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Orte der Erinnerung und Mahnung Kassel 1933 -1945 Ein Wegweiser

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Orteder Erinnerungund MahnungKassel 1933 -1945

Ein Wegweiser

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Foto Umschlag: Zerstörte historische Bauwerke an der nordöstlichen Seite des Friedrichsplatzes,23.10.1943, am Morgen nach dem Großangriffauf Kassel unerlaubt fotografiert. Fotograf F. Unkel

ImpressumHerausgegeben vom Stadtarchiv und

Stadtmuseum der Stadt KasselRedaktion: Frank-Roland Klaube, Alexander Link

Texte: Dietfrid Krause-VilmarGrafik: Stephan von Borstel, Kassel

Fotos: Stadtarchiv Kassel,Stadtmuseum Kassel, S. v. Borstel,

D. Krause-Vilmar, S. Link, D. Schwerdtle© Kassel 2008

Stadtarchiv Kassel

Wildemannsgasse 1, 34117 Kassel Tel.: 0561. 787 40 50 Fax: 0561.787 40 [email protected]

Stadtmuseum Kassel

Ständeplatz 16, 34117 KasselTel.: 0561. 787 14 00 Fax: 0561. 787- 41 [email protected]

Informationsstelle zur Geschichte des Nationalsozialismus in Nordhessen

Univ. Kassel, FB 5, Nora-Platiel-Str. 1Tel.: 0561. 804 28 27 / 28 32 Fax: 0561. 804. 31 [email protected] www.uni-kassel.de/fb1/infonsnh

Gedenkstätte Breitenau

Brückenstraße 12, 34302 Guxhagen,Tel.: 05665. 35 33 Fax: 05665. 17 [email protected] www.gedenkstaette-breitenau.de

Volksgemeinschaft und Volksfeinde. Kassel 1933-1945 Eine Dokumentation. Herausgegeben von Jörg Kammler undDietfrid Krause-Vilmar. Fuldabrück 1984.

Volksgemeinschaft und Volksfeinde. Kassel 1933-1945 Band 2: Studien. Herausgegeben von Wilhelm Frenz,Jörg Kammler und Dietfrid Krause-Vilmar. Fuldabrück 1987.

Mahnmale sind zeitlich gebunden und nicht seltender Absicht einer kritischen Vergegenwärtigung ver-gangener Ereignisse entsprungen. Sie sind Denk-anstöße, Orte des Innehaltens, des Nachdenkens,des Gesprächs.

Die Orte der Mahnung und Erinnerung an die Zeitnationalsozialistischer Barbarei, von denen es seitdem Untergang des Hitler-Staates in Kassel einigegibt, sind aus sich selbst heraus verständlich. Gleich-wohl sind einige wenige Informationen vielleicht hilf-reich. Dies möchte der vorliegende Wegweiser leisten.

Die Stadt Kassel selbst hat früh Forschungen der Uni-versität zur Geschichte der Stadt in der NS-Zeit ange-stoßen und gefördert. In Ausführung des Beschlussesder Stadtverordnetenversammlung von 1984, dieErinnerung an die Zeit des Nationalsozialismus inKassel wach zu halten, wurden elf historische Stättenausgewählt und an diesen Orten in den folgendenJahren Gedenktafeln angebracht. Damit wurde eineneue Dimension des Gedenkens eröffnet: Die ausge-wählten Häuser, Baracken oder staatlichen Einrich-tungen führen zu den Orten der Schande und desVerbrechens in der Stadt selbst. Durch Einbeziehungneuerer Forschungsergebnisse kommen in diesemHeft an einigen Stellen auch Menschen, die an diesenOrten gelitten haben, zu Wort.

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Über die hier näher vorgestellten Gedenkorte selbstgab und gibt es in der Stadt weitere bedeutendeGedenkorte, die wir knapp aufgeführt haben.Andere Monumente und Kunstwerke sind seit denJahren der Anbringung der Gedenktafeln der Stadthinzugekommen. Einige wurden in Behörden undSchulen aufgestellt, so dass sie der Öffentlichkeitnicht jederzeit zugänglich sind. Andere haben nur für eine bestimmte Zeit bestanden. Einzelnen Ver-folgten gewidmete Straßennamen oder Tafeln, wiedas Erinnerungszeichen für Herta und Erich Lewinskiin der Schanzenstraße / Stahlbergstraße, oder dasjeni-ge für Lilli Jahn in der Motzstraße sind hinzugekom-men. Insofern will der vorliegende Wegweiser nichtden Anspruch auf Vollständigkeit erheben, sondernzur Fortsetzung der Spurensuche auffordern.

