Ordnung, Störung, Heilung · Sprecherin: Josef Matthias Hauer, Gedanken über seine...

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SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE __________________________________________________________________________ SWR2 Essay Ordnung, Störung, Heilung Kybernetik und Klangwelt bei Friedrich Cerha Von Matthias Henke Sendung: Montag, 5. März 2018, 22.03 Uhr Redaktion: Lydia Jeschke Produktion: SWR 2018 __________________________________________________________________________ Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. __________________________________________________________________________ Service: SWR2 Essay können Sie auch als Live-Stream hören im SWR2 Webradio unter www.swr2.de oder als Podcast nachhören: http://www1.swr.de/podcast/xml/swr2/essay.xml __________________________________________________________________________ Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert. Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2.de

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  • SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE __________________________________________________________________________

    SWR2 Essay

    Ordnung, Störung, Heilung

    Kybernetik und Klangwelt bei Friedrich Cerha

    Von Matthias Henke

    Sendung: Montag, 5. März 2018, 22.03 Uhr Redaktion: Lydia Jeschke Produktion: SWR 2018 __________________________________________________________________________ Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. __________________________________________________________________________ Service: SWR2 Essay können Sie auch als Live-Stream hören im SWR2 Webradio unter www.swr2.de oder als Podcast nachhören: http://www1.swr.de/podcast/xml/swr2/essay.xml __________________________________________________________________________ Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert. Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2.de

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    Musik 1 (insgesamt ca. 1’50)

    Josef Matthias Hauer: Zwöfltonspiele. Ensemble Avantgarde (Andreas Seidel, Violine; Matthias Moosdorf, Violoncello; Ivo Bauer, Akkordeon; Jean Christof, Klavier, Stefan Schleiermacher, Klavier) MDG 613 1060-2, LC 6768 (nach ca. 0’30 abblenden, unter Text weiterlaufen lassen)

    Sprecher 1: „Gott hat von Ewigkeit her die absolute Musik ein für allemal

    komponiert, vollkommen vollendet. Wir Menschenkinder bemühen uns diese göttliche

    Vatersprache zu erlernen. Das Zwölftonspiel regelt die psychophysischen

    Voraussetzungen der reinen Intuition, die es allein ermöglicht, Musik als Offenbarung

    der Weltordnung zu vernehmen.“i

    Sprecherin: Josef Matthias Hauer, Gedanken über seine Zwölftonspiele,

    niedergeschrieben 1946, kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs.

    Sprecher 1: „Die absolute, die kosmische Musik gestattet den tiefsten Einblick in das

    Weltgeschehen. Die Töne mit ihren Obertönen sind Sonnen mit ihren Planeten.

    Zwölftonspiele beinhalten Funktionen der Milchstraßensysteme, die motorische

    Formungszentren organischer Prozesse sind.“ii

    Musik 1

    (hochblenden, ca. 0’20 stehen lassen unter dem folgenden Text ausblenden)

    Sprecherin: Hauers Sätze mögen heute etwas skurril wirken. Aber sie spiegeln die

    Jahrtausende alte Sehnsucht der Menschheit wieder, eine Art Urgesetz zu finden,

    eine Formel, die alles zusammenhält: die organische wie die anorganische Natur,

    das von Menschen Geschaffene wie das Kosmische.

    Sprecher 2: Als Vehikel für diesen Ansatz dient seit der Antike vielfach die Musik.

    Beispielsweise in der Legende von Pythagoras. Bekanntlich soll der griechische

    Gelehrte in einer Schmiede den Zusammenhang zwischen dem Gewicht der

    Hämmer und den durch ihre Schläge erzeugten Intervallen entdeckt haben. An

    Pythagoras’ Musiktheorie knüpfte der spätantike Theologe Boethius an. Er setzte die

    Proportionen des menschlichen Körpers mit den Intervallen des Kosmos in eins

    sowie mit einfachen Tonabständen – wie Quart, Quint oder Oktav. Die göttliche, sich

    unter der Oberfläche der Erscheinungen verbergende Ordnung nannte er „musica“.

    Sprecherin: So entstand über die Jahrhunderte hinweg eine immer weiter

    ausgebaute Ganzheitslehre. Sie lebte im Werk des frühbarocken Wissenschaftlers

    Athanasius Kircher fort und beeinflusste später auch Isaac Newton. Der englische

    Physiker begründete ein mechanistisches Bild der Welt, indem er sie als eine

    Maschine deutete. Wenn man deren Beschaffenheit kennen würde und die Regeln

    ihres Funktionierens, sei man in der Lage ihr künftiges Verhalten zu bestimmen,

    lautete seine Prämisse.

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    Sprecher 2: Womit wir wieder bei Hauer wären. Ihm ging es letztendlich nicht um

    das Komponieren im traditionellen Sinn, nicht um konventionelles Handwerk, nicht

    um die Eigenart des schaffenden Menschen. Vielmehr galt es ihm als Höchstes, die

    elementaren Gesetzmäßigkeiten der Zwölftönigkeit zu erkunden, ihre Mechanik

    sozusagen – ein Ansinnen, dem er mit seinem in der Zwischenkriegszeit erkundeten

    Zwölftonspiel entsprechen wollte. Darunter verstand Hauer ein in sich geschlossenes

    Regulierungssystem, eine besondere Methode der Klangsteuerung.

    Sprecherin: Zunächst gilt es, eine Zwölftonreihe aufzustellen, die sodann in vier

    Abschnitte zu gliedern ist, in Dreitoneinheiten. Übereinander geschichtet, ergeben sie

    das harmonische Grundmaterial. Aus ihm wird durch schematische Vorgänge, durch

    Spielregeln gewissermaßen, das Melos des jeweiligen Zwölftonspiels gewonnen.

    Sprecher 2: Folglich kann man die althergebrachte Ton-Setz-Kunst vergessen. Der

    Macher verliert also an Bedeutung, während der Hörer mehr als vordem ins Zentrum

    rückt – ein bahnbrechendes Verständnis, das dem Grundmodell moderner

    Kommunikationstheorien entspricht, dem gleichberechtigen Zusammenspiel von

    Sender und Empfänger, einem Feedback-System sozusagen.

