Orientierung von Bauwerken und Städten maya inka azteken

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Zur astronomischen Orientierung von Bauwerken und Städten der Azteken, Mayas und Inkas im präkolumbischen Amerika mit einer besonders ausführlichen Behandlung des Caracols von Chichén Itzá Thorsten Zipser, Schülerpraktikant im Oktober 2006 und Juni 2007 Burkard Steinrücken, Westfälische Volkssternwarte und Planetarium Recklinghausen Dieser Aufsatz beschäftigt sich mit dem Thema der Zeitrechnung der Ureinwohner Amerikas. In den Kulturen der Azteken, Mayas und Inkas wurde der Zeitaufteilung große Bedeutung geschenkt. Heute noch ragen die Bauten dieser Hochkulturen aus den tropischen Regenwäldern hervor und erzählen uns, wie anhand des Laufs der Sonne und der Gestirne die Zeit bestimmt wurde. Es werden Beispiele wie der Templo Mayor aus dem ehemaligen Tenochtitlán, der Torreon in Machu Picchu, El Castillo in Chichén Itzá und die Stadtanlagen von Teotihuacán, Monte Alban und Cuzco behandelt. In der archäoastronomischen Literatur wird für alle diese Bauwerke und Orte eine Bezugnahme auf Himmelsereignisse in Betracht gezogen, was hier auf der Basis eigener Berechnungen und Interpretationsideen kritisch untersucht und bewertet werden soll. Die Behandlung des Caracols von Chichén Itzá nimmt dabei besonderen Raum ein, weil der Caracol als die Maya-Sternwarte schlechthin gilt. Zeitmessung und Zeiteinteilung mit Hilfe von Himmelsereignissen Wieso haben die Menschen der erloschenen Kulturen Mittel- und Südamerikas so viel Zeit in die Studien der Bewegungen der Gestirne investiert? - Minuten, Stunden u. a. willkürlich gewählte Zeitabschnitte sind Produkte unserer Fantasie. Sie existieren nicht wirklich. Wir Menschen haben sie allein deswegen erfunden, da wir feste Strukturen zur Ordnung unseres Lebens und unserer Gesellschaft benötigen. Es liegt in der Natur des Menschen, alles in feste Formen zu setzen, da wir ansonsten geistig nicht in der Lage wären sie zu „fassen“. Dementsprechend haben wir Zeiteinheiten erfunden, um uns im Leben besser zurechtzufinden und uns den Begriff der Zeit besser zu veranschaulichen. Ebenfalls konnten mittels der Zeitberechnung Eckdaten im Jahr bestimmt und gefeiert werden, die, wie z.B. die Wintersonnenwende, den Menschen religiös viel bedeuteten, und ihnen eine feste Struktur des Jahres vorgaben (Festtag = „Fester Tag“), weil sie regelmäßig nach Ablauf fester Zeiten wiederkehrten. Doch außer diesem psychologischen Grund gibt es noch einen weitere Motivation für die Kalenderastronomie, der sich besonders auf die agrarkulturellen Zivilisationen bezieht. Diese waren stark an die wandelnden Jahreszeiten gebunden, da sie die Zeiten für die Aussaat und die Ernte kennen mussten. Somit war für sie der Stand der Sonne und der Lauf der Jahreszeiten eine wichtige Grundlage, deren Verständnis das Überleben sichern und erleichtern half. Dementsprechend waren Kulturen wie die Inkas, die ihren Hauptnahrungsanteil aus der Agrarwirtschaft gezogen haben, genötigt, einen festen Kalender mit genauer Voraussage der Jahreszeiten zu besitzen. Im nächsten Abschnitt werden zunächst einige astronomischen Grundlagen der Zeitbestimmung einführend erläutert.

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GUTE ARBEIT ZU DEN BAUWERKEN DER VORZEITLICHEN KULTUREN

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Zur astronomischen Orientierung von Bauwerken und Städten der Azteken, Mayas und Inkas im präkolumbischen Amerika mit einer besonders ausführlichen Behandlung des Caracols von Chichén Itzá Thorsten Zipser, Schülerpraktikant im Oktober 2006 und Juni 2007 Burkard Steinrücken, Westfälische Volkssternwarte und Planetarium Recklinghausen Dieser Aufsatz beschäftigt sich mit dem Thema der Zeitrechnung der Ureinwohner Amerikas. In den Kulturen der Azteken, Mayas und Inkas wurde der Zeitaufteilung große Bedeutung geschenkt. Heute noch ragen die Bauten dieser Hochkulturen aus den tropischen Regenwäldern hervor und erzählen uns, wie anhand des Laufs der Sonne und der Gestirne die Zeit bestimmt wurde. Es werden Beispiele wie der Templo Mayor aus dem ehemaligen Tenochtitlán, der Torreon in Machu Picchu, El Castillo in Chichén Itzá und die Stadtanlagen von Teotihuacán, Monte Alban und Cuzco behandelt. In der archäoastronomischen Literatur wird für alle diese Bauwerke und Orte eine Bezugnahme auf Himmelsereignisse in Betracht gezogen, was hier auf der Basis eigener Berechnungen und Interpretationsideen kritisch untersucht und bewertet werden soll. Die Behandlung des Caracols von Chichén Itzá nimmt dabei besonderen Raum ein, weil der Caracol als die Maya-Sternwarte schlechthin gilt. Zeitmessung und Zeiteinteilung mit Hilfe von Himmelsereignissen Wieso haben die Menschen der erloschenen Kulturen Mittel- und Südamerikas so viel Zeit in die Studien der Bewegungen der Gestirne investiert? - Minuten, Stunden u. a. willkürlich gewählte Zeitabschnitte sind Produkte unserer Fantasie. Sie existieren nicht wirklich. Wir Menschen haben sie allein deswegen erfunden, da wir feste Strukturen zur Ordnung unseres Lebens und unserer Gesellschaft benötigen. Es liegt in der Natur des Menschen, alles in feste Formen zu setzen, da wir ansonsten geistig nicht in der Lage wären sie zu „fassen“. Dementsprechend haben wir Zeiteinheiten erfunden, um uns im Leben besser zurechtzufinden und uns den Begriff der Zeit besser zu veranschaulichen. Ebenfalls konnten mittels der Zeitberechnung Eckdaten im Jahr bestimmt und gefeiert werden, die, wie z.B. die Wintersonnenwende, den Menschen religiös viel bedeuteten, und ihnen eine feste Struktur des Jahres vorgaben (Festtag = „Fester Tag“), weil sie regelmäßig nach Ablauf fester Zeiten wiederkehrten. Doch außer diesem psychologischen Grund gibt es noch einen weitere Motivation für die Kalenderastronomie, der sich besonders auf die agrarkulturellen Zivilisationen bezieht. Diese waren stark an die wandelnden Jahreszeiten gebunden, da sie die Zeiten für die Aussaat und die Ernte kennen mussten. Somit war für sie der Stand der Sonne und der Lauf der Jahreszeiten eine wichtige Grundlage, deren Verständnis das Überleben sichern und erleichtern half. Dementsprechend waren Kulturen wie die Inkas, die ihren Hauptnahrungsanteil aus der Agrarwirtschaft gezogen haben, genötigt, einen festen Kalender mit genauer Voraussage der Jahreszeiten zu besitzen. Im nächsten Abschnitt werden zunächst einige astronomischen Grundlagen der Zeitbestimmung einführend erläutert.

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Astronomische Grundlagen der Zeitbestimmung Zur Zeitmessung und -einteilung stehen dem Menschen die Sonne, der Mond, die Planeten und die Sterne als natürliche „Taktgeber“ zur Verfügung. Agrarkulturelle Zivilisationen nehmen den Lauf der Sonne als Maßstab für ihre Zeitmessung, da man die Verschiebung des Untergangspunktes der Sonne von Tag zu Tag am Horizont leicht beobachten kann, wenn man sesshaft ist und einen festen Beobachtungspunkt und eine vertraute Horizontkulisse besitzt. Im Gegensatz dazu nehmen Nomaden den Mond und seinen Lauf relativ zu den Gestirnen oder seinen Phasenwechsel als natürlichen Taktgeber, da es für sie, die täglich ihren Standort wechselten, nicht möglich war, die Verschiebung der Untergangspunkte der Sonne zu verfolgen. Die Azteken, Inkas und Mayas waren der Sonne im religiösen Sinne sehr stark verbunden, da sie in ihr etwas Göttliches sahen (die männlichen Inkas bezeichneten sich sogar als Kinder der Sonne). In diesem Aufsatz werden hauptsächlich Beispiele behandelt, bei denen die Sonne oder die Sterne in Bezug zum jährlichen Sonnenlauf (z.B. in Form heliakischer Aufgänge) als Zeitgeber verwendet wurden.

Der Lauf der Sonne gibt dem Menschen einige Anhaltspunkte, an denen er sich orientieren kann. Die wichtigsten sind die sog. Jahreseckdaten - die Sonnenwenden und Äquinoktien. Eine Sonnenwende stellt den Zeitpunkt dar, in dem die Sonne im Laufe eines Sonnenjahres die größte nördliche oder südliche Deklination (= Winkelabstand zum Himmelsäquator, siehe Abb. 1) erreicht.

Abbildung 1: Tagesbahnen der Sonne bei den Sonnenwenden und Tag-und-Nacht-Gleichen (Himmelsäquator) in mittleren Breiten.

In diesem Augenblick kehrt die Sonne ihre durch die Schiefe der Ekliptik bewirkte Deklinationsbewegung um und nähert sich wieder dem Himmelsäquator. Diese maximale Deklination erreicht sie jedes Jahr zweimal: einmal nördlich und einmal südlich des Himmelsäquators; je nach Hemisphäre (also Nord- oder Südhalbkugel der Erde) spricht man dabei jeweils von der Sommer- oder Wintersonnenwende (SSW oder WSW). Zu diesen Zeiten hat sie auch ihre größte bzw. kleinste Mittagshöhe über dem Horizont (siehe Abb. 1 & 2).

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Abbildung 2: Schematische Darstellung des Erdumlaufs um die Sonne mit Andeutung der Schiefstellung der Erdachse, wodurch die Jahreszeiten entstehen. Vom irdischen Standpunkt aus stellt man einen scheinbaren Umlauf der Sonne durch jene Zone des Himmels fest, die man antiken Traditionen folgend "Tierkreis" nennt. Die Sonne "steht" jeden Tag im Jahr an einer anderen Stelle des Tierkreises und damit immer auch in der Nähe unterschiedlicher Sterne, die dann nachts nicht sichtbar sind, weil sie mit der Sonne über den Taghimmel laufen. Beim Äquinoktium scheint die Sonne senkrecht auf den Äquator der Erde. Bild aus: A. Unsöld & B. Baschek; Der neue Kosmos. Die Sonnenwenden beobachtet man durch den Stillstand des Auf- oder Untergangspunktes der Sonne am Horizont (deshalb auch "Solstitium" = Sonnenstillstand als lateinischer Ausdruck für die Sonnenwende). Die tägliche Verschiebung der Untergangspunkte ist in der Nähe des Äquinoktiums ( Tagundnachtgleiche) relativ groß, nimmt aber beim Nahen der Sonnenwende immer geringere Ausmaße an, was dazu führt, dass die Bestimmung des genauen Zeitpunktes der Sonnenwende anhand einer einzigen Untergangsbeobachtung nicht möglich ist und somit ohne Berechnungen keine genauen Angaben geliefert werden können. Dehnt man aber die Beobachtung auf einen Zeitraum einige Wochen vor und nach der Wende aus, so ist anhand der Symmetrie des Hin und Her des Stillstandspunktes über einen größeren Bereich auch der Sonnenwendzeitpunkt durch zeitliche Mittelung genau bestimmbar. Mittels Halbierung des Zeitraumes zwischen WSW und SSW erhält man die Daten der Äquinoktien (Tag-und-Nachtgleichen). Somit ergaben sich schon zwei natürliche Zeiteinheiten, die in einigen Kulturen durch weiteres Teilen der verschiedenen Zeitabschnitte zu weiteren Festdaten führte. Damit ist es auch ohne Hochtechnologie und nur durch bewusste Beobachtung möglich, das Jahr ungefähr in gleichlange Abschnitte zu gliedern. Als ein weiterer wichtiger Orientierungspunkt im Sonnenjahr diente in der Tropenzone der Erde der Zenitstand der Sonne, der genau wie die Sonnenwende zweimal im Jahr eintritt. Abbildung 3 zeigt die Lage der Sonnenbahn für einen Standort innerhalb der Tropenzone auf der Nordhalbkugel (z.B. Mexico). Die Sonne erreicht bei dieser Bahnlage, die zweimal im Jahr zeitlich symmetrisch zu den Sonnenwenden eintritt, zur Ortsmittagszeit den Zenit. Abbildung 1 dagegen veranschaulicht die Lage der Sonnenbahn bei den Jahreseckdaten für einen Beobachter in mittleren nördlichen Breiten (z.B. Europa). In dem Fall erreicht die Sonne nie den Zenit.

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Abbildung 3: Bahnlage der Sonnenbahn bei Zenitdurchgang in der Tropenregion. An den Tagen des Zenitdurchgangs der Sonne gleicht die Sonnendeklination der geographischen Breite. Doch nicht nur anhand der Sonne lassen sich Aussagen über die Jahreszeit machen. Auch das Erscheinen von Sternen nach einer längeren Unsichtbarkeitsperiode diente als Signal und Kennzeichen bestimmter Phasen des Sonnenjahrs. Den Chimu z.B., einen Stamm der Inka, diente das morgendliche Erscheinen der Plejaden kurz vor Sonnenaufgang als Zeitmarker. Durch die ostwärts gerichtete jährliche Bewegung der Sonne auf ihrer scheinbaren Bahn, der "Ekliptik", wird der Abstand der Sonne von den Plejaden stetig von Tag zu Tag größer, und die Plejaden gehen immer früher vor der Sonne auf. Die erstmalige Sichtbarkeit eines Sterns in der Morgendämmerung, der sog. sonnenbezogene oder "heliakische" Aufgang, wurde als Zeitsignal gewertet (Abb. 4).

Abbildung 4: Heliakischer Aufgang eines Sterns. In Teilbild 1 steht die Sonne oberhalb des Sterns und sie geht damit vor dem Stern auf. Wegen der scheinbaren Bewegung der Sonne durch den Tierkreis zieht die Sonne am Stern vorbei (Teilbilder 2 und 3), bis der Abstand zwischen Sonne und Stern so groß ist (Teilbild 4), dass der Stern in der Morgendämmerung erscheint, kurz bevor die Sonne aufgeht. Auch diese Technik bietet eine sichere Möglichkeit, die Zeit einzuteilen, jedoch zeigt sie Schwächen, weil die Beobachtung der Sterne am Horizont sehr stark von den Wetterbedingungen und der Luftbeschaffenheit abhängt (die Luft vermindert je nach Gehalt von Wasserdampf und Schwebeteilchen die Helligkeit des Sternlichts). Ein solches heliakisches Sternereignis kann auch als Voranzeiger für die kommende Sonnenwende oder den Zenitdurchgang der Sonne gewertet werden und entsprechende Vermutungen über eine solche Verwendung bestimmter Sterne bei den Kulturen Mittel- und Südamerikas findet man in der Literatur. Sie werden im nun folgenden Abschnitt, in dem ausgewählte Fallbeispiele diskutiert werden, eingehend behandelt.

