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Spino arbeitet im Leichenschauhaus des Krankenhau-

ses und geht abends gern mit Sara in die »LanternaMagica«. Eines Tages wird ein junger Mann eingelie-

fert, der bei einer Hausdurchsuchung nicht von der Po-

lizei, sondern dem Anschein nach von den eigenen

Kameraden erschossen wurde. Spino, der gescheiterte

Medizinstudent und Amateurdetektiv, macht sich auf

die Spurensuche. Er will herausfinden, wer der Totewar. Vielleicht war er gar ein Mafioso oder ein Terro-

rist? Spino irrt durch die zerfallende Stadt am Meerund befragt den Pfarrer, den Schneider, den Kauf-

mann. Zuletzt gerät er in ein dunkles Zimmer, in dem

wahrscheinlich jemand auf ihn wartet.

Antonio Tabucchi wurde am 23. September 1943 in Vec-chiano bei Pisa geboren, lehrt als Professor portugiesi-sche Sprache und Literatur und lebt in Vecchiano und

Lissabon.

Antonio Tabucchi

Der Rand des Horizonts

Roman

Deutsch von Karin Fleischanderl

Deutscher Taschenbuch Verlag

Ungekürzte AusgabeJanuar 1997

4. Auflage Februar 2001Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG,

Münchenwww.dtv.de

1986 Giangiacomo Feltrinelli Editore, MailandTitel der italienischen Originalausgabe:

>I1 filo dell'orizzonte<© 1988 der deutschsprachigen Ausgabe:

Carl Hanser Verlag, München - WienUmschlagkonzept: Balk & Brumshagen

Umschlagbild: >Achrome< (1958) von Piero Manzoni(© VG Bild-Kunst, Bonn 1996)

Gesetzt aus der New Baskerville 10,5/13 . (Li 80)Satz: IBV Satz- und Datentechnik, Berlin

Druck und Bindung: C.H. Beck'sche Buchdruckerei,Nördlingen

Gedruckt auf säurefreiem, chlorfrei gebleichtem PapierPrinted in Germany • ISBN 3-423-12302-8

Das Gewesen-Sein gehört in gewisserWeise einer »dritten Gattung« an,die sich vom Sein wie vomNicht-Sein radikal unterscheidet.

Vladimir Jankelevitch

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Um die Schublade zu öffnen, muß man die Klinke wieeinen Hebel betätigen und zugleich gegen die Ladedrücken. Dann löst sich die Feder, der Mechanismusschnappt mit einem leisen metallischen klick ein, dieKugellager setzen sich automatisch in Bewegung, dieSchubladen sind etwas geneigt und gleiten von selbstauf kleinen Schienen. Zuerst kommen die Füße, dannerscheint der Bauch, dann der Rumpf, dann der Kopfdes Leichnams. Bei nicht obduzierten Leichen mußman dem Mechanismus manchmal etwas nachhel-fen, indem man mit den Händen zieht, denn manchehaben einen geblähten Bauch, der gegen die obereSchublade drückt und die Bewegung behindert. Dieobduzierten Leichen hingegen sind trocken, wie aus-gedörrt, sie haben eine Art Reißverschluß längs desBauches und sind mit Sägemehl gefüllt. Sie erinnernan Puppen, an große Marionetten, die man nach derVorstellung in eine Rumpelkammer geworfen hat. Ingewisser Weise ist dies ein Magazin des Lebens. DieÜberbleibsel von der Bühne machen hier ein letztesMal halt, bevor sie endgültig verschwinden, und wartenauf eine adäquate Einordnung, weil man die Gründeihres Ablebens nicht einfach ignorieren kann. Des-

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halb machen sie hier halt, und er steht ihnen bei undbewacht sie. Er verwaltet das Vorzimmer, das zum end-

gültigen Verschwinden ihres sichtbaren Bildes führt,

registriert ihr Kommen und Gehen, ordnet sie ein,

numeriert sie, hin und wieder fotografiert er sie, erfüllt die Karteikarte aus, die es ihnen gestattet, aus der

Welt des sinnlich Wahrnehmbaren zu verschwinden,

schenkt ihnen die letzte Eintrittskarte. Er ist ihr letzterGefährte, und nicht nur das: er ist eine Art Beschüt-zer im nachhinein, ein gleichmütiger und objektiverBeschützer.

