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>Also sprach Zarathustra< ist Friedrich Nietzschesberühmtestes, vielleicht aber auch sein schwierigstesWerk, denn in ihm begegnet man einem dichten-den Philosophen wie einem philosophischen Dichtergleichermaßen, der sich jeglicher Systematik zu ver-schließen scheint. Hinzu kommt die Problematikeiner außergewöhnlichen Textgeschichte, die auchmit Fälschung und ideologischer Vereinnahmung zutun hat. Wer aber den Schlagwörtern vom »Über-menschen« oder vom »Willen zur Macht« mißtrautund Nietzsches vielzitiertes Werk im Original lesenmöchte oder gar muß — der findet hier einen hilf-reichen Wegbegleiter. Dieses Buch ist ein Angebot,sich mit zwei erfahrenen Lesern auf den nicht ganzunbeschwerlichen Weg zu machen, Schritt für Schrittmit der diesem radikalen Philosophen eigenen Spra-che vertraut zu werden, um am Ende gerüstet zu sein,den ganzen Text selbst mit Vergnügen und Gewinnanzupacken.

Nietzsche für Anfänger

Also sprach Zarathustra

Eine Lese-Einführungvon Rüdiger Schmidt und Cord Spreckelsen

Deutscher Taschenbuch Verlag

Für Sabine und Silvia

OriginalausgabeDezember 1995

7. Auflage Januar 2006Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG,

Münchenwww.dtv.de

© 1 995 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, MünchenUmschlagkonzept: Balk & Brumshagen

Umschlagbild: Ralph BittnerSatz: Design Typo Print GmbH

Druck und Bindung: Druckerei C. H. Beck, NördlingenGedruckt auf säurefreiem, chlorfrei gebleichtem Papier

Printed in Germany • ISBN 3-423-30124-4

Inhaltsverzeichnis

Vorbemerkung 7

Ein Fall für LeserNietzsche — ein gläserner Mensch 9Stationen 10Texte und Fälschungen 17Wessen Texte lesen wir? 20

Nietzsches Werkstatt 23Ein neues Schwergewicht 26

Ein Buch für Alle und Keinen?Das Erscheinen des Zarathustra 29Eine neue Bibel? 31Der Stil 35Der halkyonische Ton 39Der Typus 44Der Name 46Facetten 49

Der etwas andere WeiseDer Gottlose 53Ekel 67Bejahung 71Schaffen, Lieben, Vernichten, Leiden 77Nur Narr! Nur Dichter! 89Gedanken als Experimente:Zarathustras Wahrhaftigkeit 99

Die berühmten Weisen i o iDer Gewissenhafte des Geistes 104Die Gelehrten 109Die Rein-Erkennenden 113Der Büsser des Geistes 119Der Schatten 125Zarathustras Wahrhaftigkeit 129

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Zarathustra, der etwas andere Weise 131Der Wahrsager 134Der Entdecker, Versucher, Experimentator 135Der Tänzer und Lachende 137Der Krüppel 138

FluchtpunkteUbermensch 141Wille zur Macht 151Ewige Wiederkehr des Gleichen 162

Die vier Bücher des ZarathustraZur Komposition 177Kommen und Gehen 179Zarathustras Vorrede 18oDie Reden ZarathustrasDer erste Teil 181Der zweite Teil 184Der dritte Teil 186Der vierte Teil 188

Zarathustra lesen 193

AnhangLiteratur 195Zur Zitierweise 197

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Vorbemerkung

Innerhalb meiner Schriften steht für sich mein Zara-thustra. Ich habe mit ihm der Menschheit das grössteGeschenk gemacht, das ihr bisher gemacht worden ist.Dies Buch, mit einer Stimme über Jahrtausende hin-weg, ist nicht nur das höchste Buch, das es giebt, daseigentliche Höhenluft-Buch — die ganze ThatsacheMensch liegt in ungeheurer Ferne unter ihm —, es istauch das tiefste, das aus dem innersten Reichthum derWahrheit heraus geborene, ein unerschöpflicher Brun-nen, in den kein Eimer hinabsteigt, ohne mit Gold undGüte gefüllt heraufzukommen. (KSA 6, 2 59)