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Fallbeispiele für astronomisch motivierte Bauwerke in Mittelamerika Im Rahmen der Erforschung der erloschenen Kulturen des amerikanischen Kontinents gerieten auch die Überreste der grandiosen Bauwerke und Stadtanlagen hinsichtlich ihrer Architektur und Richtlage in Bezug zum lokalen Horizont ins Visier der Untersuchungen. Für viele dieser Bauwerke bzw. für ihre Ruinen lassen sich Vermutungen über eine Verwendung als Beobachtungsstandorte, als geometrische Konstruktionen in Bezug auf bestimmte Himmelsereignisse oder als Tempelbauwerke mit astralreligiösen symbolischen Beziehungen anstellen. Oft stützen sich diese Interpretationen allein auf die Architektur und Geometrie dieser Bauwerke als Kalenderanlagen. Das macht den Nachweis einer Verwendung der Anlagen zu diesem Zweck schwierig oder gar unmöglich, denn ohne die Kenntnis der Intention der Erbauer muss man auch den Zufall als Verursacher einer bestimmten Ausrichtung eines Tempels, eines Fensters oder eine Prachtstrasse in Betracht ziehen. In manchen Fällen geben aber auch schriftliche Quellen oder Aufzeichnungen der spanischen Eroberer Aufschluss über eine solche Verwendung. Insbesondere in solchen Fällen besteht kein Zweifel über eine Bezugnahme zu Himmelserscheinungen. Die nun behandelten Fallbeispiele wurden ausgewählt, weil sie aus architektonischen und astronomischen Gründen besonders spektakuläre Erscheinungen sind, für die in der archäoastronomischen Fachliteratur bestimmte Himmelsphänomen als sinnstiftend erkannt oder behauptet wurden. Diese Behauptungen werden hier näher untersucht, der Kritik unterzogen und mit eigenen Berechnungen und Schlußfolgerungen kontrastiert. Insofern setzt sich dieser Aufsatz nicht allein mit den astronomischen Elementen der amerikanischen Zeitrechnung in präkolumbischer Zeit auseinander, sondern insbesondere auch mit der archäoastronomischen Literatur zu diesem Thema, deren Postulate und Interpretationsansätze oft als gesicherte Erkenntnisse missverstanden werden. a) Der Templo Mayor in der aztekischen Hauptstadt Tenochtitlán (19°25´ N, 99°09´ W) Der Templo Mayor wurde von den Azteken gebaut. Die Azteken waren eine mesoamerikanische Kultur in Zentralmexiko mit einer reichhaltigen Mythologie. Der Begriff "aztecatl" bedeutet auf Nahuatl, der Sprache der Azteken, „jemand der aus Aztlán kommt“. Die Kultur der Azteken existierte vom 13. Jahrhundert bis zum frühen 16. Jahrhundert, bis die Spanier unter Führung des spanischen Conquistadors Hernando Cortez die Azteken bezwangen und ihr Reich zerschlugen.

Abbildung 5: Zwei Rekonstruktionen des Templo Mayor in Techochtitlán mit möglichen Visierlinien zum Sonnenaufgang bei den Tag-und-Nacht-Gleichen. Die linke Skizze stammt vom A. Aveni die rechte von E. C. Krupp. Die Sonne erscheint jeweils zwischen den beiden Türmen des Tempels. Aber wo ist der genaue Beobachtungsort? - Auf dem benachbarten Quetzalcoatl-Tempel oder vor dem Templo Mayor auf Bodenniveau?

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In Abbildung 5 sind zwei Rekonstruktionen des Templo Mayor aus der aztekischen Hauptstadt Tenochtitlán zu sehen. Zumindest soll er so ausgesehen haben, bevor ihn die Spanier zerstörten und auf seinem Fundament das neue Mexiko gegründeten. Dieser Templo Mayor soll auch ein riesiges Sonnenobservatorium zur Bestimmung des Äquinoktiums gewesen sein. Es gibt zwei Theorien, die jeweils einen unterschiedlichen Standpunkt des Betrachters zur Beobachtung der Sonne an den Tag-und-Nacht-Gleichen annehmen (Abb. 5).

Abbildung 6: Modell der Stadt Tenochtitlán im archäologischen Museum von Mexico City

Eine Arbeitsgruppe der TU Darmstadt hat die Tempelanlage im Computer rekonstruiert (Abbildung 7) und eine entsprechende Animation des Sonnenereignisses erstellt, aus der die Abbildung 8 den Ausschnitt zeigt, bei dem die Sonne zwischen den Tempeltürmen erscheint.

Abbildung 7: CAD Modell des Templo Mayor in Tenochtitlán (TU Darmstadt)

Abbildung 8: Sonnenereignis zwischen den Tempeltürmen des Templo Mayor (TU Darmstadt)

Das kegelförmige Gebäude vor dem Templo Mayor (siehe Abb. 5 links, Abb. 6 & 9) stellt den Tempel des Quetzalcoatl dar. Eine Theorie behauptet, dass dieser Turm der Standort für die Beobachtung der Sonne war. Steht man in dem runden Turm des Quetzalcoatl-Tempels, so soll sich bei der Tag-und-Nachtgleiche Folgendes ereignen: Für den Beobachter im Tempel des Quetzalcoatl steigt die Sonne zwischen den Tempeltürmen des Templo Mayor auf. Die andere Theorie besagt, dass man dieses Schauspiel nicht aus dem Quetzalcoatl-Tempel beobachtete, sondern von einem Ort auf Bodenniveau vor dem Templo Mayor. Mit Hilfe einer astronomischen Software zur Berechnung der Bahnverläufe der Sonne lässt sich testen, welche der beiden Theorien stimmt. Eigene Berechnungen anhand des

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Stadtmodells von H. Hartung (Abb. 9) ergaben, dass bei einer Beobachtung vom Quetzalcoatl-Tempel aus, die Lücke zwischen den Türmen des Templo Mayor unter einem Winkel von ca. 8° gegen den Himmel ragt.

Abbildung 9: Modell von Tenochtitlán von H. Hartung, der man die relativen Abstände und Gebäudehöhen zur etwaigen Berechnung der Elevation der Visierlinie entnehmen kann. Bildquelle: A. Aveni & H. Hartung Betrachtet man nun den Bahnverlauf der Sonne zur Zeit der Tag-und-Nachtgleiche, ist unschwer zu erkennen, dass das beschriebene Phänomen aus dieser Position unmöglich zu beobachten war (Abbildung 10). Denn anhand des heute noch erhaltenen Fundaments des Templo Mayors weiß man, dass er um rd. 7,5° gegenüber dem Ostpunkt nach Süden verdreht war (Angabe von A. Aveni). Und wie man in der Abbildung 8 sehen kann, passiert die Sonne diesen Punkt während der Tag-und-Nachtgleiche nicht im Höhenwinkel von 8°.

Abbildung 10: Berechnung der Sonnenbahn während der Tag-und-Nachtgleiche in Tenochtitlán. Die Sonne verfehlt die Lücke zwischen den Tempeltürmen in einer Elevation von 8° und einer Ausrichtung von 7,5° südlich von Osten (Nordazimut 97,5°), wenn man ihren Verlauf vom Quetzalcoatl-Tempel aus beobachtet.

Nun wenden wir uns der zweiten Theorie zu. Ein Indianer steht auf dem Platz vor der Pyramide und schaut zu den beiden Türmen. Der Winkel, unter dem er zum Himmel schaut, beträgt ungefähr 20° (Abbildung 11).

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Abbildung 11: Bei einem Standort vor dem Tempel sieht man die Lücke zwischen den Türmen in einer Elevation von 20°. Die Beobachtungsstelle ragt nun viel höher gegen den Himmel. Bei dieser Beobachtungsposition sieht man die Lücke zwischen den Türmen im Bereich der Bahn der Äquinoktialsonne (Abbildung 12). Dieser zweiten Auffassung ist demnach der Vorzug zu geben, wenn man der Überlieferung, der Tempel sei als Beobachtungseinrichtung für die Äquinoktialsonne mit verwendet worden, Glauben schenkt.

Abbildung 12: Die Sonnenscheibe taucht zwischen den Tempeltürmen auf, wenn man vom Ort vor dem Tempel unter einer Elevation von ca. 20° und einem Nordazimut von 97,5° auf den Templo Mayor schaut.

Aus diesen Ergebnissen lässt sich schließen, dass der Quetzalcoatl-Tempel keineswegs ein Observatorium war, das in Verbindung mit dem Templo Mayor dazu diente, das Äquinoktium zu beobachten. Stimmt die Angabe von Aveni, die Beobachtungsachse zeige auf eine Richtung 7,5° südlich des Ostpunktes, so verfehlt die Sonnenbahn wegen ihres steilen Verlaufs die Lücke zwischen den Türmen bei der Beobachtung vom Quetzalcoatl-Tempel beträchtlich. Da die oben verwendeten Maße zur Berechnung der Elevation nur grobe Abschätzungen aus der Fotografie des Modells von H. Hartung sind, haben wir Kontakt zur Arbeitsgruppe von Prof. M. Koob an der TU Darmstadt aufgenommen, die im Rahmen eines CAD-Projektes das aztekische Tenochtitlán virtuell rekonstruiert hat. Das daraufhin von E. Heller zugesandte Schnittbild der behaupteten Visierachse mit Maßen aus der CAD-Rekonstruktion ist in Abbildung 13 zu sehen.

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Abbildung 13: Schnittbild der Rekonstruktion des Quetzalcoatl-Tempels und des Templo Mayor im Rahmen des CAD-Projektes der Arbeitsgruppe von M. Koob an der TU Darmstadt (Architektura Virtualis GmbH). Die Maße weichen sehr von den zuvor geschätzten Werten ab. Berechnet man die Elevation der Lücke mit diesen Werten, so erhält man nur ca. 5°, also noch weniger als zuvor von mir anhand der Abbildung 9 abgeschätzt. Bei der Ausrichtung der Visierlinie 7,5° südlich von Osten passt es also erst recht nicht mit der Äquinoktialsonne. In der uns ebenfalls von E. Heller zugesandten wunderbaren Animation des aztekischen Tempelbezirks von der Architektura Virtualis GmbH in Darmstadt wird behauptet, durch das Sonnenereignis am Templo Mayor werden - im Gegensatz zu den älteren archäoastronomischen Interpretationen - nicht die Äquinoktien ausgezeichnet, sondern jene beiden Daten, die jeweils 73 Tage vor und nach der Wintersonnenwende liegen. In unserem heutigen Kalender entspräche das ungefähr dem 4. März und dem 9. Oktober. Eine weitere Differenzbildung von 73 Tagen zu diesen Daten führt auf den 16. Mai bzw. den 28. Juli, den Tagen der beiden Zenitstände der Sonne über Tenochtitlán. Insgesamt erhält man damit eine Fünfteilung des Jahres in fünf gleich große Abschnitte (5 x 73 = 365). Die Zahl 73 lässt sich auch in der Kalenderrechnung der Maya und Azteken wiederfinden und dadurch sei die Anzeige dieser besonderen Daten (4. März und 9. Oktober) gerechtfertigt. Lässt sich diese moderne Interpretation des Sonnenereignisses am Templo Mayor durch die astronomische Analyse bestätigen? - Die Sonnendeklinationen betrugen an diesen Tagen in der Blütezeit der Azteken (1500 n. Chr.) : Wintersonnenwende = -23,50°, 4. März = -6,1° bis -6,4°, 9. Oktober = -6,4° bis -6,7°, 16. Mai = 19,2° bis 19,4° und 28. Juli = 18,8° bis 19,0°. Man erhält für alle Daten außer bei der Sonnenwende eine kleine Spanne von Werten, da die Sonnenbahnen an diesen Tagen sich innerhalb eines Basisschaltzyklus von vier Jahren leicht unterscheiden. Die Abbildung 14 zeigt nun die beiden Sonnenbahnen für die begrenzenden Werte der möglichen Sonnendeklinationen 73 Tage vor und nach der Wintersonnenwende um 1500 n. Chr. in Tenochtitlán (-6,1° und -6,7°). Mit der Elevation von rd. 5° (aus Abbildung 13) und dem Azimut von ca. 97,5° (Aveni) zeigt die Visierlinie tatsächlich in diesen Bereich des Himmels, der von den Sonnenbahnen am 4. März und 9. Oktober durchlaufen wird.

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Abbildung 14: Spanne der Sonnenbahnen 73 Tage vor und nach der Wintersonnenwende um 1500 in Tenochtitlán. Die Sonnendeklination beträgt -6,1° bei der linken Bahn und -6,7° bei der rechten Bahn.

Man stellt zwar immer noch eine kleine Abweichung der Visierlinie fest, die sich wahrscheinlich aber durch die in der Rekonstruktion der Tempel etwas willkürlich gewählten Höhen und Gebäudeformen erklären lässt. Eine weitere Präzisierung der Untersuchung setzt genaue Daten über den Beobachtungsort, seine Höhe über dem Stadtniveau und die exakte Kenntnis der Richtlage der Peilachse und die Gestalt des angepeilten Tempelgiebels voraus. Insgesamt aber stellt sich hier der Eindruck ein, dass diese moderne Auffassung vernünftig und glaubhaft ist und der Rundturm des Quetzalcoatl-Tempel an diesen beiden Tagen im Jahr tatsächlich als geeigneter Beobachtungsstandpunkt in Frage kommt. Ferner liegen auch die Sonnendeklinationen am 16. Mai und 28. Juli nahe bei der exakten Deklination des mittigen Zenitdurchgangs der Sonne von 19°25´ Nord (geographische Breite von Tenochtitlán). Das Kriterium der Fünfteilung des Jahres durch die natürlich vorgegebenen Daten der Wintersonnenwende und der beiden Zenitstände der Sonne, sowie der am Templo Mayor künstlich inszenierten zwei weiteren Tage stimmt demnach mit etwa Tagesgenauigkeit. Da die Daten der Zenitstände von der geographischen Breite abhängen, kann man hier sogar ein Kriterium für die Auswahl des Ortes (genauer: des Breitengrades, auf dem der Tempel steht) vermuten, wenn man voraussetzt, die Azteken haben eine solche Jahresteilung bereits vor der Gründung von Tenochtitlán im Sinn gehabt und danach die Lage der Hauptstadt gewählt. Da die Lage aber in topographischer Hinsicht besonders herausragend ist (kleine Insel im Texcoco-See) und schon durch die natürlichen Landschaftsverhältnisse die Hinwendung der Azteken zu diesem Ort vollauf verständlich wird, ist dies wohl eine zu weitgehende Spekulation. Wahrscheinlich haben die Azteken diese zeitliche Symmetrie im Sonnenlauf über Tenochtitlán nach dessen Gründung erkannt und womöglich als göttliches Zeitzeichen angesehen und in ihren Sonnenkult aufgenommen. Durch schriftliche Quellen ist eindeutig erwiesen, dass tatsächlich ein solches Sonnenereignis am Templo Mayor beobachtet wurde. Eine Aufzeichnung des Paters Toribio Motolinia überliefert dies (möglicherweise meint Motolinia gar nicht das exakte Äquinoktium, sondern das Datum 17 Tage davor; 4. März?!): „Das Tlacaxiphualiztli genannte Fest fand statt, als die Sonne in der Mitte des Huicholobs stand, was beim Äquinoktium eintrat. Weil dieser aber etwas außerhalb der Geraden lag wünschte Montezuma ihn niederzureißen und richtig stellen zu lassen“ Das Sonnenereignis am Templo Mayor war ein von den Erbauern gewollter Effekt, wie auch durch die in Abbildung 15 gezeigte spanische Karte von Tenochtitlán bewiesen wird, die es zeichnerisch überliefert.

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Abbildung 15: Karte von Tenochtitlan aus dem Jahr 1524. Das Sonnenereignis am Templo Mayor ist darin eingezeichnet.

Für die Azteken ist damit erwiesen, dass sie astronomische Kenntnisse besaßen und diese auch zur Einteilung der Zeit verwendeten. Besonderen Eckdaten im Jahr wurden mit Festen gefeiert und anhand von religiösen Ritualen und astronomisch ausgerichteten Monumente die Bedeutung dieser Zeitpunkte und -abschnitte im Glauben der Menschen gefestigt. b) Die Stadtanlage von Teotihuacán (19°42´ N, 98°51´ W) Teotihuacán ist eine Ruinenstätte im mexikanischen Bundesstaat México. Sie liegt in der Nähe der gleichnamigen Ortschaft mit etwa 45000 Einwohnern. Einst war sie die größte Stadt des amerikanischen Kontinents. Teotihuacán ist der aztekische Name der Ruine, der „der Ort, wo man zu Gott wird“ bedeutet. Diesen Ort fanden die Azteken bereits verfallen vor. Er diente ihnen als Wallfahrtsort. Der Legende nach versammelten sich die Götter hier, um über die Erschaffung des Menschen zu beraten. Die eigentlichen Erbauer dieser Stadt waren das gleichnamige Volk der Teotihuacáner, das diese Stadt um die Zeitenwende gründete. Die Teotihuacaner dominierten eine lange Zeit ganz Mittelamerika. Um 650 n. Chr. verfällt aber die Großmacht. Die Stadt Teotihuacán wurde schließlich von den Toltelken geplündert. Die auffälligsten Bauten von Teotihuacán sind die "Sonnenpyramide", die als größte Pyramide Amerikas gilt. Sie war nach neuen Erkenntnissen nicht dem Sonnengott, sondern dem Regengott Tlaloc gewidmet. Eine zweite große Pyramide wird "Mondpyramide" genannt.

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Abbildung 16: Teotihuacán. Blick von der Mondpyramide zur Sonnenpyramide. Rechts die "Straße der Toten". Doch außer diesen beiden erstaunlichen Pyramiden, die Tag für Tag Tausende von Touristen anlocken, hat die Stadt noch mehr zu bieten. Denn einige Wissenschaftler vermuten, dass die komplette Stadt mit astronomischem Hintergrund errichtet wurde. Die Abbildung 17 zeigt einen Plan der untergegangenen Stadt mit ihrer Ausrichtung zu den Himmelsrichtungen.