Ist denn die Entfernung zwischen Lebenden und

Toten wirklich so groß? denkt er manchmal. Er weiß

keine Antwort. Das Zusammenleben, sagen wir einmal

so, trägt zumindest dazu bei, sie zu verringern. Sietragen ein Kärtchen am großen Zeh, auf dem eine

Matrikelnummer steht, aber er ist sich sicher, daß sie

es in ihrem fernen Dasein verabscheuen, mit Hilfe

einer Nummer eingeordnet zu werden wie ein Ding.Deshalb gibt er ihnen insgeheim komische Beinamen,die manchmal völlig zufällig sind und manchmal von

einer vagen Ähnlichkeit mit einer Person aus einemalten Film herrühren oder von einem Umstand, den

sie mit ihr gemeinsam haben: Mae West, ProfessorUnrat, Marcelino Pan y Vino. Marcelino zum Beispielist gleich Pablito Calvo: rundes Gesicht, spitze Knie,schwarzer, glänzender Pony. Dreizehn Jahre, von ei-

nem Gerüst gefallen, Schwarzarbeit. Der Vater ist nichtzu finden, die Mutter lebt in Sardinien und kannnicht kommen, morgen werden sie ihr die Leiche

schicken.

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Vom ursprünglichen Krankenhaus befinden sich nur

noch der Aufnahmeraum und das Leichenschauhausim alten Teil der Stadt, der auch historisches Zentrum

genannt und seit geraumer Zeit auf seine Baufälligkeit

hin untersucht und saniert wird. Aber die Jahre verge-

hen, eine Gemeindeverwaltung löst die andere ab, die

Interessen ändern sich, und der sanierungsbedürftige

Teil verfällt immer mehr. Und an anderen Stellen hat

die Stadt noch dringender Hilfe nötig, sie zieht die Auf-merksamkeit der Experten woanders auf sich, dort, wo

sich die »produktive« Bevölkerung zusammendrängt,

wo riesige Schlafstädte entstanden sind. Hier befinden

sich die Gebäude, die den Eingriff der Ingenieure er-fordern: manchmal rutscht der Hügel ab, als wolle er

diese häßlichen Krusten abschütteln, und dann wer-

den Sofortmaßnahmen ergriffen, Sondermittel bereit-

gestellt; und außerdem müssen Rohrleitungen gelegt

und Straßen gebaut werden, Schulen, Kindergärten,

Beratungsstellen. Das Zentrum hingegen ist allerorten

von einer Agonie erfaßt, einer sich langsam ausbrei-tenden Lepra, die von Mauern und Häusern Besitz

ergriffen hat, deren Baufälligkeit unauffällig und un-

aufhaltsam ist wie ein Urteil. Hier wohnen alte Leuteund Huren, fliegende Händler, Fischverkäuferinnen,

arbeitslose junge Rowdys, Drogisten mit dunklen altenLäden, die nach Gewürzen und Stockfisch riechenund auf deren Türen sich Schilder mit der kaum nochleserlichen Aufschrift befinden: »Wein — Kolonialwa-ren — Tabak«. Die Straßenkehrer kommen nur seltenher, auch sie verachten die Abfälle dieser minderenMenschen. Abends schimmern in den Gäßchen Sprit-

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zen, Plastiktüten, der undefinierbare Klumpen einertoten Ratte in einer Ecke, wo ein phosphoreszieren-des Plakat der Pest-Control davor warnt, die grünlichenBrocken anzufassen, die auf dem Boden herumliegen.

Manchmal, wenn sein Dienst um zehn Uhr zu Endeging, wollte ihn Sara abholen, aber er hielt sie jedes-mal davon ab. Nicht so sehr wegen der Leute, abendswird das Gäßchen von drei friedlichen Prostituiertenbewohnt, die wachsame Beschützer an den Fensternim ersten Stockwerk haben. Er fürchtet vielmehr dieRattenhorden, die sich abends angriffslustig herum-treiben, es ist beinahe unvorstellbar, wie groß sie sind,er ist sich sicher, daß sie Sara zu Tode erschrecken wür-den, sie hat ja keine Ahnung. In dieser Stadt wimmeltes sowieso schon von Ratten, aber in diesem Viertelscheint es ganze Nester davon zu geben. Spino hateine Theorie, aber er hat sie noch niemandem anver-traut, schon gar nicht Sara. Er glaubt, daß es die Nähedes Leichenschauhauses ist, die die Ratten anzieht.