    Musik 2 (insgesamt 3’30)

    Josef Matthias Hauer: Zwölftonspiele. Ensemble Avantgarde (Ralf Mielke, Flöte; Andreas Seidel, Violine; Tilman Büning, Violine; Ivo Bauer, Viola ;Matthias Moosdorf, Violoncello) MDG 613 1060-2, LC 6768 (nach ca. 0’30 abblenden, unter Text weiterlaufen lassen)

    Sprecher 1: „Das Vernehmen der Musik ist wirkliche Vernunft, ein Hören der ewigen

    Gesetze, Gebote, ein Horchen auf den ethischen Sinn. Das Musikalisch-

    Symbolische, das rein Intuitive muss den höchsten Rang einnehmen im geistigen

    Leben des Menschen, weil es mit der Wahrheit und Wirklichkeit, mit den

    geistigen Realitäten in engster Fühlung lebt, während das Begrifflich-Wortsprachliche

    nur zu leicht in Geschwätz, Lüge, Heuchelei ausartet.“iii

    Sprecherin: Hauer starb 1959. Bis dahin hatte er rund tausend Zwölftonspiele

    hervorgebracht. Trotz ihrer Besetzungsvielfalt zeichnen sie sich durch ein

    gemeinsames Klangbild aus. Es lässt sich als bewegtes Kontinuum beschreiben, als

    musikalisches Mobile, dessen Teile ständig um eine oder mehrere Achsen kreisen.

    Zudem fehlt den Zwölftonspielen Hauers jenes Spannungsgefälle, das sich mit dem

    Dur-Moll-System verbindet.

    Sprecher 2: Solche Eigenschaften mögen dazu geführt haben, dass man Hauers

    Werken wiederholt therapeutische Qualitäten zusprach. Der in Wien tätige Mediziner

    und Homöopath Erwin Schramm etwa erkannte im Zwölftonspiel das Potential, die

    gestörte Ordnung eines Kranken „wieder ins biologische Gleichgewicht“ zu bringen.

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    Sprecher 1: „Bei sinnvoller Ausgestaltung wäre im Zwölftonspiel mancher

    therapeutische Schatz verborgen, den zu entdecken, zu kultivieren, sicher reichen

    Lohn verheißen würde.“

    Musik 2

    hochblenden, bis Ende stehen lassen

    Sprecherin: Hauers Zwölftonspiele und ihre Rahmenbedingungen. Die

    Ganzheitslehre. Der Versuch, ein Steuerungssystem der Töne zu finden, das die

    Spielregeln einer sich stets neu entfaltenden Textur festlegt. Die Mechanisierung des

    schöpferischen Vorgangs. Damit verbunden: dessen Objektivierung, nicht der

    Einzelne zählt, sondern das Gesamte. Ferner die Aufwertung des Hörers, das mit ihr

    einhergehende, Feedback-basierte Kommunikationsmodell. Und schließlich die Idee,

    gestörte Ordnungen heilen zu können.

    Sprecher 2: Diese Aspekte zogen den 1911 in Wien geborenen Wissenschaftler

    Heinz von Förster in ihren Bann. Hauers Einsichten faszinierten ihn jedenfalls so,

    dass er sie in seinem 1947 veröffentlichten Essay „Von Pythagoras zu Josef Matthias

    Hauer“ feierte, dessen Schluss einer Hymne gleicht:

    Sprecher 1: „Da wir heutigen Menschen nicht in den äußeren Grenzen der Welt

    suchen, sondern in der tiefen Erkenntnis einer Allgegenwart Gottes, die sich von

    keinem Zeit- und Raumbegriff einordnen lässt, erlauschen wir in der geisterhaften

    Klarheit der Hauerschen Zwölftonspiele, in der überwältigenden Gesetzmäßigkeit

    ihres inneres Ablaufes, in der waltenden Harmonie das Alpha und Omega göttlichen

    Seins. Einer der größten Suchenden unsrer Zeit, Josef Matthias Hauer, ist zum

    Künder der reinen Musik, der höchsten Emanation menschlichen Geistes

    geworden.“iv

    Sprecherin: Heinz von Förster. Auf den ersten Blick mag seine Überschwänglichkeit

    verblüffen. Er war ja kein Musiker, wenigstens kein professioneller, sondern hatte

    Physik studiert, in Wien, an der Technischen Hochschule. Philosophische Fragen

    interessierten allerdings schon den Jugendlichen – was eigentlich kein Wunder war.

    Immerhin gehörte Ludwig Wittgenstein (Förster nannte ihn Onkel) ins Umfeld seiner

    Familie.

    Sprecher 2: Wittgenstein, der Begründer der Analytischen Sprachphilosophie, hatte

    die Methode des „Sprachspiels“ etabliert, um die Urgesetze der Sprache zu

    ergründen, indem er deren Ausgangsmaterial stark reduzierte. Eine gewisse Nähe zu

    Hauers Zwölftonspielen lässt sich also nicht leugnen. Hat möglicherweise

    Wittgenstein Försters Sinn für diese geweckt oder zumindest geschärft? Sicher ist,

    dass Förster Hauer, dem eine Generation Älteren, schon früh begegnet war.

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    Sprecher 1: „Es muß ein Sommertag im Jahre 1927 gewesen sein, an dem die

    gerade verweilenden Verwandten und Freunde, mich eingeschlossen, um den

    großen Familientisch bei einem köstlichen Mittagessen saßen und Hauer zuhörten,

    der von seinen 12-Ton-Spielen sprach. Er erklärte, dass es einfach wäre, ein 12-Ton-

    Spiel zu ‚komponieren’, nämlich, die Namen der 12 Töne innerhalb einer Oktave,

    also c, cis, d, dis, e, f, und so weiter auf 12 Zettel zu schreiben, die in einen Hut zu

    werfen, den gut zu schütteln, und dann einen Zettel nach dem anderen

    herauszuholen und die Namen zu notieren. Die sich ergebende Folge ist dann,

    sozusagen, die ,Signatur’ dieses soeben ,komponierten’ 12-Ton-Spiels.“v

    Sprecherin: Heinz von Förster über seine Begegnung mit Josef Matthias Hauer.

    Sein Bericht mutet anekdotenhaft an, legt aber interessante Fährten, die

    beispielsweise zu Marcel Duchamp führen, dem großen Visionär der Moderne.

    Sprecher 2: Der Urvater aller Konzeptkünstler hatte 1913 anlässlich einer

    Familienfeier das „erratum musical“ kreiert, ein aleatorisches, mit dem Zufall

    operierendes Musikstück. Um es zu generieren, schnitt Duchamp zunächst einige

    Sets von Kärtchen mit den zwölf Tonnamen zurecht. In einen Zylinder geworfen,

    wurden sie gemischt, einzeln gezogen und – ihrer Ziehung strikt folgend –einer

    Partitur anverwandelt.

    Musik 3 (1’40)

    Marcel Duchamp: The Creative Act. Jean-Luc Plouvier; Marianne Pousseur; Lucy Graumann. sub rosa SR57, LC 6110

    Sprecherin: Duchamps Vorgehen, sein „Hutspiel“, ähnelte in frappierender Weise

    dem Verfahren Hauers, wie es Förster geschildert hatte, im äußerem Ablauf wie dem

    Geist nach. Denn Duchamp wollte ebenfalls das schöpferische Ego zugunsten des

    Überpersönlichen zurückdrängen; oder, negativ gesagt, das bürgerliche Genie vom

    Sockel holen – ein Ziel, zu dem sich auch Hauer bekannte.

