Offenbarung und Episteme Volume 770 (Zur europäischen Wirkung Jakob Böhmes im 17. und 18....

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Joachim Telle Jakob Böhme unter deutschen Alchemikern der frühen Neuzeit … da spukt allerlei aus drei oder vier Jahrhunderten […], da zuckt Paracelsus auf und Jakob Böhme. Hugo von Hofmannsthal (1927 1 ) Eingedenk der hier in diesen Tagen gestellten Aufgabe, Resultate der neuzeitli- chen Böhme-Forschung zu bilanzieren und – vielleicht durchaus dringlicher – sich textlicher Grundlagen und Bereiche der frühneuzeitlichen Böhme-Rezeption zu versichern, mag es sinnvoll sein, sich nun nicht in die vielfältig beschaffenen Lager der protestantischen Orthodoxie zu begeben und hier etwa einen Abraham Kalau (1612/1686) oder Ehregott Daniel Colberg (1659/1698) zu konsultieren, um auf von theologisch-religiösen Kontroversengewittern heimgesuchtem Ter- rain den Schicksalen Böhmes nachzuspüren. Betreten sei vielmehr ein weitge- hend unerkundeter und unzulänglich kartographierter Nebenschauplatz des früh- neuzeitlichen Böhmismus, auf dem praktizierende Alchemiker agierten, – nicht zu verwechseln mit Autoren, die geläufige alchemische Fachtermini, ›lapis‹, ›es- sentia‹, ›tinctur‹, ihrer fachlichen Kontexte beraubten, solche oft zum sprachli- chen Gemeingut der Gebildeten zählenden Termini in neue Umwelten versetzten, dabei freilich entalchemisierten und in Diensten etwa spiritualistischer Lehren metaphorisch nutzten. Unsere frühneuzeitlichen dramatis personae sind also weder auf Kanzeln noch in Dichterstuben zu treffen, sondern in ofenbestückten Arbeitsstätten, wo unüberschaubar viele ›Feuerkünstler‹ nicht nur in handschrift- lichen oder gedruckten Alchemica blätterten, sondern ihre ›Hände in die Kohlen steckten‹, bestimmte Konzepte der Alchemia medica (Chemiatrie), der Alchemia transmutatoria metallorum oder Alchemia technica in laborantischer Praxis zu verwirklichen suchten, dabei aber eine spezifisch böhmistische Theoalchemie formierten. Die Reihe von Autoren, bei denen sich naturkundliche Darlegungen mit theo- logischen überkreuzten, so ergeben bereits flüchtigste Blicke im frühneuzeitli- chen Alchemicagetürm, besitzt quantitativ einschüchternde Ausmaße. Situiert in einem zwischen heutigen Disziplinen befindlichen Niemandsland, in der Regel gemieden von denen, die es anginge, Literatur-, Theologie-, Philosophie-, Medi- zin- und Pharmaziehistorikern, geraten theoalchemische Konzepte trotz ihrer einst wohl nicht unerheblichen Virulenzen nur selten in historiographische Visiere. 1 Hugo von Hofmannsthal: Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation (1927), zit. n. dem Abdruck in: Hugo von Hofmannsthal: Der Brief des Lord Chandos. Schriften zur Literatur, Kultur und Geschichte. Hrsg. v. Mathias Mayer. Stuttgart 2000, 226–245, hier: 240. Brought to you by | University of Wisconsin Madison Libraries 330 Memorial Library (University of Wisconsin Madiso Authenticated | 172.16.1.226 Download Date | 7/21/12 8:43 AM

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Joachim Telle

Jakob Böhme unter deutschen Alchemikern der frühen Neuzeit

… da spukt allerlei aus drei oder vier Jahrhunderten […],da zuckt Paracelsus auf und Jakob Böhme.

Hugo von Hofmannsthal (19271)

Eingedenk der hier in diesen Tagen gestellten Aufgabe, Resultate der neuzeitli-chen Böhme-Forschung zu bilanzieren und – vielleicht durchaus dringlicher – sich textlicher Grundlagen und Bereiche der frühneuzeitlichen Böhme-Rezeption zu versichern, mag es sinnvoll sein, sich nun nicht in die vielfältig beschaffenen Lager der protestantischen Orthodoxie zu begeben und hier etwa einen Abraham Kalau (1612/1686) oder Ehregott Daniel Colberg (1659/1698) zu konsultieren, um auf von theologisch-religiösen Kontroversengewittern heimgesuchtem Ter-rain den Schicksalen Böhmes nachzuspüren. Betreten sei vielmehr ein weitge-hend unerkundeter und unzulänglich kartographierter Nebenschauplatz des früh-neuzeitlichen Böhmismus, auf dem praktizierende Alchemiker agierten, – nicht zu verwechseln mit Autoren, die geläufige alchemische Fachtermini, ›lapis‹, ›es-sentia‹, ›tinctur‹, ihrer fachlichen Kontexte beraubten, solche oft zum sprachli-chen Gemeingut der Gebildeten zählenden Termini in neue Umwelten versetzten, dabei freilich entalchemisierten und in Diensten etwa spiritualistischer Lehren metaphorisch nutzten. Unsere frühneuzeitlichen dramatis personae sind also weder auf Kanzeln noch in Dichterstuben zu treffen, sondern in ofenbestückten Arbeitsstätten, wo unüberschaubar viele ›Feuerkünstler‹ nicht nur in handschrift-lichen oder gedruckten Alchemica blätterten, sondern ihre ›Hände in die Kohlen steckten‹, bestimmte Konzepte der Alchemia medica (Chemiatrie), der Alchemia transmutatoria metallorum oder Alchemia technica in laborantischer Praxis zu verwirklichen suchten, dabei aber eine spezifisch böhmistische Theoalchemie formierten.

Die Reihe von Autoren, bei denen sich naturkundliche Darlegungen mit theo-logischen überkreuzten, so ergeben bereits flüchtigste Blicke im frühneuzeitli-chen Alchemicagetürm, besitzt quantitativ einschüchternde Ausmaße. Situiert in einem zwischen heutigen Disziplinen befindlichen Niemandsland, in der Regel gemieden von denen, die es anginge, Literatur-, Theologie-, Philosophie-, Medi-zin- und Pharmaziehistorikern, geraten theoalchemische Konzepte trotz ihrer einst wohl nicht unerheblichen Virulenzen nur selten in historiographische Visiere.

1 Hugo von Hofmannsthal: Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation (1927), zit. n. dem Abdruck in: Hugo von Hofmannsthal: Der Brief des Lord Chandos. Schriften zur Literatur, Kultur und Geschichte. Hrsg. v. Mathias Mayer. Stuttgart 2000, 226–245, hier: 240.

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Trotzdem kann angesichts der Notwendigkeit, Eigenarten der intrikaten Theo-sophie Böhmes einlässlicher noch als bislang zu kontextualisieren, eingedenk aber auch der Aufgabe, böhmistische Rezeptionsverläufe möglichst schärfer noch zu konturieren, die Seltenheit historisch-kritischer Erkundungszüge hinein in theoalchemische Schriftenmassive erstaunen. Staunen macht allein schon die Tatsache, dass sich offenbar kaum jemand vom oft gedruckten Wasserstein der Weisen (1619), immerhin der wohl einzigen von Böhme ausdrücklich genannten und zur Lektüre empfohlenen Schrift seiner Zeit,2 alarmieren ließ, obwohl es hier, in biedere Verse gefasst, geradezu programmatisch heißt:3

Die warhafftige Alchimey/Vnd die rechte Theosophey/Seynd/ beyde/ also nahe verwand/Als dem Leib ist die rechte Hand;

Vielleicht noch verwunderter reibt man sich ob nur weniger Erkundungszüge in theoalchemischen Schriftbezirken die Augen, wenn man auf barocke Alchemi-ca mit Titeln wie Auriga chemicus sive theosophiae palmarium4 oder Theologia chymica5 stößt. Und unsere Verwunderung will auch dann nicht weichen, schaut man sich auf den Druckmarkt der Aufklärungszeit um: Sofort fallen mit dem Pseudonym »Theosophia Sternbucta« (1779)6 oder dem Titel Theosophia physi-co-chymica (1791)7 erschienene Publikationen auf, die bereits auf ihren Titelblät-

2 Jakob Böhme: Epistolae Theosophicae, oder Theosophische Send-Briefe. In: Theosophia revelata. Oder: Alle Göttliche Schriften Jacob Böhmens. o. O. 1730 (zit. n. Jacob Böhme: Sämtliche Schriften. Faksimile-Neudruck der Ausgabe von 1730 in elf Bänden. Neu hrsg. v. Will-Erich Peuckert. Stuttgart-Bad Cannstatt 1955–1961, hier: Bd. 9 [1956]), Brief Nr. 28 (6. Juli 1622, gerichtet an Christian Steinberg), 100–104, hier: 104, Abschn. 14: »Der Herr lese den Wasser-Stein der Weisen, darinnen ist viel Wahrheit, und dazu klar, welches [Werk] im Drucke ist«.

3 Anonymus: Wasserstein der Weysen. Oder Chymisches Tractätlein/ darinn der Weg gezey-get/ die Materia genennet/ vnd der Process beschrieben wird/ zu dem hohen Geheymnüs der Universal-Tinctur zu kommen. Frankfurt a. M. 1661 (erstmals Frankfurt a. M. 1619), 125. – Zu dieser theoalchemischen Schrift vgl. Joachim Telle in Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraumes, 2. vollst. überarb. Aufl. Hrsg. v. Wilhelm Kühlmann u. a. 12 Bde. Berlin/New York 2008–2011 (im Weiteren zit. als Killy Literaturle-xikon), hier Bd. 12 (2011), 156 f.

4 Anonymus: Auriga Chemicus, sive Theosophiae Palmarium. In: Theatrum chemicum. Bd. 3. (Erneute Ausgabe) Straßburg 1659, 834–849. – Erstdruck: Tractatulus chemicus, theoso-phiae palmarium dictus. Hrsg. v. Nicolas Barnaud. Leiden 1601.

5 Anonymus: Crollius redivivus. Das ist/ Hermetischer Wunderbaum/ Warinn zu sehen/ wie die wunderbahre Werck Gottes von Liebhabern wahrer Chymischer Artzney/ recht zu ver-stehen/ vnd zu erkennen. Hrsg. v. Anonymus von Feldtaw (Abraham von Franckenberg). Frankfurt a. M. 1635, Buch I-VI: eine »Theologia Chymica« voller »Christlicher Parabolen vnd Ermahnungen«.

6 Theosophia Sternbucta (Ps.): Antwort auf das philosophische Sendschreiben vom […] Stei-ne der Weisen. Berlin 1779. – Geantwortet wird auf John Pordage: Sendschreiben vom […] Steine der Weißheit (erneuter Abdruck Berlin 1779).