Abbildung 17: Stadtplan von Teotihuacán mit der Orientierung zu den Himmelsrichtungen. Die „Straße der Toten“ ist die Hauptbezugslinie der Stadt. Senkrecht dazu gibt es eine Visierlinie, die durch zwei in Stein gehauene Kreuze markiert ist. Bildquelle: A. Aveni. Die Hauptachse der Stadt wird durch eine lange Straße gebildet, die aus aufeinander folgenden rechteckigen Plätzen besteht. Die Azteken nannten sie die "Straße der Toten", da sie die rechts und links der Straße errichteten Pyramiden für Gräber hielten. Am Ende dieser Straße liegt die 42 Meter hohe Mondpyramide. Die 62 Meter hohe Sonnenpyramide befindet sich etwas östlich von der Hauptachse.

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Ohne Zweifel und selbst für den Laien ersichtlich scheint die Straße der Toten eine wichtige Rolle im Aufbau der Stadt gehabt zu haben, da alle Straßen parallel zu ihr verlaufen oder rechtwinklig zu ihr stehen. Doch nach welchem Plan wurde diese Prachtstraße errichtet? Normalerweise würde man davon ausgehen, dass man sie “einfach so“ in die Landschaft gesetzt hat. Doch Archäologen haben folgende verblüffende Funde gemacht, die auf eine absichtliche Orientierung schließen lassen. Man fand nicht weit von der Sonnenpyramide entfernt ein kleines Gebäude, in dem zwei konzentrische Ringe aus dicht platzierten in Stein geschlagenen Punkten gebildet wurden, die durch ein Kreuz unterteilt waren (siehe Abbildung 17). Drei Kilometer westlich davon fand man am Abhang des Cerro Colorado ein fast identisches in Basalt gemeißeltes Kreuz mit Ringen. Verbindet man diese beiden Punkte, so ergibt sich eine Linie, die senkrecht zu der Straße der Toten steht. Anscheinend haben diese Zeichen etwas mit der Vermessung der Hauptachse der Stadt zu tun. In der archäoastronomischen Literatur werden Himmelserscheinungen zu bestimmten Zeiten und in bestimmten Horizontrichtungen als Motiv für diese Orientierung vorgeschlagen. Rechnet man 2000 Jahre zurück - zu der ungefähren Entstehungszeit der Stadt -, so soll die westlich orientierte Linie den Untergangspunkt der Plejaden anzeigen und am Tag des heliakischen Plejadenaufgangs der erste Zenitdurchgang der Sonne im Jahr über der Stadt eintreten. Die Stadt wäre demnach in zweierlei Hinsicht - räumlich und zeitlich - auf die Plejaden ausgerichtet. Diese Hypothese lässt sich mit astronomischen Berechnungen überprüfen.

Abbildung 18: Bei diesem Diagramm ist Sonnendeklination am Tag des heliakischen Plejadenaufgangs gegen die zeitliche Epoche aufgetragen. Die roten Punkte entsprechen sehr guten Sichtverhältnissen am Beobachtungstag (Grenzmagnitude im Zenit m = 6,0 und Extinktionskoeffizient k = 0,20), die blauen Punkte entsprechen mäßigen Bedingungen (m = 5,0; k = 0,35). Die Epoche, an dem der heliakische Aufgang der Plejaden mit dem Zenitdurchgang der Sonne zusammenfällt, erkennt man am Schnitt der roten und blauen Punktekurven mit der waagerechten Linie, die der geographischen Breite von Teotihuacán entspricht. Der Zenitdurchgang tritt ein, wenn die Sonnendeklination der geographischen Breite gleicht (siehe Abbildung 3). Bedingt durch die Spanne bei unterschiedlichen Sichtverhältnissen erhält man ein Ergebnis von ca. 200 BC bis 400 AD.

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Die Berechnungen, die im Text unter Abbildung 18 genauer beschrieben sind, haben gezeigt, dass der heliakische Plejadenaufgang etwa in der Zeit von 200 v. Chr. bis 400 n. Chr. mit dem Zenitdurchgang der Sonne zusammenfällt. Sie bestätigen die allgemeine Auffassung, dass die Stadt um die Zeitenwende entstand. In einem zweiten Schritt wird überprüft, in welcher Epoche die Plejaden in Richtung der zu der Straße der Toten orthogonal verlaufenden Linie, die durch die eingehauenen Kreuze kenntlich gemacht ist, untergingen. In Abbildung 19 ist das Untergangsazimut (und zwar als Abweichung von der westlichen Richtung nach Norden) der Epoche gegenübergestellt. Wenn das Azimut des Sterns ungefähr 15,5° beträgt (was der Ausrichtung der Line durch die beiden Kreuze entspricht), so gehen die Plejaden an diesem Ort unter. Wegen der Spanne möglicher Sichtbedingungen gibt es auch hier wieder eine Ergebnisspanne für die Epoche.

Abbildung 19: Untergangsazimut der Plejaden gegen die Epoche. Im Zeitraum von 100 BC bis 200 AD entspricht der Untergangsort bei den gegebenen Annahmen über die typische Spanne der Sichtverhältnisse (siehe Erklärungen zu Abbildung 18) der Ausrichtung der Vermessungslinie bis auf wenige Grade. Wie man erkennt, sind die Plejaden ungefähr im Zeitraum von 100 v. Chr. bis 200 n. Chr. in dieser Richtung untergegangen. Kombiniert man die Aussagen beider Grafiken, so stellt man eine gute Übereinstimmung für den Zeitraum der Jahrhunderte um die Zeitenwende fest. Auch der von Aveni angegebene Wert von 150 n. Chr., der von ihm aufgrund dieser astronomischen Hypothese abgeleitet wird, kann hier bestätigt werden. Ob die Hypothese stimmt, kann man natürlich nicht schlußfolgern. Wohl aber, dass sie stimmig ist. Es ist folglich möglich, dass die Erbauer Teotihuacáns die Stadt nach diesen Kriterien errichtet haben, da die astronomischen Voraussetzungen in der Entstehungsepoche erfüllt sind. Die Hypothese wird noch dadurch gestützt, dass die Plejaden in der Kultur der mittelamerikanischen Völker einen großen Stellenwert einnahmen. Allerdings bin ich (Th.Z.) der Meinung, dass man dieser Theorie auch ein wenig skeptisch gegenübertreten sollte, denn wieso haben die Teothiuacáner dann nicht ihre Stadt direkt auf die Linie zwischen den beiden Kreuzen gesetzt? - Dies wäre doch um einiges logischer, als eine zu dieser Orientierung orthogonale Hauptstraße. Andererseits ist bloßer Zufall auch unwahrscheinlich, da ja die

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Orientierung tatsächlich absichtsvoll erfolgt ist, aber keinen ersichtlichen Bezug zur Landschaft und zu umliegenden Bergen hat. Das Rätsel der Orientierung von Teotihuacan bleibt wohl bis in alle Ewigkeit ungelöst. c) Gebäudeausrichtungen in Monte Alban (17°03´ N, 96°47´ W) Monte Alban („Weißer Berg“) war die Hauptstadt der Zapoteken. Die Zapoteken waren ein sesshaftes Volk, das seit 500 v. Chr. existierte. Sie besiedelten Monte Alban ungefähr um diese Zeit. Der zapotekische Name "Danipaguache" bedeutet soviel wie "Heiliger Berg". Die Azteken bezeichneten Monte Alban als "Ocelotepec". Monte Alban liegt auf einer gut zu verteidigenden Bergspitze, 10 km von Oaxaca de Juárez, der heutigen Hauptstadt des gleichnamigen Bundesstaates im Süden Mexikos (Abb. 20). Noch heute leben 30000 Zapoteken in Mexico. Allerdings wurden diese christianisiert.

Abbildung 20: Luftaufnahme von Monte Alban. Die Abbildung 21 zeigt einen Ausschnitt aus dem Stadtplan Monte Albans. Ein Gebäude ("J" genannt) ragt besonders aus den 19 Bauten heraus. Das Gebäude J unterscheidet sich im dem Sinne von den anderen Gebäuden, als dass es nicht wie die anderen quadratischen Charakter hat. Es wirkt verzehrt und „falsch“ konstruiert. Im Gegensatz zu den anderen Gebäuden ist es auch nicht nach den Kardinalpunkten des Horizontes (Norden, Süden, Osten, Westen) ausgerichtet, sondern zeigt nach Nordosten und fügt sich somit nicht in die Symmetrie der Stadtanlage ein. Aufgrund eines horizontalen Tunnels im südwestlichen Teil des Gebäudes wurde gemutmaßt, dass das Gebäude J wahrscheinlich ein astronomisches Observatorium war. Allerdings stellte sich nach genauen Berechnungen heraus, dass dem Tunnel keinen Zeck zuzuordnen ist. Trotzdem gibt es weitere Anzeichen, dass das Gebäude J als Observatorium von den Zapoteken genutzt wurde. Doch was genau könnten die Priester der Zapoteken von diesem Gebäude aus beobachtet haben?

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Abbildung 21: Grundriss des pfeilförmigen Gebäudes J mit seiner Orientierung zur Nordrichtung. Es deutet in Richtung des nordöstlich gelegenen Bauwerks P, welches in der Treppenanlage ein Loch aufweist, das in eine Kammer führt. Von dort könnte der Zenitdurchgang der Sonne beobachtet worden sein. In Richtung des Gebäudes P erfolgt angeblich auch der Aufgang der Capella, deren heliakisches Erscheinen den Tag des Zenitdurchgangs anzeigen soll. Bildquelle: A. Aveni. Die zur Treppe senkrechte Line des Gebäudes J zeigt bei einem Nordazimut von 47,5° auf den Aufgangspunkt des Sterns Capella, so die Behauptung von A. Aveni. Capella soll im Jahr 275 v. Chr. eine besondere Eigenschaft gehabt haben. Der Tag ihres heliakischen Aufgangs sei zu dieser Zeit auf den Tag des ersten Zenitdurchgangs der Sonne im Jahr gefallen. Außerdem zeigt die zum Tor des Gebäudes J senkrechte Linie auf das Gebäude P, das in der Treppe ein lotrechtes Loch aufweist. Das Loch erlaubt von einer inneren Kammer aus einen Blick auf die Zenitregion des Himmels. Es könnte sich demnach um eine kombinierte Anlage zur Bestimmung und Beobachtung des Zenitdurchgangs der Sonne sein.

Abbildung 22: Kammer für die Zenitpeilung unterhalb der Treppe des Gebäudes P in Monte Alban.

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Zur Überprüfung dieser Behauptung wird eine entsprechende Untersuchung wie im Fall der Orientierung von Teotihuacan durchgeführt. In Abbildung 23 ist die Deklination der Sonne am Tag des heliakischen Aufgangs der Capella gegen die Epoche aufgetragen. Man entnimmt der Grafik, dass der heliakische Aufgang der Capella um 275 v. Chr. sehr wohl mit dem Datum des Zenitstandes der Sonne in Monte Alban zusammentrifft. Das von Aveni behauptete Datum dieser Übereinstimmung kann damit bestätigt werden, denn es liegt im Bereich der hier berechneten Zeitspanne.

Abbildung 23: Auftragung der Sonnendeklination am Tag des heliakischen Aufgangs der Capella gegen die Epoche (analog zu Abbildung 18). Erreicht die Sonne eine Deklination, die im Bereich der geographischen Breite Monte Albans liegt (blauer Querstrich), dann erfolgt an diesem Tag ein Zenitdurchgang an diesem Ort. Man erhält eine Zeitspanne von ca. 600 BC bis 200 BC. Findet man auch bei der Berechnung des Aufgangsazimutes der Capella eine Übereinstimmung mit der Orientierung des pfeilförmigen Gebäudes, welches in die Richtung des Nordazimutes 47,5° deutet? - In Abbildung 24 ist das Aufgangsazimut der Capella (erstmalige Sichtbarkeit unter den gegebenen Sichtverhältnissen) gegen die Epoche aufgetragen. Nur in der Epoche, in der ein nächtlicher Capella-Aufgang ungefähr in diesem Azimut erfolgt (nicht der heliakische Aufgang, das wird nicht behauptet!), kann die Planung dieser Linie vom Gebäude J zum Gebäude P erfolgt sein, vorausgesetzt die Hypothese ist überhaupt richtig. Man entnimmt dieser Grafik einen Zeitraum von 50 v. Chr. - 200 n. Chr.. In dieser Epoche fällt das Nordazimut des Capella-Aufgangs mit der Orientierung der Linie von Gebäude J nach Gebäude P überein. Anders als im Fall von Teotihuacán widersprechen sich die beiden Teilbehauptungen der archäoastronomischen Hypothese. In der Zeit um 275 v. Chr. konnte man unmöglich die Capella in der in Abbildung 21 angedeuteten Richtung aufgehen sehen. Diese beiden Ereignisse (Zenitdurchgang am Tag des heliakischen Capella-Aufgangs und Orientierung der Anlage auf die Aufgangsrichtung der Capella) traten in etwas unterschiedlichen Epochen auf. Damit ist die kombinierte Funktion der Anlage nicht möglich, und zumindest die Teilhypothese, die der Aufgangsrichtung der Capella gilt, ist zurückzuweisen. A. Aveni hat sich hier in seiner Interpretation getäuscht.

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Abbildung 24: Hier wurde das Aufgangsazimut der Capella der Epoche gegenübergestellt. Etwa von 1100 AD bis 1500 AD erfolgte der nächtliche (nicht heliakische!) Aufgang der Capella in einem Azimut von 47,5°. Auch wenn die Teilhypothese der Capella-Orientierung zurückgewiesen werden muss, so bedeutet das keine Widerlegung des ersten Teils der Hypothese mit der Anzeige des Tages des Zenitdurchgangs der Sonne durch den heliakischen Capella-Aufgang. Die Beobachtung eines solchen Ereignisses setzt auch keine Ortsinformation über die Lage des Aufgangspunktes des Sterns voraus. Außerdem spricht die Kammer mit dem Zenitloch, für die es in Mittelamerika noch weitere Parallelen gibt, eindeutig für die Bedeutsamkeit des Zenits, weshalb diese Interpretation des Gebäudes P weiterhin Bestand hat und auch vernünftig ist. So könnte man sich den Tag eines Sternenkundigen in Monte Alban vorstellen: Morgens ging er in das Gebäude J und starrte in den Himmel und erwartete den heliakischen Aufgang des Sterns Capella. Wenn dieser ausblieb, so beschäftigte er sich wieder mit seinen normalen Tätigkeiten. Erblickt er aber kurz vor dem Aufgang der Sonne den Aufgang der Capella, so gab er allen Bewohnern der Stadt Nachricht. Das Volk versammelte sich in der Kammer im Gebäude P (vermutlich nur besondere Würdenträger wie die Priester oder der König; das Volk musste draußen warten). Dort betrachteten sie, wie die Sonne zur Mittagszeit das Zenitloch durchscheint und ein vermutlich darunter aufgestelltes Kultbild bestrahlt. Danach feierten sie ein Fest zu Ehren der Sonne bzw. des Sonnengottes. Der Tag, an dem die Sonne den Zenit durchläuft, wird bis heute an einigen Orten Mittelamerikas gefeiert. Das eigenartige Gebäude J könnte demnach im Zusammenhang mit einem Kult der Beobachtung des Zenitdurchgangs der Sonne stehen. Doch es gibt noch eine weitere Möglichkeit, das Gebäude auf Himmelserscheinungen zu beziehen. So fand Aveni beim Nachbilden des Sternenhimmels von 275 v. Chr. heraus, dass die pfeilspitzenähnliche Seite des Gebäudes in Richtung Südwesten auf den Untergangspunkt fünf heller Sterne zeigt (drei im Kreuz des Südens, sowie Alpha und Beta Centauri; siehe Abbildung 21). Doch weitergehende Deutungen dieses Sachverhaltes sind m.E. nicht angebracht, da es keine Überlieferungen gibt, die die Hinwendung der Zapoteken zu diesen Sternen beweisen.