    Sprecher 1: "Das Zwölftonspiel ist von jedem und für jeden halbwegs Musikalischen

    erlernbar, ähnlich wie das Schachspiel, und wird sich wie dieses ‚spielend’

    verbreiten. Es kommt nur darauf an, ob die ‚Komponisten’ es zuerst in die Hand

    nehmen wollen, damit es von ihnen ausgeht, oder ob sie warten wollen, bis es ihnen

    von den Kindern gezeigt wird."vi

    Sprecherin: Försters Schilderung von Hauers Huteinsatz ist zudem von Belang, weil

    sich von hier aus – über Duchamp – eine Linie zu John Cage ziehen lässt, der in

    seinem 1957/58 entstandenen Klavierkonzert ebenfalls Karten verwendete und mit

    dem Zufall operierte. Und auch mit dem Hauer-Jünger Cage kam Heinz von Förster

    in näheren Kontakt, nachdem er 1949 in die USA ausgewandert war :

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    Sprecher 1: „ich bin ja ein guter Freund von John Cage. Wir amüsieren uns enorm

    miteinander! Cage kam irgendwann zur Universität von Illinois, wo ich [seit 1958] das

    Biological Computer Laboratory leitete. Cage hatte dieses ‚prepared piano’, wo er

    Papier und tausend andere Sachen hineinlegte, um den Klang zu modifizieren. Und

    wir haben geredet: Wie können wir das erweitern? Können wir mit einem Piano zwei

    Pianos spielen? Warum bauen wir nicht eine elektronische Verbindung? Wenn zum

    Beispiel hier Magnete wären wie bei einer Elektrogitarre, dann könnte man doch ein

    zweites Piano damit anhängen et cetera.“vii

    Sprecher 2: Heinz von Förster inspirierte nicht nur Cage und weitere Komponisten.

    In lebendigem Wechselspiel ließ er sich auch von ihnen anregen, und zwar auf

    seinem ureigenen Gebiet: der Kybernetik, zu deren wesentlichen Akteuren er zählte.

    Sprecherin: Der amerikanische Mathematiker Norbert Wiener hatte den Begriff der

    Kybernetik, ein Kunstwort, 1948 in den Wissenschaftsdiskurs eingebracht, als er ein

    entsprechend betiteltes Buch veröffentlichte: Cybernetics or Control and

    Communication in the Animal and the Machine. Noch im gleichen Jahr erschien die

    deutsche Übersetzung: Kybernetik. Regelung und Nachrichtenübertragung im

    Lebewesen und in der Maschine.

    Sprecher 2: Eine wesentliche, weil interdisziplinäre Erweiterung erfuhr Wieners

    Manifest – um 1950 – durch sogenannten Macy-Konferenzen, deren Name auf ihren

    Schirmherrn verwies. Unter den Teilnehmern: Heinz von Förster, der sich hier als

    Bio-Physiker präsentierte. Er arbeitete demnach an einer Schnittstelle – verbunden

    mit dem Ziel, die Abläufe innerhalb eines Organismus auf Modelle zu reduzieren, um

    das Wesen ihrer Mechanik ergründen zu können. Dieser Ansatz gibt Förster einmal

    mehr als Geistesverwandten Hauers zu erkennen. Um so mehr aber das von ihm

    vertretene Kommunikationsmodell, das ebenfalls die Rolle des Hörers aufwertete:

    Sprecher 1: „Der Hörer, nicht der Sprecher, bestimmt die Bedeutung einer Aussage.

    Gewöhnlich glaubt man, dass der Sprecher festlegt, was ein Satz bedeutet, und der

    Hörer verstehen muss, was der Sprecher gesagt hat. Aber das ist ein fundamentaler

    Irrtum. Der Hörer ist es, der die merkwürdigen Laute, die ich oder ein anderer mit

    Hilfe der eigenen Stimmlippen hervorruft, interpretiert und ihnen einen

    beziehungsweise seinen Sinn gibt.“viii

    Sprecherin: Förster brachte sich in die Macy-Konferenzen jedoch vor allem ein,

    indem er seine bahnbrechende Theorie der Zirkularität vorstellte, die er außerdem

    publikumsnah, wenn man so sagen darf, zu erläutern wusste:

    Sprecher 1: „Am besten sprechen wir über das Steuern eines Bootes, da der Begriff

    Kybernetik auf das griechische Wort für Steuermann (Kybernetes) zurückgeht, das

    im Lateinischen zum gubernator und im Englischen zum governer wird. Was macht

    ein Steuermann, der sein Schiff sicher in den Hafen hineinmanövrieren möchte? Er

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    absolviert kein ein für allemal festgelegtes Programm, sondern er variiert dies

    permanent. Wenn das Boot vom Kurs und von seinem Ziel nach links abweicht, weil

    der Wind so stark bläst, schätzt er diese Kursabweichung ein, so dass er weiterhin

    auf den Hafen zufährt. Er versucht, den Fehler zu korrigieren. Und vielleicht steuert

    er etwas zu stark gegen. Das Ergebnis ist womöglich eine Kursabweichung nach

    rechts – und die Notwendigkeit, erneut gegenzusteuern. Solche Steuerungsvorgänge

    sind ein wunderbares Beispiel zirkulärer Kausalität.“ix

    Sprecherin: 1953 ging die letzte Macy-Konferenz über die Bühne. Nicht ohne

    Folgen. Denn schon bald begann Friedrich Cerha, der in Wien lebende, damals gut

    30 Jahre alte Komponist, sich intensiv mit der Kybernetik auseinanderzusetzen, vor

    allem aber mit der zirkulären Kausalität. Wie tiefgehend er das kybernetische Denken

    dabei verinnerlichte, mag eine Passage aus Cerhas umfangreichen Schriften

    belegen – Ausführungen, deren Nähe zu Förster nicht zu überhören sind:

    Sprecher 1: „1966. Ich habe eine Beobachtung gemacht, die mich nun fortwährend

    beschäftigt. Sie betrifft die Art, wie sich Veränderungen in einer Gesellschaft, im

