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  • LESEPRO

    BE

  • Inhalt

    Einführung 9

    teil iDER GROSSE ZUSAMMENSTOSS 57

    1 Reiche und Völker 592 Orientexpreß 1043 Bruchlinien 1374 Das Verhängnis des Krieges 1805 Das Grab der Völker 216

    teil iiREICHSSTAATEN 269

    6 Der Plan 2717 Sonderlinge 3078 Ein Reich der Zwischenfälle 3729 Verteidigung zwecklos 411

    10 Der falsche Frieden 449

    teil iiiTODESRAUM 49311 Blitzkrieg 49512 Im Spiegel 53213 Mörder und Kollaborateure 55814 Die Pforten der Hölle 589

  • teil ivEIN VERGIFTETER TRIUMPH 63115 Die Osmose des Krieges 63316 »Kaputt« 689

    Epilog: Der Niedergang des Westens 739

    ANHANG 799

    Der Krieg der Welt in historischer Perspektive 801Abkürzungen 811Anmerkungen 812Bibliographie 891Karten 947Danksagung 963Ortsregister 969Personenregister 976

  • Einführung

    »Die Häuser sanken … zusammen und spien Flammen aus; die Bäumeverwandelten sich mit Getöse in Feuersäulen. … So begreift man wohldie brüllende Woge der Angst, die durch die größte Stadt der Weltjagte, gerade als der Montag andämmerte – der Strom der Flucht, dermit reißender Schnelligkeit zu einem wilden Gewässer anschwoll, in schäumender Wut um die Bahnhöfe brandete … Träumten sie davon, uns ausrotten zu können?«H. G. Wells, Der Krieg der Welten1

    Das tödliche Jahrhundert

    Der 1898, an der Schwelle zum 20. Jahrhundert, veröffentlichteRoman Der Krieg der Welten ist mehr als nur ein klassisches Werkder Science-fiction-Literatur. Er ist auch eine Art darwinistischesMoralstück – und gleichzeitig ein Buch von einzigartiger Voraus-sicht. In dem Jahrhundert nach seinem Erscheinen wurden die vonH. G. Wells geschilderten alptraumhaften Szenen in Städten über -all auf der Welt Wirklichkeit, nicht nur in London, wo die Roman-handlung angesiedelt ist, sondern auch in Brest-Litowsk, Belgradund Berlin, in Smyrna, Schanghai und Seoul.

    Eindringlinge erreichen den Rand einer Stadt, deren Bewohnerdie Gefahr nur langsam erkennen. Die Angreifer besitzen tödlicheWaffen – gepanzerte Fahrzeuge, Flammenwerfer, Giftgas, Flug-zeuge –, die sie ebenso willkürlich wie gnadenlos sowohl gegenSoldaten als auch gegen Zivilisten einsetzen. Als die Eindringlingedie Verteidigungsanlagen der Stadt überrennen, bricht Panik aus.Die Menschen fliehen Hals über Kopf aus ihren Häusern; Flücht-lingsmassen verstopfen Straßen und Eisenbahnverbindungen. Es

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  • fällt den Angreifern leicht, sie zu massakrieren. Sie werden hinge-schlachtet wie Vieh. Am Ende bleiben nur qualmende Ruinen undBerge von ausgedörrten Leichen zurück.

    Als er sich diese Geschichte von Tod und Vernichtung erdachte,radelte Wells gerade mit einem neu erstandenen Fahrrad durch diefriedlichen Londoner Vororte Working und Chertsey. Die Böse-wichter – und das war sein Genieblitz – stellte er sich als Marsianervor. Als solche Szenen schließlich real wurden, waren die Verant-wortlichen jedoch keine Marsianer, sondern Menschen (die ihreOpfer zur Rechtfertigung der Massaker allerdings häufig als »Un-termenschen« bezeichneten). Was das 20. Jahrhundert erlebte, warkein Krieg der Welten, sondern eher ein Krieg der Welt.

