkstätte und su-chen Auskünfte über oft jahrzehntelang verdrängteund tabuisierte Teile der Familien-, aber auch Ortsge-schichten.

2009 wurde die "Spur der Erinnerung" von Grafenecknach Stuttgart gezogen. Eine lila Farbspur endete amheutigen baden-württembergischen Innenministerium,dem früheren Sitz des Württembergischen Innenmini-steriums. Mitglieder des Arbeitskreises Euthanasie, derInitiativen "Stolpersteine für Stuttgart", das Bürger-rechtsforum "DieAnstifter" und Bürger aus Stuttgart hat-ten die Idee der "Spur der Erinnerung" ersonnen, denTatort Grafeneck mit dem Tatort der Schreibtischtäter

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Dokumentationszentrum – Opfer, Protest und Widerstand

Schüler der Sternbergschule Gomadingen bringen zur Auftaktver-anstaltung der "Spur der Erinnerung" Holzstelen mit 10.654 lilaKreuzen an der Gedenkstätte an.

4. Geschichte und Gedächtnis - 70 Jahre "Euthanasie"-Verbrechen

Das Gedenk- und Namensbuch und dasHerkunfts- und OrtsbuchEin wichtiger Aspekt ist seit 1990 die Suche nach denNamen der Opfer. Seit 1998 liegt öffentlichen Bereichder Gedenkstätte aus, die Namen sind damit im wahr-sten Sinne des Wortes zugänglich geworden. Von 4.000Namen ist die Zahl der namentlich bekannten Opferauf über 9.000 angewachsen. Wie bei keinem anderenGegenstand sonst verbindet sich hier augenscheinlichwissenschaftliche Forschung und akribische Recherchemit verschiedenen Formen der Erinnerungs- und Ge-denkarbeit. Hinter den Opferzahlen werden die ein-zelnen Menschen sichtbar: 10.654 Männer, Frauen undKinder, die von den Tätern stigmatisiert und in jedemSinne des Wortes ausgelöscht werden sollten. Von na-hezu allen haben wir heute einen Namen, jedoch nurvon wenigen ein Bild oder die Biografie. Doch auch hiergibt es eine Dynamik des wieder Sichtbar-Machens.Jedes der 10.654 Opfer besitzt einen Vornamen, einenNachnamen, einen Geburtstag, einen Geburtsort, einenWohnort. Zum ersten Mal wurde 2009 daher auch einHerkunftsbuch für die Opfer von Grafeneck aufgelegt.Es enthält weit über tausend Städte, Gemeinden undOrtschaften in Deutschland und darüber hinaus. DieMehrzahl der Orte liegt in Baden-Württemberg, aberauch in Bayern und Nordrhein-Westfalen. Selbst Ortewie Zürich, Chur, Basel, St. Gallen, New York, Charkow,Samoa und viele andere befinden sich darunter. Angestoßen durch die Arbeit der Gedenkstätte Grafen-eck entwickelte sich in den letzten beiden Jahrzehnteneine Vielzahl von Initiativen, die den Spuren der Opfer

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zu verbinden. Die Schirmherrschaft hatten BischofFrank Otfried July von der Evangelischen LandeskircheWürttemberg und Bischof Gebhard Fürst von der Di-özese Rottenburg-Stuttgart übernommen. Die Aktion"Spur der Erinnerung" wurde eingerahmt von einemAuftaktsymposium am 12. Oktober im Stuttgarter Rat-haus für das Innenminister Heribert Rech MdL dieSchirmherrschaft und ein Grußwort übernahm, sowieeiner Abschlussveranstaltung auf dem Karlsplatz und inder Stauffenberg-Erinnerungsstätte in Anwesenheit desMinisters.