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Samstag abends gehen sie gewöhnlich in die LanternaMagica. Das ist ein Programmkino am oberen Endedes Vico dei Carbonari, in einem kleinen Hof gele-gen, der aussieht wie ein Winkel in einem Dorf; ererinnert an Bauernhäuser, ländliche Gegenden, ver-gangene Zeiten. Von dort oben sieht man den Hafen,das offene Meer, das Gewirr der kleinen Gäßchen imalten Judengetto, den rosaroten Campanile einer zwi-schen Mauern und Häusern eingezwängten Kirche,die von woanders nicht zu sehen ist und die man hiernicht vermutet. Man muß eine Treppe mit ausgetre-tenen Ziegeln hinaufsteigen, die Handleite ist einelange, glänzende Eisenstange, die den Windungender abgebröckelten Mauer folgt, auf der sich Kapern-sträucher ausgesamt haben, die nun die verblichenenAufschriften überwuchern. Noch kann man lesen:Viva Coppi; Das Schwindelgesetz darf nicht durchgehen.Dinge von vorgestern. Im Sommer beschließen sie denAbend nach dem Kino gewöhnlich in einem kleinenCafé am Ende des Gäßchens, auf einer von einemwackeligen Mäuerchen umgebenen Terrasse, die vonzwei Pfosten aus Granit mit einer Kette dazwischenbegrenzt wird, unter einer Pergola. Hier stehen vier

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Marmortischchen mit grünen Eisenbeinen, und diekreisrunden Ränder der Weingläser und Kaffeetassen,die der Marmor aufgesaugt und sich zu eigen gemachthat, bilden Hieroglyphen, dechiffrierbare Figuren, dieArchäologie einer nahen Vergangenheit mit anderenGästen, anderen Abenden, durchzechten Nächten viel-leicht, in denen man Karten gespielt hat und Liedergesungen.

Unter ihnen stürzt die unregelmäßige Geometrieder Stadt in die Tiefe, die Lichter der Dörfer im Golf,die Welt. Sara bestellt eine Pfefferminzgramolate, dieman hier noch mit einem primitiven Gerät herstellt:das Eis wird mit einem Reibeisen gerieben, das sichin einem Aluminiumbehälter befindet, in den das zer-kleinerte Eis fällt, dicht und weich wie Schnee. DerBesitzer ist ein dicker Mann mit Tränensäcken unterden Augen und mit trägem Gang, er hat eine weißeSchürze umgebunden, die seinen Bauch betont; erlächelt und gibt ständig knappe Wetterprognosen vonsich: »Morgen wird es kühl, wir haben Ostwind«, oder:»Das schwüle Wetter verspricht Regen.« Er bildet sichein, Wind und Wetter zu kennen, in seiner Jugend warer Matrose, angeheuert auf einem Dampfschiff derAmerika-Route.

Sara zieht die Beine an den Körper und legt sicheinen Schal über die Schultern, obwohl es warm ist,denn in der kühlen Nachtluft bekommt sie lästigeGelenkschmerzen. Sie blickt in Richtung Meer, einedunkle Masse, die genausogut die Nacht sein könnte,wenn die unbeweglichen Lichter der Schiffe, die dar-auf warten, in den Hafen einlaufen zu können, kei-