Also sprach Zarathustra »steht für sich«. Es wurde zuNietzsches berühmtestem Buch; es wurde als Versucheiner neuen heiligen Schrift verstanden, verehrt undverrissen. Nietzsches Zarathustra ist noch mehr alsseine übrigen Bücher irritierend: das Buch ist keinephilosophische Abhandlung im üblichen Sinne, es istauch keine Dichtung, vor allem aber fällt es formalaus dem Rahmen der anderen Schriften Nietzsches.Nirgendwo sonst gestaltet er eine zentrale Figur, nir-gendwo sonst finden sich derart viele stilistischeAnklänge an religiöse Bücher. Das Buch entzieht sichin mehrfacher Hinsicht einer Einordnung.

Und Nietzsche selbst? Auch er widersetzt sichVereinnahmungen. Die zitierte Äußerung zum Zara-thustra findet sich im Ecce homo, seiner letzten fürden Druck vorbereiteten Schrift, einer vorbeugendenSelbstdarstellung. »Ich habe eine erschreckliche Angstdavor, dass man mich eines Tages heilig spricht: manwird errathen, weshalb ich dies Buch vorher heraus-gebe, es soll verhüten, dass man Unfug mit mirtreibt...« (KSA 6, 365). Auch Ecce homo erzeugt Irri-tationen, hier jedoch bezogen auf Nietzsche selbst:

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»Warum ich so weise bin«, »Warum ich so klug bin«,»Warum ich so gute Bücher schreibe«, »Warum ichein Schicksal bin«, lauten Abschnittsüberschriften.

Diese letzte autobiographische Schrift dokumen-tiert Extreme und Brüche. Und dennoch, so sehr dieInstabilitäten des Ecce homo auch auf den Turiner Zu-sammenbruch Nietzsches hindeuten mögen, der daskatastrophale Abreißen seiner Denkarbeit markiert:Dieser Selbstkommentar spiegelt die Lebendigkeitseiner Gedanken, formuliert radikale Selbsteinschät-zungen genauso wie radikale Selbstzweifel und deutetgerade darin an, warum es sich lohnt, Nietzsche zulesen.

Ich will kein Heiliger sein, lieber noch ein Hanswurst... Vielleicht bin ich ein Hanswurst ... Und trotzdemoder vielmehr nicht trotzdem — denn es gab nichts ver-logeneres bisher als Heilige — redet aus mir die Wahr-heit.(ebd.)

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Ein Fall für Leser

Nietzsche — ein gläserner Mensch

Über kaum einen philosophischen Autor wissen wirso viel wie über Friedrich Nietzsche, sein Arbeiten,seine Träume und Wünsche. Über fast jeden Tag kön-nen wir berichten, jede Reise rekonstruieren undnebenbei noch lernen, daß man in den achtzigerJahren des 19. Jahrhunderts mit dem Zug schnellervon Florenz nach Genua kam als heute.

Eine Voraussetzung lieferte Nietzsche selbst, da erseine Notizbücher und Zettel aufhob und an denjeweiligen Aufenthaltsorten deponierte, um späterwieder auf sie zurückgreifen zu können, und dann einNotizbuch von hinten nach vorne beschrieb, bis erauf die beschriebenen Seiten der ersten Benutzungstieß. Eine weitere Voraussetzung schuf schon frühseine Schwester Elisabeth, die 1 846 — zwei Jahre nachihrem Bruder — geboren wurde und die jede Notizihres Bruders aufhob; auch dann, wenn Nietzscheausdrücklich das Verbrennen eines Kartons alter Auf-zeichnungen wünschte. Nach dem Zusammenbruchihres Bruders (1889) systematisierte sie den gesam-melten Nachlaß, gründete 1894 in Naumburg dasNietzsche-Archiv und organisierte die systematischeSuche nach weiteren schriftlichen Zeugnissen, vorallem den Briefen des Philosophen.