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Und 50 km von Monte Alban entfernt wurde eine Entdeckung gemacht, die geeignet ist, diese Hypothesen ebenfalls ins Wanken zu bringen. So wurde ein Gebäude mit dem Namen O ausfindig gemacht, das im gleichen Stil des Gebäudes J gebaut wurde. Auch die grobe Entstehungszeit ist dieselbe, und somit sollten die Linien und Ausrichtungen sich doch weitgehend entsprechen, wenn diese pfeilförmigen Bauwerke eine vergleichbare Funktion hatten. Aber die Ausrichtung dieses Bauwerks O ist eine völlig andere und dementsprechend müsste man wieder nach neuen Sternen oder neuen Himmelsereignissen suchen, für die sich wiederum keine entsprechenden schriftlichen oder ethnographischen Belege beiführen lassen, um auch dieses Bauwerk auf den Himmel beziehen zu können. d) El Castillo in Chichén Itzá (20°41´ N, 88°34´ W) Jenen Lesern, denen das "Linienspiel" in den vorigen Beispielen zu abstrakt war, oder jetzt nicht mehr glauben mögen, dass die süd- und mittelamerikanischen Kulturen über astronomische Kenntnisse verfügten, wird das jetzt folgende Beispiel sicherlich einleuchtender erscheinen. Das "El Castillo" genannte Bauwerk ist nämlich keineswegs eine gewöhnliche mittelamerikanische Pyramide. Ihr Geheimnis besteht allerdings nicht in einer abstrakten Linienführung, von der man denken könnte, sie sei nur hineininterpretiert, sondern diese Pyramide birgt ein spektakuläres optisches Schauspiel. Somit ist auch dem Laien ersichtlich, was die Mayas mit dieser Pyramide beabsichtigten. El Castillo wurde von den Mayas im Jahre 1000-1200 n. Chr. erbaut. Die Maya stammten aus dem Hochland von Guatemala. Um 1000 v. Chr. wanderten sie in das Tiefland auf der Halbinsel Yucatán ein, wo sie Sümpfe mit Kanälen trockenlegten, um Pflanzen anzubauen. Im 7. Jahrhundert v. Chr. begannen sie monumentale Tempelpyramiden zu errichten. Die nun behandelte Pyramide, die von den Spaniern El Castillo genannt wurde, war dem hoch verehrten gefiederten Schlangengott Kukulcan gewidmet. Kukulcan war nicht nur bei den Mayas bekannt, sondern war auch bei den Azteken als Gott Quetzalcoatl und nahm den Platz als wichtigster Gott neben Tlezcaltilpoca ein. Er kam in Gestalt einer großen gefiederten Schlange. Die Gottheit, der diese Pyramide gewidmet war, steht im direkten Kontakt mit dem astronomischen Ereignis, das auch heute noch Jahr für Jahr Tausende von Menschen anlockt und sie tief beeindruckt.

Abbildung 25: El Castillo ist ein wahrer Blickfang. Am Ende der Treppe säumen zwei Schlangenköpfe den Boden. Sie stellen vermutlich den Gott Kukulcan dar. Bei den Tag-und-Nacht-Gleichen entsteht gegen Tagesende die Illusion einer Schlange aus dem Schattenwurf der Pyramidenkanten auf die Treppenbrüstung.

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Kurz vor Sonnenuntergang an den Tag-und-Nacht-Gleichen entsteht ein schlangenförmiger Schatten an der Balustrade der Pyramidentreppe (Abbildung 25). Der Kopf der Schlange ist in Stein geschlagen und befindet sich am Fuß der Pyramide. Ohne Zweifel ist dies ein phänomenales Ereignis, und es ist offensichtlich, dass dieser Effekt gewollt war und absichtlich in den Bauplan der Pyramide eingeflossen ist. Die Stufenpyramide ist um ca. 25° gegen die Haupthimmelsrichtungen verdreht angelegt (Abbildung 26) und derart gebaut, dass der Schatten der abgerundeten Stufenkanten die Illusion des Schlangenkörpers hervorruft.

Abbildung 26: Die Ausrichtung der Pyramide zu den Himmelsrichtungen Diese Verdrehung um ca. 25°, die auch bei einer weiteren Pyramide in Chichen Itza vorliegt, kann durch die Richtung der Sonnenstrahlen der aufgehenden Sonne am Tag der Sommersonnenwende bzw. die Richtung der Strahlen der untergehenden Sonne am Tag der Wintersonnenwende gedeutet werden. Zu diesen beiden Zeitpunkten ist jeweils nur eine Hälfte der Pyramide beleuchtet (genauer: nur zwei der vier schrägen Seitenflächen), so dass man hierin ein Sinnbild für das Sommerhalbjahr bzw. das Winterhalbjahr erblicken kann. Die Pyramide des Kukulcan zeichnet aber die Äquinoktien (Frühlings- und Herbst-Tag-und-Nacht-Gleiche) durch das Schattenphänomen besonders aus, denn an anderen Tagen tritt der Vorgang des schlangenförmigen Schattens nicht auf. Damit ist sie ein prominentes Beispiel für die Würdigung der Äquinoktien im mittelamerikanischen Kulturkreis. Selbst dem modernen Mexico gilt der 21. März als Nationalfeiertag. Für diese kalendarische Funktion der Pyramide sprechen auch noch andere Indizien. Quetzalcoatl, oder auch Kukulcan, galt als der Erfinder des Kalenders, wodurch die Funktion gerade dieses Bauwerkes verständlich wird. Zahlensymbolische Betrachtungen sind geeignet, dies zu erhärten. Es gibt jeweils vier Treppen mit je 91 Stufen. Zusammen mit der oberen Plattform kommt man auf insgesamt 365 Stufen, was der Zahl der Tage im Jahr entspricht. Außerdem besteht die Pyramide aus neun großen Stufen, was ein Hinweis auf die 18 Monate (= 2 x 9) des Jahres im Maya-Kalender entspricht. Die Pyramide könnte demnach auch im zahlensymbolischen Sinne ein Kalenderbauwerk sein. In El Tajín findet man z.B. eine weitere Pyramide mit einer Zahlenauffälligkeit. Sie besitzt 365 Nischen, die anscheinend die Tage in einem Sonnenjahr symbolisieren.

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e) Der mittelamerikanische Kalender und die aztekische Neufeuerzeremonie Die Maya besaßen zwei verschiedene Kalenderzyklen. Der rituelle Kalender namens "Tzolkin" besaß 260 Tage und bestand aus 13 Monaten zu je 20 Tagen. Das Datum eines Tages im Tzolkin besteht aus der Paarung eines Monatszeichens und eines Tagesymbols (siehe die beiden Kalenderräder in Abbildung 27 rechts). Jeder Paarung sprach man eine Schutzgottheit zu, die dementsprechend Einfluss auf die Menschen nahm. Der Tzolkin hat keinen nachweislichen astronomischen Hintergrund. Der bürgerliche Kalender namens "Haab" bestand aus 365 Tagen (siehe Abbildung 27 links), die zu 18 Monaten mit je 20 Tagen und 5 überzähligen Tagen, die als Unglückstage angesehen wurden, gruppiert wurden. Er ist damit ein Sonnenkalender.

Abbildung 27: Veranschaulichung des Maya-Kalenders durch ein Räderwerk mit ineinandergreifenden Zahnrädern, die die einzelnen Zyklen des Kalenders darstellen. Links ein großes Rad mit 365 Zähnen für den bürgerlichen Haab-Zyklus; rechts zwei Räder mit 20 bzw. 13 Zähnen für den Tzolkin. Für jeden Tag in einem Großzyklus aus 18980 Tagen (=52 x 365 Tage = 73 x 260 Tage) gibt es demnach ein eigenes Symboltripel (ein Symbol im Haab und zwei Symbole im Tzolkin).

Nach Ablauf von 52 Jahren im Haab, bzw. 73 Zyklen im Tzolkin (jeweils 18980 Tage) begann der gesamte Kalenderzyklus von Neuem. Jeder Tag in diesem Zyklus war durch eine bestimmte, nur einmal auftretende Kombination aus Haab- und Tzolkin-Datum gekennzeichnet. Diese Spanne von 52 Jahren kann gewissermaßen als das mittelamerikanische "Jahrhundert" bezeichnet werden. Nach Ablauf eines solchen Zyklus´ feierten die Azteken ein großes Fest. Sie zogen von ihrer Hauptstadt zum nahe gelegenen Sternenberg (Cerro de la Estrella) und opferten dort um Mitternacht ein Menschenherz, entzündeten in der Brusthöhle des Opfers ein "Neues Feuer" und trugen dies in die Städte und Dörfer des Landes hinaus (Abbildung 28).

Abbildung 28: Darstellung der Neufeuerzeremonie auf dem Cerro de la Estrella. Die vergangenen 52 Jahre, symbolisch zu Bündeln geschnürt, werden am neuen Feuer entzündet und dienen als Fackeln, mit denen das neue Feuer in das Land hinausgetragen wird.

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Der genaue Zeitpunkt für diese "Neufeuerzeremonie" war gekommen, wenn die Plejaden zur Mitternacht über dem Sternenberg in Zenitnähe standen (Abbildung 29), was Mitte November eintritt (und natürlich nur alle 52 Jahre nach Ablauf eines großen Kalenderzyklus entsprechend beobachtet, gewürdigt und gefeiert wurde). In diesem Moment trat der Antizenitstand der Sonne ein (auch "Nadirstand"), also der tiefstmögliche Stand der Sonne unterhalb des Horizontes. Das Opfer sollte die Sonne bewegen, wieder hinaufzusteigen und einen neuen 52-jährigen Zyklus zu beginnen. Die letzte Neufeuerzeremonie fand 1507 statt.

Abbildung 29: Astronomische Konstellation bei der aztekischen Neufeuerzeremonie auf dem Cerro de la Estrella 1507. Die Plejaden stehen um Mitternacht etwa im Zenit und zeigen damit den tiefstmöglichen Sonnenstand im Nadir an (Antizenitstand der Sonne).

Die Maya kannten auch einen 104-jährigen Zyklus aus zweimal 52 Jahren, der die achtjährige Venusperiode einbezieht (zur Venus siehe auch den folgenden Abschnitt über den Caracol). 104 Jahre enthalten 13 Venuszyklen, was der Zahl der 13 Monate im Tzolkin gleichkommt. 52 Jahre enthalten aber wiederum auch 13 Vierjahreszyklen aus jeweils 1460 Tagen (52 Jahre = 13 x 4 Jahre), die sich ihrerseits in 20 Abschnitte zu je 73 Tagen unterteilen lassen (1460 Tage = 20 x 73 Tage = 73 x 20 Tage, also 73 Monate). Der Vierjahresabschnitt enthält folglich die Zahl 20, die auch im Tzolkin und im Haab als Zahl der Tage in den Monaten Verwendung findet, als auch die Zahl 73, die einerseits einem Fünftel der Jahreslänge entspricht (365 = 5 x 73; siehe auch den Abschnitt über das Sonnenereignis am Templo Mayor), andererseits auch der Anzahl der Tzolkin-Jahre in einem 52-jährigen Kalenderzyklus gleichkommt (73 x 260 Tage = 18980 Tage = 52 Jahre). Der mittelamerikanische Kalender basiert demnach in mehrfacher Hinsicht auf den Zahlen 13, 20, 52 und 73.

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f) El Caracol in Chichén Itzá (20°41´ N, 88°34´ W) Chichén Itzá ist eine der bedeutendsten Städte der Mayakultur. Chichén Itzá heißt soviel wie „am Rand des Brunnens der Wasserzauberer“ oder „Mund der Brunnen der Itzá”. Inmitten der alten Mayastadt liegt das aufgrund von archäoastronomischen Betrachtungen berühmt gewordene Gebäude "El Caracol", was "Schneckenhaus" heißt. Dieses seltsame Gebäude hat seinen Namen wegen der sich im Inneren schneckenhausartige hinaufwindenden Wendeltreppe erhalten.

Abbildung 30: El Caracol besteht aus einem zweistöckigen Rundturm auf zwei eckigen Podesten, die aber weder rechtwinklig sind, noch durch gleichartig ausgerichtete Treppen bestiegen werden können. Das Bauwerk wirkt verzerrt und unproportioniert.

Schon früh bemerkten Archäologen und Architekten die merkwürdigen Asymmetrien im Bauplan und die unverhältnismäßigen Proportionen dieses Bauwerks und wunderten sich darüber. So meinte z.B. der Archäologe J. Eric S. Thompson 1945: "Jede Stadt errichtet früher oder später irgendein scheußliches Gebäude, das einem den Magen umdreht: London hat seine Albert Hall, New York sein Grab General Grants und Harvard seine Memorial Hall. Wenn man sich von dem Zauber freimachen kann, den das Alter gern verleiht, und wenn man dieses Gebäude unter rein ästhetischen Gesichtspunkten betrachtet, dann wird man finden, dass keines von jenen so häßlich ist wie der Caracol von Chichén Itzá. Er steht wie eine zweistöckige Hochzeitstorte auf dem quadratischen Karton, in dem sie geliefert wurde. Mit dem Geschmack der Architekten, die ihn gebaut haben, muss ganz entschieden etwas nicht gestimmt haben.“

Abbildung 31: El Caracol im heutigen Zustand (links) und in einer Rekonstruktionszeichnung von T. Proskouriakoff (rechts). Für diesen vermeintlichen Stilbruch, der seinesgleichen in der ansonsten sehr symmetrischen Maya-Architektur sucht, müsste es doch eine Erklärung geben! - So wird gelegentlich vermutet, auf der schon recht groß angelegten ersten Stufe einer weiteren geplanten Pyramide habe man aus Mangel an Reichtum, Zeit oder Arbeitskraft nur noch ein kleines Rundbauwerk errichtet. Auch aus Sicht der Astronomie lassen sich mögliche Gründe für die Architektur des Caracol anführen und die weitgehenden Deutungen von A. Aveni und H. Hartung bezüglich des Caracols in den 70er Jahren des 20ten Jahrhunderts sind zu einer Art Standardtheorie geworden, auf die sich all jene berufen, die seitdem kritiklos den Caracol als Maya-Sternwarte

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bezeichnen, die insbesondere der Beobachtung der Venus gedient habe. Die Venus besaß einen sehr großen Stellenwert in der Maya-Kultur, wie uns durch zahlreiche Venus-Glyphen an Maya-Bauwerken und einen der wenigen erhaltenen Codices der Mayas überliefert ist, in dem die fünf verschiedenen Sichtbarkeitphasen, die die Venus in einem Zyklus von acht Jahren durchläuft, genau aufgezeichnet und für religiöse Zwecke gedeutet wurden ("Codex Dresden"). Die Behandlung des Codex Dresden liegt außerhalb unserer Betrachtungen, nur insofern sei darauf Bezug genommen, weil der Caracol angeblich für die Beobachtungen der Venusphasen genutzt worden sei und deshalb besonders markante Horizontstände der Venus in Gestalt von Peillinien in die Architektur des Caracols eingeflossen seien. Aveni und Hartung sehen aber nicht nur konkrete Visierlinien für die Venus und einige Fixsterne in der Anlage, sondern auch eine zumindest symbolische Bezugnahme auf markante Sonnenstände am flachen Horizont von Chichén Itzá. Alle diese Behauptungen werden in der Folge einer Kontrolle und Kritik unterzogen und weil der Caracol als das Maya-Observatorium schlechthin so hohen Stellenwert in der archäoastronomischen Erforschung der mittelamerikanischen Kulturen genießt, geschieht das in einiger Ausführlichkeit. Grundlage dieser Überprüfung sind die von Aveni und Hartung angegeben Azimute von Visierlinien und Gebäudefluchten und die von ihnen gegebenen astronomischen Deutungsvorschläge. i) Visierlinen der unteren Plattformen Zuerst werden die behaupteten Visierlinien und -fluchten der unteren Plattformen und des Erdgeschosses des Rundturms untersucht. Die Abbildung 32 zeigt einen Grundriss des Caracols von Aveni und Hartung mit Eintrag der fraglichen Linien in der zum Standard gewordenen Nomenklatur. Die Linie C-4, die in der Erstbehandlung noch nicht enthalten ist, wurde später ergänzt, vielleicht auch von E.C. Krupp. Für jede dieser Linien findet man in der Literatur ein genaues Nordazimut, so dass einer Nachrechnung der behaupteten Ereignisse am Schreibtisch nichts im Wege steht.