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nen Zweifel daran ließen, daß es das Meer ist. »Wieschön wäre es, wenn man wegfahren könnte«, sagtsie, »nicht wahr?« Seit zehn Jahren sagt Sara nun,es wäre schön, wenn man wegfahren könnte, und erantwortet, daß sie es eines Tages, früher oder später,vielleicht wirklich tun sollten. Dank eines schweigen-den Einverständnisses geht das Gespräch nie überdiese beiden rituellen Phrasen hinaus: dennoch weißer, daß Sara von ihrer Abreise träumt, die nie statt-finden wird. Er weiß es, denn es ist nicht schwierig,ihre Träume zu erraten. In ihren Phantasien gibt eseinen Ozeandampfer, mit einem Liegestuhl an Deckund einem Plaid zum Schutz vor der Meerbrise: undam Ende des Decks spielen ein paar Herren in weißenHosen ein englisches Spiel. Die Reise nach Südame-rika dauert zwanzig Tage, es ist jedoch nicht genaufestgelegt, in welche Stadt sie führt: Mar del Plata,Montevideo, Salvador de Bahia; ist auch egal: Süd-amerika ist klein im Raum eines Traumes. Ein Filmmit Mirna Loy hat Sara sehr gefallen: die Abendge-sellschaften sind elegant, an Bord wird getanzt, aufdem Deck leuchten Lichtgirlanden, und das Orche-ster spielt What a night, what a moon, what a girl oderirgendeinen Tango aus den dreißiger Jahren wie zumBeispiel Por una cabeza. Sie trägt ein Abendkleid mitweißem Schal, läßt sich vom galanten Kapitän denHof machen und wartet darauf, daß ihr Mann ausdem Krankensaal kommt und sie zum Tanz auffordert.Denn natürlich ist Spino nicht nur ihr Mann, sondernauch Schiffsarzt.

Auch wenn Saras Traum dem nicht genau entspricht,

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so ist er doch nicht weit davon entfernt. An jenemAbend, als sie Southern Waters gesehen hatten, erschiensie ihm so melancholisch; sie hielt seinen Arm fest, undals sie dann die Gramolate aß, kam sie wieder auf dasalte Thema der versäumten Promotion zu sprechen.Inzwischen ist es auch überflüssig, daß er auf sein Alterhinweist: kann sie nicht ein für allemal begreifen, daßman in seinem Alter keine Lust mehr hat, die Schul-bank zu drücken? Und dann das Studienbuch, dieBürokratie, die ehemaligen Studienkollegen, die jetztseine Prüfer wären: er könnte es nicht ertragen. Esnützt nichts, sie besteht darauf: daß das Leben lang ist,womöglich länger, als man glaubt, und daß man nichtdas Recht hat, es wegzuwerfen. Und da zieht er es vor,in die Ferne zu blicken; er gibt keine Antwort, schweigt,um dieses Gespräch im Sande verlaufen zu lassen, essoll sich bloß kein Thema mehr ergeben, das mit sei-ner versäumten Promotion in Zusammenhang steht.Und es ist sehr wohl ein Thema, das ihn schmerzt: under kann auch sehr gut verstehen, was sie empfindet.Aber was sollte er tun? Dieses Leben als heimliches Lie-bespaar ist in ihrem Alter gewiß etwas eigenartig undunbequem; aber es ist so schwierig, alte Gewohnheitenaufzugeben, plötzlich in den Ehestand zu treten. Unddann schreckt ihn die Vorstellung, der Vater dieses ihmstets ausweichenden Achtzehnjährigen zu werden, dereine so absurde Art zu sprechen hat und so gleichgül-tig und unaufmerksam wirkt. Manchmal sieht er ihnvorbeigehen, wenn er von der Schule kommt, und erdenkt: Ich wäre dein Vater, dein Ersatzvater.

Doch das ist gewiß kein Thema, über das er gerne

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sprechen möchte. Aber auch Sara möchte nicht dar-über sprechen; sie möchte vielmehr, daß er möchte.

So spricht auch sie nicht darüber; statt dessen spricht

sie über Filme. Die Lanterna Magica hat zwei Retrospek-

tiven gebracht, die Mirna Loy und Bogart gewidmet

waren, darunter auch Strictly confidential: das gibt ge-

nug Stoff für ihre Unterhaltung. Hat er gesehen, was

Mirna Loy für Schals trug? Sicher hat er es gesehen,Donnerwetter, sie sind ja auffällig genug; aber auchdie Halstücher von Bogart, stets aus weichem Stoff

und getupft, wirklich unerträglich ... manchmal hat

er den Eindruck, Schwaden von Brillantine und Köl-

nischwasser wehten von der Leinwand herunter. Sara

lacht leise, zart glucksend, wie es ihre Art ist. Aber

warum bringen sie nicht auch eine Retrospektive mitVirginia Mayo? Bogart, dieser Rohling, behandelte sie