Von Anfang an aber macht das Interesse an der Per-son Nietzsche einen bedeutenden Anteil der Literaturüber ihn aus. Früh setzt eine biographische Forschungein, die bis heute nicht abgeschlossen und noch immer

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auf der Jagd nach neuen Details ist. Schon 1894 ver-öffentlichte Lou Andreas-Salomé >Friedrich Nietz-sche in seinen Werken<. Dort findet man die vielleichtschönste Beschreibung des Menschen Nietzsche, liestetwas über die Art seines Sprechens, über seine Be-wegungen, seine Hände. Erinnerungen der Schwesterund seiner Freunde folgten. Ab 1894 wird dann dieerste große Edition der Schriften und des Nachlassesherausgegeben — und damit beginnt eine neue, bisheute nicht abgeschlossene Geschichte.

»Als käme er aus einem Lande wo sonst Niemand wohnt«

(Erwin Rhode)

Stationen

Wäre die Historie nicht immer noch eine verkapptechristliche Theodicee, wäre sie mit mehr Gerechtigkeitund Inbrunst des Mitgefühls geschrieben, so würde siewahrhaftig am wenigsten gerade als Das Dienste leistenkönnen, als was sie jetzt dient: als Opiat gegen allesUmwälzende und Erneuernde. Aehnlich steht es mitder Philosophie: aus welcher ja die Meisten nichts An-deres lernen wollen, als die Dinge ungefähr — sehr un-gefähr! — verstehen, um sich dann in sie zu schicken.Und selbst von ihren edelsten Vertretern wird ihre stil-lende und tröstende Macht so stark hervorgehoben,dass die Ruhesüchtigen und Trägen meinen müssen, siesuchten dasselbe, was die Philosophie sucht. Mirscheint dagegen die wichtigste Frage aller Philosophiezu sein, wie weit die Dinge eine unabänderliche Artungund Gestalt haben: um dann, wenn diese Frage beant-wortet ist, mit der rücksichtslosesten Tapferkeit auf dieVerbesserung der als veränderlich erkannten Seite derWelt loszugehen. (KSA I, 445)

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Dies schreibt 1876 der Professor der AltphilologieFriedrich Nietzsche, einunddreißig Jahre alt — unddoch schon seit dreieinhalb Jahren Lehrstuhlinhaberin Basel. Verändern wollte er das verkrustete Deutsch-land, das nach dem militärischen Sieg über Frankreichmeinte, auch kulturell gesiegt zu haben. Gerade aberdas Kulturleben als, wie Nietzsche meinte, reine Un-terhaltung, spiegelte eine gleichgültige Gesellschaftwider — gleichgültig den Werten gegenüber, die dasantike Griechenland prägten. Dieses war dem Profes-sor der alten Sprachen allerdings ein Griechenland,das nicht das schöne, einfältige der deutschen Klassikwar.

An einem neuen Griechenbild arbeitete schon derStudent Nietzsche in Leipzig. Leitfaden ist ihm diePhilosophie Schopenhauers und das GesamtwerkWagners. Nietzsche entdeckt den griechischen Pessi-mismus: gerade weil die Griechen von den Abgründendes Lebens wußten, schufen sie ihre große Kunst. DieAbgründe repräsentiert Dionysos, die Kunst Apollo.Nur »als ästhetisches Phänomen«, heißt es im erstenBuch Nietzsches, »ist das Dasein und die Welt ewiggerechtfertigt« (KSA 1, 47). Dieses Buch, die 1872veröffentlichte Geburt der Tragödie aus dem Geisteder Musik, brachte Nietzsche gleich um seinen wissen-schaftlichen Ruf; zu revolutionär waren seine Thesenüber die dunklen Seiten Griechenlands, zu deutlichdie Absicht, ein geschichtsphilosophisches Funda-ment für die Bayreuther Pläne Richard Wagners zuerrichten. Als dann auch noch Wagner selber in denStreit um Nietzsches Buch eingreift und in der Nord-deutschen Allgemeinen eine Verteidigung veröffent-licht, ist es endgültig mit der Seriosität Nietzschesvorbei. »In einem speziellen Fall weiß ich sogar,«schreibt Nietzsche an seinen Freund Erwin Rhode,»daß ein Student [...] in Bonn zurückgehalten ist undbeglückt an Verwandte geschrieben hat, er danke