    Einzelindividuum, im Organismus vollziehen. Das Stadtgartenamt hat in der

    Innenstadt einen Rasenstreifen angelegt. An einer bestimmten Stelle aber

    überquerten immer wieder Passanten den Rasen. Man besserte ihn mehrmals aus

    und pflanzte Verbotsschilder auf. Offenbar bestand aber ein besonderes Bedürfnis

    für die Fußgänger, diesen Weg zu nehmen – und eines Tages legte man an dieser

    Stelle tatsächlich einen Fußgängerweg an. Dieser Übergang hätte aber die

    Architektonik der Anlage gestört. Man schuf also symmetrisch zum ersten einen

    zweiten Fußweg. Von seiten der Fußgänger bestand dafür kein Bedarf und er wird

    auch bis heute kaum benutzt. Was hatte sich ereignet? Eine Ordnung war gestört

    worden, und zwar immer in gleicher Weise. Nachdem alle Versuche, sie aufrecht zu

    erhalten, gescheitert waren, wurde die Störung in den Organismus integriert und eine

    neue Ordnung geschaffen.“x

    Sprecher 2: Cerhas Diagnose der beobachteten Störungen gibt ihn als Anhänger

    Försters zu erkennen. Denn wie der Bio-Physiker am Beispiel des Steuermanns

    interpretierte auch er einen alltäglichen Vorgang mit Hilfe der zirkulierenden

    Kausalität. Die von Förster zu Cerha führende Linie lässt sich überdies zu einer

    aufschlussreichen Dreierkonstellation erweitern. Denn Cerha zeigte sich ebenfalls

    von Hauer und seinem Zwölftonspiel beeindruckt, obgleich ihn die persönliche

    Begegnung mehr als irritierte.

    Sprecher 1: „Zweimal habe ich Hauer selbst aufgesucht. In unserem Gespräch fiel

    von seiner Seite her der Satz: ‚Mit Beethoven hat die Schweinerei in der Musik

    begonnen.’ Ich war vor den Kopf gestoßen, aber ich begriff bald, dass diese Haltung

    von Hauers Standpunkt aus ganz konsequent war. Beethovens Entwicklungsdenken

    geht zu einem wesentlichen Teil auch von der Bipolarität von Haupt- und

    Seitenthema aus, von der Konfrontation der Gegensätze. Gegensatz, Kontrast war

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    aber genau das, was Hauer nicht wollte. Das Zwölftonspiel ist auf eine einzige

    Bewegung gestellt, es gibt weder ein harmonisches, noch ein melodisches Gefälle,

    es ist ein Ausschnitt aus einem enormen Klangkontinuum. Im allgemeinen ist aber

    unser Leben offensichtlich zu hektisch, zu voll von Gegensätzen, als dass ein

    größeres Publikum sich dem spannungslos-ruhigen Fließen von Hauers Musik

    hingeben könnte.“xi

    Sprecherin: Sicher, das Wissen um Hauers Zwölftonspiel, die Kenntnis von dessen

    Steuerungssystem grundierten Cerhas Interesse an der Kybernetik. Doch lässt es

    sich vor allem als Gegenreaktion verstehen, auf jene kompositionstechnischen

    Entwicklungen, die mit den Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik

    zusammenhingen. Cerha betonte zwar immer wieder, dort wesentliche Impulse

    empfangen zu haben. Ja, 1961, in einem Brief an Ernst Krenek, nannte er Darmstadt

    sogar seine „Vaterstadt“. Dennoch betrachtete er die dort zur Norm erhobenen

    Prinzipien, sprich den Serialismus, als Sackgasse, als Ursache für eine „graue

    Uniformität“.

    Sprecher 1: „Die Erfahrungen, die ich während der Ferienkurse machte, gaben

    einen Anstoß zu einem Sprung in musiksprachliches Neuland. Ich habe niemals

    strenge serielle Verfahren angewendet, aber die Auseinandersetzung mit ihnen

    brachte mich auf Organisationsformen, die mir in wesentlichen Bereichen der

    Komposition freie Hand ließen.“xii

    Sprecher 2: Es war die Kybernetik, es waren Kybernetiker wie Heinz von Förster,

    Norbert Wiener oder auch William Ross Ashbey, die Cerha den Weg wiesen, den

    Serialismus zu überwinden, dessen enges Gehäuse zu sprengen. Eines seiner

    ersten Werke, die kybernetischen Steuerungsprinzipien folgten, war das für die

    Bühne gedachte „Netzwerk“. Die Arbeit daran hatte Cerha Anfang der 1960er Jahre

    aufgenommen.

    Sprecherin: „Netzwerk“, erläuterte Cerha, sei eine Art Welttheater, das sich mit der

    Spezies Mensch auseinandersetze. Im Fokus steht der Konflikt zwischen dem Leben

    wie Überleben des Einzelnen und den Beharrungstendenzen einer Gesellschaft,

    einer Ordnung, die sich erhalten möchte.

    Sprecher 1: „Die Masse ‚Mensch’, uniform in ihrem Verhalten – wie eine Art

    Insektenstaat -, schafft notgedrungen Ordnungen und ist ihnen unterworfen.

    Ordnungen werden willkürlich gelenkt, Unterwerfung wird gefordert,

    Ordnungssysteme werden – einem urtümlichen Bedürfnis folgend – mit höherem

    Sinn begründet. Macht- und Herrschaftsstrukturen politischer, religiöser und

    humanistischer Prägung werden logisch daraus abgeleitet. Die Menschheit reibt sich

    an ihnen – und produziert sie immer wieder. Systeme geraten zueinander in

    Widerspruch, beeinflussen einander, lösen einander auf oder ab.“xiii

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    Sprecherin: Für die hier einmal mehr von ihm beschriebene „zirkuläre Kausalität“

    fand Cerha in „Netzwerk“ eine musikalische Entsprechung, die ihm half, den

    „orthodoxen Frühserialismus“ zu überwinden. Sie besteht in einem durch und durch

    kybernetischen Verfahren.

    Sprecher 2: Es gibt in „Netzwerk“ Teile, die genau durchorganisiert sind, die

    unpersönlich anmuten; sie verweisen auf die Makroebene, auf die „Masse Mensch“.

    Und es gibt Teile, die Cerha „Regresse“ nannte; individuell formuliert, arbeiten sie mit

    eher konventionellem Material und verweisen auf die Mikroebene, auf den einzelnen

    Menschen. Auf diese Weise entsteht eine insgesamt brüchige Struktur. Doch

    vermengen sich die Makro– und Mikroebene, so Cerha, im Verlauf der Komposition

    immer stärker.