Abbildung 32: Grundriss des Caracols mit Eintrag von möglichen astronomischen Linien in der Nomenklatur von Aveni und Hartung. Rechts eine Windrose mit Eintrag der Sonnenwendrichtungen (blau) und der Auf- und Untergangsrichtungen der Sonne an den Tagen der Zenit- und Antizenitdurchgängen (rot). Der Horizont von Chichén Itzá ist sehr flach. Nimmt man an, die Beobachtungen seien vom Turm des Caracols erfolgt (bzw. von einer anderen Pyramidenplattform, solange der Caracol noch nicht stand), die rd. 10 Meter über dem Urwaldniveau gelegen ist, so liegt die sichtbare Horizontlinie ca. 5 - 6 Bogenminuten unterhalb des mathematischen Horizontes, was hier für

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die Sonnenauf- und Untergangsberechnungen berücksichtigt wird. In Abbildung 32 rechts ist noch ein Horizontkreis mit den wichtigen Himmelsrichtungen der Sonnenwenden angedeutet (blaue Linien) und jenen der Sonnenauf- und -untergänge an den Tagen des Zenit- bzw. Antizenitdurchgangs der Sonne (rote Linien). Die Information für diese Richtlagen entstammt wieder Simulationen von Sonnenbahnen über dem Horizont von Chichén Itzá, denen diese Werte mit einer Genauigkeit von ca. 0,1° entnommen werden können. Abbildung 33 und 34 zeigen solche Simulationen für den Nordwest- und Südwesthorizont.

Abbildung 33: Simulierte Sonnenuntergangsbahn am Tag der Wintersonnenwende.

Abbildung 34: Simulierte Sonnenuntergangsbahnen am Tag der Sommersonnenwende (rechts) und an den Tagen des Zenitdurchgangs der Sonne (links).

Die folgende Tabelle enthält in der zweiten Spalte die von Aveni und Hartung gemessenen Azimute (gerundet auf ein Zehntel Grad; das Azimut der Linie C-4 ist allerdings aus einer Zeichnung entnommen) in der zweiten Spalte. Die dritte Spalte nennt das behauptete Himmelsereignis und die vierte Spalte listet die Ergebnisse unserer Berechnungen auf. Die Spalte 5 enthält schließlich die Abweichungen der Nordazimute der Himmelsereignisse gegenüber den Bauwerkazimuten sowie einen z. T. wertenden Kurzkommentar. Visier- Azimut Angebliches Azimut des Differenz und -linie der Linie Himmelsereignis Ereignisses Kommentar A-1 298,6° SU-Sommersonnenwende 295,7° 3° Differenz; stimmt nicht (nördlichster Venusuntergang; Auswertung siehe unten) B-1 292,9° SU-Zenitdurchgangstage 292,6° stimmt fast perfekt überein B-2 64,5° SA-Sommersonnenwende 64,3° stimmt fast perfekt überein B-3 244,5° SU-Wintersonnenwende 245,1° stimmt ganz gut überein C-1 147,6° Aufgang Canopus 149°-150° 800-1000 AD: Abweichung 2° C-2 53,4° Aufgang Kastor 55° - 56,5° 800-1000 AD: Abweichung 2° C-3 233,4° Untergang Fomalhaut 229°-231° 800-1000 AD: Abweichung 3°-4° C-4 58,5° Aufgang Pollux 58,5°-60° 800-1000 AD: Abweichung 1° Tabelle 1: Die von Aveni und Hartung gemessenen Gebäudeazimute und ihre astronomische Deutung dieser Linien (Spalten 2 und 3). Rechts in den Spalten 4 und 5 die Nachrechnung der Himmelsereignisse in dieser Arbeit und die Bewertung der Güte der Übereinstimmung zwischen den Gebäudelinien und den behaupteten Himmelsereignissen. Hinsichtlich der Sonnenereignisse (Linien A-1, B-1, B-2, B-3) lässt sich schon ein erstes Fazit ziehen: Bis auf die Linie A-1, für die allerdings auch Hartung und Aveni eine Abweichung von 2° einräumen, passen die Interpretationsvorschläge sehr gut zu den vermessenen Achsen des Bauwerks. Die Richtigkeit der "Sonnenidee" ist damit zwar nicht bewiesen, aber doch zumindest als sinnvoll und vernünftig bestätigt.

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Abbildung 35: Stadtplan von Chichén Itzá mit Eintrag der drei Hauptbauwerke Castillo, Osario und Caracol. Die Windrose zeigt die solaren Hauptrichtungen analog zu Abbildung 32 und rechtfertigt die Interpretationsidee der solaren Orientierung der Stadt - entweder zur Sonnenwendrichtung oder zur Untergangsrichtung an den Tagen des Zenitstandes der Sonne (oder zu Linien senkrecht dazu). Diese Interpretation erfährt auch noch Unterstützung durch einen Blick auf den Stadtplan von Chichén Itzá mit den wichtigsten Zeremonialgebäuden, dem Castillo, dem Osario (Grab des Hohepriesters) und dem Caracol (Abb. 35). Die Grundrisse der Pyramiden und des ersten Sockels des Caracols zeigen eine ungefähr übereinstimmende Ausrichtung, die sich mit den Sonnenwendrichtungen erklären lässt, wie schon bei der Behandlung des Castillo (siehe Abbildung 26) angeführt wurde. Man kann aber auch kleine Abweichungen der Gebäudeausrichtungen zueinander erkennen und das mag Ausdruck einer generellen kleinen Ungenauigkeit bei der Anlage der Bauwerke sein.

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Die Untergangsrichtung der Sommersonne stimmt allerdings auch bis auf wenige Grad mit der Untergangsrichtung der Sonne am Tag des Zenitdurchgangs überein (siehe Abbildung 32) und die Treppe auf die zweite eckige Plattform des Caracols (Linie B-1) deutet genau in diese Richtung, so dass auch der andere Schluss möglich ist, die Richtung des Sonnenuntergangs an den Tagen ihrer Zenitdurchgänge sei das Kriterium für die Anlage der Stadt und somit auch für El Castillo. Auch wenn sich das hier nicht entscheiden lässt (Sonnenwende oder Zenitdurchgang), so erscheint aber die Deutung der Stadtanlage nach solaren Gesichtspunkten und damit auch der einzelnen Gebäude insgesamt als sehr naheliegend und vernünftig.

Abbildung 36: Rekonstruktionszeichnung von Chichén Itzá von T. Proskouriakoff. Im Vordergrund El Castillo, im Hintergrund El Caracol (von Norden gesehen). Aveni und Hartung behaupten auch den Einbau diverser Sternpeilungen in die Architektur des Caracols (Abbildung 32). Die untere Ebene des Rundturms weist vier Türöffnungen auf, die den Umkreis um den Turm in vier etwa gleich große Abschnitte unterteilen. Für einen Architekten ist es wohl naheliegend, anzunehmen, dass eine exakte Vierteilung des Kreises durch die Türen geplant wurde, und Abweichungen davon auf gewisse Unzulänglichkeiten bei der Bauausführung hindeuten, die ja auch in der generellen Asymmetrie der Grundfläche schon auftreten. Der begeisterte Archäoastronom hingegen weist diese "Ungenauigkeitshypothese" zurück, beruft sich auf die genaue Bauausführung am Nachbarbauwerk El Castillo, die zum Erreichen des Phänomens des schlangenförmigen Schattens erforderlich war, und versucht, diese Türen als Peilvorrichtungen zu deuten (entweder konkret oder symbolisch), wodurch der Abweichung von der Symmetrie ein ganz konkreter Sinn und Absicht zukäme. Aveni und Hartung schlagen Folgendes vor: Man kann durch jeweils eine Tür hinein und eine zu ihr benachbarte hinaussehen, wodurch recht scharfe Linien definiert sind, die auf den Horizont deuten und mit Horizontständen von Sternen in Beziehung stehen könnten. Für einige dieser möglichen Visuren von Tür zu Tür (nicht jedoch für alle) werden Sternereignisse vorgeschlagen, die hier nun nachgerechnet werden (Linien C-1 bis C-4, Abb. 32, Tabelle 1). Wie schon im Falle des Plejadenuntergangs über Teotihuacán werden hier die Richtungen bestimmt, in denen man einen Stern auf- oder untergehen sehen kann. D.h. man sieht ihn ja gar nicht am Horizont, wo er wegen der Lichtabschwächung durch die atmosphärischen Luft- und Aerosolschichten unsichtbar bleibt, sondern nur in einer gewissen Höhe. Erst wenn man diese Höhe der erstmaligen oder letztmaligen Sichtbarkeit ("Extinktionswinkel"), die ihrerseits von den atmosphärischen Bedingungen am Beobachtungsort und -tag abhängt, kann man die zugehörige Himmelsrichtung dieses Sternstandes ermitteln (Abbildungen 37 bis 39).

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Abbildung 37: Aufgangsazimute von Canopus in der Zeit zwischen 0 und 1500 AD. Die blauen Datenpunkte entsprechen optimalen Sichtverhältnissen (Zenitgrenzmagnitude m = 6, Extinktionskoeffizient k =0,20), die roten mäßigen (m = 5, k =0,35). Die blaue Linie markiert das Azimut der von Aveni und Hartung behaupteten Peillinie C-1 (siehe Tabelle 1). Die Abweichung beträgt ca. 2°.

Abbildung 38: Aufgangsazimute von Pollux (oben) und Kastor (unten) in der Zeit zwischen 0 und 1500 AD. Die blaue Linie markiert die Azimute der Peillinien C-2 (unten) und C-4 (oben). Die Abweichung bei Kastor beträgt ca. 2°, bei Pollux erkennt man eine etwaige Übereinstimmung in der Zeit bis 600 n. Chr.

Abbildung 39: Untergangsazimut von Fomalhaut in der Zeit zwischen 0 und 1500 AD. Die blaue Linie markiert das Azimut der Peillinien C-3. Zwischen 800 bis 100 AD entnimmt man eine Abweichung von ca. 4°-3°.

Den Abbildungen entnimmt man in der Blütezeit von Chichén Itzá um 800 - 1000 n. Chr. Abweichungen im Bereich von ca. 2° bis 4° zwischen den beobachtbaren Sternpositionen und den Peillinien durch die Fenster. Im Bereich der Aufgänge sind die Nordazimute der Visierlinien zu klein gegenüber den echten Sternständen, bei der Fomalhaut-Linie, die den Untergang peilen soll, ist es zu groß. Die Hypothese der Sternausrichtungen ließ sich demnach retten, wenn man eine Bezugnahme auf die echten aber unbeobachtbaren Horizontstände dieser Sterne postuliert. Dies mutet sehr künstlich und konstruiert an und überhaupt muss man sich der Frage stellen, was die Beobachtung von Sternörtern leisten soll, wenn man ihnen keinen Zweck hinsichtlich der Zeitbestimmung, wie das z.B. bei heliakischen Sternaufgängen geschieht, zuordnen kann.

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Im Kontrast zu den schönen Entsprechungen zwischen Theorie und Realität bei den eingangs diskutierten solaren Bezügen ist die Hypothese der stellaren Ausrichtung der vier Türen aufgrund der Mängel an Genauigkeit und Zweckmäßigkeit zurückzuweisen. Vor allem wird gar kein Grund dafür angeführt, warum nur jene Linien C-1 bis C-4 Verwendung finden, nicht jedoch die anderen Kombinationen von Sichtverbindungen zwischen den Türen. Offensichtlich ist hier gezielt nur das mit astronomischer Funktion bedacht worden, wo sich ein Stern anführen lässt und alles andere wird ignoriert. Für diese subjektive Auswahl muss sich ein von der Motivation der Untersuchung (Auffindung möglicher Sternpeilungen) unabhängiger Grund angeben lassen. Das ist hier nicht der Fall, und insofern ist die Hypothese der stellaren Orientierung im Gegensatz zur solaren Hypothese, die sich durch die vergleichbare Orientierung aller wichtigen Sakralgebäude von Chichén Itzá unabhängig rechtfertigen lässt, auch mit methodischen Mängeln behaftet. Die Hinwendung der Maya zu den Sternen Canopus, Kastor, Pollux, Fomalhaut und auch Achernar (siehe Behandlung des oberen Stockwerks im Rundturms) lässt sich auch nicht durch Schriftquellen oder vergleichbare Orientierungen in anderen Maya-Bauwerken belegen und ist damit völlig aus der Luft gegriffen. Ein besser fundierter Ansatz für eine Hinzunahme stellarer Aspekte bei der Deutung des Caracols könnte z.B. die bei anderen Städten als sinnvoll erkannten Konzepte aufgreifen und eine Übertragung auf die Verhältnisse von Chichén Itzá versuchen. Der Kalender z.B. basierte in ganz Mittelamerika auf dem gleichen Zählschema und auch die Beobachtung der Zenitsonne und der Tag-und-Nachtgleichen ist mehrfach belegt. Es ist unwahrscheinlich, dass die Leute von Chichén Itzá losgelöst von allen ihren Nachbarn eine völlig unabhängige und ganz andersartige Beobachtungstradition entwickelt haben. Wahrscheinlicher ist indes, dass es landesweit einheitliche Konzepte der Zeitbestimmung und der rituellen Hinwendung zu den Gestirnen gab, die sich dann wohl jeweils lokal in verschiedener Weise in diversen Bauwerken unterschiedlich manifestiert haben. Erinnern wir uns z.B. an die Idee der Voranzeige des ersten Zenitdurchgangs der Sonne im Jahr durch den heliakischen Aufgang der Plejaden in Teotihuacán und die Ausrichtung der Vermessungsachse nach der Richtung des nächtlichen Plejadenuntergangs. Oder den heliakischen Aufgang der Capella in Monte Alban. Entsprechendes soll nun auch für Chichén Itzá versucht werden. In Chichén Itzá liefen die Plejaden zu jener Zeit sogar fast durch den Zenit, was noch an die aztekische Neufeuerzeremonie erinnert, bei der einmal in 52 Jahren der jährlich auftretende mitternächtliche Zenitstand der Plejaden als Startzeichen für einen neuen Kalenderzyklus gewertet wurde. Wenn es gelänge, für den Caracol eine Plejaden-Hypothese zu formulieren, wäre sie der von Aveni und Hartung genannten willkürlichen Sternpeilungshypothese auf jeden Fall vorzuziehen. Die Abbildungen 40 und 41 zeigen den Verlauf der Sonnendeklination an den Tagen des heliakischen Plejaden- bzw. Capella-Aufgangs gegen die Epoche. Beide heliakischen Sternaufgänge fielen um 800 n. Chr. mit dem Tag es ersten Zenitdurchgangs der Sonne im Jahr zusammen und somit sind diese Ereignisse, zu denen es in Mittelamerika auch die genannten Parallelen gibt, erstrangige Kandidaten für eine stellare archäoastronomische Interpretation von Chichén Itzá. Aber spiegeln sich diese Sternereignisse auch in der Architektur des Caracols wider? Um 800 n. Chr. liegt das Aufgangsazimut der Plejaden bei 71°-72°, das Untergangsazimut bei 288°-289° (alle Werte für nächtliche Beobachtungssituationen, nicht etwa in der Dämmerung). Für Capella errechnet man Werte von 43°-44° (Aufgang) und 316°-317° (Untergang). Die Richtungen die Capella betreffend sind unauffällig im Gesamtbild der Stadt bzw. im Bauplan des Caracols. Bei der Diskussion

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der Fensteröffnungen im oberen Stockwerk des Caracols werden wir aber noch auf das Untergangsazimut der Plejaden zurückkommen, weshalb ein Kommentar die Plejaden betreffend hier zunächst ausbleibt.

Abbildung 40: Die Sonnendeklination am Tag des heliakischen Plejadenaufgangs fällt um 500-800 n. Chr. mit dem Tag des Zenitdurchgangs zusammen. Die farbigen Linien entsprechen jeweils wieder den unterschiedlichen Sichtverhältnissen (blau: gut; rot: mäßig)

Abbildung 41: Die Sonnendeklination am Tag des heliakischen Capellaaufgangs fällt um 500-800 n. Chr. mit dem Tag des Zenitdurchgangs zusammen.

Andere Mutmaßungen über die Anzeige des zweiten Zenitdurchgangs der Sonne im Jahr oder sogar der beiden Antizenitstände durch heliakische Sternaufgänge sind denkbar, sie sollen hier aber unterbleiben, da für die Auswahl neuer Sterne die gleichen Gegenargumente sprechen, die auch zur Zurückweisung der Standard-Sternpeilungshypothese des Caracols geführt haben. ii) Die Fenster im oberen Stockwerk des Rundturms Nun wenden wir uns dem Beobachtungsturm des Caracols zu. Im oberen Stockwerk sind einige Öffnungen ins dicke Mauerwerk eingelassen, die zwar als Fenster bezeichnet werden, aber mit herkömmlichen Fensteröffnungen nicht viel zu tun haben. Eher handelt es sich um horizontale Schächte, die auf bestimmte eng eingegrenzte Bereiche des Horizontes deuten und dadurch ausgewählte Himmelsrichtungen markieren. Zur Rundumsicht, wie man sie z.B. von einem Wachturm erwartet, taugen diese Öffnungen jedenfalls nicht. Ob die Auswahl der gepeilten Himmelsrichtungen zufällig oder mit Absicht erfolgte, ist hier die entscheidende Frage.