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Gott nicht an einer Universität zu sein, wo ich Lehrersei« (KSA i 5, 44). Die Studenten bleiben dann auchim Wintersemester gänzlich weg: »Hier ist das näch-ste, mich etwas bedrückende Faktum, daß an unsererUniversität die Philologen ausgeblieben sind, [...] einganz einziges Phänomen. [...] Mit äußerster Nothhabe ich ein Colleg [...] zu Stande gebracht, mit2 Zuhörern, d.h. einem Germanisten und einem Juri-sten [...] Daß die kleine Universität nun gar nochdurch mich leiden soll, ist recht schwer zu ertragen«(ebd.). Die Universität Basel hat Nietzsche gegenübernie ein kritisches Wort geäußert.

Am 9. Juni 1872 schreibt Cosima Wagner in ihrTagebuch:

Brief [nicht überliefert] von Professor Nietzsche, derdas Pamphlet des H. von Wilamowitz gegen ihnschickt. Betrachtungen, die sich an diese neue Gemein-heit knüpfen; Richard erkennt den jetzigen Zustandder Welt als einen trostlosen; die Professoren, die wie-der Spezial-Professoren bilden, keine humane Bildung,die sich verbreitet, der Jurist z.B. denkt nicht daran,Philologie und Philosophie zu studieren, alles nur Spe-zialitäten. (KSA 15, 40)

Um eine Einheit von Leben, Arbeiten und Kulturging es Nietzsche, um das Bayreuther Projekt, alsodie Errichtung eines großen Festspielhauses aus-schließlich für die Aufführungen der Opern RichardWagners, die Schaffung eines — fast — mystischenOrtes, von dem aus dann die Gesellschaft sich erneuernsollte. Die Begeisterung vieler junger Menschen fürdieses Projekt ist zu vergleichen mit der Begeisterungeiner ganzen Generation für Woodstock.

Als Nietzsche dann zur Eröffnung der ersten Fest-spiele 1876 nach Bayreuth kommt, hat Wagner dessenSchrift Richard Wagner in Bayreuth nicht gelesen,

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und überhaupt hat er keine Zeit für »seinen« Professor.Und der fand in Bayreuth keine Kulturrevolutionäre,sondern Geld- und echten Adel. Nietzsche verläßtBayreuth noch während der Proben und flüchtet nachKlingenbrunn, wo ihn am B. August 1876 ein Briefseiner Schwester Elisabeth erreicht: »Wagner begrüßtemich in einer Zwischenpause und (sagte) >Du möch-test nur kommen seine Kompositionen hätten Dirimmer gefallen!< er war so drollig« (KSA i5, 69).

Nun, drollig ist schon, so zu sprechen. Jemandemgegenüber, dem das Bayreuther Projekt einmal Welt-anschauung war und der noch für die ersten Festspieleeinen programmatischen Aufsatz schrieb; zusammen-gesetzt aus Zitaten — so wissen wir seit den ArbeitenMazzino Montinaris — der frühen, kulturrevolu-tionären Schriften Wagners. Ein Spiegel gleichsam: sohast Du früher gedacht.

Im Sommer 1876 erschien jedoch die hohe Gesell-schaft. Es war keine Rede mehr davon, das Festspiel-haus dem »Volk« zu öffnen und den >Ring des Nibe-lungen<, Wagners Gesamtkunstwerk, als Fanal zurVeränderung der Gesellschaft zu verstehen, um danndas Festspielhaus wieder abzureißen.