7 Anonymus (Gerhard Friederich): Theosophia physico-chymica, das ist, Gottesgelahrheit durch natürliche und chymische Werke erkläret und bewiesen. O. O. 1791: Mit kritischem Hinweis auf Böhme-Rezeptionen unter Freimaurern; im Banne der »hieroglyphischen Waid-

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tern theoalchemische Konzepte zu verstehen gaben, – eben zu einer Zeit, als im aufklärerischen Lager, ernstlich besorgt um den Erhalt der »gesunden Vernunft« und den »Fortgang in der Erkentniß der Wahrheit«, »überall in den Schriften der Goldsucher« eine »besondere Verwandtschaft des chymischen Unsinns mit dem theosophischen und moralischen« diagnostiziert worden ist,8 ja eine Art Theoso-phierung der »höheren Chemie« manchen Aufklärer schreckte: Seit zweihundert Jahren, so hieß es 1790 unter Aufklärern, habe die Alchemie an die Theosophie gegrenzt, jetzt aber habe die Theosophie die Chemie »ganz und gar verdrängt«, »Alchemie und Theosophie«, so entsetzte man sich in aufklärerischen Kreisen, seien nun »in dieser lezten betrübten Zeit beinahe gleichbedeutende Namen. Wer sonst Alchemist im eigentlichen Sinn des Worts war […], ist iezt Theosoph und Vertheidiger des neuen valentinisch mystisch rosenkreuzerischen Systems«.9 Of-fenbar spielten Allianzen zwischen Theosophie und Alchemie in der frühneuzeit-lichen Kulturgeschichte Deutschlands im Rahmen des Hermetismus eine größere Rolle, als man gemeinhin anzunehmen gewillt ist.

Im Übrigen bildeten Einzüge theologischer Autoritäten in das alchemische Sachschrifttum schon zur Zeit Böhmes kein Novum. Die Zahl alchemischer In-terpretamente bestimmter biblischer Zeugnisse, vorzüglich der Genesis, des Hohe Lieds oder Jesus Christus gewidmeter Berichte, ist beträchtlich. Da forderte eben zu dieser Zeit der Paracelsist Oswaldus Crollius (um 1560/1608) in seiner wirk-mächtigen Basilica chymica (1609) eine zunächst von orthodoxen Theologen, später noch von Rationalisten als skandalös empfundene Rollensynthese, dass nämlich »jeder rechtschaffene Theologus auch ein Philosophus [Arztalchemi-ker], vnd […] ein jeder […] wahre Philosophus auch ein Theologus« sein müsse, sei doch ›wahre Weisheit‹ nur vom Verbund einer aus dem ›Licht der Gnade‹ geborenen »Theologia« mit einer aus dem ›Licht der Natur‹ geborenen »Philo-sophia« zu erwarten.10 Auch das erratische Werk des Theoalchemikers Heinrich Khunrath (1560/1605)11 lässt an der Virulenz physikotheologischer Entwürfe aus Alchemikerfedern zur Zeit Böhmes keine Zweifel.

Diese um 1600 durchaus im Aufschwung befindlichen Formationsprozesse alchemotheologischer Konstrukte flankierten manche Legenden: Martin Luther (1483/1546) etwa hatte das handwerkliche Wissen der Alchemiker, ihre metal-lurgischen und destillationstechnischen Fertigkeiten gerühmt und in Destillati-

sprüche« Böhmes, so zeige ihr »Hirtenbrief«, könnten gewisse Freimaurer nichts Verständ-liches mehr schreiben (40).

8 Johann Albert Heinrich Reimarus: Ueber die Schwärmerey unserer Zeiten. In: Göttingi-sches Magazin der Wissenschaften und Litteratur. Hrsg. v. Georg Christoph Lichtenberg u.

Georg Forster. Jg. 3/2 (1782), 237–255, hier: 243.9 Anonymus: Taschenbuch für Alchemisten, Theosophen und Weisensteinforscher, die es sind

und werden wollen. Leipzig 1790, 29. – Angespielt wird auf die Präsenz alchemischer Leh-ren des Basilius Valentinus (16. Jh.) und die unter ›Gold- und Rosenkreuzern‹ des 18. Jahr-hunderts aktuelle Naturmystik.

10 Oswaldus Crollius: Basilica chymica oder Alchymistisch Königlich Kleynod. Frankfurt a. M. 1623 (deutsche Erstübersetzung; lat. Editio princeps: Frankfurt a. M. 1609), Vorrede, 71 f. – Zu Crollius zusammenfassend Killy Literaturlexikon, Bd. 2 (2008), 504–506, s. v. (J. Telle).

11 Dazu resümierend Killy Literaturlexikon, Bd. 6 (2009), 398–400, s. v. (J. Telle).

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onsvorgängen religiös bedeutsame Allegorien endzeitlicher Geschehnisse, des Letzten Gerichts und der Auferstehung erblickt.12 Eben diese Äußerungen sollten protestantischen Alchemoparacelsisten vom Schlage des Nordhäuser Organisten Johann Schauberdt (gestorben nach 1602) genügen, Luther wider Alchemiever-ächter in apologetische Dienste zu nehmen,13 bald dann gefolgt von Joachim Tancke (1557/1609): Diesem Leipziger Universitätsmediziner reichte Luthers Bemerkung, dank ›verborgener [»heymlicher«] Wirkkräfte der Natur‹ ließen sich nach Art metallwandelnder Alchemiker »wunderding« vollbringen, um Luther in den Rang eines bedeutenden »Physicus« zu erheben, habe doch dieser »hocher-leuchtete Mann« und »bewundernswerte Theologe« nach Alchemikerart weitaus »tieffer« als die aristotelistischen Schulgelehrten »in die Natur gesehen«.14

Da konnte man im alchemischen Sachschrifttum bald auch unversehens auf den protestantischen Pfarrer Valentin Weigel (1533/1588) treffen, der sich in seiner Naturphilosophie gelegentlich auf Paracelsica gestützt hatte, zeitgenös-sischen Alchemien indes ferne blieb. Ein kleines pseudoweigelianisches Alche-mica-Korpus15 erinnert aber daran, dass dieser Spiritualist eben zu der Zeit, als ihn orthodoxe Lutheraner oft in einem Federzug mit Paracelsus als ›Fanatiker‹ brandmarkten,16 von Alchemikern annektiert worden ist, ja ein alchemisierter

12 Martin Luther: Werke. Kritische Gesamtausgabe. Tischreden. Bd. 1: Tischreden aus der ers-ten Hälfte der dreißiger Jahre. Weimar 1912, Nr. 1149, 566 f.

13 Johann Schauberdt: Dedikation (Nordhausen/am Harz 1602). In: Johannes von Padua: […] Consummata sapientia seu Philosophia sacra. Hrsg. v. J. Schauberdt. Magdeburg 1602. – Text auch in: Der Frühparacelsismus. Tl. 2. Hrsg. v. Wilhelm Kühlmann u. Joachim Telle. Tübingen 2004 (Corpus Paracelsisticum 2); Tl. 3. Tübingen 2012 (Corpus Paracelsisticum 3 [im Druck] (im Weiteren als Sigle »CP II« u. »III«), hier: CP III, Nr. 149. – Zu Schauberdt vgl. ebd., Nr. 147 (Biogramm).

14 Joachim Tancke: Von der Alchimey würden vnd nutz (Leipzig 1609). In: Promptuarium Al-chemiae, Das ist: Vornehmer gelarten Philosophen vnd Alchimisten Schriffte vnd Tractat/ von dem Stein der Weisen. Hrsg. v. J. Tancke, Leipzig 1610, (1)6v-(5)v, hier: (4) 3r f.; so auch (2)v. – Zu Tancke s. CP III (Anm. 13), Nr. 155 (hier Biogramm)-160; resümierend J. Telle. In: Killy Literaturlexikon, Bd. 11 (2011), 426 f.

15 In Druck gelangten (1.) (Ps.-)Weigel: Himmlisch Manna, Azoth et Ignis, das ist: güldenes Kleinod, handelnd von dem köstlichen Eckstein der Natur. In: Andreas Glorez: Eröffnetes Wunderbuch. Regensburg 1700, 533–574; auch erschienen als Einzelausgabe Amsterdam/Frankfurt a. M./Leipzig 1787 (»neue Auflage«). – (2.) Johannes Aurelius Augurellus: Vel-lus Aureum, et Chrysopoeia, Seu Chrysopoeia Major et Minor, Das ist/ Gülden-Vließ/ Und Gold-erzielungs-Kunst. Aus dem Lateinischen übersetzt von (Ps.-)Valentin Weigel. Ham-burg 1716. – Aufgrund dieser Schriften befand beispielsweise der Theoalchemiker Johann Ludwig Hannemann (Pium, castum et devotum philosophiae adeptae et theologiae orthodo-xae osculum, i. e. exercitatio philosophico-mystico-theologica. Hamburg 1696, 97): Weigel »fuerit Adeptus«. – Angesichts dieser Alchemisierung Weigels kann nicht überraschen, dass Alchemikern in einem Catalogus manuscriptorum chemico-alchemico-magico-cabalistico-medico-physico-curiosorum (Wien 1786, 29) zum Kauf Abschriften angeblicher Weigelia-na-Autographen theologischen Inhalts und der angeblich aus Weigels Besitz stammenden ›Explicatio in prophetam Danielem‹ Hohenheims angeboten worden sind.

16 Zu den frühneuzeitlichen Wechselbeziehungen zwischen Paracelsismus und Weigelianismus vgl. CP III (Anm. 13), Nr. 125; mit Weigel-Biogramm.

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(Ps.-)Weigel in lehrdichterischer Pose über verborgene Interdependenzen zwi-schen laborantischer Praxis und »Theologia« belehrte:17

Der antimonio vnnnd das bley,Sint das principal der Alchimey;Die vorgebliche metalla zu tranßmutiren, In sol vnnd luna sie zu figiren.Solches nicht vermag weder sol noch lunaOhne bley vnndt antimonio,Doch kanstu nicht gesein ein rechter Alchimist,Du seiest denn auch ein warer Christ.