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Abbildung 42: Fotografien des oberen Stockwerks des Caracols von H. Hartung. Das linke Foto zeigt unten den Krauchgang, durch den man den Beobachtungsturm erreicht und das breite Fenster "Nr. 1" in der stark zerstörten Wand. Rechts der Blick durch Fenster 1 auf den Horizont. Die Holzstäbe markieren die innere Fensteröffnung, wie sie beim unzerstörten Bau gewesen sein wird. Auf solche Rekonstruktionen der ursprünglichen Fensterform vor Ort stützt sich Avenis und Hartungs Bestimmung der Fensteröffnungen zum Horizont hin. Der obere Teil des Turms ist leider stark zerstört. Im erhaltenen Teil findet man drei Öffnungen, zwei enge Schächte und ein breiter gestalteter Durchlass (Abb. 42). Eine Quelle aus dem 19. Jahrhundert belegt, dass der Turm einst mindestens sechs Fenster besaß. Die Richtlagen der damals noch erhaltenen und nun zerstörten Fenster wurden leider nicht gemessen. Die archäoastronomische Analyse muss sich deshalb auf den verbliebenen Rest der oberen Kammer beschränken. Die erhaltenen drei Fenster deuten in den südlichen bis nordwestlichen Teil des Horizontes (Abbildung 43).

Abbildung 43: Grundriss des erhaltenen Teils der oberen Kammer im Rundturm des Caracols. Die Peilmöglichkeiten durch die Fenster 1, 2 und 3 werden in der Nomenklatur von Aveni und Hartung D-1a bis 1c, D-2a&b, sowie D-3a&b genannt. Es wird jeweils von einer Innenkante zur gegenüberliegenden Außenkante gemessen (Linien a & b), so dass sich die maximale Winkelöffnung der Fenster am Horizont aus der Azimutdifferenz der äußersten Peillinien bestimmt. Für das breitere Fenster 1 ist auch die Richtung der Mittelachse (Linie D-1c) markiert.

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Ob und wie durch die Fenster beobachtet wurde, ist unbekannt. Die Analyse erfasst zunächst die maximal mögliche Winkelspanne, die ein Fenster am Horizont überdecken kann, wenn man von den Innenkanten der Fensteröffnungen zu den jeweils gegenüberliegenden Außenkanten der langen Fensterschächte blickt. Bei dieser Beobachtungsmethode ist die angepeilte Richtung durch das Bauwerk bestmöglich definiert. Ein Blick "irgendwie" durch das Fenster hindurch liefert eine ungenauere Richtungsbestimmung als diese Kantenpeilung. Die besonderen astronomischen Auffälligkeiten des Caracols beziehen sich auf derartige Kantenpeilungen durch die Fenster. Dass die Mayas tatsächlich Hilfsmittel zur Peilung der Gestirne besaßen, ist durch entsprechende Glyphen überliefert, die einen Kreuzstab mit einem Augensymbol zeigen (Abb. 44). Auch wenn diese Darstellungen nicht genau der postulierten Peilsituation im Caracol entsprechen und damit kein Nachweis dieser Methode vorliegt, so kann man sie aber aus praktischen Erwägungen heraus zumindest als sinnvoll und vernünftig annehmen.

Abbildung 44: Glyphen mit dem Augensymbol auf einem Kreuzstab. Ihre Deutung als Darstellung einer Gestirnsbeobachtungssituation ist durch den Sinn der Schriftzeichen erwiesen. Die glühbirnenähnlichen Zeichen ringsherum an der Glyphe links sind Sternsymbole. Im Codex Madrid befindet sich die Darstellung einer Sternbeobachtung, die der Situation einer denkbaren Gestirnspeilung aus dem Caracol sehr nahe kommt. Sie zeigt einen "Maya-Astronomen", der vermutlich in einer Kammer eingeschlossen dargestellt ist, aus der heraus er einen Stern in einer bestimmten Richtung anpeilt. Vielleicht ist mit dem verbindenden Element zwischen Stern und Auge sogar ein enger Beobachtungsschacht gemeint, wie man sie im Caracol findet (Abbildung 45 und 46).

Abbildung 45: Darstellung einer Sternbeobachtung im Codex Madrid

Abbildung 46: Aufnahme der drei erhaltenen Fenster des Caracols von D. Vornholz. Links das große Fenster 1. Die Öffnungen der anderen Fenster sind winzig, siehe z.B. Fenster 2 in der Bildmitte, das viel schmaler ist, als die von außen sichtbare Fensternische.

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Die folgende Tabelle 2 listet die vermessenen Azimute der Linien D-1 bis D-3 und die vorgeschlagenen astronomischen Deutungen von Aveni und Hartung auf (Spalten 2 & 3). Die Angaben beziehen sich auf die rekonstruierte ursprüngliche Form der Fenster. Wie zuvor bei der Analyse der Richtungen auf den unteren Etagen des Caracols erfolgt auch hier wieder eine Kontrollrechnung und ein Kurzkommentar zur Bewertung (Spalten 4 & 5). Visier- Azimut Angebliches Azimut des Differenz und -linie der Linie Himmelsereignis Ereignisses Kommentar D-1a 298,9° nördlichster Venusuntergang 298,3°-298,9° stimmt genau überein! D-1b 272,5° SU Tag-und-Nachtgleiche 270,4° (271,4°) stimmt einigermaßen überein D-1c 285,7° SU 1. Mai und 14. August - unauffällig; kein Kommentar D-2a 242,2° südlichster Venusuntergang 240,0°-240,7° stimmt einigermaßen überein D-2b 229,1° - - kein Kommentar D-3a 198,5° - - kein Kommentar D-3b 184,8° magnetisch Süd - fragwürdig; setzt Kompass voraus Tabelle 2: Die Azimute der Peillinien aus Abbildung 43 (Spalte 2), die behaupteten Himmelsereignisse (Spalte 3) und die Ergebnisse der Kontrollrechnung (Spalte 4) samt Kurzkommentar (Spalte 5). Zunächst einige Worte zu den solaren Bezügen des Fensters 1 und den anderen astronomisch unauffälligen Richtungen. Entlang der Mittelachse von Fenster 1 sieht man den Sonnenuntergang am 1. Mai und am 14. August, was aber nicht als Besonderheit gewertet werden kann, da sich keine besondere Auszeichnung dieser Daten wie "Zenitdurchgangstag" o.a. angeben lässt, und es bei der Zahl und Lage der Fenster immer wieder vorkommt, dass die untergehende Sonne irgendwo hineinscheint. Als auffällig wird von Aveni und Hartung die Ausrichtung der Linie D-1b auf den Sonnenuntergang zur Tag-und-Nachtgleiche gewertet. Die Kontrollrechnung zeigt aber (Abb. 47), dass es nicht ganz hinkommt, und die Sonne durch das ursprüngliche Fenster (siehe Abb. 42 mit den Stäben) an diesen Tagen so eben nicht hineinscheinen kann. Es passt weder für die Sonnenbahn des räumlichen Äquinoktiums (Deklination = 0), noch für die des zeitlichen Äquinoktiums (Deklination = max. ca. 0,9°), das man erhält, wenn man zeitlich zwischen den Sonnenwendterminen mittelt. Erst ein paar Tage nach dem Frühlings- bzw. vor dem Herbstäquinoktium trifft die Kantenpeilung D-1b die untergehende Sonne. Dies beweist auch das berühmte Foto mit der am Fensterrahmen angeklebten Armbanduhr, das von Aveni und Hartung als Beleg der Richtigkeit ihrer Hypothese der Äquinoktialpeilung angeführt wird (Abb. 48). Die Sonne ist zwar im Fenster sichtbar, aber nur von einer Stelle jenseits der durch die Holzstäbe rekonstruierten ursprünglichen Fensteröffnung. Das Foto beweist demnach, dass die Peilung der Äquinoktialsonne gerade nicht funktioniert. Ein wirklich bizarres Beispiel von Selbstwiderlegung!

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Abbildung 47: Untergangsbahnen der Sonne beim räumlichen Äquinoktium (Deklination = 0, linke Bahn) und beim zeitlichen Äquinoktium, das dei Spanne zwischen Sommer- und Wintersonenwende symmetrisch teilt (Deklination = max. ca. 0,9°, rechte Bahn. In keinem Fall erreicht die Sonne das äußerste Azimut von 272,5° bei der Kantenpeilung von rechts innen nach links außen am Fenster 1.

Abbildung 48: Das oft als Nachweis für die Richtigkeit der Äquinoktialpeilung angeführte Foto von A. Aveni durch das Fenster 1 beim Frühlingsäquinoktium am 20.03.1974. Die untergehende Sonne ist zwar sichtbar (heller Fleck in der Bildmitte; Uhrzeit 18.03 Uhr und 45 Sekunden), aber nur von einer Stelle außerhalb des ursprünglichen Fensters. Der Holzstab links zeigt die rekonstruierte ursprüngliche Lage des rechten Fensterrahmens.

Die Linien D-2b und D-3a bleiben von Aveni und Hartung ungedeutet. Für D-3a wird gelegentlich noch der Stern Achernar ins Spiel gebracht, was aber aus bereits oben diskutierten Gründen hier unkommentiert bleiben soll. Linie D-3b fällt mit der magnetischen Südrichtung in Yucatan zusammen, was als Zufall gewertet werden muss, solange der Nachweis der Verwendung eines Kompass durch die Maya aussteht. Für die Deutung der Linien D-1a und D-2a wird von Aveni und Hartung eine Bezugnahme auf die extremen Stände der Venus am Horizont vorgeschlagen, worauf sich auch der Ruf des Caracols als Venusbeobachtungsturm gründet. Von ihm aus könnten demzufolge auch die Beobachtungen durchgeführt worden sein, die in die Venustabellen des Codex Dresden eingeflossen sind. Die Venus durchläuft innerhalb einer Periode von acht Jahren fünfmal alle ihre möglichen Stände als Morgen- und Abendstern. Im Laufe dieses Zyklus weist sie jeweils auch einen nördlichsten und einen südlichsten Untergangsort am Westhorizont auf. Ein solches Ereignis wiederholt sich dann systematisch nach Ablauf von 8 Jahren bzw. 2920 Tagen. Markiert man z.B. die Orte der unteren Venuskonjunktion im Tierkreis, so erhält an eine nahezu perfekte Fünfteilung des Vollkreises. Die Zeitspanne von einer unteren Konjunktion zur nächsten beträgt im Mittel 584 Tage und somit gilt: 5 x 585 = 8 x 365 = 2920. Mit der Kenntnis aller Venuserscheinungen innerhalb eines Zyklus lassen sich dann auch alle Erscheinungen im kommenden Zyklus nahezu perfekt mit Tagesgenauigkeit vorhersagen. Dass die Mayas, die die Venus mit ihrem Kriegsgott Kukulcan gleichsetzten, diesen Achtjahreszyklus der Venus beobachtet haben, geht aus dem Codex Dresden hervor.

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Insbesondere ihre fünf heliakischen Aufgänge im Zyklus fanden besondere Beachtung. Diese Zeiten galten als besonders günstig für Kriegsunternehmungen. Falls der Caracol tatsächlich ein Venusobservatorium war, so werden sicher auch einige seiner Fenster auf markante Venusaufgangsorte im Osten hingedeutet haben. Das lässt sich nun leider nicht mehr überprüfen, denn die Information über die Gestalt der östlichen Fenster ist unrettbar verloren. Zwei der drei erhaltenen westlichen Fenster könnten aber auch einen Bezug zur Venus aufzuweisen, so das Ergebnis der Analyse von Aveni und Hartung. Die Tabelle 3 listet eine Auswahl von extremen nördlichen und südlichen Deklinationen der Venus in der Mayzeit auf. Die einzelnen Daten wurden mit der Astronomiesoftware "The Sky" ermittelt. Entsprechende Daten von weiteren Extremständen der Venus erhält man jeweils durch Addition oder Subtraktion von 2920 Tagen. Noch besser als der achtjährige Basiszyklus ist der 243-jährige Großzyklus der Venus. Sucht man nach entsprechenden Ereignissen in anderen Jahrhunderten, so springt man von Ausgangsdatum 243 Jahre weiter vor oder zurück und erhält Daten gleicher Venusstände in anderen Epochen. So lässt sich mit wenig Aufwand das Deklinationsextrem der Venus in der gesamten Maya-Zeit mit etwa Bogenminutengenauigkeit ermitteln. Extremale Nordstände der Venus Extremale Südstände der Venus Datum Deklination Magnitude Datum Deklination Magnitude 3.05. 605 26°37´ -4,3 30.10. 611 -27°32´ -4,6 1.05. 848 26°35´ -4,3 30.10. 854 -27°37´ -4,6 1.05.1091 26°33´ -4,3 28.10.1097 -27°41´ -4,6 Tabelle 3: Extremale Deklinationen der Venus in der Maya-Zeit und die zugehörigen Venushelligkeiten. Subjektive Auswahl einiger Daten mit der Software "The Sky" unter Verwendung des 243-jährigen Venuszyklus. Der Software entnimmt man auch die scheinbare Venushelligkeit zu diesen Zeitpunkten, denn diese ist wieder maßgeblich bei der Frage, in welcher Höhe man die Venus überhaupt noch sehen kann. Bei der Berechnung des Extinktionswinkels zeigt sich, dass bei guten Sichtbedingen (m = 6, k = 0,20) ein Venusuntergang direkt auf dem Horizont sichtbar ist, während bei mäßigen Sichtbedingungen (m = 5, k = 0,35) die Venus bei den ermittelten Helligkeitswerten von -4,6 bzw. -4,3 in einer Höhe von ca. 1° verblasst. Die Abbildungen 49 und 50 zeigen die berechneten Extrembahnen der Venus unter Verwendung der Spanne der in Tabelle 3 gegebenen Venusdeklinationen. Man entnimmt den Simulationen nun eine Spanne möglicher Extremazimute, die durch die Variationen in der Deklination und vor allen durch die typische Variation bei den Sichtverhältnissen gegeben ist und erhält die in Tabelle 2 aufgelisteten Werte für den nördlichsten und den südlichsten Venusuntergang.

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Abbildung 49: Südlichste Venusbahnen in der Maya-Zeit (Spanne der Deklinationswerte in Tabelle 3). Die grüne Linie entspricht dem Landschaftshorizont und die rote dem Extinktionswinkel bei mäßigen Sichtbedingungen. Der sichtbare Untergang erfolgt demnach in einem Azimut von 240,0° bis 240,7°.

Abbildung 50: Nördlichste Venusbahnen in der Maya-Zeit. Der sichtbare Untergang erfolgt in einem Azimut von 298,3° bis 298,9°.

Die Kantenpeilung D-1a im Fenster 1 trifft sehr genau auf den nördlichsten Venusuntergang! Die Kantenpeilung D-2b im Fenster 2 trifft ungefähr den südlichsten Venusuntergang. Damit sind beide Peilrichtungen als auffällig hinsichtlich der Venus zu bezeichnen. Hinzu kommt noch, dass die Peilung des nördlichen Venusstandes auch in Form einer symbolischen Ausrichtung der unteren Plattform des Caracols vorliegt, denn die Treppe zu dieser Plattform zielt ebenfalls sehr genau in diese Richtung (298,6°, siehe Linie A-1 in Tabelle 1). Damit hätte man beim Caracol beide Fälle verwirklicht - die symbolische Ausrichtung eines Sakralbaus nach einem besonderen Gestirnsstand und eine konkret nutzbare Peilung zur Beobachtung genau dieses Ereignisses. Vor dem Hintergrund des durch die Maya-Aufzeichnungen überlieferten Venuskultes (Glyphenschrift auf Stelen und Bauwerken sowie Codex Dresden) überzeugt diese Interpretation, und es ist das Verdienst von A. Aveni und H. Hartung, das erkannt und auf die besondere und einmalige Bedeutung des Caracols hinsichtlich seiner mehrfachen Bezugnahme auf die Venus hingewiesen zu haben. Die 1,5° Abweichung der Peillinie D-2b von der Richtung des echten Südextrems der Venus stimmt nachdenklich und veranlasst zu einer Diskussion der Peilhypothese und Fensterform unter praktischen Gesichtspunkten. Die für die Venusstände vorgeschlagenen Kantenpeilungen laufen jeweils von innen links nach außen rechts und damit ist garantiert, dass man die Venus auch schon vor dem Untergang weiter links im Fenster sehen und verfolgen kann. Es macht ja gar keinen Sinn nur auf eine einzige Richtung zu zielen und das Zuwandern des Gestirns auf diese Richtung völlig auszublenden. Man weiß dann nicht, wann die Venus in der richtigen Richtung steht und verpasst womöglich den genauen Moment der Beobachtung. Eine Beobachtung der Nord- und Südextreme der Venus beginnt deshalb schon längere Zeit vor ihrem eigentlich Untergang, z.B. ein bis zwei Stunden früher, wenn die Venus noch weiter oben und weiter links am Himmel steht, also mehr in Richtung der Mittelachse der jeweiligen Fenster und noch nicht in der extremen Kantenpeilung. Die kann man ja auch ganz zwanglos als Grenzsektor der Beobachtungsmöglichkeiten ansehen ohne ihr unbedingt das Prädikat der genauen, konkreten und einzigen Peilsituation zuweisen zu müssen.