    Das Jahrhundert nach 1900 war ohne Frage das blutigste der Ge-schichte und sowohl relativ als auch absolut betrachtet weit mehrvon Gewalt beherrscht als jede vorherige Epoche. In den beidenWeltkriegen, die das Jahrhundert prägten, wurde ein erheblichgrößerer Anteil der Weltbevölkerung getötet als in irgendeinemfrüheren Konflikt von vergleichbarer geopolitischer Größenord-nung (siehe Abbildung I.1). Obwohl Kriege zwischen Großmäch-ten in früheren Jahrhunderten häufiger waren, erreichten sie niedie Heftigkeit (gemessen an der Zahl der Gefallenen pro Jahr) undDichte (Gefallene pro Nation und Jahr) der Weltkriege.2 Der ZweiteWeltkrieg war in jeder Hinsicht die größte von Menschen verur-sachte Katastrophe aller Zeiten. Und doch waren die Weltkriege,trotz aller Aufmerksamkeit, welche die Historiker ihnen gewidmethaben, nur zwei unter vielen kriegerischen Auseinandersetzungenim 20. Jahrhundert, und mindestens ein Dutzend andere Konflikteforderten wahrscheinlich mehr als eine Million Todesopfer.* Ähn-lich viele Opfer hatten die genozidalen oder »politozidalen« Kriegegegen Teile der Zivilbevölkerung, welche die »Jungtürken« wäh -

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    * Der mexikanische Revolutionskrieg (1910–1920), der russische Bürgerkrieg (1917–1921), die Bürgerkriege in China (1926–1937), der Koreakrieg (1950–1953), die pe-riodischen Bürgerkriege in Ruanda und Burundi (1963–1995), die postkolonialenKriege in Indochina (1960–1975), der nigerianische Bürgerkrieg (1966–1970), derUnabhängigkeitskrieg in Bangladesch (1971), der Bürgerkrieg in Mosambik (1975–1993), der Krieg in Afghanistan (1979–2001) sowie die andauernden Bürgerkriegeim Sudan (seit 1983) und im Kongo (seit 1948).

  • rend des Ersten Weltkriegs, das sowjetische Regime von den zwan-ziger bis zu den fünfziger Jahren und das NS-Regime in Deutsch-land zwischen 1933 und 1945 führten, von Tyranneien wie denje-nigen Kim Il Sungs in Nordkorea oder Pol Pots in Kambodscha ganzzu schweigen.3 Vor, zwischen und nach den Weltkriegen gab es keineinziges Jahr, in dem nicht irgendwo auf der Welt in größerem Aus-maß organisierte Gewalt angewandt worden wäre.

    Warum? Was machte das 20. Jahrhundert – und insbesonderedie fünfzig Jahre zwischen 1904 und 1953 – so blutig? Daß dieseÄra ungewöhnlich gewalttätig war, mag paradox erscheinen. Im-merhin waren die hundert Jahre nach 1900 eine Zeit beispiellosenFortschritts. Schätzungen zufolge wuchs das durchschnittliche glo-bale Pro-Kopf-Inlandsprodukt – das ein ungefähres Maß für dasdurchschnittliche, um Geldwertschwankungen bereinigte Pro-Kopf-Einkommen darstellt – zwischen 1500 und 1870 real umkaum mehr als 50 Prozent. Zwischen 1870 und 1998 dagegen stieges um mehr als das Sechseinhalbfache. Anders ausgedrückt, die