Eine außerordentlich steile Alchemikerkarriere insbesondere unter Pietisten war schließlich dem wohl wirkmächtigsten Schriftsteller des frühneuzeitlichen Re-formprotestantismus beschieden, Johann Arndt (1555/1621): Seine medizinisch-naturkundlichen Kenntnisse – Arndt hatte im Paracelsistennest Basel bekanntlich Medizin studiert, nicht etwa Theologie –, seine wohl zeitweilig vom eng befreun-deten Arzt Melchior Breler18 beflügelte Aufgeschlossenheit für laborantische Praktiken, vornehmlich aber seine paracelsistisch unterfütterte Naturphilosophie, wie sie Arndt am markantesten wohl in seinen Darlegungen über ›das große Welt-buch der Natur‹ in seinem ›Best- und Longseller‹ Vom wahren Christentum (Buch IV: Liber naturae) dargetan hatte, boten einer massiv-mystifikatorischen Adepti-sierung Arndts beste Nahrung. Verzweigt-vielgestaltige Mystifikationsvorgänge wandelten Arndt seit dem 17. Jahrhundert in einen erfolgreichen Großmeister der Transmutationsalchemie, dazu auch in einen Verfasser einschlägiger Alchemica. Schließlich sollte ein böhmistischer Alchemiker ungewöhnlichen Rangs, Fried-rich Christoph Oetinger, in Arndt einen Alchemiker feiern, der sich auf die labo-rantische Praxis noch weitaus besser verstanden habe als die Alchemikerfürsten Raimundus Lullus und Jakob Böhme, ja erklärte selbst der große Aufklärungs-theologe und Alchemiker Johann Salomo Semler, Arndt habe »den sogenannten Proceß [zur Präparation des ›Steins der Weisen‹] in einer sehr leichten und ganz gewissen Formel« besessen und diesen »Proceß« »vielmalen, sogar in seiner Stu-be, ganz glücklich ausgearbeitet«.19

Doch mit diesen drei hervorragenden Gestalten des frühneuzeitlichen Pro-testantismus nicht genug: Bald schon wurde nach Luther, Weigel und Arndt von nicht wenigen Alchemikern ein Mann zwangsrekrutiert, der erklärt hatte, er sei

17 Ps.-Weigel: De Reconditis Alchimiae et Theologiae. In: Heidelberg, UB, Cod. pal. germ. 782 (um 1600), Bl. 178r. – Der Dichtung voran steht die »Expositio Wigelij de Azot et Ignis«. Beiden Texten gilt folgender Kopistenvermerk (Bl. 179r): »Haec sunt secreta secretorum ex Autographo Wigelli, nemini nisi fidelibus sapientiae filiis reuelanda«.

18 Zu diesem Verfasser medizinischer und religiös-theosophischer Schriften vgl. Killy Litera-turlexikon, Bd. 2 (2008), 172, s. v. (J. Telle).

19 Einzelnachweise bei Joachim Telle: Johann Arndt – ein alchemischer Lehrdichter? Bemer-kungen zu Alexander von Suchtens »De lapide philosophorum« (1572). In: Strenae natali-ciae. Neulateinische Studien. Wilhelm Kühlmann zum 60. Geburtstag. Hrsg. v. Hermann Wiegand. Heidelberg 2006, 231–246. – Zu Arndt resümierend Killy Literaturlexikon, Bd. 1 (2008), 204–207 (J. P. Wallmann).

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kein »Alchymist« und bar alchemometallurgischer ›Erfahrungen‹,20 der aus-drücklich versicherte, weder die alchemische »Kunst« noch deren laborantischen »Handgriffe« zu kennen,21 ja die »Kunst« deklassierte22 und sich strikt geweigert hatte, auf alchemischen Gebieten Ratfragende über etwas zu belehren, was er selbst nicht könne23: Der Görlitzer Theosoph Jakob Böhme.

20 Jacob Böhme: Morgen-Röte im Aufgangk. In: Ders.: Werke. Hrsg. v. Ferdinand van Ingen. Frankfurt a. M. 1997 (Bibliothek der frühen Neuzeit 2. Abt. 6), Kap. 22, 420: »Du darffst mich darumb [wegen seiner Darlegungen »Von den Metallen in der Erden«] für keinen Al-chymisten halten/ dan ich [Böhme] schreibe allein in Erkändtnuß des Geistes/ und nicht durch erfahrenheit«, doch gab Böhme vor zu wissen, »in wie viel Tagen […] solche dinge [hier: »gold«] müssen praepariret werden«.

21 Böhme, Epistolae Theosophicae (Anm. 2), Brief Nr. 10 (an Abraham von Sommerfeld, 1620), 29–41, hier: 39 f., Abschn. 43: »Ich [Böhme] sehe wol dasselbe [nämlich etwas, was »den Stein der Weisen zu allen Geheimnissen« »öffnet«], aber mir gebühret nicht dasselbe anzurühren, habe auch keine Kunst noch Handgriffe darzu, sondern stelle nur ein offen Mys-terium dar: […] bey mir suche niemand das Werck«.

22 Zur Abwehr auf metalltransmutatorischen Unterricht gerichteter Lesererwartungen erklärte Böhme im Vorwort zu seiner von alchemischen und astrologischen Termini sowie mannigfa-chen Assimilationen der paracelsischen Drei-Prinzipien-Lehre durchsetzten Schrift De sig-natura rerum oder Von der Geburt und Bezeichnung aller Wesen […]; Item, Wie die äussere Cur des Leibes, aus der Kranckheit, durch seine Gleichheit wieder in das erste Wesen müsse geführet werden […].Darbey Gleichniß-weise der Stein der Weisen, zur zeitlichen Cur, mit dem heiligsten Eckstein der Weisheit, Christo, zur ewigen Cur der neuen Wiedergeburt, ein-geführet wird (1622), zit. n. dem Abdruck in der Theosophia revelata (in: Jacob Böhme: Sämtliche Schriften. Faksimile-Neudruck der Ausgabe von 1730 in elf Bänden. Neu hrsg. v. Will-Erich Peuckert. Stuttgart-Bad Cannstatt 1955–1961, hier: Bd. 6 [1957], 2, Abschn. 5): »Es ist aber nicht meine Meinung, den Menschen in unverstandene, unnütze Kunst, darzu er nicht von GOtt beruffen noch begabet, einzuführen, weil ich sie auch selbsten nicht in [3] der Praxi führe noch treibe, sondern nur die Möglichkeit aller Dinge, nebenst der besten Praxi der neuen Wiedergeburt anmelde, und den von GOtt darzu Begabten zu den äusseren Dingen Anleitung gebe: Dieweil doch ja die Zeit der Eröffnung aller Heimlichkeiten nahet und anbricht«.

23 Böhme, Epistolae Theosophicae (Anm. 2), Brief Nr. 28 (an Christian Steinberg, 6. Juli 1622), 103, Abschn. 12: Böhme erklärt, er habe das, was das »Philosophische Werck der Tinctur« betreffe, »nicht in der Praxi«, es liege »das Siegel GOttes davor«; Abschn. 14: »Wie wolte ich [Böhme] dann andere davon [von der alchemischen Präparation der Tinktur] ausführlich lehren? Ich kann es noch selber nicht machen: Ob ich schon etwas weiß, so soll doch keiner mehr bey mir suchen als ich habe«. – Mangelnde Zeugnisse hinderten Historiker freilich nicht, nach Art böhmistischer Mystifikatoren seine astroalchemische Parabolik zu chemisieren und Böhme unter die praktisch tätigen Alchemikerscharen zu reihen, so etwa Lawrence M. Principe und Andrew Weeks: Jacob Boehme’s Divine Substance »Salitter«: its Nature, Origine, and Relationship to Seventeenth Century Scientific Theories. In: British Journal of the History of Science 22 (1989), 53–61: Böhmes Gebrauch des Terminus »Salit-ter« bezeuge »a considerable understanding of practical alchemy« (54) bzw. »a knowledge of both theoretical and practical alchemy« (61). Vgl. auch Pamela H. Smith: The Body of the Artisan. Art and Experience in the Scientific Revolution. Chicago, London 2004, 161: Böhmes »Saliter«-Lehre »apparently resulted in part from his practical alchemical work« (arglos formuliert im Anschluß an Principe/Weeks).

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Spätestens seit Werner Buddecke der Böhme-Forschung zu einer biblio-graphisch soliden Grundlage verholfen hatte,24 weiß man, dass von anonymen Böhmisten unter Titeln wie Idea chemiae Böhmianae adeptae (1690)25 oder Metallurgia Böhmiana (1695)26 vermeintliche ›Anleitungen‹ Böhmes zur labo-rantischen Präparation des ›Steins der Weisen‹ an Alchemiker adressiert worden sind,27 bei denen es sich um nichts als vorab aus Böhmes De signatura rerum, Mysterium magnum und Aurora gespeiste und assoziativ collagierte Zitatantho-

24 Werner Buddecke: Die Jakob Böhme-Ausgaben. Ein beschreibendes Verzeichnis. 1. Tl.: Die Ausgaben in deutscher Sprache. Göttingen 1937 (Hainbergschriften 5); 2. Tl.: Die Überset-zungen. Göttingen 1957 (Hainbergschriften N. F. 2).

25 Idea chemiae Böhmianae adeptae, Das ist: Ein Kurtzer Abriß Der Bereitung deß Steins der Weisen/ Nach Anleitung deß Jacobi Böhm. Wie auch eine Schutz-Schrifft wegen Böhm/ und Seiner Schrifften. Amsterdam 1690: Der Herausgeber rühmt in Böhme einen Alchemiker vom Range eines Pierre Jean Fabre, Michael Sendivogius, Johann Grasse, George Ripley und (im Banne theoalchemischer Legenden) eines Johann Arndt (Vorrede); wie P. J. Fabres Alchymista Christianus (1632) und Hercules piochymicus (1634) sowie dem Wasserstein der Weisen, so könne man auch Böhmes Schriften entnehmen, »daß das grosse Werck [der Alchemiker] mit der gantzen Theologia symbolizirt« (95). Im Übrigen verspricht der Ano-nymus ein (wohl nicht entstandenes) »Opus physicae Böhmiane« (Vorrede). – Erneute Aus-gabe: Kurtze […] Beschreibung des Steins der Weisen, Nach Seiner Materia, aus welcher er gemachet, nach seinen Zeichen und Farbe, welche im Werck erscheinen, nach seiner Kraft und Würckung […] und was insgemein bey dem Werck in acht zu nehmen. Amsterdam 1747.

26 Metallurgia Böhmiana, Das ist: Eine Beschreibung der Metallen/ nach ihrem Ursprung und Wesen/ und wie sie auß dem Mercurio, Sale und Sulphure gebohren werden. Nach deß Ja-cobi Böhmii Philosophi Teutonici principiis. Amsterdam 1695: Böhme habe nicht ›im Feuer gearbeitet‹ (laboriert); bei seinen alchemischen Lehren handele es sich um göttliches Of-fenbarungswissen (304). Der Herausgeber rät zur Lektüre J. Arndts (Vorrede) und erwähnt Philipp Jakob Spener (351 f.); seine angekündigten Schriften, ein Traktat »Von der Gebärung der Elemente« (152) und ein Werk zu Böhmes »Von der Gnadenwahl« (27), gelangten wohl nicht in Druck.