Nietzsches Flucht, so wissen wir heute, kam nichtunerwartet. In seinen Notizbüchern finden sich schonfrüh kritische Töne gegen den Dogmatismus Schopen-hauers und Wagners. 1874 schreibt Nietzsche einenkleinen Aufsatz mit dem Titel Über Wahrheit undLüge im außermoralischen Sinne. »Außermoralisch«meint hier nicht wertend. Eine historische Analyseder moralischen Begriffe.

Noch aber riskiert Nietzsche nicht, seine kritischenGedanken zu veröffentlichen. Über Wahrheit undLüge im außermoralischen Sinne bleibt eine Geheim-schrift. In ihr finden sich bereits Elemente seinerspäteren kritischen Philosophie. Die in dieser Zeitvon ihm publizierten Unzeitgemäßen Betrachtungen,

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Schopenhauer als Erzieher und Wagner in Bayreuthsind Abschiedsschriften.

Nietzsche geht es in der zweiten Hälfte der siebzigerJahre zunehmend schlechter. Kopfschmerzen und einständiges Augenleiden lassen ihn schon 1877 um eineBeurlaubung bitten. Er verbringt den Winter 1877/78in Sorrent bei Neapel zusammen mit seiner mütter-lichen Freundin Malwida von Meysenbug, seinemehemaligen Studenten Alfred Brenner und mit PaulRée, dem Verfasser des >Urspungs der moralischenEmpfindung<. In Rée findet Nietzsche jemanden, mitdem zusammen er philosophieren und arbeiten kann.

1878 erscheint dann Menschliches, Allzumensch-liches. Ein Buch für freie Geister. Dem AndenkenVoltaire's geweiht. Nietzsches Bayreuther Freundewaren entsetzt: Ein Buch Voltaire gewidmet, einemFranzosen und Aufklärer? Nietzsche schreibt überMenschliches, Allzumenschliches: »Es heisst sich einBuch für freie Geister: fast jeder Satz davon drückteinen Sieg aus — ich habe mich mit demselben vomUnzugehörigen in meiner Natur freigemacht.« DasUnzugehörige, das ist Nietzsche nun jeglicher Dog-matismus, jeglicher Glaube — und sei es an ein philo-sophisches System. Die deutsche Aufklärung, die manim 18. Jahrhundert vergeblich sucht, gilt es noch zuentdecken. Man findet sie in Nietzsches Schriften.

In einem Brief ans Marie von Schleinitz schreibtCosima Wagner:

Das Buch von Nietzsche habe ich nicht gelesen. DasDurchblättern und einige prägnante Sätze darausgenügten mir und ich legte es ad acta. Bei dem Autorhat sich ein Prozeß vollzogen, welchen ich schon längsthabe kommen sehen, gegen welchen ich nach meinengeringen Kräften gekämpft habe. Vieles hat mitgewirktzu dem traurigen Buche! Schließlich kam noch Israelhinzu in Gestalt eines Dr. Rée, sehr glatt, sehr kühl,

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gleichsam durchaus eingenommen und unterjochtdurch Nietzsche, in Wahrheit aber ihn überlistend, imKleinen das Verhältnis von Judäa und Germania ...Malwida leugnet durchaus den bösen Einfluß von Dr.Rée, welchen sie sehr gern hat ... Auch bittet sie mich,Nietzsche nicht aufzugeben, aber ich habe für jedenSatz, den ich gelesen, einen Kommentar, und ich weiß,daß hier das Böse gesiegt hat. (KSA 15, 83f.)

Das Böse, die Aufklärung, das Judentum. Hier ent-steht der intellektuelle Antisemitismus: Die Judensezieren Werte, Begriffe, ja, zerstören das Ganze, dieGanzheit. Dies muß auch heute hellhörig machen,wenn neue Ganzheitlichkeitsapostel vor dem Kopfwarnen und von der Intuition des Bauches sprechenund den Sinnen mehr vertrauen als der Vernunft.