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    Zweiter Weltkrieg

    Erster Weltkrieg

    Dreißigjähriger Krieg

    Napoleonische Kriege

    Spanischer Erbfolgekrieg

    Siebenjähriger Krieg

    Pfälzischer Krieg

    Erster und Zweiter Koalitionskrieg

    Franz.-Niederländischer Krieg

    Großer Türkenkrieg

    Österreichischer Erbfolgekrieg

    Koreakrieg

    0,1 0,2 0,3 0,4 0,5 0,6 0,7 0,8 0,9 1,11,0 1,2 1,3

    Abbildung I.1: Im Kampf Gefallene in Prozent der Weltbevölkerung

  • pauschalierte jährliche Wachstumsrate war zwischen 1870 und1998 dreizehnmal höher als zwischen 1500 und 1870.4 Am Endedes 20. Jahrhunderts lebten die Menschen aufgrund einer Vielzahltechnischer Fortschritte und neuer Erkenntnisse länger und bes-ser als jemals zuvor.5 In weiten Teilen der Welt ist es dank verbes-serter Ernährung und der Bekämpfung ansteckender Krankheitengelungen, die Lebenserwartung der Menschen erheblich zu ver-längern. Hatte diese in Großbritannien 1900 durchschnittlich nur48 Jahre betragen, so lag sie 1990 bei 76 Jahren,6 und die Kinder-sterblichkeit war im Vergleich zur Jahrhundertwende auf ein25stel gesunken.

    Die Menschen lebten nicht nur länger, sie wurden auch größerund kräftiger.7 Darüber hinaus war das Alter weniger bedrückend;in den USA war der Anteil der chronisch Kranken unter Männernzwischen sechzig und siebzig am Ende des Jahrhunderts um zweiDrittel geringer als 1900.8 Immer mehr Menschen waren in derLage, dem – so Marx und Engels – »Idiotismus des Landlebens« zuentfliehen.9 Zwischen 1900 und 1980 stieg der in Großstädten le-bende Anteil der Weltbevölkerung auf mehr als das Doppelte.10

    Weil sie effektiver arbeiteten, hatten die Menschen mehr Zeit fürandere Aktivitäten.11 Diejenigen, die ihre Freizeit nutzten, um fürpolitische Mitbestimmung und eine Umverteilung des Reichtumszu kämpfen, erzielten bemerkenswerte Erfolge. Konnte man 1900nur knapp ein Fünftel aller Länder der Welt als demokratisch be-zeichnen, so war dieser Anteil bis zu den neunziger Jahren auf überdie Hälfte gestiegen.12 Die sich herausbildenden Wohlfahrtsstaatenerfüllten nicht mehr nur grundlegende öffentliche Auf gaben wieVerteidigung und Rechtsprechung, sondern waren auch darauf ver-pflichtet, »Not« sowie »Krankheit, Unwissenheit, Schmutz undMüßiggang« zu beseitigen.13

    Um vor dem Hintergrund dieser positiven Entwicklungen dieaußerordentliche Gewalttätigkeit des 20. Jahrhunderts zu erklären,genügt es nicht, darauf hinzuweisen, daß mehr Menschen auf en-gerem Raum zusammenlebten oder daß es mehr Waffen gab alsjemals zuvor.14 Zweifellos ist es leichter, Massenmorde zu bege-hen, indem man Bomben auf dichtbewohnte Städte wirft, als mitSchwertern eine verstreut lebende Landbevölkerung niederzu-

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  • metzeln. Doch wenn diese Erklärung hinreichend wäre, dann hättedas Ende des Jahrhunderts noch sehr viel gewalttätiger sein müs-sen als der Anfang und die Mitte. In den neunziger Jahren über-stieg die Weltbevölkerung zum ersten Mal die Marke von sechsMilliarden Menschen. Das waren mehr als dreimal so viele wie beiAusbruch des Ersten Weltkriegs, und dennoch war in diesem Jahr-zehnt ein deutlicher Rückgang der bewaffneten Konflikte zu ver-zeichnen.15

    Die höchste militärische Mobilisierungs- und Sterblichkeitsrateim Verhältnis zur Gesamtbevölkerung wurde eindeutig in der er-sten Hälfte des Jahrhunderts erreicht, während der beiden Welt-kriege und jeweils unmittelbar nach ihnen.16 Darüber hinaus istdie Zerstörungskraft der Waffen heute weit größer als 1900, unddoch wurden einige der schlimmsten Greuel des Jahrhunderts mitprimitivsten Waffen verübt: einfachen Gewehren, Äxten, Messernund Macheten (etwa in Zentralafrika wäh rend der neunziger undin Kambodscha während der siebziger Jahre). Elias Canetti hat sicheinst eine Welt vorgestellt, in der »alle Waffen … abgeschafft[werden] und im nächsten Krieg … es nur noch erlaubt [ist] zu beißen«.17 Aber kann man sicher sein, daß es in einer solchenradikal abgerüsteten Welt keine Völkermorde geben würde? Umzu verstehen, warum die letzten hundert Jahre derart zerstörerischwaren, muß man sich mit den Motiven für die Gewalttaten be -fassen.