27 Vgl. etwa auch: Einleitung Zum Wahren und gründlichen Erkänntnis Des grossen Geheim-nisses der Gottseligkeit: GOTT geoffenbaret im Fleisch; Bestehende in einem Kernhafften Auszug Aller Theologischen/ Theosophischen und Philosophischen Schrifften […] Jacob Böhmens, Alles nach dessen Grund-Sätzen Von drey Principien und sieben Eigenschafften der Natur […] verfasset/ […] Nebst […] einem Anhang/ […] von Zubereitung der wahren Medicin, und von dem Philosophischen Werck und Universal. Amsterdam 1718; mit »Ap-pendix, Oder: Kurtzer Anhang/ Des grossen Geheimnisses der Gottseligkeit; Von der Signa-tur […] aller Creaturen/ […] von dem Ursprung der Kranckheiten/ und der wahren Medicin, […] Von dem Lapide Philosophorum, seiner ersten Materia, dem wahren Process, von der eigentlichen Tinctur der Metallen […]; Aus des Autoris [Böhmes] Schrifften gezogen«. – Kurzer […] Auszug der […] wichtigsten […] Stellen aus den Schriften […] Jakob Böhms, wovon […] die Dritte und lezte Abtheilung die Bereitung des Steins der Weisen in sich ent-hält. Frankfurt a. M./Leipzig 1762: Mit einem gereimten »Gebeth, um Offenbarung der phi-losophischen Materie zur Bereitung des Steins der Weisen« (250–256); erneute Ausgaben: Frankfurt a. M./Leipzig 1800, Basel 1800 u. Männedorf o. J. [19. Jh.]. – Die letzte Posaune an alle Völker oder Prophezeyungen des […] Theosophi Jacob Böhmens von naheseyenden Untergang des Antichrists und Babels […], von der Tinctur der Weisen […], nebst andern Geheimnissen mehr. Berlin/Leipzig 1779, 71–76: »Vom finden des Vniversals für Seele und Leib, eine kurze Summa des Philosophischen Werks«. – Theosophische Beschreibung der Tinktur der Weisen und der Cur aller Krankheiten, aus […] Jakob Böhmens Schriften. Ber-lin/Leipzig 1780.

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logien handelt. Diese vermeintlichen Wegweiser zum ›Stein der Weisen‹, dem ›Naturheiland‹ der Theosophen, aber auch die Überlieferungsgemeinschaft von Böhme-Exzerpten mit Alchemica28 signalisieren kraftvolle Alchemisierungen der Böhme’schen Theosophie, die durchaus auch im anti-böhmistischen Schrifttum aus Theologenfeder vermerkt worden sind29 und deren Ausmaße sich noch be-trächtlicher ausnehmen, nimmt man frühneuzeitliche Verzeichnisse alchemischer Sachschriften zur Hand oder beachtet man Lektüreempfehlungen von Alchemi-kern für Alchemiker.

Was ältere Kenner betrifft, die die frühneuzeitlichen Alchemicafluten biblio-graphisch zu bändigen suchten, so sei hier nur Friedrich Roth-Scholtz (1687/1736) genannt: Ohne Wimpernzucken nahm dieser vorzügliche Alchemicaexperte Böh-mes Mysterium magnum in seine Bibliotheca chemica auf, dazu die Idea und Metallurgia,30 ebenso Hermann Fictuld, der sowohl in Böhme31 als auch im böh-mistischen Theoalchemiker Georg von Welling32 mustergültige »Magi, Cabbalis-ten und Theosophen« zu rühmen wußte. Und obwohl Nicolas Lenglet du Fresnoy (1674/1755) in Böhmes Schriften nichts als ›fromme Allegorien‹ aus der Feder eines extremistischen Metaphorikers fand, aber keine Spuren alchemisch belang-voller Lehren33, erhielten in seiner Histoire de la philosophie hermétique (1742) einige Böhmiana einen Platz.34

28 Kassel, Landesbibliothek, 4° Ms. chem. 64 (17. Jh.), Bl. 125r-244v: Böhmiana.29 So etwa von Johann Frik: Gründliche Untersuchung Jacob Böhmens vornehmster Irrthümer/

So auß dessn eigenen Schrifften gezeiget/ und auß H[eiliger] Shrifft [sic!] widerlegt werden. Ulm 1700. – Frik zählte zu den Verirrungen der Anhänger Böhmes (40), dass sie aufgrund gewisser von Böhme mit Hilfe des Terminus »Lapis philosophorum« formulierter Lehrsätze »ihre gröste und einige Geheimnis in Chymicis und Veränderung der Metallen/ Silber vnd Gold suchen«.

30 Friedrich Roth-Scholtz: Bibliotheca chemica, Oder Catalogus von Chymischen-Büchern. Nürnberg, Altdorf 1727, 30. – Außerdem genannt wird in Verkennung ihres anti-böhmi-schen Charakters eine Schrift des Monogrammisten E. I. H.: Der entlarvete Jacob Böhm/ Oder Gründliche Anzeigung/ wie dessen so genandte Theosophische Schrifften anzusehen/ und woher ihm solche Wissenschafften erwachsen sind/ Nebst angehengeter Dissertation, De Adeptis. O. O. 1693: Böhme wird als ein »Chymischer Theologus« Paracelsischen Ge-blüts präsentiert, den zu lesen eine »rechte Hirn-Marter« sei; weil allein gegründet auf »des Schreibers schwaches Gehirn und irriger Lehrmeister Schrifften«, solle man die Böhmiana verbieten (40).

31 Hermann Fictuld: Des Längst gewünschten und versprochenen Chymisch-Philosophischen Probier-Steins Erste Classe, In welcher der […] ächten Adeptorum […] Schrifften […] ent-decket worden. Dresden 1784 (erneute Druck der Ausgabe Frankfurt a. M./Leipzig 1753), 54 f.

32 Hermann Fictuld: Der längst gewünschte […] Chymisch-Philosophische Probier-Stein. Frankfurt a. M./Leipzig 1740, 62–65.

33 (Nicolas Lenglet Dufresnoy:) Histoire de la philosophie hermétique. Accompagnée d’un Catalogue raisonné des Ecrivains de cette Science. Bd. 3. Paris 1744 (erstmals Paris 1742), 124: »Cet Auteur [Böhme] est extrêmement métaphorique. Sur sa réputation j’ai cru qu’il contenoit de grands mystéres, je l’ai lû & n’y ai trouvé que quelques dévotes allégories, sans aucune instruction sur la Philosophie Hermetique«.

34 Lenglet Dufresnoy (Anm. 33), 124 f., s. v. Bohem: »De signatura rerum« in französi-scher Übersetzung (»Miroir temporel de l’Eternité […]. Francofurti. 1669«), Metallurgia (Anm. 26); Theosophia revelata [1730]; Idea (Anm. 25).

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173Jakob Böhme unter deutschen Alchemikern der frühen Neuzeit

Um orthodoxe Angriffe auf Böhme zu entkräften, behauptete der spiritualis-tische Prediger Friedrich Breckling (1629/1711) im Zuge seiner Abwehr gegen ihn gerichteter Heterodoxieanklagen von ungenannten »Theosophi/ Medici und Chymisten/ welche durch die Experimental-Philosophiam und Chymiam biß zum Centro/ Grund und Wurtzel aller Dinge« durchdrängen, – eben diese überaus fä-higen ›Experimentalphilosophen‹ hätten aus Jakob Böhmes Schriften weit mehr naturkundliches Wissen geschöpft, als ihnen »durch aller Chymisten und Rosen-Creutzer Bücher je geoffenbahret« worden sei.35 Solche unter religiösen Dissi-denten eingeschliffenen Mystifikationen – sie sollten den Görlitzer Theosophen zum ›Hermes Trismegistus Teutonicus Redivivus‹ entstellen36 – nehmen der Tat-sache, dass Alchemiker in ihren Sachschriften zur Lektüre Böhmes ermunterten, alles Zufällige.

Beflügelt von der Doktrin, dass zwischen ›natura‹ und ›scriptura‹ engste Wechselbeziehungen, insbesondere zwischen dem alchemischen ›Werk‹ und dem Sechstagewerk Gottes oder Geburt, Tod und Auferstehung Jesu Christi na-turkundlich aufschlussreiche Analogien bestünden, riet beispielsweise ein in die Wolle gefärbter Hermetiker, der Kieler Universitätsmediziner Johann Ludwig Hannemann (1640/1724) verschiedentlich zur Lektüre des ›Adepten‹ Böhme: »Hic philosophus in suo opusculo de Signatura rerum, & passim in suis scriptis multa egregia de L[apide] P[hilosophorum] habet, ac profundas meditationes ex hac philosophia cum Theologia Symbolizante in medium profert, ac cum erudi-to orbe communicat«.37 Auch späterhin blieb der ›Adeptus‹ Böhme aktuell. So rückte man gold- und rosenkreuzerischen Anhängern der ›geheimen Naturlehre‹ in hemdsärmeliger Eklektikermanier manche ›Moderni‹ (zum Beispiel M. Sen-divogius, P. J. Fabre, Hermann Fictuld, Georg von Welling) gemeinschaftlich mit oft schon seit langem kanonisierten ›Klassikern‹ der Transmutationsalchemie (so

35 Friedrich Breckling: Anti-Calovius sive Calovius cum Asseclis suis prostratus et Jacob Böh-mius Cum aliis testibus veritatis defensus. O. O. 1688, E2r-v, zit. n. Carlos Gilly: Vom äyp-tischen Hermes zum Hermes Trismegistus Germanus. Wandlungen des Hermetismus in der paracelsistischen und rosenkreuzerischen Literatur. In: Konzepte des Hermetismus in der Literatur der Frühen Neuzeit. Hrsg. v. Peter-André Alt u. Volkhard Wels. Göttingen 2010 (Berliner Mittelalter- und Frühneuzeitforschung 8), 71–131, hier: 97. – Zu Breckling resü-mierend Killy Literaturlexikon, Bd. 2 (2008), 161 f. (D. Blaufuß).