Am 14. Oktober 2009 wurde das Denkmal der GrauenBusse der Künstler Horst Hoheisel und Andreas Knitzvor dem Neuen Schloss in Stuttgart aufgestellt. Diegrauen Busse erinnern an die Todestransporte der Pa-tienten nach Grafeneck. Dieses Mahnmal wurde für dasZentrum für Psychiatrie Die Weissenau bei Ravensburggeschaffen: Zwei in Originalgröße in Beton gegosseneBusse des Typs, wie er in den Jahren 1940 und 1941von den Pflegeanstalten zu den Vernichtungszentrenfuhr. Den Denkmalbussen eingeschrieben ist das Zitat:„Wohin bringt Ihr uns?“, die überlieferte Frage einesPatienten. Einer der Denkmal-Busse blockiert dauerhaftdie alte Pforte der ehemaligen Heilanstalt Weissenau.Ein zweiter, identischer grauer Denkmal-Bus wechseltperiodisch seine Standorte: zuerst von Ravensburgnach Berlin zur Tiergartenstraße 4, dann 2009 nachStuttgart vor das Neue Schloss und 2010 nach Neuen-dettelsau sowie Pirna in Sachsen.

Warum Erinnerung heute? Erinnerung an die Opfer ist im tiefsten Sinne des Wor-tes Selbstzweck. Um sie nicht abreißen zu lassen, be-darf es einer Vielfalt verschiedenster Erinnerungs-formen, die jeweils unterschiedliche Zugänge zur Ge-schichte Grafenecks ermöglichen. Das Besondere die-ses Ortes bleibt die unbestreitbare Tatsache, dass aufdem Gelände des Schlosses im Jahr 1940 zwischen Ja-nuar und Dezember 10.654 Menschen in einer Gas-kammer ermordet wurden. Der Historiker Dan Dinerbeschrieb dies als einen zivilisatorischen Rückschritt indie Barbarei, als einen Zivilisationsbruch. Grafeneck war der Ausgangspunkt für die Ermordunggeistig behinderter und psychisch erkrankter Men-schen in Deutschland, es war einer der ersten Orte sy-stematisch-industrieller Ermordung von Menschen imNationalsozialismus überhaupt. Es stand am Ausgangs-punkt von Menschheitsverbrechen, die in den Vernich-tungslagern des Holocaust ihren traurigen Höhepunktfanden.

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Die "Spur der Erinnerung" erreicht das baden-württembergischeInnenministerium

Am 18. Januar 1940 begannen die Morde in Grafeneck undDeutschland. Einer der grauen Busse brachte die ersten Opfer ausder bayerischen Heilanstalt Eglfing-Haar nach Grafeneck

Der Landesbischof der Evangelischen Kirche in Württemberg, FrankO. July, hielt im Oktober 2009 die Predigt für den GrafeneckerGedenkgottesdienst

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So bleibt es eine allererste Verpflichtung, der Opfer zugedenken. Damit wird auch die Erinnerung an das hi-storische Verbrechen und an geschehenes Unrecht be-wahrt. Der Nicht-Umgang mit historischer Schuld, nichtzu verwechseln mit der längst geklärten Kollektiv-schulddebatte, hat verheerende Folgen und Konse-quenzen. Verweigern, leugnen und verleugnen sindweder heilsam noch funktional für ein demokratischesStaatswesen. Vielmehr kommt es zu einer Beschädigungder Grundlagen der Demokratie durch Schweigen undBeschweigen, wie es lange Zeit vorherrschend war.

Gedenken und historisch-politische BildungPolitisch-historische Bildung ist immer auch Werte- undMenschenrechtserziehung. In Grafeneck wurden Men-schen als "lebensunwertes Leben" ermordet. Die Denk-figuren, die dahinterstehen, waren einerseits die Euge-nik und, wie sie in Deutschland genannt wurde, „dieRassenhygiene“, andererseits der „Euthanasie“-Gedan-ken im Sinne der „Vernichtung lebensunwerten Le-bens“. Beide Theoriegebäude propagierten die angeb-liche Vorrangigkeit des Volkes, der Gemeinschaft, derNation oder der Rasse vor dem Individuum. „Du bistnichts, dein Volk ist alles“, lautete das Schlagwort. DerNationalsozialismus übernahm auch das Konzept des"Lebenswerts", das den Wert des Menschen nach Ko-sten-Nutzen-Kriterien für die “Volksgemeinschaft” defi-nierte und das "Heilen des Volkskörpers durch Ver-nichten" der Kranken und Unproduktiven propagierte.