    In meiner Schulzeit gaben die Geschichtslehrbücher eine Reihevon Erklärungen für die Gewalt des 20. Jahrhunderts. Häufig wurdeein Zusammenhang mit Wirtschaftskrisen hergestellt, so alsließen sich politische Konflikte allein mit Depressionen und Re-zessionen erklären. Ein beliebter Gedankengang bestand darin, denAnstieg der Arbeitslosigkeit in Deutschland mit den zunehmen-den Wahlerfolgen der NSDAP und Hitlers »Machtergreifung« inVerbindung zu bringen und diese wiederum als Ursache des Zwei-ten Weltkriegs zu sehen. Doch ich begann mich zu fragen, ob nichtein rasches Wirtschaftswachstum ebenso destabilisierend wirkenkann wie eine Wirtschaftskrise. Nach einer anderen Theoriedrehte sich im 20. Jahrhundert alles um Klassenkonflikte. Dem-nach waren also Revolutionen eine der Hauptursachen von Ge-

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  • walt. Aber hatten ethnische Gegensätze nicht mehr Bedeutung alsder angebliche Kampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie? Eineweitere These besagt, daß die Probleme des 20. Jahrhunderts Fol-gen extremer politischer Ideologien gewesen seien, namentlich desKommunismus (des extremen Sozialismus) und des Faschis mus(des extremen Nationalismus) sowie früherer böser Ismen, insbe-sondere des Imperialismus.18 Aber was ist mit traditionellen Welt-anschauungen wie den Religionen oder mit Ideen, die auf den er-sten Blick unpolitisch sind, trotzdem aber politische Konsequenzenhaben? Und wer bekämpfte sich in den Kriegen des 20. Jahrhun-derts überhaupt? In den Büchern, die ich als Junge las, spielten im-mer Nationalstaaten die Hauptrollen: Großbritannien, Deutsch-land, Frankreich, Rußland, die Vereinigten Staaten und so weiter.Aber waren einige – oder sogar alle – dieser Länder in Wirklich-keit nicht eher multinationale als nationale Gebilde? Waren sienicht eher Reiche als Staaten? Vor allem erzählten die alten Bücherdie Geschichte des 20. Jahrhunderts als einen in langen, schmerz-lichen Kämpfen errungenen Triumph des Westens. Die Helden –die westlichen Demokratien – wurden von einer Reihe Schurken –Deutschen, Japanern, Russen – herausgefordert, aber am Endesiegte immer das Gute über das Böse. So gesehen, waren die Welt-kriege und der Kalte Krieg auf einer globalen Bühne aufgeführteMoralstücke. Aber waren sie das wirklich? Und hat der Westen denhundertjährigen Krieg, der das 20. Jahrhundert war, tatsächlich ge-wonnen?

    Lassen Sie mich diese tastenden Gedanken eines Schuljungenpräziser ausformulieren. Ich werde im Folgenden zeigen, warumdie von Historikern traditionell angeführten Erklärungen für dieGewalt des 20. Jahrhunderts nicht hinreichend sind, so bedeutsameinzelne Aspekte auch sein mögen. Technische Entwicklungen,insbesondere die größere Zerstörungskraft moderner Waffen, wa-ren zweifellos wichtig, aber sie stellten bloß Reaktionen dar aufden tiefersitzenden Wunsch, effektiver zu töten. Tatsächlich gibtes, wenn man das Jahrhundert als Ganzes betrachtet, keinerleiKorrelation zwischen der Effizienz der verfügbaren Waffen unddem Auftreten von Gewalt.

    Auch mit Wirtschaftskrisen sind nicht alle Gewaltausbrüche zu

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