36 Metallurgia (Anm. 26), Vorrede, )(2r u. )(3r.37 Johann Ludwig Hannemann: Instructissima Pharus In Oceano Philosophorum ostendens

Viam veram & tutam. Ad ophir auriferum. Kiel 1712, 156 f.: Böhme erscheint unter Verweis auf dessen Sendbriefe neben dem »summus Theologus Philosophus, & medicus divinus Pa-racelsus«, Raimundus Lullus und Arnald von Villanova als Autorität in der durch die Zeiten umstrittenen Frage über die zeitliche Dauer des alchemischen ›Werks‹ (von Hannemann formuliert aus Kenntnis von Böhme, Sendbrief Nr. 15, an Johann Daniel Koschwitz, 3. Juli 1621. In: Epistolae Theosophicae [Anm. 2], 63, Abschn. 10: Ein gewisser »Proceß« »darf wol erst im siebenten Jahr […] zu End lauffen«); Zitat: 156. – Cato chemicus Tractatus Quo Verae ac Genuinae Philosophiae Hermeticae […] accurate delineantur. Hamburg 1690, A 12 (empfohlen gemeinschaftlich mit J. Arndt, Julius Sperber und Paracelsus). Ausdrücklich als ›Adept‹ figurierte Böhme auch in Hannemanns »Osculum« (Anm. 15), 97 (gemeinsam mit J. Arndt und J. V. Weigel); Otium Friedrichstadiense, seu Tantalus chemicus. i. e. Commen-tarius Physico-chemicus de L. P. B. Hamburg 1717, 40: »[…] Böhmium in arte divina non fuisse peregrinum vel exulem«.

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etwa Geber, Bernardus Trevisanus, George Ripley, [Ps.-] Paracelsus, Basilius Va-lentinus) in den Blick, – »nützlich« seien aber insbesondere »scripta mystica«: Der theomedizinische Raphael oder Arztengel von Abraham von Franckenberg (1593/1652)38 und Böhmes Aurora, vor allen anderen Lehrschriften aber ein ge-wisser Text in Böhmes De signatura rerum, handele es sich doch um einen Basis-text für die laborantische Praxis.39 In frühneuzeitlichen Richtungskämpfen unter Alchemikern, ausgetragen beispielsweise zwischen ›Vitriolisten‹, ›Nitristen‹, ›Mercurialisten‹, ›Saturnalisten‹, ›Antimonialisten‹, ›Exkrementisten‹, wurden gewisse Autoren geächtet, andere ignoriert oder gerühmt. Dass man in diesen Kontroversengetümmeln relativ häufig zur Lektüre Böhmes riet, verrät einiges über seine frühneuzeitliche Wirkmächtigkeit.

Ob man nun den fränkischen Alchemoparacelsisten Johannes Pharamundus Rhumelius mit Ernst Salomon Cyprian zu den ›zärtlichsten Liebhabern‹ Böh-mes zählen darf,40 sei dahingestellt.41 Einen wohl allenfalls selten beachteten Niederschlag fanden Böhmes philosophisch-theologische Spekulationen jeden-falls in der frühneuzeitlichen Salzalchemie:42 Gewiss beruhte die keineswegs selbstverständliche Tatsache, dass angesichts der Unzahl natürlicher Substanzen auffällig viele Alchemiker gerade Salz beschäftigte, teilweise auf der wachsen-den Prominenz, die Salz aufgrund der Paracelsischen Drei-Prinzipien-Lehre seit dem 16. Jahrhundert zu genießen begann. Den mächtigen Aufschwung der Salzalchemie begünstigten mit ziemlicher Sicherheit in nicht unbeträchtlichen Ausmaßen aber auch Theoalchemiker von der Art eines Heinrich Khunrath, die Salz allein schon eingedenk seiner bedeutsamen Rolle in der Heiligen Schrift mit besonderer Aufmerksamkeit bedachten. Schließlich trugen die Strahlkräfte gerade der paracelsistischen Drei-Prinzipien-Lehre Böhmes, in der »Salniter« bzw. »Salitter« immerhin einen primaterialen Rang einnimmt, im Verein mit dem Khunrath’schen Werk merklich dazu bei, dass die Salzalchemie nach Zeug-nis namhafter Böhmisten, etwa Georg von Wellings, vorab unter laborierenden Theosophen heimisch geworden war, deren heute vielleicht bekannteste Gali-

38 Zu dem Freund und ersten Biographen Böhmes, an dessen alchemomedizinischen Neigun-gen insbesondere seine paracelsistisch-theosophischen Gesundheitslehren im »Raphael« erinnern, vgl. resümierend Killy Literaturlexion, Bd. 3 (2008), 529–531, s. v. (J. Telle).

39 Anonymus: Anweisung eines Adepti hermetische Schriften nützlich zu lesen. Annotiert und hrsg. v. einem »wahren Freymaurer«. Leipzig 1782, 21. – Der Verfasser bezog sich auf den »Proces Christi« (s. Jakob Böhme: De signatura rerum. In: Werke. Hrsg. v. Ferdinand van Ingen [Anm. 20], Kap. 11, 670–700): Hier lehre Böhme, wie man bei der laborantischen Präparation der ›Universalmedizin‹ »nach der Aehnlichkeit der Leidensgeschichte Jesu, mit dem Chaos der Weisen [der arkanen Materia prima der Alchemiker] verfahren« müsse.

40 Ernst Salomon Cyprian: Fernere Anmerckungen von Arnolds Partheylichkeit und Verfäl-schung der Scribenten. In: Gottfried Arnold: Unpartheyische Kirchen- und Ketzer-Historien. Bd. 3. Schaffhausen 1742, 113 f.

41 Eine Durchsicht von über fünf seit den 1630er Jahren erschienenen Rhumelius-Drucken einschließlich der »Medicina Spagyrica Tripartita Oder Spagyrische Artzneykunst« (erneute Ausgabe Frankfurt a. M. 1662) lässt an Cyprians Nachricht zweifeln.

42 Vgl. dazu Joachim Telle: »Vom Salz«. Eine deutsche Alchemikerdichtung der frühen Neu-zeit über den Gewinn einer Universalmedizin. In: Pharmazie in Geschichte und Gegenwart. Festgabe für Wolf-Dieter Müller-Jahncke zum 65. Geburtstag. Hrsg. v. Christoph Friedrich u. J. Telle. Stuttgart 2009, 457–484.

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175Jakob Böhme unter deutschen Alchemikern der frühen Neuzeit

onsfigur, der Böhmist Friedrich Christoph Oetinger (1702/1782), im Zuge seiner theoalchemischen Rettungen der »Metaphysic« mittels seiner »Patriarchalphy-sik« alias Alchemie erklärte, dass der »wahre Chemicus und Nachahmer GOttes« aus »Saltz« ein »wahres süsses Oel« bzw. »das allersüsseste Wesen« und »das universelleste Principium« extrahieren könne.43

Vermutlich formierte sich die wissenschaftsgeschichtlich gewichtige Salzal-chemie unter manchen epistemologischen Unsicherheiten, wie sie gerade dif-fusen, sowohl von Elementen der böhmistischen Theosophie als auch rational-empirischen Verfahrensweisen und laborantischen Praktiken geprägten Gemen-gelagen eigen sind. Die naturkundlich innovativen Potentiale der philosophisch-theologischen Spekulationen Böhmes entluden sich jedenfalls nicht von ungefähr nahezu wuchtig im frühneuzeitlichen Amsterdam. In dieser Böhmistenhochburg wirkte Johann Rudolf Glauber (1604/1670), durchaus ein Großer der barocken Salzalchemie. Über die Feier seiner chemisch-technologischen Leistungen ma-chen Historiographen leicht vergessen, dass Glauber in sich einen hervorragen-den ›Feuerphilosophen‹ und Meister einer paracelsistisch geprägten »Halchy-mia« (»Salzschmeltzung«) mit einem zeitweilig quintomonarchistisch gesinnten Dissidenten verband, der in der Sicht zeitgenössischer Gegner unter dem »schein der wissenschafft«, aber auch einer »angenommenen schein heiligkeit« als ein »newer Prophet« agierte und statt öffentliche Kirchen zu besuchen, »seyner ey-genen schwirmerey im Hauß« oblag.44 Für sicher kann man jedenfalls nehmen, dass sich Glauber zu den Lesern des »frommen« Theologen Böhme zählte, den ›Chymicus‹ Böhme, weil kein Practicus und »übel verständlich«, freilich nicht akzeptierte.45

Eben im Amsterdam der 1650er Jahre und hier gemeinsam mit Glauber zum Autorenkreis des Böhme-Verlegers Heinrich Betke gehörig, lebte Johann Hart-precht (um 1610/nach 1661), der ebenfalls eine Salzalchemie verfocht, doch durchaus anders als Glauber seine synkretistischen Salzlehren ausdrücklich mit Elementen der Naturschau Böhmes durchsetzte: Man lernt in diesem einst be-

43 Friedrich Christoph Oetinger: Die Lehrtafel der Prinzessin Antonia [1763]. Hrsg. v. Reinhard Breymayer u. Friedrich Häussermann. Tl. 1. Berlin 1977 (Texte zur Geschichte des Pietis-mus. Abt. VII. 1), 239–244: »Weitere Ausführung des Grundbegriffs vom Saltz«, hier: 240 f., mit dem Hinweis: »wie mir [dem Theoalchemiker Oetinger] der [laborantische] modus [der Extraktion] wohl bekannt ist«. – Über einige Züge der böhmistischen Alchemie Oetingers informiert Ulrike Kummer: Autobiographie und Pietismus. Friedrich Christoph Oetingers »Genealogie der reellen Gedancken eines Gottes=Gelehrten«. Untersuchungen und Edition. Frankfurt a. M. 2010. – Zuletzt resümierend Killy Literaturlexikon, Bd. 8 (2010), 686 f. (R. Breymayer).

44 Antiglauberus (Ps.): Glauberus refutatus […] Daß ist: Ein Hundert Lugen: oder Ohnnütz-liche […] Chimische Proceß Auß Glaubers […] Schrifften zur Wiederlegung jhres Autoris unnd Erhaltung der Wahrheit an Tag gegeben. O. O. 1661, 1, 85.

45 Johann Rudolf Glauber: Teutschlands Wohlfahrt/ Dritter Theil. (erneute Ausgabe) Prag 1704 (erstmals Amsterdam 1659), 309: »So viel ich [Glauber in den von H. Betke in Amsterdam gedruckten »Theologischen« und »Chymischen Schrifften«] gesehen/ so ist er [Böhme] ein frommer Mann gewesen; Was er aber in Alchymia verstanden/ kan ich nit wissen/ dieses aber weiß man/ daß er niemalen laboriret/ und seine Chymische [310] Schrifften übel zu verstehen: Die Theologische aber von vielen Menschen gelesen werden«. – Zu Glauber zu-sammenfassend zuletzt Killy Literaturlexikon, Bd. 4 (2009), s. v., 242–244 (J. Telle).