    Sprecher 1: „In kurzen Zwischenspielen, Regressen genannt, rückt zunächst jeweils

    ein winziges Detail aus der Masse ‚Mensch’ wie unter dem Mikroskop ganz nah

    heran und zeigt alltägliche Typen, auf einer animalischen Basis zufrieden oder

    uneins mit sich, gelenkt von einer übergeordneten Macht oder im Hader mit ihr,

    unberechenbar in ihrem Verhalten und doch vertraut. Elemente der Regresse und

    der Grundordnungen durchdringen einander immer erkennbarer im Lauf des Stücks,

    dessen Titel ‚Netzwerk’ vielfach deutbar ist.“

    Musik 4 (4’15)

    Friedrich Cerha: Netzwerk, 2. Teil Cerha-Dokumente, Box, 12 CDs. Sprecher: Mircea Mihalache, Harumichi Fujiwara, Neven Belamarić, Wolfgang Dosch, Zelotes Edmund Toliver Bariton: Arthur Korn Koloratursopran: Donna Robin Ensemble "die reihe" Ltg. Friedrich Cerha ORF. Edition Zeitton B00005N6TS, LC 11428

    Sprecherin: Den musikalischen Wechsel, das Gefälle von Ordnung und Störung,

    spiegelt auch die „Netzwerk“-Bühne, in dem genannten Gegensatz von

    Massenszenen und Betrachtungen des Einzelschicksals. Kybernetischen

    Steuerungsprinzipien folgt also sowohl das kompositorische als auch das

    theatralische Geschehen – ein Befund, den Cerha selbst bestätigte. In einem 1981

    anlässlich der Uraufführung von „Netzwerk“ entstandenen Werkkommentar zitierte er

    nämlich Norbert Wiener, genauer gesagt aus dessen autobiografischer Schrift

    „Mathematik – mein Leben“.

    Sprecher 1: „Organisation müssen wir als etwas betrachten, bei dem eine

    Wechselwirkung zwischen den verschieden organisierten Teilen besteht.. Bestimmte

    innere Zusammenhänge müssen wichtiger sein als andere, das besagt also, dass die

    innere gegenseitige Abhängigkeit nicht vollständig ist und dass die Festsetzung

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    bestimmter Größen des Systems die Möglichkeit offen lässt, andere zu verändern.“xiv

    Musik 4

    (Hochblenden, stehen lassen, unter Text ausblenden)

    Sprecher 2: Cerha ging es bei seiner Erkundung kybernetischer Prozesse allerdings

    nicht allein darum, ihnen Techniken für das eigene Komponieren abzugewinnen.

    Vielmehr lag ihm auch an einer wichtigen Erkenntnis: nämlich den menschlichen

    Organismus besser zu verstehen, letztlich also dem Zusammenhang von Leben und

    Sterben auf die Spur zu kommen. Auch diesem Thema spürte die kybernetische

    Forschung seinerzeit nach. Selbst populärwissenschaftliche Bücher bereiteten es

    auf, beispielsweise Oskar Jursas 1971 publiziertes Werk „Kybernetik, die uns

    angeht“. Hier widmete der bekannte Wiener Autor dem menschlichen Körper ein

    ausführliches Kapitel:

    Sprecher 1: „Vielfältig sind die kybernetischen Regelkreise, auf denen das

    Funktionieren eines gesunden Organismus beruht: Wenn die Außentemperatur die

    Normalwerte zu übersteigen beginnt, sondert die Haut Schweiß ab, um durch die

    Verdunstungskälte, die Körpertemperatur an den Sollwert anzupassen. Sinkt die

    Außentemperatur unter den Normalwert, so verengen sich die Poren der Haut, um

    die Wärmeabstrahlung zu verringern; wir bekommen eine Gänsehaut. […] Das erste

    Warnzeichen einer Störung ist das Unbehagen, das Alarmzeichen ist der Schmerz.

    Der körperliche Schmerz informiert uns darüber, dass die vielschichtigen,

    ineinandergreifenden biologischen Regelkreise gestört sind.“xv

    Sprecherin: Ob Oskar Jursa, der Wiener Sachbuchautor, und Friedrich Cerha sich

    jemals begegnet sind, ist eher unwahrscheinlich. Umso mehr erstaunen eben solche

    Zeugnisse des Komponisten, die sich gleichfalls auf kybernetischer Basis mit dem

    Wesen der Krankheit beschäftigen, nicht ohne Rückschlüsse auf musikalische

    Regulationssysteme zu ziehen.

    Sprecher 1: „Im Organismus von Lebewesen bedeutet Störung Verstörung -

    Krankheit. Heilung ist oft ein neues Einspielen auf eine alte Ordnung, nicht

    vollständige Heilung – „Besserung“ oft das Einspielen eines anderen neuen

    Gleichgewichts auf Grund veränderter Voraussetzungen. Ist ein solches Verändern in

    Richtung auf eine Neuordnung nicht mehr möglich, tritt Zerstörung ein, Tod. Mich

    interessiert nicht das perfekte Kunstwerk, das untadelige Funktionieren, die

    unausgesetzte Abwicklung eines Systems, sondern die Formung von Organismen,

    die imstande sind, auf veränderte Bedingungen zu reagieren, Störungen aufzufangen

    und Veränderungen in neue Ordnungen zu integrieren.“xvi

    Sprecher 2: Heilung und Musik, Regulationssysteme, gestörte Ordnungen (für die

    man auch Joseph Haydn und seine Surprisen anführen könnte), ein in der

    griechischen Antike verwurzeltes Ganzheitsdenken. Und Namen wie Josef Matthias

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    Hauer, Ludwig Wittgenstein, Heinz von Förster, und schließlich Friedrich Cerha.

    Dass Wien die unbestreitbare Hauptstadt der musikalischen Kybernetik war,

    untermauert auch das Werk des griechisch-österreichischen Komponisten Anestis

    Logothetis.

    Sprecherin: 1921 im bulgarischen Burgas geboren, hatte er seine Jugend im

    mazedonischen Thessaloniki verbracht und das deutschsprachige Gymnasium

    besucht. Anfang der 40er Jahre übersiedelte er nach Wien. Hier studierte er

    zunächst Bauingenieurwesen, bevor er seiner inneren Berufung folgte, an die Wiener

    Musikakademie wechselte und die Hauptfächer Komposition wie Dirigieren wählte.

    Sprecher 2: Später besuchte Logothetis die Darmstädter Ferienkurse. Wie der ihm

    verbundene Friedrich Cerha erkundete er hier die Möglichkeiten des Serialismus.

    Dessen kühle Strenge zog anfangs auch ihn in den Bann. Immerhin verdankte er ihr

    Erfahrungen des Un-Erhörten. Dann aber holte Logothetis zu einem

    Befreiungsschlag aus, indem er die serialistischen Gesetzestafeln zertrümmerte. Als

    Werkzeug diente ihm dabei eine eigene Schrift, eine selbst entworfene grafische

    Notation. Sie räumt den Spielern ein, die Partitur in verschiedene Richtungen zu

    lesen, etwa von oben nach unten, von rechts nach links ein. Sie erlaubt variable

    Besetzungen und arbeitet mit sogenannten Aktionssignalen, die sowohl eine

    Umsetzung in Klang wie in Gestik erlaubten.