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Das schmale Fenster 2 bietet genügend freie Sicht auf ein beträchtliches Teilstück der Venusbahn vor dem Untergang und auch auf die Venusbahnen Tage und Wochen vor und nach dem Extremereignis, was ja auch noch zu fordern ist, wenn man ein systematisches Beobachten der Venusbahnen in das Extrem hinein uns wieder heraus postuliert. Die Fenster 1 und 2 bieten damit die Voraussetzungen für ein solches Beobachtungsprogramm und deshalb muss auch nicht unbedingt nach einer zusätzlichen astronomischen Deutung für die Kantenpeilungen nach links (D-1b und D-2b) gesucht werden. Diese praktischen Überlegungen erklären allerdings nicht die außergewöhnliche Breite des Fensters 1. Ein schmaleres Fenster hätte es dann auch getan. Auflösen lässt sich dieses Rätsel der unterschiedlichen Gestaltung der Sichtschächte im Caracol nicht mehr, jedoch lassen sich zumindest einige Überlegungen anstellen, die die andere Form plausibel machen können. Die vorangegangene Analyse hat gezeigt, dass sich für den Caracol und die Stadtanlage von Chichén Itzá mehrere sinnvolle Deutungsansätze finden lassen. Die überzeugendsten verweisen alle auf den nordwestlichen Quadranten des Horizontes: Nördlichster Venusuntergang, Untergang der Sonne am Tag der Sommersonnenwende, Untergang der Sonne am Tag des Zenitdurchgangs. Alle diese Ereignisse sind als bedeutsam für die Mayakultur belegt. Auch die Plejadenhypothese lässt sich noch, dem Beispiel von Teotihuacán folgend, mit dem Nordwest-Sektor in Beziehung bringen. Sollte tatsächlich der heliakische Plejadenaufgang zur Anzeige des Zenitdurchgangstags und der etwaige Zenitstand der Plejaden über Chichén Itzá beobachtet worden sein, dann könnte auch ihrer Untergangsrichtung Beachtung geschenkt worden sein, die bei 288°-289° und damit etwa mittig im Fenster 1 lag. Ein interessantes Ereignis ist noch der Gleichstand der Sonne mit den Plejaden in der Ekliptik, was einen simultanen ungefähren Zenitstand beider Objekte zur Mittagszeit und simultane Untergänge zur Folge hätte, von denen der Sonnenuntergang dann mittig im Fenster 1 zu sehen wäre. Läge die linke Kantenpeilung des Fensters 1 wie beim Fenster 2 nur rd. 13° südlich der rechten Kantenpeilung, so wären diese Ereignisse des Vorrückens der Plejaden in ihren sichtbaren Untergangsort und das Vorrücken der Sonne in die Stände der besonderen Daten der Sonnenwende und der Zenitdurchgänge nicht mehr oder nicht mehr gut zu beobachten gewesen. Das könnte die größere Breite rechtfertigen. Ob es genau so war, bleibt offen. Festzuhalten bleibt jedoch, dass die besondere Gestaltung des Fensters 1 auf die Besonderheit des nordwestlichen Horizontsegments für die Maya hinweist, wofür sich zwanglos gute astronomische Gründe anführen lassen. Auch in dieser weniger konkret gefaßten Hinsicht ist die Interpretation des Caracols als Observatorium demnach gerechtfertigt. Abschließend sei noch eine mögliche Bezugnahme auf die Extremstände des Mondes untersucht. Schon aus Gründen der Vollständigkeit sollte das erfolgen, denn die Venus ist nach Sonne und Mond das dritthellste Objekt am Himmel, und wenn man die mögliche Bezugnahme des Caracols auf das hellste und dritthellste Objekt in Betracht zieht, wodurch wäre dann ein Ignorieren des zweithellsten Objektes gerechtfertigt? - Tatsächlich werden in der archäoastronomischen Literatur gelegentlich auch die Mondextreme im Zusammenhang mit dem Caracol genannt. Die nördlichsten und südlichsten Monduntergangsrichtungen (und entsprechend die Aufgänge auf der Ostseite), die der Mond allmonatlich erreicht, variieren im Laufe eines Zyklus von 18,61 Jahren systematisch zwischen den Richtungen der sog. Großen und Kleinen Mondwenden. Es gibt folglich in jedem Quadrant des Horizontes zwei besonders markante Mondextrema, die den möglichen Bereich der monatlichen Stillstandsorte der

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Mondbewegung am Horizont eingrenzen. Das zeitliche Muster der Ereignisse dieser Großen und Kleinen Mondwenden ist korreliert mit den Daten der Finsternistermine. In Zeiten Großer und Kleiner Mondwenden treten die Finsternisse von Sonne und Mond bei Neu- oder Vollmondterminen in der Nähe der Äquinoktien auf, und wenn die monatlichen Maximaldeklinationen des Mondes im Bereich der solaren Maximaldeklination liegen (also etwa mittig zwischen denen der Großen und Kleinen Mondwenden) treten die Finsternisse bei den Neu- und Vollmondterminen in der Nähe der Sonnenwendtermine ein. Der Codex Dresden enthält auch Aufzeichnungen mit den zeitlichen Abständen aufeinanderfolgender Finsternisse und ihrer Daten im Maya-Kalender und insofern könnte eine Beobachtung und Kennzeichnung der Mondextrema am Horizont durchgeführt worden sein. In den Abbildungen 51 und 52 zeigen die Untergangsbahnen des Mondes bei der Großen und Kleinen Mondwende Süd und Nord.

Abbildung 51: Untergangsbahnen des Mondes bei Großer und Kleiner Mondwende Süd um 800 n. Chr. in Chichén Itzá. Gewertet wird der Kontakt des Unterrandes des Mondes auf dem Horizont.

Abbildung 52: Untergangsbahnen des Mondes bei Großer und Kleiner Mondwende Nord um 800 n. Chr. in Chichén Itzá. Die Berechnung erfolgte für die Epoche um 800 n. Chr., jedoch lassen sich diese Ergebnisse auf die ganze Maya-Epoche beziehen, da sich an den extremen Mondständen im Laufe der Jahrhunderte kaum etwas ändert und auch innerhalb einer bestimmten Epoche bei den extremen Mondbahnen noch Schwankungen eintreten (z.B. aufgrund der sich ändernden Neigungsstörung der Mondbahn gegenüber der Ekliptik), die sich auf die Mondextrema ebenfalls auswirken und sich durch eine einfache Simulationsrechnung, die nur einen Überblick verschaffen soll, nicht berücksichtigen lässt. Die Azimutwerte der extremen

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Mondstände in den Abbildungen 22 und 23 (siehe Tabelle 4) sind deshalb nur als ungefähre Richtwerte mit einer Genauigkeit von ca. 0,5 ° zu verstehen. Untergangsazimute der Mondwenden Aufgangsazimute der Mondwenden Große Mondwende Süd 238,5° Große Mondwende Süd 121,5° Kleine Mondwende Süd 250,0° Kleine Mondwende Süd 110,0° Kleine Mondwende Nord 289,5° Kleine Mondwende Nord 70,5° Große Mondwende Nord 301,0° Große Mondwende Nord 59,0° Tabelle 4: Etwaige Untergangs- und Aufgangsazimute des Mondes bei den Mondwenden zur Maya-Zeit in Chichén Itzá. Vergleicht man diese Mondwende-Azimute mit der Richtlage der symbolischen und konkreten Linien des Caracols (Tabellen 1 und 2), so stellt man fest: Der Monduntergang bei der kleinen Mondwende Nord kann im Fenster 1 gesehen werden und der Monduntergang zum Zeitpunkt der Großen Mondwende Süd erfolgt etwa mittig in Richtung des Fensters 2. Bei der Breite des Fensters 1 wundert es nicht, dass auch eine der Mondwenderichtungen im Nordwestsektor erfasst wird. Die Peilung des südlichsten Monduntergangsortes durch das schmale Fenster 2 des Caracols ist allerdings schon als auffällig zu bezeichnen und sie kann neben der bereits diskutierten südlichsten Venusposition als gleichberechtigter Kandidat zur Deutung der Richtung dieses Fensters herangezogen werden.

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Fallbeispiele für astronomisch motivierte Bauwerke und Stadtplanung der Inka „Oh du Sonne, die du sagtest Cuzco und Tampu (Machu Picchu) seien deine Städte, gib ihnen die Kraft, alle Völker zu besiegen!“ Inkagebet Im Folgenden beschäftigen wir uns mit der südamerikanischen Hochkultur der Inka, die eine ähnlich Hinwendung zur Sonne und zu Himmelsereignissen pflegte, wie die Kulturen Mittelamerikas. Die hier behandelten Fallspiele betreffen die geheime Stadt Machu Picchu, die von den spanischen Eroberern niemals gefunden wurde, und die Inka-Hauptstadt Cuzco. a) Der Intihuatana in Machu Picchu (13°10´ S, 72°33´ W) Machu Picchu ist eine alte Stadt der Inka und liegt umgeben von den Andenbergen hoch über der Talenge des Urubamba-Flusses. Die Inka gehörten zu den Ureinwohnern Südamerikas. Sie beherrschten zwischen dem 13. und 16. Jahrhundert ein weitumspannendes Reich, das von einem hohen Organisationsgrad geprägt war. Ihre Herrschaft endete mit dem Einfall der Conquistadoren um Francisco Pizarro und dem von ihm verursachten Tod des Inkakönigs Atahualpa. Machu Picchu ist sehr gut erhalten, da es nicht von spanischen Eroberern heimgesucht wurde. Somit sind hier typische Kultstädten der Inkas erhalten, die an anderen Stellen des Landes durch die spanischen Conquistadores und Missionare mit der Begründung der „Gotteslästerung“ ausnahmslos zerstört wurden. Ein Kennzeichen der inkaischen Sonnenverehrung ist der Intihuatana genannte Stein ("Säule, an den die Sonne gebunden wird", Abbildung 53 links), dessen Schattenwurf anscheinend zu kultischen Zwecken beobachtet wurde.

Abbildung 53: Das letzte erhaltene Exemplar eines Intihuatana in einem heiligen Bezirk von Machu Picchu. Rechts ist die Orientierung des Schattenwerfers in Bezug zu den Himmelsrichtungen gezeigt (nach R. Müller). Der Initiuhatana von Machu Picchu besteht aus Granit und ist ungefähr so groß wie ein Esstisch. Die beiden größeren Flächen des quaderförmig aufragenden Schattenwerfers deuten in eine Richtung, die um 27,5° bzw. 25,5° gegenüber der Westrichtung nach Norden verdreht ist (Abb. 53 rechts). Damit verlaufen die Strahlen der aufgehenden Sonne bei der Sommersonnenwende und die der untergehenden Sonne bei der Wintersonnenwende fast genau entlang der Flächen des Schattenwerfers und der Schattenwurf auf dem Steintisch ist dann möglichst schmal. Wie mit einer Sonnenuhr lassen sich mit dem Schatten die Sonnenwenden einigermaßen genau bestimmen. Der astronomische Hintergrund wäre damit geklärt, doch welchen religiösen Zweck verfolgte dieser Intiuhatana?

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Die Wortbedeutung von Intihuatana, nämlich "die Sonne anzubinden", vermittelt eine Idee. Die Inka sahen in der Sonne eine Gottheit, die sie zutiefst verehrten. Die jährliche Bewegung ihrer Auf- und Untergangsorte am Horizont (siehe z.B. Abb. 1) war Ordnung gebendes Element und Sinnbild der ewigen Wiederkehr aller Lebenszyklen. Der Stillstand der Horizontorte der Sonne bei den Sonnenwenden (dann geht sie für längere Zeit in fast derselben Richtung auf) war wichtiges Eckdatum dieses Zyklus und möglicherweise war es Ziel der kultischen Handlungen am Intihuatana, den Stillstand der Sonne zu beobachten und seinen Eintritt durch Kulthandlungen und Opfer zum richtigen Zeitpunkt zu erwirken ("Anbinden der Sonne"), um diese Ordnung zu erhalten. Monumente dieser Art waren von zentraler Bedeutung für die gesellschaftliche Struktur im Reich der Inka und nahmen einen hohen religiösen Stellenwert ein, wie uns spanische Chronisten überliefern. Die Zerstörung dieser religiösen Symbole war für die Eroberer ein wichtiger Schritt auf dem Wege der absichtsvollen Ausrottung der inkaischen Religion und Kultur. b) Der Torreon von Machu Pichcu Der Torreon besteht aus einem aus dem anstehenden Stein herausgeschlagenen Altar, der von einer gekrümmten Mauer umgeben ist, in der an verschieden Stellen Fenster eingelassen sind. Zunächst erscheint dieses Bauwerk als nicht besonders bewundernswert oder gar mit astronomischem Hintergrund erbaut (Abbildung 54 und 55).

Abbildung 54: Der Torreon in Machu Picchu. Die bogenförmige Mauer mit drei Fenstern und mehreren Nischen umschließt einen bearbeiteten Steintisch. Für zwei der Fenster gibt es astronomische Deutungsvorschläge.

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Doch bei genauerer Betrachtung ergeben sich einige denkbare astronomische Motive. In den Mauerbogen sind zwei Fenster mit möglicherweise astronomischer Orientierung eingelassen. Entsprechende Vermutungen und Deutungen findet man in der archäoastronomischen Literatur. Es fällt auf, dass das eine Fenster in die nordöstliche und das andere in die südöstliche Richtung zeigt. Dies gibt Anlass zu der Vermutung, dass mit diesem Gebäude die Aufgangspunkte der Sonne zur Zeit der Solstitien (Sonnenstillstände) gewürdigt und beobachtet werden sollten. Betrachten wir dazu die Abbildung 56, die den Grundriss des Torreons in Bezug zur Nordrichtung zeigt. Auch der Steintisch ist darin dargestellt.

Abbildung 55: Photografie des Torreon. In der Mitte erkennt man den aus Stein gehauenen Altar. Dahinter ist die gekrümmte Wand des Torreon mit dem eingelassenen Fenster, das angeblich zur Stern- und Sonnenbeobachtung diente. Abbildung 56: Der Grundriss zeigt die Orientierung des Torreon und der Fenster zu den Haupthimmelsrichtungen.

Behauptet wird, dass die Sonne beim Aufgang am 21. Juni (Wintersonnenwende auf der Südhalbkugel) durch das nordöstliche Fenster entlang der Symmetrielinie des Steinaltars scheint, die im hinteren Teil durch eine senkrechte Felskante betont ist. Durch das nach Südosten gerichtete Fenster könnte der Aufgang der Andenkonstellation "Collca" beobachten worden sein. Die Collca ist eine Sternenkonstellation, die den Stachel unseres Sternbildes Skorpion bildet. Für die Beobachtung der Wintersonne liegt dieses Fenster allerdings viel zu weit südlich. Sein Nordazimut beträgt rd. 132°. Das nach Nordosten gerichtete Fenster soll ferner den Blick auf die aufgehenden Plejaden gewährleisten. In diesem Fenster sei der heliakische Plejadenaufgang zu sehen, der das Ereignis der Wintersonnenwende am 21. Juni voranzeigt. Sowohl von den Plejaden als auch von der Collca ist bekannt, dass sie eine wichtige Rolle im der Kultur der Inkas gespielt haben. Insofern sind solche Spekulationen zumindest durch ethnographische Fakten belegt. Auch hier wird wieder anhand von theoretischen Sonnenbahnberechnungen untersucht, ob man die behaupteten Ereignisse (Wintersonnenwende und heliakischer Plejadenaufgang) wirklich durch das Nordostfenster beobachten kann. Das Fenster in der Nordostrichtung ist um 29° gegen den Ostpunkt verdreht. Die Abbildung 57 zeigt das Ergebnis der Sonnenbahnberechnung für den 21. Juni.

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Abbildung 57: Simulation der Sonnenaufgangsbahn am 21. Juni über Machu Picchu. Bei einem Nordazimut von 61° (29° gegen den Ostpunkt verdreht) steht die Sonne in einer Höhe von ca. 14°. Eine Überdeckung dieser Stelle durch das große Fenster ist plausibel.