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schrienen Alchemiker einen unterschiedlichsten Autoritäten verpflichteten Ek-lektiker kennen; seine naturkundliche Grundhaltung maßgeblich geprägt hatten allerdings Werke, von denen Hartprecht dafürhielt, dass sie »ausser der heiligen Schrifft gantz und gar ihres gleichen nicht« hätten und wegen ihres ›unaussprech-lichen Nutzens‹ für Alchemiker endlich in hochdeutscher Sprache gedruckt wer-den müssten: die Werke Jakob Böhmes, – gäben sie doch »aller Dinge hertz und innersten Mittelpunct« zu erkennen,46 stünde hier doch nichts weniger als »die gantze Natur« und deren »circulation bloß und nackend« da, ließen sich »Grund und Wurtzel der Natur« nur im Werk Böhmes aufs »gründlichste« fassen.47

Und eben hier im Amsterdam Glaubers und Hartprechts konnte man schließ-lich zwei weitere Böhmisten treffen: Ein Freund Samuel Hartlibs und Johann Amos Comenius’ sowie Briefpartner etwa Abraham von Franckenbergs, der Arztalchemiker Joachim Polemann (um 1620/25–nach 1675) ließ hier Heinrich Betke für den Erstdruck seines der paracelsistischen Naturkunde geschuldeten Novum lumen chymicum sorgen (1659), eines dem Sulzbacher Pfalzgrafen Chris-tian August gewidmeten Johann Baptista van Helmont-Kommentars, in dem Jakob Böhme zu den von Polemann am häufigsten aufgerufenen Eideshelfern zählt.48 Und bald dann propagierte hier Georg Ernst Aurelius Reger eine maßgeb-lich vom »Wundermann« Böhme geprägte Alchemomedizin.49 Angesichts die-ses massiven Böhmismus können Spuren des »wydberoemden Philosoph Iacob Böhem« im Werk des holländischen Alchemikers Goossen van Vreeswyck nicht überraschen.50

Gelegentlichen Widerhall fand Böhme überdies im Alchemikerlager unter erklärten Anti-Cartesianern. Böhme munitionierte hier Kampagnen gegen jene

46 Johann Hartprecht: Erläuterung. In: Johannes Isacus Hollandus: Opus vegetabile. Aus dem Niederländischen ins Deutsche übersetzt von J. F. H. S. [Johann Hartprecht]. Amsterdam 1695 (erstmals Amsterdam 1659), 138.

47 J. F. H. S. [Johann Hartprecht]: Der Verlangete Dritte Anfang Der Mineralischen Dinge/ oder vom Philosophischen Saltz; Nebenst der waren Praeparation Lapidis & Tincturae Philoso-phorum. Amsterdam 1656, 25. – Zu Hartprecht zuletzt Killy Literaturlexikon, Bd. 5 (2009), s. v., 48 f. (J. Telle).

48 Joachim Polemann: Novum lumen medicum. In welchem Die […] Lehre des […] Philoso-phi Helmontii, Von dem hohen Geheimnis des sulphuris philosophorum […] erkläret wird. Amsterdam 1660. Das Ansehen Böhmes als Alchemiker in Amsterdam unterstreicht auch Polemanns Mitteilung, er habe einem Kenner ›alchemischer Geheimnisse‹ gewisse Texte Böhmes laut vorgelesen. »According to Poleman, this individual turned and with wonder said, is it possible that Boehme came to know these things from his own spirit, for he has written the truth« (J. Polemann/Amsterdam, Brief an Samuel Hartlib/London). Durchaus ähnlich gesinnt hatte sich Polemanns Adressat S. Hartlib zu dieser Zeit unter dem Stichwort ›Lapis Philosophorum‹ notiert, Böhmes »De signatura rerum« beschreibe »the whole pro-cesse of the Philosophical Worke«. Darauf aufmerksam machte Ariel Hessayon: ›Gold Tried in the Fire‹. The Prophet TheaurauJohn Tany and the English Revolution. Aldershot 2007, 308.

49 Georg Ernst Aurelius Reger: Gründlicher Bericht Auff einige Fragen/ Bekräfftiget durch drey übereinstimmende Zeugen/ als Der heiligen Schrifft/ Dem Buch der Natur/ und Dem Buch der Menschheit. Hamburg 1683. – 105–121: Scharfer Angriff auf ungenannte Dissi-denten, insbes. wohl auf J. G. Gichtel.

50 Goossen van Vreeswyk: De Roode Leeuw, Of het Sout der Philosophen. Amsterdam 1672, 158 f.: »De signatura rerum«-Zitat.

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»pristerlichen pseudo-Theologi« und »Levitischen Medici«, allesamt nichts als »Carthesianische Brillisten«, die die Natur nur »durch Brillen und Microscopi-en« betrachteten, statt beispielsweise in der Passion Christi ein alchemisch auf-schlussreiches ›Gleichnis‹ anzuerkennen.51

Wieder andere Anwälte einer »Christ-Chymischen Warheit«, transkon-fessionell gesonnene Alchemiker nämlich, erhofften sich von der Strahlkraft Böhme’scher Lehren eine Überwindung allen konfessionalistischen Haders und Splittertums. Sie hielten sich fähig, vermöge ihrer »Erkantnuß der Natur/ das Geistliche/ so durchs natürliche abgebildet wird/ in Conformität der Schrifft zu lehren«,52 und gossen ihr Credo in eine alle amtskirchlich-theologische Kompe-tenz unterminierende Devise: »Die Chymie befreyet von Religions-Streit«, ei-nen Böhme beigelegten Satz.53 Zumal es sich oft um Angehörige politisch-sozial und schriftkulturell durchaus hochstehender Schichten handelte – erinnert sei hier nur an Herzog Ernst August von Sachsen-Weimar (1688/1748)54 – gerie-ten böhmistische Alchemiker schließlich in den Ruch, sie gefährdeten nicht nur die »Religion«, sondern auch den »Staat«, ruinierten alle »göttliche Ordnung« und »bürgerlichen Verfassungen«55: Remedur schaffen, so ein aufklärerischer Fundamentalist, Remedur schaffen könne da allein eine Vernichtung der Bücher Jacob Böhmes, aber auch eines Johann Gottfried Jugel (1707/1786), Emanuel

51 Anonymus: Das Buch Amor proximi Geflossen aus dem Oehl der Goettlichen Barmhert-zigkeit. Geschärffet mit dem Wein der Weisheit. Bekraefftiget mit dem Saltz Der Göttlichen und Natürlichen Warheit. Frankfurt a. M./Leipzig 1782 (Erstdruck: Den Haag 1686; auch Frankfurt a. M./Leipzig 1746).

52 Johann Philipp Maul: [Zahàbh Mizzaphon (hebr.)] Sive medicina theologica, chymico irenica, & christiano-cabbalistica, vorgestellet in der Ersten Continuation curioser und er-baulicher Gespräche Vom Gold von Mitternacht Oder von der Höchsten Medicin, Darinen gezeiget wird/ […] daß die Vergleichung der Geistlichen und Leiblichen Höchsten Medicin, die rechte Cabbala der Alten/ oder wahre Chymie seye. Wesel 1713 (erstmals Wesel 1709), 355. – Maul wiederholte nahezu wörtlich die schon von O. Crollius formulierte Forderung (s. o., 167), dass »die Theologi chymisirten/ und die Chymici theologisirten!« (328).

53 Maul (Anm. 52), Vorrede, nicht paginiert.54 (Ernst August, Herzog von Sachsen-Weimar:) Zu […] Iehovah gerichtete theosophische

Herzensandachten, oder Fürstliche selbst abgefassete Gedancken, wie wir durch Gottes Gnade uns von dem Fluch des Irdischen befreyen und im Gebet zum wahren Lichte […] in Gott eingehen sollen; nebst einigen aus dem Buch der Natur und Schrifft hergeleiteten Philosophischen Betrachtungen von denen dreyen Haushaltungen Gottes im Feuer, Licht und Geist zur Wiederbringung der Creatur. O. O. 1742. – In diesem Zeugnis einer böhmis-tischen Theoalchemie wird ausdrücklich eine »Religio« propagiert, der »Gottesdienstliche Verfassung«, »aeuserliche Religions-Meynung« bzw. »Sectirische Anhaenglichkeit« nichts gilt (Vorwort). Im Übrigen erklärte der Herzog in Abwehr aufklärerischer Positionen, er hege nicht die »Meynung«, mit seiner Schrift »thoerichte Chymisten […] in ihren verkehrten intentionen zu staercken«. Die »wahre theosophische Weisheit« müsse nämlich keineswegs »ihre Absicht auf die acquirirung groser Reichthümer […] gerichtet haben« (144 f.).

55 Johann Gottlieb Stoll: Etwas zur richtigen Beurtheilung der Theosophie, Cabbala, Magie, und anderer geheimer übernatürlicher Wissenschaften. Leipzig 1786, 14, 22. – Die Haupt-wucht der Stoll’schen Attacken galt »Theosophen«, klassifiziert als religiöse Heuchler, die »bey einer scheinbaren Verläugnung ihrer selbst und aller zeitlichen Güter, doch nichts zum Grunde haben als die vortrefliche Kunst, die unedlern Metalle […] in Gold oder Silber zu verwandeln«. Diese »Verirrten« fänden sich keineswegs im »Pöbel«, sondern unter bedeu-tenden Gelehrten, unter Doctoren und Predigern.