Was möchte dieser Wegweiser leisten? Zum einenenthält er Grundinformationen zu den Gedenkorten in der Stadt und möchte die Wegsuche durch Abbil-dungen erleichtern. Dem dient auch der Übersichts-plan. Zum andern eröffnen Dokumente und Zeug-nisse einen Blick in die Geschichte der Verfolgung und Misshandlung von Menschen. Und drittensmöchte dieser mit Unterstützung des Stadtarchivs,des Stadtmuseums der Stadt Kassel und der Gedenk-stätte Breitenau erstellte Wegweiser zu vertiefenderLektüre und zur eigenen Spurensuche anregen.

Dietfrid Krause-Vilmar

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Die Geheime Staatspolizei Kassel

Im Jahre 1933 befand sich die Staatspolizeistelle für denRegierungsbezirk Kassel im damaligen Polizeipräsidium,später in einem eigenen Gebäude in der Wilhelmshöher Allee32, nach dessen Bombardierung in Baracken in der Goethe-anlage, in Breitenau / Guxhagen und am Panoramaweg. DieGeheime Staatspolizei (Gestapo) war eine Machtsäule desNS-Staates. Sie verhaftete, verhörte und misshandelte tausen-de Unschuldige. Sie verantwortete die Deportationen derJuden, Sinti und Roma und anderer zu Volksfeinden erklärterMenschen in die Konzentrations- und Vernichtungslager. IhreAngehörigen begingen schwerste Verbrechen, besonders anausländischen Zwangsarbeitern, darunter Polen, von denenzahlreiche wegen Beziehungen mit einer deutschen Frauöffentlich exekutiert wurden. Allein in den letzten Märztagen1945 ermordeten ihre Kommandos in Guxhagen, auf demWehlheider Friedhof, am Bahnhof Wilhelmshöhe und ananderen Orten in der Stadt Kassel mehr als einhundertzwan-zig ausländische Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter.

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Der Werkschutz der Gerhard Fieseler-Werke hatte im Juli 1941 Inschriften auf einer Werkstoilette entdeckt, darunter die folgende:

»Die Welt geht zurück ins Altertum. Sie wollen

kein Christentum, sondern als Heiden leben.

Menschen aufhängen ist heidnisch.«

Der Werkschutz notierte daraufhin:

»Die Inschriften sind als Auswirkung des Aufhän-

gens zweier Polen im Eichwäldchen anzusehen.

Die Stapo ist eingeschaltet.«

Blick auf das ehemaligePolizeipräsidium aus derFriedrich-Engels-Straße

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Das Polizeipräsidium nach seiner Fertigstellung 1907

Die Angehörigen der Staatspolizeistelle Kassel haben sich fürdie von ihnen veranlassten Verbrechen nach dem Krieg nichtvor deutschen Gerichten verantworten müssen. Es hat - bisauf einen Fall wegen willkürlich angeordneter Tötungsver-brechen - keine systematische Ermittlung und Anklageerhe-bung gegen sie gegeben. Zumeist beriefen sich die ehemalsmächtigen Gestapo-Offiziere darauf, zur Ausführung vonBefehlen höheren Orts verpflichtet gewesen zu sein.

Abb. rechts:Zweigeschossige Baracke der Gestapo am Ostende

der Goetheanlage (markiert)

Abb. unten: Eingangstürenim Zellentrakt des Polizei-

präsidiums und die von KZ-Gefangenen erbaute

Baracke am Panoramaweg

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Das Haus der Arbeiterwassersportler

Dieses Gebäude wurde von Mitgliedern der Arbeitersportbe-wegung (Wassersportler) in eigner Arbeit selbst errichtet unddiente als Vereinshaus. Im Jahre 1933 übergaben die Behör-den das Haus dem Kasseler SS-Pioniersturm. SS-Angehörigefolterten hier überzeugte Gegner des Nationalsozialismus ausden Reihen der Arbeiterbewegung, die in den Polizeiverhörenstandhaft geblieben waren. Es liegen mehrere Berichte vonpolitischen Gefangenen vor, die hier von SS-Angehörigenmisshandelt wurden, nachdem die Polizei sie der SS »über-lassen« hatte.