Auch heute sind wir keineswegs völlig gefeit vor denDenkfiguren der Eugenik. Die "Euthanasie"-Morde desNS-Staates verletzten ein zentrales, elementares Grund-recht: das Recht auf Leben und die Unversehrtheit derPerson. Diese Grundrechte, die heute nicht verhandel-und nicht veränderbarer Bestandteil des Grundgeset-zes sind, sind individuelle Rechte des Einzelnen. Dassdie „Euthanasie“-Verbrechen nur möglich wurdendurch die Zerstörung der Demokratie, einer offenenGesellschaft und die Verweigerung der Grundrechtemacht im Umkehrschluss die Lehre aus diesem Teil un-serer Geschichte deutlich.Das Grundgesetz spricht daher auch nicht vom "Wert"des Menschen. Im 1. Artikel, Absatz 1 heißt es: "DieWürde des Menschen ist unantastbar. Sie zu schützenist Aufgabe aller staatlichen Organe". Das ist der An-spruch, an dem sich Politik und Gesellschaft messenlassen müssen.

5. Weiterführende Literatur -Medien - Links

Überblicksdarstellungen / SammelbändeAktion T4 1939-1945. Die "Euthanasie"-Zentrale in derTiergartenstraße 4, hrsg. von Götz Aly, 2. Aufl. Berlin1989

"Das Vergessen der Vernichtung ist Teil der Vernichtungselbst": Lebensgeschichten von Opfern der nationalso-zialistischen "Euthanasie", hrsg. von Petra Fuchs, MaikeRotzoll, Gerrit Hohendorff u.a., Göttingen 2007

Die nationalsozialistische "Euthanasie"-Aktion "T4" undihre Opfer. Geschichte und ethische Konsequenzen fürdie Gegenwart, hrsg. von Maike Rotzoll, Gerrit, Ho-hendorf, Petra Fuchs, u.a., Paderborn 2010

Eugenik, Sterilisation, Euthanasie. Politische Biologie inDeutschland 1895-1945, hrsg. von Jochen ChristophKaiser, Kurt Nowak, Michael Schwartz, Berlin 1992.

Friedlander, Henry: Der Weg zum NS-Genozid. Von derEuthanasie zur Endlösung, Berlin 1997

Klee, Ernst: „Euthanasie“ im NS-Staat. Die „Vernichtunglebensunwerten Lebens“, Frankfurt/M. 2010 (1983)

Klee, Ernst: Dokumente zur "Euthanasie", Frankfurt / M.1985

Klee, Ernst: Was sie taten - was sie wurden. Ärzte, Juri-sten und andere Beteiligte am Kranken- oder Juden-mord, Frankfurt/M. 1990 (1986)

Medizin und Gesundheitspolitik in der NS-Zeit, hrsg.von Norbert Frei, München 1991

Nowak, Kurt: "Euthansie" und Sterilisierung im "Drit-ten Reich". Die Konfrontation der evangelischen undkatholischen Kirche mit dem Gesetz zur Verhütung erb-kranken Nachwuchses und der "Euthanasie"-Aktion,Göttingen 1980.

Schmuhl, Hans-Walter: Rassenhygiene, Nationalsozia-lismus, Euthanasie. Von der Verhütung zur Vernichtung‚lebensunwerten Lebens' 1890-1945, Göttingen, 2.Aufl.1992 (1987)

Tödliche Medizin - Rassenwahn im Nationalsozialismus.Begleitbuch zur Ausstellung, hrsg. vom Jüdischen Mu-seum Berlin, Göttingen 2009

Tödliche Medizin im Nationalsozialismus, hrsg. vonKlaus-Dietmar Henke, Köln Weimar Wien 2008

Südwestdeutschland und GrafeneckDer Grafeneck-Prozess 1949. Betrachtungen aus histo-rischer, juristischer, medizinethischer und publizisti-scher Perspektive, hrsg. von Jörg Kinzig/ThomasStöckle, Zwiefalten 2011

„Euthanasie“ im NS-Staat. Grafeneck 1940, hrsg. von derLandeszentrale für politische Bildung Baden-Württem-berg, Stuttgart 2000

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Stolperstein des Kölner Künstlers Gunter Demnig im StuttgarterWesten für den in Grafeneck ermordeten Albert Fröhlich.