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Swedenborg (1688/1772) und ›tausend anderer alchymistischer und mystischer Schriftsteller‹ mehr.56

Zum Schellengeläut der alchemischen Böhme-Rezeption gehörte seit dem 17. Jahrhundert ein Vorwurf, der unter den anti-böhmistischen Angriffen wohl mit zu den schwerwiegendsten gehörte, – der Vorwurf nämlich, Böhme habe die Hei-lige Schrift in die Dienste der Transmutationsalchemie gestellt: »Er mißbrauchet die Schrifft auffs ärgerlichste/ und verkehret nicht allein den rechten Verstand/ son-dern verdüstert auch ihre klare Meynung mit seinem schwärmerischen Beysatze. Er zerreisset und zuwühlet die allerschönsten Trost-Blumen des Heiligen Geistes mit seinen eigendeutigen Auslegungen/ und bringet fremdes Feuer/ nehmlich aus den Chymischen Schmeltz-Tiegeln/ auff den Altar des HErrn. Also/ daß es offt das Ansehen gewinnet/ er begehre vielmehr die Schrifft um der Chymischen Wör-ter willen/ zumahl von dem Lapide Philosophico, weder diese um jener willen/ anzuziehen«.57 Mit diesen Worten zur Sprache gelangt war eine Anklage, wie sie dann im 18. Jahrhundert wiederholt, mutatis mutandis aber auch hier in München seit den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts im Zuge seines Kampfes gegen den ge-legentlichen Gebrauch Böhme’scher »formulae« in der Kontroverstheologie sei-ner Zeit von Adolf von Harleß (1806/1879), Haupt der evangelisch-lutherischen Kirche Bayerns, erhoben worden ist58 und in dem grimmen Richtspruch gipfelte, Böhme habe »Gottes Wirkungsweise in der Welt mit den Kanones der alchy-mistischen Kunst identificirt«, habe »so zu sagen, Gott selbst in die alchymis-tische Retorte« geworfen und »seinen ewigen Werde- und Wesensproceß nach den Recepten [der alchemischen] Kunst« konstruiert.59 Den »Verstand der Gött-lichen Geheimnisse« mittels der »Natur« zu »begreiffen und [zu] ergründen«60, – eben solche von orthodoxen Protestanten verdammten Naturalisierungen supranaturaler Vorstellungen, wie sie schon Gregor Richter inkriminierte,61

56 Stoll (Anm. 55), 145.57 Heinrich Anshelm von Ziegler und Kliphausen: Täglicher Schau-Platz der Zeit. O. O. o. J.

(defektes Exemplar; Vorrede: 13. Dezember 1694; wohl der Erstdruck: Leipzig 1695), 1365. – Übernommen aus Erasmus Francisci: Gegen-Stral Der Morgenröte […]; In gründli-cher Erörterung der […] Haupt-Fragen und Schein-Sätze heutiger Böhmisten/ wie auch bey-gefügter Untersuchung/ was von deß Jacob Böhms Schrifften zu halten sey. Nürnberg 1685, ein von Ziegler in seinem Abschnitt über Böhme zitiertes (mir nicht erlangbares) Werk?

58 Adolf G[ottlieb] C[hristoph] von Harleß: Jakob Böhme und die Alchymisten. Ein Beitrag zum Verständniß J. Böhme’s. Nebst zwei Anhängen: J. G. Gichtel’s Leben und Irrthümer und über ein Rosenkreuzerisches Manuscript. Zweite vermehrte Ausgabe. Leipzig 1882 (Vor-wort: Dezember 1874), 111.

59 Harleß (Anm. 58), 66.60 EhreGott Daniel Colberg: Das Platonisch-Hermetische Christenthum/ begreiffend Die His-

torische Erzehlung vom Ursprung und vielerley Secten der heutigen Fanatischen Theologie, Unterm Namen der Paracelsisten/ Weigelianer/ Rosencreutzer/ Qväcker/ Böhmisten […] und Quietisten. Leipzig 1710 (erstmals Frankfurt a. M./Leipzig 1690/91), Kap. 8 (»Von Ja-cob Böhmen Schwärmerey«), 307–386, hier: 308.

61 Gregor Richter, Böhmes Görlitzer Widersacher, schrieb in seiner Görlitzer Stadtchronik, »Böhme habe Gott als ein Gebilde aus Schwefel und Quecksilber gelehrt« (so in Übersetzung zitiert von Ernst-Heinz Lemper: Jakob Böhme. Leben und Werk. Berlin 1976, 125); ähnlich dann am 26. März 1624: »Der Schuster hat viele Jahre lang […] über Gott und die Schöp-fung Wunderliches ausgestreut und ausgespieen, daß jener nämlich aus Quecksilber und

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179Jakob Böhme unter deutschen Alchemikern der frühen Neuzeit

gehören zu den vielleicht wichtigsten Grundlagen der Böhme’schen Resonanz im frühneuzeitlichen Alchemikerlager.

Wendet man sich dem 18. Jahrhundert zu, so sieht man gleich zu Jahrhun-dertbeginn zwei weitere Böhmisten den Alchemicamarkt bereichern: Der Jurist Franciscus Clinge, gänzlich im Banne Böhmes, wollte nun aus der enormen Zahl alchemischer Lehrschriften keine gelten lassen, sie stamme denn aus der Feder Böhmes oder des Basilius Valentinus.62 Und Samuel Richter (Ende 17. Jh./nach 1722) trug allen Druck-, Vertriebs- und Lektürehemmnissen Böhme’scher Schrif-ten zum Trotze mit seinen Böhme-Texte enthaltenden Publikationen, etwa der Theo-Philosophia Theoretico-Practica (1711), maßgeblich zur Präsenz des zum ›Wundermann‹ avancierten Böhme unter theosophierenden Alchemikern bei.63 Zur Suche weiterer Spuren Böhmes unter deutschen Alchemikern des 18. Jahr-hunderts ermutigen etwa auch auf Böhme gestützte Erläuterungen chemischer Angaben,64 weitaus nachdrücklicher noch heute meist verschüttete Schriften, von denen man im 18. Jahrhundert dafürhielt, sie seien auf Böhme’schen Prinzipien gegründet65, nicht zu vergessen manche Scharmützel des pietistischen Arztal-chemikers Johann Konrad Dippel (1673/1734) mit ungenannten Böhmisten, ihm bekannten »Narren«, die den laborantischen Gewinn des alchemischen ›Steins‹ auf eine spirituelle – durch Kirchgang, Bibellektüre und sexuelle Enthaltsamkeit

Salpeter hergestellt sei und diese andere machten« (ebd., 93). – Durchaus in Richter’scher Stoßrichtung formulierte noch Harleß (Anm. 58), 67: »Der abstrakte Spiritualismus erliegt in Böhme einem materialischen und chemischen Realismus [sic!], wie er seines Gleichen weder vorher noch nachher gehabt hat [sic!]«.

62 Franciscus Clingius (Clinge): Ein Richtiger Wegweiser zu der Einigen Warheit in Erfor-schung der verborgenen Heimligkeiten der Natuhr [sic!]. Berlin 1701. – Trotz seines ent-schiedenen Böhmismus wurde von Clinge begrüßt, dass man die Lektüre Böhme’scher Schriften »nicht ohne unterscheid« gestatte und den öffentlichen Böhmianaverkauf verbiete (97).

63 Samuel Richter: Theo-Philosophia Theoretico-Practica, Oder Der wahre Grund Göttlicher und Natürlicher Erkänntniß, Dadurch beyde Tincturen, die Himmlische und Irdische, kön-nen erhalten werden (Breslau 1711). In: Ders., Sämtliche Philosophisch- und Chymische Schrifften. Leipzig, Breslau 1741: Richter empfiehlt und zitiert häufig den »Wunder-Mann« Böhme; zum Anti-Böhmismus bes. 403: Ungenannte »Schrifft-Gelehrte«, bei denen es sich um »zänckische Sectirer und Ketzermacher« handele, würden sich »wider GOttes Geist auf-lehnen«, indem sie die Schriften Böhmes, aber auch Hohenheims, Weigels und Paul Lau-tensacks, »so durch GOttes Geist geschrieben worden, unterdrücken und mit der grössesten Schärffe verbieten, so wohl zu lesen, als zu verkauffen«. – Zu Richter alias Sincerus Renatus s. zusammenfassend Alchemie. In: Lexikon einer hermetischen Wissenschaft. Hrsg. v. Claus Priesner u. Karin Figala. München 1998, 304 f., s. v. (U. Neumann).

64 Ein solches Symptom der Chemisierung Böhmes bietet sich in: Glauberus concentratus, Oder Kern der Glauberischen Schrifften. Hrsg. v. einem Anonymus. Leipzig, Breslau 1715, 445: Behauptet wird eine »Concordantia« Glauberscher Lehre »cum 7. Qualitatibus in Doc-trina J. B. T.«

65 Ein Beispiel bietet die an »Nachforscher der Göttlichen, und natürlichen Weißheit zum Er-käntniß grösserer Geheimnissen« adressierte Physikotheologie eines Anwalts der »verbor-generen Chymie«, Georg Friedrich Retzel: Der Sechs Tage-Wercke dieser Welt Geheime Bedeutung Im Spiegel der uhralten/ und Mosaischen Philosophie entdecket. Braunschweig 1722. Retzels Schrift wurde in den »Unschuldigen Nachrichten« (1735) »as a ›fanatical, Böhmistic book›« verurteilt; so John Ferguson: Bibliotheca Chemica. Bd. 2. Glasgow 1906, 257.

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bewirkte – Wiedergeburt des Alchemikers gründeten, in Dippels polemischer Sicht freilich nichts anderes taten »als Gott und der Natur durch Masken etwas abstehlen [zu] wollen«.66

In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts stand Böhme unter Alchemikern weiterhin in Ansehen: Er fand zu dieser Zeit in dem hessischen Hofbeamten Sieg-mund Heinrich Güldenfalk (1727/1787) einen Apologeten,67 und mustert man einschlägige Schriften von Johann Salomo Semler (1725/1791), eines Univer-sitätstheologen, der in sich den bahnbrechenden Neologen mit einem stupend beschlagenen Alchemiker zu vereinen wusste, so stößt man hier immer wieder auf besorgte Polemiken wider das »unselige andächtelnde«, dem »Naturheiland« geltende »Laborieren« ungenannter Zeitgenossen.68 Den naheliegenden Verdacht, dass Semlers rabiate Verdikte einer »giftigen«, laut Semler durchaus bedrohlich verbreiteten »Seuche der frömmelnden Alchymie«69 gewisse Zentren der theoal-chemischen Böhme-Rezeption einbegriffen,70 bekräftigt denn auch ein Anony-

66 Christianus Democritus (Johann Konrad Dippel): Eröffneter Weg zum Frieden mit GOTT und allen Creaturen. Bd. 3. Berleburg 1747, 414: Unter der Überschrift »Absurder Alchy-mist oder Philosophus adepturiens«. (Gern-Goldmacher.)« (404) bestritt Dippel die böh-mistische Doktrin, Voraussetzung des »Lapis«-Gewinns sei eine im Wiedergeburtsgedan-ken gegründete »übernatürliche Heiligkeit«. – Im Übrigen meinte Dippel unter Verweis auf dessen Briefe, Böhme habe einen schlesischen Mediziner für sich laborieren lassen (ebd., 443); diese Ansicht fasste Dippel wohl aus Kenntnis eines Böhme’schen Schreibens an Jo-hann Daniel Koschwitz vom 3. Juli 1621, in dem es heißt (Böhme, Epistolae Theosophicae [Anm. 2], Sendbrief Nr. 15, 63, Abschn. 10: »Anlangend unser heimliche Abrede, wie euch [Koschwitz] bewust, werdet ihr euch müssen noch ziemliche weil in dem bewusten [von Böhme anschließend in astroalchemischer Allegorik gefaßten] Proceß gedulten«. Außerdem klassifizierte Dippel durchaus unzutreffend die Lehren von Johann Grasse (Dippel: »Graß-hauer«) im oft gedruckten »Kleinen und Großen Bauern« (1617) als eine »aus dem übel verstandenen Jacob Böhmen geschöpfte Alchymie« (ebd., 418). – Beachtung verdiente Dip-pels Behauptung (ebd., 400), Urheber einer unter dem Titel »Microcosmische Vorspiele Des Neuen Himmels und der Neuen Erde« (Amsterdam [recte: Berlin] 1733 u. ö.) erschienenen Theoalchemie sei ein »geschworner Böhmist«. – Zu Dippel resümierend zuletzt Killy Lite-raturlexikon, Bd. 3 (2008), 42–44, s. v. (E. Fischer/U. Roth).