»Hiermit gebe ich die Eidesstattliche Erklärung ab,

dass Herr Georg Lörper mit mir am 15.8.1933 von der S.S.

verhaftet und in das Polizeipräsidium Kassel eingeliefert

wurde. Nach mehrtägiger Vernehmung wurden wir der

S.S. übergeben, welche uns in das Pionierheim am Fulda-

damm einlieferte. Nach furchtbaren Misshandlungen

wurden wir am Abend von der Polizei abgeholt und wie-

der in das Polizeigefängnis eingeliefert. […] «

Arno Schminke im Jahre 1950

Im Jahre 1938 wurdedas Haus der Marine-

Hitlerjugend über-geben, die es als

»Gorch-Fock-Heim«weiterführte.

Das WVC-Haus imJahre 2008. Nachdem Krieg erhieltdie »Wassersport-vereinigung Cassel«ihr Haus zurück

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Das Gewerkschaftshaus

Das Gewerkschaftshaus in der Spohrstraße wurde bereits am7. März 1933 von einer großen Menge von Nazis gestürmtund verwüstet. Die regionalen NS-Führer Roland Freisler undKarl Weinrich setzten sich an deren Spitze und erklärten dasGewerkschaftshaus für besetzt. Ein telegrafisches Hilfeersu-chen Kasseler Gewerkschafter an den Reichspräsidenten Paulvon Hindenburg blieb folgenlos. Am 2. Mai 1933 besetztenSA- und SS-Angehörige erneut das Haus, beschlagnahmtendie Akten und Bücher und hissten die Hakenkreuzfahne.Inhaftierung, Entlassung und/oder Misshandlung einzelnerengagierter Gewerkschafter folgten. Die Freien Gewerk-schaften wurden aufgelöst und blieben bis zum Ende des NS-Staates verboten.

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Gewerkschaftliche Protestkundgebung gegen Sozialabbau auf dem Friedrichs-platz 1930

Das Haus desDeutschenGewerkschafts-bundes Kassel im Jahre 2008

Das Haus des AllgemeinenDeutschen Gewerkschafts-

bundes Kassel um 1928

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Die Strafanstalt Wehlheiden

In der Strafanstalt Wehlheiden wurden in der Nazizeit zahl-reiche Unschuldige aus politischen und rassischen Gründeninhaftiert: Gegner des Regimes, unerschrockene Kritiker,Helfer und Retter verfolgter Menschen. Zum Tode Verurteiltewurden hier mit dem Fallbeil umgebracht. Durch eine hoheÜberbelegung herrschten gegen Kriegsende unerträglicheLebensumstände. Wer die Haftstrafe verbüßt hatte, war nochnicht frei; in vielen Fällen deportierte die Gestapo den geradeEntlassenen in ein Konzentrationslager.

Finkenstein wurde alspolitischer Gegner und

als Jude verfolgt und war fast acht Jahre lang(1935-43) unschuldig in

Kasseler Gefängnis-sen inhaftiert, bevor

er nach Breitenau undvon dort nach Ausch-

witz deportiert wurde,wo er ums Leben kam.

»So dunkel werden meine letzten

Lebensjahre sein:

Lebendig eingesargt bin ich der Welt

entrückt und fern.

Den frostgen Schauder meines Tages

bannt kein Sonnenschein,

auf meiner Elendspritsche grüßt mich

nachts nicht Mond und Stern.«

Aus Kurt Finkensteins Gedicht »Verdüsterung« (1940), verfasst im Zuchthaus Wehlheiden

Die Justizvollzugs-anstalt im Jahre2008

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Das Sammellager für die Deportationen

In der Turnhalle der Bürgerschulen in der Schillerstraße richtete die Gestapo Kassel ab November 1941 ein Sammellager für Juden aus dem Regierungsbezirk Kasselein. Jeweils vor einer der drei großen Deportationen vonKassel aus wurden die Menschen von hier zum Hauptbahn-hof geführt und am 9. Dezember 1941 in das Ghetto Riga,am 1. Juni 1942 in das KZ Majdanek sowie in das Ver-nichtungslager Sobibor und am 7. September 1942 in das Ghetto Theresienstadt deportiert. Die Gestapo hatte sie mit den Worten, dass sie im Osten angesiedelt würden,um dort Pionierarbeit zu leisten, getäuscht. Nur wenige von ihnen überlebten die Deportationen.