In Menschliches, Allzumenschliches und den beidensich anschließenden Büchern, der Morgenröthe undder Fröhlichen Wissenschaft (erschienen zwischen1878 und 1882), macht Nietzsche sich, so der Unter-titel der Morgenröthe, >Gedanken über die morali-schen Vorurtheile<. Gegen die dogmatischen Systemegewandt, bevorzugt Nietzsche jetzt die aphoristischeForm. Nietzsche schreibt als freier Geist für Freigeister.Seine Kopfschmerzen, sein fast ständiges Krankseinlassen die Ausübung seines Berufes nicht mehr zu.1879 bittet Nietzsche um Entlassung aus dem Univer-sitätsdienst. Ein freier Geist, aber auch ein einsamerWanderer zwischen den geistigen und wirklichenWelten, zwischen der Schweiz, Frankreich und Italien.Auf der Suche. In der Fröhlichen Wissenschaftschreibt er: »Auch die moralische Erde ist rund! Auchdie moralische Erde hat ihre Antipoden! Auch dieAntipoden haben ihr Recht des Daseins! Es giebtnoch eine andere Welt zu entdecken — und mehr alseine! Auf die Schiffe, ihr Philosophen!« (KSA 3, 125)

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Am Ende von Nietzsches — wie er sagt — »Frei-geisterei«, dieser späten deutschen Aufklärung, stehtdie erschütternde Erfahrung vom Tode Gottes unddie Frage nach dem Weiter. Wir stürzen fortwährend,es gibt kein Zentrum, keine verbindlichen und ver-bindenden Werte mehr. Wir sind allein. Allein, daswar auch Nietzsche. Schon mit seinen Büchern für»freie Geister«, Menschliches, Allzumenschliches, derMorgenröthe mit dem bezeichnenden Untertitel Ge-danken über die moralischen Vorurtheile< und derFröhlichen Wissenschaft verlor Nietzsche fast alleFreunde, nicht nur diejenigen des Bayreuther Kreises.Neben Paul Rée hatte er vor allem in Lou Saloménoch einmal eine gleichberechtigte Gesprächspartneringewonnen, in die er sich verliebte. Müßig, heute dar-über zu spekulieren, ob Nietzsches Schwester dieFreundschaft zerstörte, oder ob es Nietzsche selberwar oder Lou. Entscheidend bleibt, daß NietzscheLou und Lou Nietzsche verstanden hat, wie MazzinoMontinari schreibt und dann fordert: »geben wirdiesen zwei Menschen ihre Autonomie zurück«. Sieliegt in den Gedanken, den Schriften, den Versuchenund dem Scheitern. Nach dem Scheitern der Freund-schaft mit Lou Salomé und Paul Rée bleibt Nietzscheallein.

Scheitert Zarathustra? Er verwandelt sich fort-während und verwandelte sich schon in den VorstudienNietzsches. Zur Zeit der Freundschaft mit LouSalomé finden wir in den Notizbüchern Nietzscheseinen weicheren Zarathustra; seine Härte, das was unsheute abschrecken kann und sollte, entsteht erst nachdem Bruch mit Lou. Und nur in diesem Zusammen-hang kann nach dem biographischen Hintergrundgefragt werden.

Diese Notizbücher, der Nachlaß Nietzsches, solltenimmer mitgelesen werden. Im Kommentarband derKritischen Studienausgabe' gibt Mazzino Montinari

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die Verweise auf die Vorstufen des Zarathustra. Erstseit der Herausgabe der Historisch-Kritischen Ge-samtausgabe' können wir wirklich dem DenkenNietzsches folgen, vorher blieb alles im Dickicht derArbeiten des Weimarer-Nietzsche-Archivs hängen.