67 Siegmund Heinrich Güldenfalk: Die himmlische und hermetische Perle oder der [sic!] göttliche und natürliche Tinctur der Weisen. Frankfurt a. M./Leipzig 1785. – Güldenfalks Verteidigung Böhmes galt ausdrücklich Darlegungen des orthodoxen ›Ketzerjägers‹ Chris-tian Wilhelm Oemler. – Zu Güldenfalk s. Jürgen Strein: Siegmund Heinrich Güldenfalks »Sammlung von mehr als 100 Transmutationsgeschichten« (1784). In: Iliaster. Literatur und Naturkunde in der frühen Neuzeit. Festgabe für Joachim Telle zum 60. Geburtstag. Hrsg. v. Wilhelm Kühlmann u. Wolf-Dieter Müller-Jahncke. Heidelberg 1999, 275–283.

68 Johann Salomo Semler: Zusätze zu der teutschen Uebersetzung von Fludds Schutzschrift für die Rosenkreuzer. Halle 1785, Widmung an die »Hallische Gesellschaft der Naturforscher« (Halle, 27. November 1784), a6r; eben zu dieser Zeit beobachtete Semler, dass die Schriften Böhmes »immer mehr Liebhaber« fänden (ebd., a4v).

69 Johann Salomo Semler: Hermetische Briefe wider Vorurtheile und Betrügereien. Erste Sammlung. Leipzig 1788, Brief Nr. 1, 6. – So empörte sich Semler etwa auch in: Unpar-teiische Samlungen zur Historie der Rosenkreuzer. Stück 3. Leipzig 1788, Vorrede: »Die schändliche Betrügerey, so unter der künstlichen [alchemischen] Andächteley fast öffentlich mit dem so genanten Naturheiland oder mit der Tinktur getrieben wird, findet fast keinen Widerstand«.

70 An Semlers ablehnender Position gegenüber böhmistischen Alchemikern kann kein Zweifel sein; dies zeigt etwa seine vernichtende Kritik der »Schmierereien« eines Samuel Richter

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181Jakob Böhme unter deutschen Alchemikern der frühen Neuzeit

mus: »Kein gifft«, so schäumte dieser aufklärerische Publizist, wirke »gewaltsa-mer auf den Körper« als die in der »theosophischen [Alchemiker-]Klasse« von Anhängern Heinrich Khunraths und Georg von Wellings (1655/1725)71 geschätz-ten Lehrschriften »auf den gesunden Verstand«, namentlich Werke der ›Fanati-ker‹ Weigel, Aegidius Gutmann (16. Jh.),72 Abraham von Franckenberg, Quirinus Kuhlmann (1651/1689)73 und Swedenborg. Die »sehr bekante Sache«, dass man das »Magisterium« vor allem in der Bibel suche, dokumentiere nichts als den in der »theosophischen Klasse« herrschenden »Wahnsinn«. Höchste Autorität aber genössen bei diesen theosophierenden »Steinforschern« deren »Zunftmeister«: der eine heiße Jakob Böhme, der andere Paracelsus.74

Gott Chronos ist der unbarmherzigsten Götter einer. Ich verzichte hier auf weitere Mitteilungen zur Präsenz Böhmes im theoalchemischen Schriftendschungel der Aufklärungszeit, lasse von allem spröden Faktenkram zugunsten einiger rhapso-discher Schlussbemerkungen.

Dass Jakob Böhme, ein der Alchemia practica seiner Zeit ferne stehender homo religiosus, nun gerade unter frühneuzeitlichen Alchemikern als einer ih-rer Sachschriftsteller Karriere machte, könnte zunächst befremden, doch haben manche Faktoren Böhmes Wandlungen von einem philosophisch-theologischen Spekulanten in einen Hermes Trismegistus Germanus gefördert. Zu erinnern ist vorab an sein alchemischer Sachprosa abgeborgtes, freilich von Böhme se-mantisch weitgehend entalchemisiert dargebotenes Vokabular: seinen Gebrauch durchaus auch mäßig gebildeten Nichtalchemikern bekannter Allerweltstermini von ›Essenz‹ über ›Transmutatio‹ bis ›Lapis‹ und ›Tinktur‹ –, und an seinen ei-genwillig-entparacelsierenden Aufgriff von Zentralbegriffen der Paracelsischen Drei-Prinzipien-Lehre. Es versteht sich, dass auch seine gelegentlich an ›Artis-ten‹ bzw. ›Künstler‹ gerichteten Anreden dazu beitrugen, dass Böhme von man-chen Alchemikern zu den ihren gezählt worden ist. Keine geringe Rolle spielte bei diesen Mystifikationsvorgängen durchaus im Widerspiel mit zunehmenden ›Mechanisierungen‹ des Weltbildes die von manchen naturprophetischen Äuße-rungen Böhmes befeuerte Überzeugung, dieser ›Erleuchtete‹ und ›Seher‹ habe im Unterschied zum aristotelistischen Schulgelehrten »allen Geschöpfen gleich-

(Johann Salomo Semler: Von ächter hermetischer Arzenei. An Herrn Leopold Baron Hir-schen in Dresden. Wider falsche Maurer und Rosenkreuzer. Leipzig 1786, 81 f.) oder sei-ne nicht minder harte Kritik am alchemoböhmistischen »Hirtenbrief«, dessen Urheber, so urteilte Semler, ihre »ganze theosophische Anthropologie aus [dem ungenannten] Jac[ob] Böhmen entlenet haben« (Johann Salomo Semler: Briefe an einen Freund in der Schweiz über den Hirtenbrief der unbekanten Obern des Freimaurerordens alten Systems. Leipzig 1786; Zitat: 80). In Böhme selbst aber meinte Semler einen Gesinnungsgenossen rühmen zu können, habe doch Böhme »so viel unaufhörliche Beförderung der ernstlichen freien Privatreligion zusammen gebracht« (ebd., 68) und allem despotischen »Pabsttum« ›die Wur-zeln abgeschnitten‹ (72). – Über Semler zusammenfassend: Killy Literaturlexikon, Bd. 10 (2011), 755–757 (D. Kemper).

71 Zu Welling zuletzt Killy Literaturlexikon, Bd. 12 (2011), 281 f. (J. Telle).72 Zusammenfassend ebd., Bd. 4 (2009), 536 f., s. v. (J. Telle).73 Vgl. ebd., Bd. 7 (2010), 117–120, s. v. (F. G. Sieveke).74 Anonymus (Anm. 9), 39 f., Nr. 12, 144.

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sam in das Hertz und in die innerste Natur hinein« geschaut.75 Konvergenzen ergaben sich zudem aus seiner Teilhabe an frühneuzeitlichen Signaturenlehren: Nichts konnte manchen Alchemikern: oft genug Mediziner aus der Hermetiker-Fraktion, die in Signaturenlehren probate Alternativen zu Arzneimittellehren der aristotelisch-galenistischen Schulmedizin begrüßten –, näher liegen als im Signa-turenleser Böhme einen ihrer Mitstreiter anzuerkennen.

Böhmistische Alchemiker haben aus Böhmes Werk auffällig häufig surrea-listisch formierte und mit astroalchemischen Sprachpartikeln durchsetzte Sinn-bildsequenzen zitiert und diese ungewöhnlich opaken Zeugnisse einer religiös-theologischen Wissenschaftspoesie alchemisiert: Praktiziert wurde von ihnen da-bei nichts weiter als ein unter deutschen Allegorikern der Respublica alchemica durchaus übliches und seit spätmittelalterlichen Zeiten an mythologischen Erzäh-lungen der griechisch-römischen Antike oder Bibeltexten erprobtes Verfahren. Die opak-imaginativen Züge der Böhme’schen Prosa haben geradezu zwangsläu-fig alle jene Alchemiker gebannt, die nach Allegoristenart meinten, man könne verhüllt beschriebene Geheimnisse der Natur ihrer metaphorischen Hüllen be-rauben, könne sie rationalisieren und praktisch umsetzen. Diese im Kern neu-platonistische Überzeugung hat die Rezeption Böhmes unter frühneuzeitlichen Alchemikern Deutschlands maßgeblich begünstigt.

Das Spektrum der alchemischen Böhme-Rezeption weiter zu erkunden, Ver-laufswege, Metamorphosen, Konstellationen zu konturieren, regionale Schwer-punkte und Trägerschichten in helleres Licht zu rücken, – alles dies bleibt Auf-gabe, ebenso bleibt der jeweilige Anteil Böhme’scher Lehren an naturkundlichen Konzepten bestimmter Alchemiker und physikotheologischen Entwürfen, aber auch der Anteil genuin paracelsischer (oft unter dem Schilde Böhmes tradier-ter) Doktrinen und konkurriender Theosophien etwa eines Heinrich Khunrath an böhmistischen Theoalchemien zu klären, gar nicht zu reden von Synthesen, not-wendig, wenn es denn um Stellung und Gewicht des alchemischen Böhmismus im Ensemble kultureller Strömungen ginge. Solche Vorhaben nehmen sich heute verwegen und verstiegen aus, steht man doch allzu oft noch am Anfang. Dazu ermuntern kann vielleicht ein Satz, den einst ein Pseudo-Paracelsus einem Lu-ther, Melanchthon und Bugenhagen zurief:76 »Besser ist in der Finsterniß gangen, dann durch ein irriges Licht wenig gesehen«!

75 Abraham von Franckenberg: Gründlicher […] Bericht von dem Leben und Abscheid […] Jacob Böhmens. In: De vita et scriptis Jacobi Böhmii. In: Ders.: Sämtliche Schriften. Fak-simile-Neudruck der Ausgabe von 1730 in elf Bänden. Neu hrsg. v. Will-Erich Peuckert. Stuttgart-Bad Cannstatt 1955–1961, hier: Bd. X (1988), Abschn. 11, 11.

76 Ps.-Paracelsus: Brief an Martin Luther, Philipp Melanchthon und Johann Bugenhagen (16. Jh.), zit. n. Hartmut Rudolph: Einige Gesichtspunkte zum Thema »Paracelsus und Lu-ther«. In: Salzburger Beiträge zur Paracelsusforschung. Folge 22 (1981), 9–26, hier: 11.

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