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Aufriss der ehemaligen Turn-halle der Bürgerschulen. Hierbegann der oben skizzierte»letzte Weg« vieler Juden vonder Schillerstraße zumHauptbahnhof

Eingangsbereichder Walter-Hecker-

Schule, 2008

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Die Synagoge

In der Unteren Königsstraße stand die im Jahre 1839 fertiggestellte große Synagoge der Jüdischen Gemeinde. Kasselwar Sitz des Landrabbinats und - seit der Emanzipation -einer bedeutenden und großen Gemeinde (im Mai 1933 ge-hörten ihr 2300 Seelen an). Viele Gemeindemitglieder hattenihre Heimat bereits verlassen, als am 7. November 1938 Nazisin die Synagoge einbrachen, ihr Inneres zerstörten, den Thora-schrein aufbrachen und Gebetrollen und Kultbücher in Brandsteckten. Die Stadtverwaltung ließ das unversehrt gebliebeneBauwerk kurz danach »abtragen«, um einer angeblichenParkplatznot zu begegnen. Bereits am 10. November 1938wurden 258 Gemeindemitglieder aus ihren Häusern »abge-holt« und in das KZ Buchenwald deportiert, darunter auchder Lehrer Willy Katz, der hierüber berichtet hat.

Landrabbiner Dr. Isaac Prager

in der Synagoge,ca. 1898

Vorbereitung des Abrisses der Synagoge Ende des Jahres 1938

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Der »Judenstern« warab September 1941 alsstigmatisierendes Kenn-zeichen von allen Judenzu tragen

Ein erstes Mahnmal zumGedenken an die Opferdes Holocaust wurde vom»Jüdischen Komittee« desDP-Lagers Hasenheckeerrichtet. Es steht heuteauf dem neuen jüdischenFriedhof Bettenhausen

Seit Juli 1938 für deutsche Judenverpflichtende Kennkarten

Nach dem Krieg nutzte dieJüdische Gemeinde zunächst die provisorisch für religiöseZwecke hergerichtete Turnhalle in der Tischbeinstraße (1945).Die Stadt beschloss 1951 ein-mütig die Errichtung einer neuenSynagoge, die 1965 übergebenwurde. Im Jahre 2000 wurde die größere neue Synagoge an der Bremer Straße eingeweiht,nachdem die alte aufgrundBaufälligkeiten abgerissen werden musste.

Die neue Kasseler Synagoge von derMosenthalstraßeaus gesehen, 2008

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▲ Kasseler Innenstadt ▼ Umgebung Fernbahnhof Wilhelmshöhe

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1 Die Geheime Staatspolizei KasselEhemaliges Polizeipräsidium / Königstor 31

Das Haus der ArbeiterwassersportlerVereinshaus des WVC / Auedamm 23

Das GewerkschaftshausDGB-Kassel / Spohrstrasse 6

Die Strafanstalt Wehlheiden *Justizvollzugsanstalt / Theodor-Fliedner-Str. 12

Das Sammellager für die DeportationenWalter-Hecker-Schule / Schillerstrasse 16

Die SynagogeJüdische Gemeinde / Bremer Str. 3

Der AschrottbrunnenRathaus / Obere Königsstr. 8

Der Ort eines MassenmordesPlatz des Gedenkens

Die BürgersäleKarlsplatz / Obere Karlsstraße

Zur Verfolgung der Sinti und RomaRathaus / Obere Königsstr. 8

Soldaten zwischen Verweigerung und WiderstandZentrales Mahnmal am Auehang

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* Die Justizvollzugsanstalt ist auf nebenstehenden Karten nicht eingetragen. Sie läßt sich mit der Buslinie 27 erreichen.