Texte und Fälschungen

Zügig wurden vom Weimarer-Nietzsche-Archiv —1 896 siedelte Elisabeth Förster-Nietzsche von Naum-burg nach Weimar um und bezog die »Villa Sil-berblick« in der Humboldtstraße — die Texte des in-zwischen berühmt gewordenen Philosophen verlegt.Weiterhin wurden auch Briefe Nietzsches der Öffent-lichkeit vorgestellt. Und hier beginnt die Geschichteder Fälschungen: um sich nicht nur als Herausge-berin, sondern auch als Interpretin ihres Bruders zulegitimieren, adressierte Elisabeth Briefe um. WennNietzsche zum Beispiel an einen Freund schreibt,»Du verstehst mich am besten«, so entfernte Elisabethdie Anrede z.B. durch das Verbrennen eines Teils desBriefes. Vielleicht mußte eine Frau am Ende desletzten Jahrhunderts fälschen, um ein bedeutendesArchiv aufzubauen, editorische Arbeiten zu leitenund Wissenschaftsmanagerin zu werden — die ersteDeutschlands.

Ernster zu nehmen sind allerdings ihre inhaltlichenEingriffe in die nachgelassenen Texte. Nietzsche-

' Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in15 Einzelbänden, hrsg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Ber-lin, New York 1988, Bd. 14, S. 279-344 [Zuerst: München, Berlin/NewYork 198o]. Im folgenden zitiert als: KSA.

Friedrich Nietzsche, Werke. Kritische Gesamtausgabe, begr. v. Gior-gio Colli und Mazzino Montinari, weitergeführt von Wolfgang Mül-ler-Lauter und Karl Pestalozzi, Berlin/New York 1967 ff.

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Schüler Heinrich Köselitz, der über sein PseudonymPeter Gast bekannt wurde, berichtet schon 1910 (ineinem Brief) vom »Wahrheitssinn« Elisabeths:

... zu dem Capitel >Der Wahrheitssinn der Frau Förster<muß ich Ihnen eines der Beispiele erzählen, die mir ge-rade vorschweben und mich lächeln machen. Lächeln —denn was sollte man als einstiger Archivmensch nichtalles mitvertreten, das man als anständiger Mensch ebennie vertreten kann. Als wir 1904 an dem II. Band derBiographie druckten, kam auch der Brief N[ietzsche]'shinein, in welchem unser damals 29Jähriger Kaiser fürmissfällige Äusserungen über Antisemiten und Kreuz-zeitung belobt wird. Nun ist Ihnen bekannt, wie heftigFrau Förster danach brennt, den Kaiser für Nietzschezu interessieren und ihn womöglich zu einer anerken-nenden Äusserung über N.'s Tendenz zu bringen. Wasthut sie zu diesem Zweck? (Bitte nehmen Sie Bd. II derBiogr. zur Hand.) Sie schiebt einen Satz ein, der in dembetreffenden Brief N.'s von Ende (nicht Anfang) Okto-ber 1888 gar nicht steht: — sie schreibt auf S. 890, Z. 9 v.u.den Satz hin >Der Wille zur Macht als Princip wäre ihm(dem Kaiser) schon verständlich!> Sie erinnern sich,woher dieser Satz stammt: aus der Vorwort-Skizze zumWillen zur Macht, welche in Bd. XIV, S. 42o abgedrucktist. Die Niederschrift dieser Skizze (auf dem innerenWachstuch-Umschlag des Heftes W IX [= W II 1] ste-hend) gehört zu den schwierigsten Aufgaben der Nietz-sche-Entzifferung. Vor mir hatten sich schon die Hor-neffers daran versucht; ihr Entzifferungstext wies abermehr Lacunen als Worte auf. Nur gerade diesen Satzhatten sie vollständig hingeschrieben. Solche Vorarbeitwird dem, der sich als Zweiter darüberher macht, oftmehr zum Hemm-, als zum Förderniss. Genug: mir, alsdem Zu-Ende-Entzifferer des Stücks, entging damals,dass die Horneffer'sche Entzifferung >Der Wille zurMacht als Princip wäre ihnen (den Deutschen) schonverständlich< im Zusammenhang der Vorwort-Skizzekeinesfalls richtig sein kann. Und wie ich im April