wie einen Hund; Sara hat eine spezielle Vorliebe für

Virginia Mayo, sie starb in einem Motelzimmer, vomAlkohol zugrunde gerichtet, weil er sie verlassen hatte.Aber, apropos, ist das Schiff im Hafen nicht ein Ozean-

dampfer? Ihrer Meinung nach ist es zu hell beleuchtet,um ein Handelsschiff zu sein. Er ist sich nicht sicher,

tja, er kann es wirklich nicht genau sagen, aber erglaubt eher nicht, es gibt heute keine Ozeandampfer

mehr, sie sind alle abgetakelt, der eine oder anderewird noch für Kreuzfahrten eingesetzt, heutzutagereist man im Flugzeug, wer, glaubst du, fährt dennnoch mit einem Ozeandampfer? Sie sagt: »Stimmt, du

hast recht«, aber er erkennt an ihrem Ton, daß sienicht seiner Meinung ist, sie hat bloß resigniert. Inzwi-

schen läuft der Besitzer des Cafês mit einem Fetzen in

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der Hand herum und scheuert die leeren Tischchen.Es ist eine stumme Botschaft: Wenn sie die Güte hät-ten, nicht länger stören zu wollen, würde er den Ladenschließen und schlafen gehen, er ist seit acht auf denBeinen, und die Jahre wiegen schwerer als der Bauch.Und außerdem ist die Brise etwas frisch geworden, dieNacht trieft vor Schweigen und Feuchtigkeit, auf denArmlehnen der Stühle ist eine dünne Schicht Salz zuspüren, vielleicht ist es wirklich besser, zu gehen, Saragibt ihm recht, es ist besser, ihre Augen glänzen, ei-weiß nie, ob aus Sentimentalität oder einfach aus Mü-digkeit. »Ich hätte gern, daß du heute nacht bei mirschläfst«, sagt sie zu ihm. Spino sagt, auch er würdegerne bei ihr schlafen. Aber morgen ist sein freierTag, sie wird am Vormittag zu ihm kommen, und siewerden bis zum Abend beisammensein; er wird einenImbiß zubereiten, sie werden ihn schnell in der Kücheverzehren und den ganzen Nachmittag im Bett ver-bringen; sie wird ihm zuflüstern, wie schade es sei, daßsie sich so spät erst kennengelernt hätten, als bereitsalles entschieden gewesen sei; sie ist sich sicher, daßsie mit ihm glücklich geworden wäre; vielleicht denktauch er so, aber um sie aufzuheitern, wird er sagen,nein, es ist eine Sache, ein Liebespaar zu sein, und eineandere, verheiratet zu sein, der Alltag ist der größteFeind der Liebe, er macht sie zunichte.

Der Besitzer des Cafés läßt schon die Rolläden her-unter und murmelt halblaut gute Nacht.

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Sie brachten ihn mitten in der Nacht, der Kranken-

wagen fuhr ohne Sirene und ohne Blaulicht vor, undSpino dachte sofort: Etwas Schreckliches muß gesche-

hen sein. Er glaubte zu schlafen, aber er hörte den Mo-

tor des Krankenwagens sehr gut, der allzu leise in die

Gasse eingebogen war, als ob nichts mehr zu machenwäre, und er begriff, daß der Tod leise kam und daß

dies das wahre Tempo des Todes war, gemächlich undunerbittlich.

Zu dieser Stunde schläft die Stadt, diese Stadt, die

am Tag keine Ruhe findet; der Straßenlärm beruhigt

sich, nur hin und wieder hört man das Brummen einesvereinzelten Lastwagens, der die Küstenstraße entlang-

fährt; in den Zonen des nächtlichen Schweigens ist

nur noch das leise Dröhnen des Stahlwerks zu hören,das die Stadt im Westen beschützt wie ein gespensti-scher Wachtposten im Mondlicht der Scheinwerfer;die Türen des Krankenwagens hallten müde über denHof, dann hörte er, wie die Schiebetür aufging, under glaubte den Geruch zu spüren, mit dem die fri-sche Nachtluft die Kleider der Menschen tränkt, so wie

manche Schlafzimmer einen säuerlichen und etwas un-angenehmen Geruch haben, wenn jemand darin ge-