Man erkennt, dass die Bahn der Sonne bei ihrem Aufgang die Sichtlinie des Fensters kreuzt. Dies geschieht in einer Elevation von ca. 14°. Daraus kann man schlussfolgern, dass auch hier das vorhergesagte Ereignis möglich ist. Das wuchtige Fenster überdeckt einen großen Bereich des Himmels und der dahinterliegende Berghorizont begrenzt die Himmelsansicht nur zum Teil (siehe Abbildung 55, die den Blick durch das Fenster zulässt). Die bergige Landschaft könnte möglicherweise die Sonne in der Höhe von 14° überdecken. Jedoch ist wohl bei der Größe des Fensters ein Blick zumindest auf die höher stehende Sonne weiter links gewährleistet. Außerdem spricht der riesige in Stein gehauene Altar vor diesem Fenster für eine besondere Funktion dieser Öffnung des Torreon. Vom Schreibtisch aus beurteilt macht diese Interpretation jedenfalls Sinn. Sie ist stimmig, wenn auch wieder nicht beweisbar. Die Abbildung 58 zeigt die Sonnendeklination am Tag des heliakischen Plejadenaufgang in der Zeit zwischen 500 und 1500 v. Chr.. In der vermutlichen Entstehungszeit Machu Picchus zwischen dem 13. und 15. Jahrhundert tritt der heliakische Plejadenaufgang ca. drei bis zwei Wochen vor der Wintersonnenwende auf und könnte als Anzeichen für die kommende Sonnenwende verwendet worden sein. Die Bahn der Plejaden ist ähnlich gelagert, wie die der Wintersonne, so dass die Beobachtung durch das Nordost-Fenster auch möglich war.

Abbildung 58: Sonnendeklination am Tag des heliakischen Plejadenaufgangs am Ort von Machu Picchu in der Zeit zwischen 500 und 1500 n. Chr.. In der Entstehungszeit der Stadt (vermutlich im 15. Jahrhundert) trat der heliakische Plejadenaufgang ca. zwei Wochen vor der Wintersonnenwende (21. Juni) auf. Die Sonnendeklination ist dann noch 1 Grad vom Maximalwert bei der Sonnenwende entfernt.

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c) Die Stadtanlage von Cuzco (13°31´ S, 71°59´ W) Cuzco war die Hauptstadt der Inka, deren urbane Kultur in Südamerika zwischen dem 13. und 16. Jahrhundert existierte. Cuzco wurde, so besagt es die Sage der Inka, um 1200 von dem ersten Inka Manco Cápac, dem Sohn der Sonne, gegründet. Allein diese Tatsache unterstreicht die Wichtigkeit und den religiösen Wert Cuzcos für die Inka. Der Name "Cuzco" heißt übersetzt "Nabel der Welt" und das beweist schon die zentrale Bedeutung der Stadt in der Weltsicht der Inka. Die höchste Verehrung galt der Sonne. Ohne Zweifel liegt die Vermutung nahe, dass auch in der Anlage der Stadt kosmisches Wissen der Inka umgesetzt wurde. Die Architekten haben ihre Weltsicht in das Muster der Strassen und in ein nachgewiesenes und schriftlich überliefertes System heiliger Linien mit einbezogen. Die Inka untergliederten Cuzco und ihr gesamtes Reich in vier Teile oder "Weltgegenden". Sie nannten ihr Reich selbst "Tahuantinsuyu", was so viel wie "das Land der vier Teile" bedeutet. Diese Gliederung begründeten sie wahrscheinlich mit dem Verlauf der Milchstrasse am Nachthimmel. Das Band der Milchstrasse erreicht bei der täglichen Drehung des Himmelsgewölbes zweimal den Zenit, und die jeweils zwei Horizontpunkte, in denen das Milchstrassenband den Himmelsrand schneidet, bilden zwei sich schräg kreuzende Achsen. Dieses Kreuz teilt den Nachthimmel und den Horizontkreis in vier Abschnitte ein (Abbildung 59). Im 25 km von Cuzco entferntem Andendorf Misminay konnte diese Ansicht über die auf die Erde projizierte Himmelssymmetrie noch in unserer Zeit durch Ethnographen aufgezeichnet werden. Möglicherweise ist die Vorstellung der Bewohner von Misminay ein Relikt der alten inkaischen Weltordnung, die ihr Zentrum allerdings in Cuzco hatte.

Abbildung 59: Grafische Darstellung Kosmologie der Inka in Anlehnung an die Vorstellungen der Bewohner von Misminay. Steht die Milchstrasse in Zenit, so begründen die Horizontorte des Milchstraßenbandes die Teilung des Horizontes in Unterabschnitte. Der Schöpfergott Viracocha wird als Sternenkreuz dargestellt.

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Überprüft man diese Idee mit einer astronomischen Software, so erhält man als Nordazimute der Schnittpunkte der Milchstrasse mit dem Horizont: 35°, 155°, 210° und 330°. Es handelt sich dabei um Circa-Werte innerhalb einer Spanne von +/- 5°. Die Abbildung 60 zeigt das System der Strassen von Cuzco und die Teilung in Viertel ("Suyus") in Bezug zu den Haupthimmelsrichtungen. Die vier Milchstrassenazimute sind als blaue Linien mit eingezeichnet. Man erkennt ganz grobe Entsprechungen der vier Weltgegenden (ihrer ungefähren Mitten) mit diesen Richtungen. Das im Winkelsektor sehr schmale Viertel Collasuyu weicht aber merklich ab. Es handelt sich dabei wohl eher um eine mythologische Vorstellung, die sich nur in etwa mit den realen Begebenheiten im Einklang befindet. Von einer exakten Ausrichtung der Weltviertel oder sogar der Strassen nach dieser Hypothese kann gar keine Rede sein.

Abbildung 60: Die Teilung Cuzcos in die vier Weltviertel Cuntisuyu, Chinchasuyu, Antisuyu und Collasuyu und die Horizontrichtungen der Milchstrasse (blaue Linien) bei ihren zwei Zenitständen. Eingetragen sind auch einige astronomische Visierlinien und die Lage des sichtbaren Horizontes (dicker Strich), wobei die Linien zum nahen Cerro Picchu, auf dessen Flanke Türme als Peilmarken standen, besonderes auffällig sind. Cusco und seine Umgebung ist vielfach von sogenannten "Ceques" durchzogen. Ceques waren rituelle Leitlinien, entlang derer in gewissen Abständen Heiligtümer lagen, die "Huacas" genannt wurden. Insgesamt gab es 41 verschiedene Ceques und 328 Huacas. Alle Ceques liefen in einem Punkt zusammen, dem Ort des Sonnentempels Coricancha. Der dritte Huaca des dreizehnten Ceque z.B., der auch "Chinchinella" genannt wurde, bestand aus zwei Pfeilern auf einem Berg. Wenn die Sonne zwischen den beiden Pfeilern unterging, war die Zeit für die Aussaat gekommen. Ähnliche Pfeiler standen auf der Flanke des Cerro Picchu und markierten den Sonnenuntergang im August (Abb. 61 und 62).

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Abbildung 61: Die Türme an der Flanke des Cerro Picchu in ihrer Funktion zur Anzeige des Sonnenuntergangs im August.

Abbildung 62: Skizze des Chronisten Poma de Ayala mit einem Turm im Hintergrund.

Das System der Ceques stand in Beziehung zu allen von den Inkas verehrten Naturgottheiten und damit teilweise auch in Beziehung zur Astronomie. Mit Hilfe der nach astronomischen Gesichtspunkten errichteten Huacas und Ceques konnten die Inka z.B. den richtigen Zeitpunkt für die Aussaat des Getreides tagesgenau bestimmen. Für sie war es aus rituellen und ökonomischen Gesichtpunkten lebensnotwendig, den Stand der Sonne genau zu beobachten. Religiöse Handlungen und jene des alltäglichen Betriebes waren miteinander verknüpft. d) Der Sonnentempel Coricancha in Cuzco Cuzco war der Nabel des Inkareichs und der Tempel Coricancha ("Goldenes Haus") war die Mitte von Cuzco. Denn laut den Mythen der Inka soll Manco Capac selbst den Ort für den Sonnentempel bestimmt haben und damit gleichzeitig Cuzco gegründet haben. Der Sonnentempel in Cuzco war ohne Zweifel das bedeutendste religiöse Bauwerk der Inka. Der spanische Chronist Garcilasso de la Vega meinte, es reiche nie hin, sich eine richtige Vorstellung von der Großartigkeit des Tempels zu machen, was er auch schreiben möge. Von diesem einst so bewundernswerten Sakralbau mit seinen goldenen Sonnenscheiben ist bis auf einige Grundmauern nichts mehr übrig geblieben. Das stolze und heilige Gebäude wurde von den spanischen Eroberern mit dem Ziel der Vernichtung der heidnischen Götter und der Inkakultur niedergerissen. Aber auch die Gier nach Gold mag als noch naheliegenderes Motiv für die eingedrungene europäische Soldateska angeführt werden, die noch vor den feuereifrigen christlichen Missionaren ins Reich der Inka kam, die später den Rest der Zerstörung besorgten; von den Wenigen abgesehen, die sich in die untergehende Kultur noch einfühlten und über diese im Rahmen ihrer Möglichkeiten Aufzeichnungen erstellten, die uns heute oft die einzigen Quellen für das Verständnis der Inkawelt sind. Auf dem Fundament der Coricancha wurde später die Kirche Santo Domingo erbaut (Abbildung 63).

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Abbildung 63: Die Kirche Santo Domingo im heutigen Cuzco steht auf den Fundamenten des Sonnentempels Coricancha. Man erkennt noch das ursprüngliche bogenförmige Mauerwerk der Inka, auf dem vermutlich die Tempelnische mit der goldenen Sonnenscheibe stand.

Möglichweise macht nicht nur der einstige Prunk das Gebäude so einzigartig, sondern auch eine solare Architektur, die Bezug nimmt auf besondere Horizontstände der Sonne. Es ist wohl nicht mehr möglich, diese Hypothese einer sachlichen Überprüfung zuzuführen, da - vom Hochaltar abgesehen, von dem es sogar eine zeitgenössische Skizze eines alten Inka gibt, der den Altar einem spanischen Mönch erklärte (Abb. 64) - keine Aufzeichnungen über die genaue Gestalt und den Grundriss des Tempels überliefert sind.

Abbildung 64: R. Müllers Umzeichnung der Skizze des Hochaltars aus der Coricancha vom Inka Santa Cruz Pachacuty-Yanqui Salcamayhua aus den Aufzeichnungen von Pater Francisco de Avila. Die vermutliche Bedeutung der Symbole: 1 - Viracocha in Form einer ovalen Sonnenscheibe?, 2 - Sonne, 3 - Mond, 4 - Orion oder Viracocha?, 5 - Kreuz des Südens, 6 - Manco Capac und Mama Oclo, die sagenhaften Gründer Cuzcos, 7 - Morgenstern (Venus)?, 8 - Abendstern (Venus)?, 9 - Plejaden?, 10 - ?, Plejaden?, 11 - Drache, 12 - Aldebaran?, 13 - Blitz, 14 - Regenbogen und Erde?, 15 - Plejaden? Hyaden?, 16 - Titicacasee?, 17 - Baum, 18 - ?

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Einen Rekonstruktionsversuch des Grundrisses von R. Müller, der sich allein auf die Lage der restlichen Fundamentmauern und die Strassenführung in der unmittelbaren Umgebung bezieht, zeigt die Abbildung 65. Möglicherweise stand in der westlichen Rundnische eine goldene und mit Edelsteinen verzierte Sonnenscheibe, auf die am Tag des Wintersolstitiums (21. Juni) das Morgenlicht der aufgehenden Sonne traf, und somit den ganzen Tempel im Widerschein der Goldscheibe hell erleuchtete.

Abbildung 65: Rekonstruktionsversuch des Grundrisses der Coricancha von R. Müller aus der Orientierung von Fundamentresten und benachbarten Strassenfluchten. Der Standort der Sonnenscheibe (S) soll in der Rundnische gewesen sein. Durch ein nordöstliches Fenster, dessen Richtung 24° nördlich des Ostpunktes gelegen haben soll (Richtung entlang der vermuteten nördlichen Tempelwand) könnte die aufgehende Wintersonne die goldene Scheibe zur Wintersonnenwende beschienen haben. Eine schöne Idee mit kaum überprüfbarem Wahrheitsgehalt.

Der Abbildung 65 entnimmt man eine Abweichung der nördlichen Tempelwand bzw. des Einfallsfensters für die Sonnenstrahlen von 24° nördlich des Ostpunktes. Das vermutete Ereignis tritt ein, wenn die Sonnenstrahlen entlang der Richtung der nördlichen Tempelwand auf die goldene Sonne treffen, wenn die Sonne 24° nördlich des Ostpunktes aufgeht. Die goldene Sonnenscheibe strahlt das Licht, das sie von der Sonne empfängt, in den Tempelraum zurück, wo es auf die mit Gold verkleidete Ostwand trifft, dort erneut reflektiert wird und schließlich den ganzen Raum durchflutet. Erneut wird hier durch theoretische Berechnungen überprüft, ob das rekonstruierte Ereignis überhaupt im Rahmen des Möglichen liegt. Wie man in der Abbildung 66 erkennen kann, durchläuft die Sonne tatsächlich zum Zeitpunkt des Wintersolstitiums kurz nach ihrem Aufgang den Punkt 24° nördlich des Ostpunktes. Die Sonne geht an diesem Tag genau in der Richtung der rekonstruierten Nordwand des Tempels auf!

Abbildung 66: Sonnenbahn am Tag der Wintersonnenwende über Cuzco. Die Sonne geht bei einem Azimut von 66° (24° nördlich des Ostpunktes) auf.

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Es ist damit aber noch nicht nachgewiesen, ob es tatsächlich funktioniert hätte. Denn besonders für Cuzco ist noch ein Faktor zu berücksichtigen, den man nur vor Ort untersuchen kann. Cuzco ist als Andenstadt im Hochgebirge von einer Vielzahl hoher Berge umgeben. Wenn die Berglandschaft in Richtung der Coricancha höher aufragt, dann könnte der Effekt nicht auftreten. Ob der Landschaftshorizont den Blick auf die Sonne in dieser Richtung freigibt, kann hier vom Schreibtisch aus leider nicht entschieden werden. Das sei dem interessierten Reisenden, der Cuzco besuchen möchte, zur gelegentlichen Überprüfung empfohlen! Immerhin liegt das Ereignis im Bereich der plausiblen Vermutungen, die man für einen sonnenorientierten Tempel in Betracht ziehen kann, auch wenn wieder einmal ein letzter Beweis wegen des hohen Grades der Zerstörung der alten Architektur und mangelnder Aufzeichnung entsprechender Details durch geneigte Chronisten nicht gefunden werden kann. Abschließendes Fazit Alles in allem zusammengefasst folgere ich (Th.Z.), dass viele Behauptungen in der archäoastronomischen Literatur ziemlich spekulativ und unbegründet erscheinen, wenn nicht gar aus der Luft gegriffen sind. Bei einigen meiner Berechnungen stellte sich heraus, dass die beschriebenen Ereignisse gar nicht eintreten können. Sei es wegen der Epoche, wie bei Monte Alban, oder wegen einer falschen Elevation oder Ausrichtung zu den Himmelsrichtungen, wie bei einigen Hypothesen den Templo Mayor betreffend. Neben unberechtigten Behauptungen, die sich aufgrund der Berechnungen widerlegen ließen oder insgesamt zu spekulativ und willkürlich erscheinen, fanden sich aber auch ernsthafte Hinweise, die tatsächlich auf einen astronomischen Hintergrund hindeuten. Genannt sei hier nochmals die Pyramide des Kukulcan in Chichén Itzá, die Sonnenpeilung des Templo Mayor, die uns unabhängig von modernen Interpretationen durch schriftliche Quellen überliefert ist, die unbestreitbare Existenz eines genauen Sonnenkalenders oder auch die vernünftig anmutende Hypothese der Orientierung von Teotihuacán nach den Plejaden. Im Endeffekt lässt sich schon aussagen, dass die Azteken, Mayas und Inkas sehr wohl über astronomisches Wissen verfügten und dies in ihre Sakralarchitektur integrierten. Dies kann man aber eher aus alten Schriftquellen folgern, als aus der Analyse der Bauwerke allein, die nur in seltenen Fällen zu einer insgesamt als gesichert geltenden Erkenntnis führt. Aus den theoretischen Berechnungen heraus lässt sich folgern, ob es so gewesen sein könnte, wie eine Hypothese es besagt, aber längst noch nicht, dass es so gewesen sein muss.

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