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www.lpb-bw.de/publikationen/euthana/euthana.htm

‚Euthanasie’. Krankenmorde in Südwestdeutschland,hrsg. von Hermann J. Pretsch, Zwiefalten 1996

Faulstich, Heinz: Von der Irrenfürsorge zur "Euthana-sie". Geschichte der badischen Psychiatrie bis 1945,Freiburg 1993

„Gedenkstätten, Lernorte zum nationalsozialistischenTerror“, Heft 3 der Reihe Politik und Unterricht, hrsg.von der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg, Stuttgart 2008 www.politikundunterricht.de/3_08/gedenkstaetten.htm

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FilmeÄrzte unterm Hakenkreuz. Medizin im Nationalsozialis-mus - dargestellt am Beispiel Karl Brandts, Begleitarztvon Hitler und Reichskommissar für das Sanitäts- undGesundheitswesen, 3 Teile: 1. Rassenwahn, 2. Tödliche Reformen, 3. Selek-tion (DVD, ZDF)

Grafeneck 1940 – Die Mordfabrik auf der Schwäbi-schen Alb. Dokumentation von Knut Weinrich (DVD,SWR 2009, 45 Min.):http://www.planet-schule.de/sf/php/02_sen01.php?sendung=8305:Download: Grafeneck 1940 – Die Mordfabrik auf der Schwäbi-schen Alb. Dokumentation von Knut Weinrich (SWR2009, 30 Min. Mediennummer DVD: SWR 4683502(D))Spur der Erinnerung. Der Film (DVD, 30 Min.)Zwischen Wahnsinn und Kunst. Die Sammlung Prinz-horn (2007, 75 Min.)

Links

Link zur Gedenkstätte Grafeneckhttp://www.gedenkstaette-grafeneck.de/

Weitere Links zu Grafeneck:http://www.edjewnet.de/aktion_t4/index.htmhttp://www.lpb-bw.de/publikationen/euthana/euthana.htmhttp://www.lpb-bw.de/fileadmin/lpb_hauptportal/pdf/bil-dungskonzepte_stjg.pdfhttp://www.schule-bw.de/unterricht/faecheruebergrei-fende_themen/landeskunde/modelle/epochen/zeitgeschichte/ns/grafeneck/index.htm http://www.landesarchiv-bw.de/stal/grafeneck/index.htmhttp://www.swr.de/geschichte/grafeneck-1940-die-mordfa-brik/-/id=100754/nid=100754/did=5279040/1krmqli/index.htmlhttp://www.planet-schule.de/wissenspool/spuren-der-ns-zeit/inhalt/sendungen/grafeneck-1940-diemordfabrik-auf-der-schwaebischen-alb.html (SWR Dokumentation)Links zu anderen Gedenkstättenhttp://www.schloss-hartheim.at/http://www.stsg.de/cms/pirna/startseitehttp://www.gedenkstaette-bernburg.de/http://www.gedenkstaette-hadamar.de/

Links zur NS-„Euthanasie“http://www.dhm.de/lemo/html/wk2/holocaust/euthana-sie/index.htmlhttp://www.sigrid-falkenstein.de/euthanasie/

Links zum "Denkmal der Grauen Busse","Spur der Erinnerung", "Stolpersteine"http://www.dasdenkmaldergrauenbusse.de/index.php?op-tion=com_content&task=view&id=63&Itemid=64http://www.spur-der-erinnerung.de/http://www.stolpersteine.com/http://www.stolpersteine-stuttgart.de/

Link zur Erklärung der Diakonie Württemberganlässlich des Beginns der Euthanasiemordevor 70 Jahrenhttp://www.diakonie-wuerttemberg.de/fileadmin/Me-dien/pdf/Ehrfurcht_vor_dem_Leben.pdf

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