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schlafen hat. Die vier Polizisten hatten gelbliche Ge-

sichter, vier Jungen mit dunklen Haaren und den

Bewegungen von Schlafwandlern, sie schwiegen, undein fünfter, der draußen geblieben war, stotterte et-

was im Dunkeln, das Spino nicht verstehen konnte;

dann gingen die vier hinaus, mit den Schritten von

Menschen, die nicht recht verstehen, was sie tun, undihm war, als würde er einem leichtfüßigen Totenballett

beiwohnen, dessen Syntax er nicht kannte.

Dann kamen sie zurück, mit einem Leichnam auf

der Bahre, und alles ging schweigend vor sich: sie ho-ben die Leiche von der Bahre, und er legte sie auf die

rostfreie Platte, löste die verkrampften Hände, befe-stigte den Kiefer mit einer Binde am Kopf: er stelltekeine Fragen, denn das alles hatte einen deutlich end-

gültigen Charakter, und welche Bedeutung hatte denn

schon die Mechanik der Fakten? Er schrieb die Uhrzeitder Aufnahme ins Register, drückte die Klingel, die

im ersten Stock läutete, damit der diensthabende Arzt

herunterkam und den Tod feststellte; die vier Jungensetzten sich auf die lackierte Bank und rauchten, siewirkten wie Schiffbrüchige, und dann kam der Arztherunter, begann zu sprechen und zu schreiben, warfeinen Blick auf den fünften Jungen, der verletzt warund leise wimmerte; Spino rief im Ospedale Nuovoan und sagte, sie sollten den Notoperationssaal fertigmachen, er würde den Verletzten sofort losschicken.»Hier haben wir nicht einmal die Geräte«, sagte er, »in-

zwischen sind wir nur noch ein Leichenschauhaus.«Dann ging der Arzt über die Nebentreppe hin-

aus, und einer der Jungen schluchzte und murmelte:

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»Mama«, wobei er die Hände an die Augen drückte, alswolle er eine Szene auslöschen, die sich darin einge-prägt hatte; und da verspürte Spino eine bedrückendeMüdigkeit, als lastete auf seinen Schultern die Müdig-keit all dessen, was rund um ihn war; er trat auf denHof hinaus und spürte, daß auch der Hof müde war,und die Mauern des alten Krankenhauses waren müdeund auch die Fenster und die Stadt und alles; er hobden Blick, und ihm war, als ob auch die Sterne müdewären, und er verspürte den Wunsch, es möge füralles, was existiert, eine Ausnahme geben, wie einenAufschub oder ein Vergessen.

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Er ging den ganzen Morgen am Hafen spazieren, ge-

langte bis zum Zoll und zum Handelshafen. Von einem

häßlichen Schiff mit der Aufschrift Liberia am Heck

wurden Säcke und Kisten abgeladen. Ein Neger, der

an der Reling lehnte und beim Abladen zusah, machte

ihm ein Zeichen des Grußes, und er antwortete ihm.Dann tauchte vom Meer her eine tiefhängende Wolkeauf, die sich von einem Moment auf den anderen auf

das Festland senkte und den Leuchtturm und die He-bekräne einhüllte, die sich im Nebel auflösten; der

Hafen wurde finster, und die Eisenteile glänzten. Erüberquerte die Piazza delle Vettovaglie und ging zuden Aufzügen, die in die Hügel hinaufführen, überden Rahmen der Häuser hinaus, die der Stadt alsSchutzwall dienen. Zu dieser Stunde sind die Auf-züge leer, sie füllen sich erst am späten Nachmittag,

wenn die Leute von der Arbeit nach Hause fahren.Der Liftführer ist ein alter Mann mit einer rußschwar-

zen Uniform und einer Holzhand; am Rockaufschlagträgt er ein Kriegsinvaliden-Abzeichen, und mit seinereinen Hand betätigt er äußerst geschickt die Hebel

und den seltsamen Eisenring, der aussieht wie dasSteuerrad einer Straßenbahn. Neben den Fenstern

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