    Sprecher 1: „In einer Probe wurde Logothetis gefragt…“

    Sprecherin: … erinnerte sich Cerha …

    Sprecher 1: „…warum er die herkömmliche Form der Notation über Bord geworfen

    hätte. Er antwortete, heute sei es an der Zeit, die traditionellen Schreibweisen

    aufzugeben, ‚denn wozu machen sich die Komponisten soviel Arbeit, wenn man sie

    hörend nicht registrieren kann’. (Das bezog sich natürlich auf seine Erfahrungen mit

    komplizierter serieller Musik.) Allgemeines Gelächter war die Folge. Das ‚denn wozu’

    wurde in unserem Ensemble zu einem geflügelten Wort, und in meiner Familie ist es

    noch heute eine von allen verstandene Redewendung.“xvii

    Sprecherin: Mit seinen ab 1960 konsequent grafisch notierten Kompositionen, es

    sollten bis zu seinem Tod aberhunderte Blätter werden, bewegte sich Logothetis in

    unmittelbarer Nähe zu kybernetischen Kommunikationsmodellen. Wie sein

    langjähriger Mitstreiter ausführte, der Künstler und Medientheoretiker Peter Weibel,

    habe Logothetis die Partitur gewissermaßen als Standbild der Musik etabliert. Deren

    optische Verfestigung und ihre damit einhergehende Sichtbarmachung habe die

    Grenzen zwischen Komponist und Interpret und Hörer beziehungsweise Betrachter

    aufgelöst.

  • 12

    Sprecher 1: „Die Partitur wird tendenziell zu einer Landkarte ohne Referenzialität,

    die von ihren Beobachtern wie in einem kybernetischen System der Rückkopplungen

    und Schleifen konstruiert wird.“xviii

    Sprecher 2: Logothetis’ Beziehung zu den Denkmodellen von Norbert Wiener und

    Heinz von Förster manifestiert sich vor allem in seinem zu Beginn der 70er Jahre

    entstandenen und vom Norddeutschen Rundfunk produzierten Musik-Hörspiel

    „Kybernetikon“. Durchbricht man dessen sinnliche Oberfläche, kann man einen

    Schmelztiegel entsprechender Themen erkennen. Zu dessen Ingredienzien gehört

    beispielsweise die Krankheit, also Störung, oder umgekehrt Ordnung und Heilung.

    So eröffnet Logothetis’ „Kybernetikon“ denn auch mit einer Anamnese, einer Art

    Patientenbefragung.

    Sprecher 1: „bitte Ihre Vorgeschichte und früher überstandene Krankheiten – bevor

    wir zum Status praesens kommen um Zukünftiges zu diagnostizieren – zieren Sie

    sich nicht – bitte zunächst aber Ihren Namen und Alter.“xix

    Sprecherin: Logothetis fährt nun fort, als wolle er den berühmten Einleitungssatz

    von Thomas Manns „Josephs“-Romanen Tief ist der Brunnen der Vergangenheit

    umsetzen. Er nennt nicht nur einen Namen, etwa den seinen, sondern eine lange

    Reihe biblischer Namen: von Abraham über Isaac und Jakob bis hin zu Jesus

    Christus. Und fügt, soweit biblisch verbürgt, noch deren Alter hinzu. Das

    Sammelsurium der Namen bringt er allerdings in eine visuelle Ordnung. Sie erinnert

    an die Gestalt des griechischen Buchstaben Chi, setzt somit einen Link zu Christus.

    Möglicherweise weil der virtuelle Patient, nachdem er Namen und Alter genannt hat,

    auch noch seinen Beruf nennen soll – eine Frage, die er lakonisch mit „Gott“

    beantwortet.

    Sprecher 1: „Kybernetikon bewegt sich auf drei Hauptebenen.“

    Sprecherin: Logothetis Mitte der 70er Jahre, auf dem Cover einer LP.

    Sprecher 1: „Da ist einmal eine Krankheitsgeschichte, die als ‚Antwort’ auf die

    ‚ärztlichen Fragen Name? Beruf? Wohnort? aufrollt.“

    Sprecherin: Eine zweite Ebene bildete Logothetis mit der Einbeziehung

    mythologischer Prototypen, die der kybernetisch beherrschten Gesellschaft

    vorangingen.

    Sprecher 1: „Die prototypischen Vater-Sohn-Beziehungen von Ödipus und Christus

    greifen gespenstisch in den durch einen nüchternen Dialog gekennzeichneten Alltag

    als dritte Hauptebene des Hörspiels ein, das mit der ärztlichen Frage „Was fehlt

    Ihnen wirklich?“ abschließt.“

  • 13

    Sprecher 2: In die genannten Ebenen seines Hörspiels lässt Logothetis immer

    wieder Gedanken oder wörtliche Zitate aus kybernetischen Schriften einfließen. So

    überantwortet er den Sirenen, die als mythologische Prototypen zur zweiten Ebene

    gehören, einen Satz Norbert Wieners.

    Sprecher 1: „die Beziehung Eingang-Ausgang schließt eine Vergangenheit-Zukunft-

    Ordnung ein.“

    Musik 5 (insgesamt 1’00)

    Anestis Logothetis: „Worte-Orte“, aus „Kybernetikon 71“ Jeunesses musicales präsentiert: Anestis Logothetis Gundula König, Sprecherin Preiser Records 120 086, ohne LC

    Sprecher 2: Der Sage nach lockten die Sirenen durch ihren magischen Gesang die

    Seefahrer ins Verderben. Sie besaßen ferner die Gabe, von allem Vergangenen zu

    wissen, aber auch das Künftige offenbaren zu können. Darf man also Logothesis

    Kunstgriff, den Sirenen einen Satz Norbert Wieners in den Mund zu legen, als

    vorsichtige Distanzierung von der Kybernetik werten? Jedenfalls von der ihr

    ausgehenden Gefahr, durch immer raffiniertere Regelkreisläufe den Einzelnen wie

    die Gesellschaft manipulieren zu können? War es eine Warnung, die wir heute, 50

    Jahre nach der Entstehung von „Kybernetikon“, in einer Zeit, während der sich der

    Mensch immer mehr zu einem Mischwesen entwickelt, vernabelt/verkabelt mit

    Rechen- und Denkmaschinen, erst richtig begreifen können?