Die Gedenktafeln der Stadt Kassel

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Der Aschrottbrunnen

Sigmund Aschrott (1826 -1915) war nicht nur ein bedeuten-der Unternehmer und Begründer der Kasseler Textilindustrie;er setzte sich seit 1866 engagiert für die Schaffung einesneuen Stadtteils, des Hohenzollernviertels (später ,VordererWesten’ genannt) ein und nahm, als die städtischen Körper-schaften ihm in seinen großen Plänen nicht folgen wollten,mehr oder weniger die Sache selber in die Hand. Als bedeu-tender, jüdischer Bürger Kassels war er den Nazis ein Dorn im Auge; noch Jahrzehnte nach seinem Tod suchten sie ihnzu schmähen. Im Jahre 1908 hatte er der Stadt Kassel diesenBrunnen gestiftet, der den rechten Ehrenhof des Rathausesdekorativ beleben sollte.

Sigmund Aschrott,Portraitgemälde, um 1910

Der 1987 gestalteteBrunnen

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Bereits im September 1933 wurde der Brunnen erstmalsvon nicht ermittelten Personen schwer beschädigt.Daraufhin ordnete Oberbürgermeister Lahmeyer an, dassdie Inschrift, die den Namen des Stifters trug, entfernt wird.

Im April 1939 wurde der Brunnen erneut von Unbekanntenschwer beschädigt. Daraufhin ließ die Stadtverwaltung denBrunnen bis auf die Sandsteinfassung abtragen.

Der Brunnen,Postkarte um 1935

Der Brunnen während des Abbruchs, 1939

Abb. links:Der Kasseler Künstler Horst Hoheisel schuf im Jahre1987 den Brunnen als Negativform neu. Der in denBoden negativ versenkte Obelisk mit seinen vier kleinenPyramidentürmen stellt den Verlust dar, den die Stadterfahren hat und bildet so eine »offene Wunde derStadtgeschichte«... (Zeichnung des Künstlers)

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Der Ort eines Massenmordes

Wenige Tage vor Ende des Krieges, am 31. März 1945, hat-ten sich italienische Kriegsgefangene aus einem verlassenenGüterzug Lebensmittel geholt, da sie keine Verpflegung er-halten hatten. Ähnliches hatten auch Deutsche zur selbenZeit getan. Ein Denunziant fand sich und meldete den Vorfall.Stunden später wurden 79 Unschuldige – ein Russe und 78Italiener – von einem Kommando der Kasseler Gestapo aufdem Gelände des Bahnhofs Wilhelmshöhe ermordet.

Der im Jahre 2005 neugestaltete »Platz desGedenkens« um dasMahnmal, das an dieumgebrachten Italienererinnert

Fotografien aus der Firmenbroschüre«Die Wohnlager Henschel und Sohn«

(1943), in der ein schöner Scheinüber die Wohnsituation der Zwangs-

arbeiter verbreitet werden sollte

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Die Stadt Kassel war im Jahre 1944 (bis zum Kriegsende) vonmehr als 200 Lagern, Unterkünften bzw. Behelfsunterkünftenüberzogen, in denen ca. 25000 ausländische Arbeiter und Ar-beiterinnenhausen mussten. Die Zwangsarbeiter und Kriegs-gefangenen aus dem Ausland arbeiteten in der Industrie, imHandwerk, bei der Stadt, bei Baufirmen und bei Privatleuten.Im Druseltal hatte es ein Außenkommando des Konzen-trationslagers Buchenwald (1943-1945) gegeben.

Italienische »Militärinternierte« marschieren durchs Königstor, 1943/44

Abb. rechts:Die ermordeten Italiener wurdenzuerst auf dem Wehlheider Fried-hof bestattet. Die drei Grabsteine

(hier einer) sind auf ungeklärteWeise verschwunden

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Die Bürgersäle

In der Oberen Karlsstraße befand sich die Gaststätte»Bürgersäle«, die von SA und NSDAP als Versammlungs-lokal genutzt wurde. In den Kellergewölben misshandeltenund demütigten die Nazis sozialdemokratische, gewerk-schaftliche und kommunistische Gegner und Akademiker aus dem deutsch-jüdischen Bürgertum. Rechtsanwalt Dr.Max Plaut, den die Kasseler Nazi-Presse bereits vor 1933 diffamiert und beleidigt hatte, starb an den Folgen der eine Woche zuvor dort erlittenen Verletzungen am 31. März 1933.