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vorigen Jahres das Heft W IX wieder in die Hand be-komme, bestätigt sich mein Verdacht, dass es ja fraglos>schwer verständlich< statt >schon verständlich< heissenmüsse! — Ist der Witz nun nicht sehr gut, dass wenn FrauFörster exact sein wollte, sie jetzt drucken lassen müsste>der Wille zur Macht als Princip wäre ihm (dem Kaiser)schwer verständlich<?! (KSA 1 4, 743)

Dieses Dokument veröffentlichte Mazzino Montinariin seinem Kommentarband (KSA 14) und weist dar-auf hin, daß schon der erwähnte Brief Nietzsches»eine große Fälschung« sei.

Für den Ecce homo formulierte Nietzsche noch:»ich würde dem jungen deutschen Kaiser nicht dieEhre zugestehen, mein Kutscher zu sein« (KSA 6, 268).

In dem vom Nietzsche-Archiv herausgegebenenEcce homo fehlt dann konsequent nicht nur dieserSatz, sondern der gesamte Abschnitt 3 des erstenKapitels. Noch die Edition von Karl Schlechta (s.nächste Seite) veröffentlicht den gefälschten Eccehomo. Nietzsche verkündet in diesem Abschnittöffentlich einen Bruch mit Schwester und Mutter,gegen den die spätere »autorisierte« Herausgeberinsich schwerlich hätte legitimieren können:

Die Behandlung, die ich von seiten meiner Mutter undSchwester erfahre, bis auf diesen Augenblick, flösstmir ein unsägliches Grauen ein: hier arbeitet eine voll-kommene Höllenmaschine, mit unfehlbarer Sicherheitüber den Augenblick, wo man mich blutig verwundenkann — (ebd.).

Die folgenreichste Arbeit des Archivs war die Her-ausgabe des >Willen zur Macht<. Aus dem reichhaltigenNachlaßmaterial — und unter inkonsequenter Verwen-dung einer der vielen fallengelassenen GliederungenNietzsches — kompilierten die Herausgeber PeterGast, Ernst und August Horneffer 483 numerierte

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Stücke. Dieser erste >Willen zur Macht< erschien 1901als Band 15 der Großoktavausgabe (Leipzig 1894ff.).1906 gaben Elisabeth Förster-Nietzsche und PeterGast einen >Willen zur Macht< heraus (Bände 9 und ioder Taschen Ausgabe), der plötzlich mehr als doppeltso viele Aphorismen enthielt; einige aus der erstenAusgabe fehlten, andere wiederum wurden verändert.Diese Kompilation wird zur Grundlage eines dritten>Willen zur Macht<, der einige »unwesentliche Ände-rungen und Ergänzungen« vornimmt. 1911 erscheintso — wieder unter einem anderen Herausgeber, OttoWeiss, — die noch heute bekannte Version mit nun-mehr 1067 Aphorismen (anstelle des ersten >Willenzur Macht< in die Großoktavausgabe aufgenommen).Welche dieser Fassungen sollte nun als das »Haupt-prosawerk« Nietzsches gelten?

Wessen Texte lesen wir?

Schon die erste in Angriff genommene Historisch-Kritische-Gesamtausgabe, die ab 1934 vom WeimarerArchiv herausgegeben wurde, mußte im Vorwort dar-auf hinweisen, daß der »Wille zur Macht» nicht in dieEdition mit aufgenommen werden könne — weil es ihnals Werk Nietzsches nicht gebe.

In den fünfziger Jahren entbrannte im Anschluß andie Edition von Karl Schlechta' noch einmal ein ab-surder Gelehrtenstreit um den sogenannten »Willenzur Macht«. Karl Schlechta hatte den »Text» unterdem korrekten Titel >Aus dem Nachlaß der achtzigerJahre< herausgegeben. Dies ging dann all denjenigenzu weit, die sich einen deutschen Philosophen ohne

Karl Schlechta (Hrsg.), Friedrich Nietzsche, Werke in drei Bänden,München bzw. Darmstadt o.J. [ i 954ff.1.

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