    Sprecherin: Jedenfalls ist es mehr als auffällig, dass Logothetis – wie übrigens auch

    Friedrich Cerha – nur selten mit oder für den Computer arbeitete, mit dem für die

    Kybernetik geradezu prädestinierten Instrument. Mit einem „schwarzen Kasten“, wie

    Roland Kayn ihn taufte, der deutsche Pionier kybernetischer Musik, und wie ihn der

    Musikkritiker Heinz-Josef Herbort 1978 näher beschrieb:

    Sprecher 1: „Mit einem ‚schwarzen Kasten’ kann man auch Musik machen,

    kybernetische Musik. Wie immer die Geräte, Schaltungen, Systeme, Maschinen

    aussehen mögen, die dabei den ‚schwarzen Kasten’ bilden – Generatoren,

    Frequenzteiler, Produktmodulatoren, Flip-Flops, Hallgeräte – wichtig ist, dass hier ein

    Input zu einem Output verändert wird und dass auf eine kybernetische Weise die

    Vorgänge vom System selber geregelt werden – dass allerdings auch von außen

    zusätzliche Manipulationen möglich sind.“xx

    Sprecher 2: Eben diesem „schwarzen Kasten“ blieb Logothetis zeitlebens eher

    reserviert gegenüber. Er zeigte sich dem Grundkonzept der Kybernetik, Störung und

    Heilung, zwar fast durchgängig verpflichtet, aber er hielt fast ausnahmslos an den

    traditionellen Musikinstrumenten fest. So auch in seinem bekanntesten Werk, dem

    Ensemblestück „Styx“, 1969 für Siegfried Behrend geschrieben, den deutschen

    Gitarristen und Komponisten. Wie im Fall seines wenig später entstandenen Musik-

  • 14

    Hörspiels „Kybernetikon“ verknüpft Logothetis auch hier Mythologisches mit

    Kybernetischem, speziell mit dem Modell der zirkulären Kausalität.

    Sprecherin: Styx, so nannte man in der griechischen Antike, seit den Tagen

    Homers, das ‚Wasser des Grauens’ – einen jener Flüsse, die den Hades umgeben,

    also das Reich der Toten von dem der Lebenden abgrenzen. Logothetis wählte einen

    so bildhaften Titel, weil er – durchaus im Sinn einer Programmmusik – die Reise der

    Seele nach dem Tod des Körpers verklanglichen wollte.

    Sprecher 2: Ihren Exodus, ihren Abschied von der menschlichen Gemeinschaft setzt

    Logothetis um, indem er aus einem Elfton-Cluster einen separaten Einzelton

    hervorgehen lässt. Wenig später kommt es zu einem besonders auffälligen Ereignis

    in der grafisch notierten Partitur: Zwei riesige, schwellende Wassertropfen legen eine

    Realisierung durch eine Art Glissando nahe; ihnen folgt eine Generalpause, eine

    tabula rasa. Die Seele hat, so darf man interpretieren, vom Wasser des Vergessens

    getrunken. Nun kann sie – ebenfalls antiker Vorstellung entsprechend – im

    Totenreich ihren Frieden finden.

    Sprecherin: Doch zuvor hat sie noch eine Reihe von Prüfungen und Hindernissen zu

    überwinden. Gebilde in der Partitur, die an sturzartig hereinbrechende

    Wassermassen oder schlüpfrige Schlieren denken lassen, deuten dergleichen an.

    Vor allem aber eine schon rein optisch explosiv anmutende Passage. Die von ihr

    eingeforderte Geräuschhaftigkeit lässt sich adäquat mit Hilfe von Bartók-Pizzikati

    umsetzen. Dann aber mündet das Geschehen wieder in das Ausgangscluster, in den

    Elftonakkord, in den sich nun der zwölfte Ton einreiht. Die Seele hat nach all den

    Störungen zu einer neuen Ordnung gefunden, ist nunmehr geheilt, der Zirkel ist

    geschlossen:

    Musik 6 (insgesamt ca. 2’20)

    Anestis Logothetis: „Styx“ für variable Besetzung - Requiem für Hiroshima DZO-Kammerorchester Ltg. Siegfried Behrend Thorofon CTH 2026, LC 0065 (bei ca. 6’20 einsetzen, bis Ende stehen lassen)

    Sprecher 2: Die Idee der Heilung, also der Befriedung von Konflikten, kennzeichnet

    vor allem jene Werke von Logothetis und Cerha, die in den 60er und 70er Jahren

    entstanden. Der ihnen gemeinsame Ansatz führte zwar zur Ausprägung zweier völlig

    unterschiedlicher Klangsprachen. Er entsprang jedoch einer gemeinsamen Wurzel,

    nämlich dem Wunsch, über die Kunst hinaus in die Allgemeinheit hineinwirken zu

    können. Logothetis’ und Cerhas Sehnsucht nach einer freien, sich immer wieder neu

    zusammenfindenden Gesellschaft, ist denn auch als Reaktion auf das politische

    Klima jener Jahre zu verstehen.

  • 15

    Sprecherin: Stellvertreterkrieg In Vietnam, die Supermächte tobten sich aus.

    Attentate, ideologisch motiviert, folgten dicht aufeinander: John F. Kennedy, sein

    Bruder Robert, Martin Luther King, Benno Ohnesorg. Rudi Dutschke. Die Panzer der

    Sowjetunion setzten den Blütenträumen des Pragers Frühling ein Ende. Und die RAF

    nahm ihren Kampf auf. Und in Chile putschten die Generäle. Und Präsident Salvador

    Allende tötete sich selbst. Und… und… und…

    Sprecher 2: Nicht nur in seinem Bühnenschaffen, hier aber besonders deutlich,

    offenbarte sich Cerha als ‚homo politicus’, der die Mechanik des gesellschaftlichen

    Miteinanders vor allem erkundete, indem er das Verhältnis zwischen dem Einzelnen

    und der Masse unter die Lupe nahm. Sein 1980 vollendeter „Baal“ nach Bertolt

    Brecht, zeigte einen beschädigten Helden, der sich gegen die Verwaltung des

    Menschen durch die Menschen wehrt. Ein paar Jahre später, in „Der Rattenfänger“

    nach Carl Zuckmayer, rückte hingegen eine Figur in den Mittelpunkt, die der Jugend

    zugleich Visionär wie Verführer ist.

    Sprecherin: Politisch im weitesten Sinn sind aber auch alle kybernetisch grundierten

    Werke Cerhas, speziell die Orchesterstücke. Denn sie zeigen Störungen nicht nur

    auf, sondern weisen außerdem Wege, wie Konflikthaftes in immer wieder neu zu

    verhandelnde Ordnungen integriert werden kann. Folglich haftet seinen

    Kompositionen etwas Utopisches an, künden sie doch von vielfältigen Möglichkeiten,

    verschiedenartige Krisen erfolgreich zu managen.

    Sprecher 1: „Kunst hat durch Aufbrechen von ‚Harmonien’ im weitesten Sinn, durch

    Bruch und Verfremdung von Vertrautem, durch Ausgrenzen und Verneinen von

    Möglichkeiten auf Probleme reagiert, die unsere Welt integrierender Bewältigung

    schlechthin stellt.“xxi

    Sprecherin: Friedrich Cerha, „Komponieren heute“, ein 2001 veröffentlichter Aufsatz.

    Sprecher 1: „Die Vielfalt grundsätzlich verschiedener möglicher Positionen

    unterscheidet unsere Situation von der vergangener Zeiten. Sie ist eine

    Herausforderung. Die Lösungen des Künstlers liegen im Reich der Fantasie. Nur

    offene Ohren, Herzen und Hirne können mittelbar unserer Arbeit auch eine

    gesellschaftliche Relevanz verleihen.“xxii

    Sprecher 2: Cerha appelliert hier an die Hörer. Er, der Createur, bedürfe ihrer

    Partnerschaft, wenn sein Werk soziale Kraft entfalten solle. Der Appell verdankt sich

    – so kann man resümieren – aber nicht einem sentimentalen Augenblick oder einer

    situativ bedingten Eingebung. Cerhas Hinwendung zum Gegenüber, das von ihm

    postulierte Junktim zwischen dem Einzelnen und dem Gesamten, seine Kybern-Ethik

    sozusagen, ist vielmehr fest in den Wiener Formen systemischen Denkens verankert,

    dessen maßgebliche Repräsentanten Joseph Matthias Hauer und Heinz von Förster

  • 16

    waren. So erscheint Norbert Wieners Satz, den Cerha sich in den 60er Jahren auf

    dem Titelblatt einer Partitur notierte, denn auch wie ein künstlerisches Credo:

    Sprecher 1: „Für mich sind Logik, Lernen und alle geistige Tätigkeit stets nur

    verständlich als ein Prozess, bei dem der Mensch sich selber mit seiner Umwelt en

    rapport setzt.“xxiii

    Sprecherin: An die eigene Umwelt knüpfte Cerha Ende der 60er Jahre mit der

    „Langegger Nachtmusik“ an. Er komponierte sie in seinem unweit der Donau

    gelegenen Landhaus, mit dem Ziel, das „scheinbar Unzusammenhängende“

    miteinander zu versöhnen:

    Musik 7 (insgesamt 3’10)

    Friedrich Cerha: Langegger Nachtmusik I

    Cerha-Dokumente, Box, 12 CDs Ensemble "die reihe" Ltg. Friedrich Cerha ORF. Edition Zeitton B00005N6TS, LC 11428

    Sprecher 1: „Das Erlebnis der vergeblichen Sehnsucht nach Harmonie mit der Welt,

    nach dem Einfachen, das Nicht-Wegschauen-Können vom Eindringen des

    Bedrohlichen, Zerstörerischen war für mich ein Punkt der Anknüpfung. Und ich

    komponiere gern bei Nacht, die für mich in dem Stück klingt, immer wieder von

    fremdem Klängen gestört. Auch in dieser Nachtmusik gibt es keine Zitate, aber auch

    österreichische Musiklandschaft, soweit ich sie liebe – Mahler, Berg, Webern, auch

    Ligeti – wird bewusst durch Allusionen geweckt und immer wieder weggewischt, der

    Zerstörung anheimgegeben. Reales – wie das hörbare, durch die Nacht klingende

    Tuten der Donauschiffe – mischt sich ins Reflektierte.“xxiv

    Musik 7

  • 17

    i Josef Matthias Hauer, [Vorrede zum Zwölftonspiel Juli 1946 für Klavier zu vier Händen, Wien Selbstverlag, zitiert nach: Walter Szmolyan, J.M. Hauer, Wien 1965, [S. 5] ii Ebd. iii Josef Matthias Hauer: Testament der hehren Kunst und Wissenschaft. Manuskript, 1941. iv Heinz von Förster, Von Pythagoras zu Josef Matthias Hauer, in: Jedermann. Eine Wochenschrift, 1. Jahrgang, Nr. 1, 1. August 1947, [S. 1]. Nachdruck in: Förster, Kybern-Ethik, S. 55–58. v Heinz von Förster, Kybern-Ethik, Berlin, Berlin 1993, S. 41. vi Josef Matthias Hauer, Manifest, geschrieben auf der letzten Innenseite des Zwölftonspiels für Orchester vom 28. August 1940, zitiert nach: https://austria-forum.org/af/Wissenssammlungen/Musik_Kolleg/Hauer/Zwölftonspiel-Gedanken vii Heinz von Foerster in einem Interview mit Peter Bexte, FAZ-Magazin 461, 20.12.1988 viii Heinz von Foerster, in: Heinz von Foerster, Bernhard Pörksen, Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners. Gespräche für Skeptiker, 11. Auflage, Heidelberg 2016, S. 100. ix Ebd., S. 107. x Friedrich Cerha, Schriften. Ein Netzwerk, Wien 2001, S. 77. xi Ebd., S. 32 f. xii Ebd., S. 221. xiii Ebd., S. 236. xiv Norbert Wiener, Mathematik – mein Leben, Frankfurt/Mai 1965, S. 263 f. Zitiert nach Friedrich Cerha, „Von ‚Exercises’ zu ‚Netzwerk’, in. Österreichische Musikzeitschrift, 36. Jg. Heft 5-6, Mai/Juni 1981, S. 318–322, hier S. 319. xv Oskar Jursa, Kybernetik, die uns angeht, Gütersloh u.a. 1971, S. 172. xvi Cerha, Schriften (wie Anmerkung 10), S. xvii Friedrich Cerha, „’denn wozu…’: Komponieren jenseits des Serialismus“, in: Hartmut Krones (Hg.), Anestis Logothetis. Klangbild und Bildklang, Wien 1998, S. 188–192, hier S. 192. xviii Peter Weibel, „Musik / Spiel als kybernetisches Modell“, in: Krones (wie Anmerkung 15), S. 200 f., hier S. 201. xix Anestis Logothetis, Kybernetikon. Musik-Hörspiel, Wien 1971/72, Selbstverlag, Blatt 2a. xx Heinz Josef Herbort, „Musik aus dem schwarzen Kasten. Roland Kayns ‚Makro’ im ‚Theatraction’ Den Haag, in: Die Zeit 1978, zitiert nach: http://www.zeit.de/1978/42/musik-aus-dem-schwarzen-kasten (Abruf 10.02.2018). xxi Cerha, Schriften, S. 161 (wie Anmerkung 10). xxii Ebd., S. 162. xxiii Norbert Wiener (genaue Fundstelle nicht bekannt), zitiert nach ebd., S. 60. xxiv Cerha, Schriften (wie Anmerkung 10), S. 239.

    https://austria-forum.org/af/Wissenssammlungen/Musik_Kolleg/Hauer/Zwölftonspiel-Gedankenhttps://austria-forum.org/af/Wissenssammlungen/Musik_Kolleg/Hauer/Zwölftonspiel-Gedankenhttp://www.zeit.de/1978/42/musik-aus-dem-schwarzen-kasten