Blick auf die nach demZweiten Weltkriegerweiterte ObereKarlsstraße

»Am gleichen Tag wurde

der Rechtsanwalt Dalberg in der

schwersten Weise misshandelt,

und zwar am gleichen Ort und in

ähnlicher Weise wie Plaut«.

Aus dem »Braunbuch über Reichstagsbrand und Hitler-terror«. Paris 1933

Dr. Max Plaut

Die Bürgersäle in der Oberen

Karlstraße,um 1938

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Zur Verfolgung der Sinti und Roma

Die Sinti und Roma unterlagen im Nazistaat einer doppel-ten Verfolgung. Erstens galten sie als »fremdrassig«, undzweitens rechnete man sie pauschal zur Gruppe der»Asozialen«. Ab 1936 untersagte man ihnen das Umher-ziehen und die Ausübung ihrer traditionellen Berufe undsperrte sie schließlich in besondere Lager.In Kassel mussten die Sinti ab 1937 in einem bewachten,mit Stacheldraht umzäunten Lager auf der Wartekuppe inNiederzwehren leben, das sie nur zur Arbeit verlassen durften. Das abgelegene Gelände mit Tongruben und einer Ziegelei hatte im Ersten Weltkrieg als Kriegsgefan-genen- und Seuchenlager gedient. Auf einem Teil desGeländes wurden nun die Sinti mit ihren Wohnwagenuntergebracht. Um die Jahreswende 1939/40 wurden die Sinti von der Wartekuppe abtransportiert, wahrschein-lich in das KZ Buchenwald, und von dort aus weiter in die Vernichtungslager im Osten.

Die Gedenktafelbefindet sich auf

Höhe des Aschrott-brunnens am Rathaus

Rekonstruktion des »Zigeuner-Sammellagers« auf der Wartekuppe in Kassel-Niederzwehren (Christian Kleinert 1983)

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Soldaten zwischen Verweigerung und Widerstand

Die Kasseler Stadtverordnetenversammlung hatte 1985mehrheitlich beschlossen, eine Gedenktafel »zur Erinnerungan die Kasseler Soldaten, die sich dem Kriegsdienst für dienationalsozialistische Gewaltherrschaft verweigerten unddafür verfolgt und getötet wurden«, aufzustellen. Die Tafelwurde im Mai 1987 am Ehrenmal in der Karlsaue in An-wesenheit des Oberbürgermeisters eingeweiht. Vorausset-zung war eine Dokumentation von Prof. Jörg Kammler überKasseler Soldaten zwischen Verweigerung und Widerstand.Die deutsche Militärjustiz verhängte im Zweiten Weltkriegmehr als 22000 Todesurteile, davon noch einige nach derKapitulation und dem Ende des Krieges.

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Das Ehrenmal amAuehang, 2008

Der 20 Jahre junge Kasseler Marinefunker AlfredGail wurde am 10. Mai 1945, zwei Tage nachder Kapitulation, wegen schwerer Fahnenfluchthingerichtet. Gemeinsam mit Kameraden hatteer sich, als er vom Ende des Krieges hörte, aufden Weg nach Hause gemacht, um derGefangennahme durch die Engländer zu entgehen.

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Mahnmal für die Opfer des Faschismus

Das Mahnmal steht im Murhard-Park ander Weinbergstraße und wurde im Dezem-

ber 1953 in Anwesenheit des HessischenStaatssekretärs Hermann Brill und zahlrei-

cher Politiker und internationaler Gäste vonseinem Schöpfer, Professor Hans Sautter,

dem Oberbürgermeister der Stadt Kassel übergeben.

Weitere Gedenkorte

Gedenkstein für die Kasseler Juden

Am 25. Juni 1950 enthüllte der ehemaligeRabbiner der Jüdischen Gemeinde Kassel inAnwesenheit zahlreicher Politiker und Gästeauf dem (alten) Jüdischen Friedhof einen

Gedenkstein. Die in hebräischer und deut-scher Sprache verfasste Inschrift lautet:

»Der Jüdischen Gemeinde in tiefer Trauerum die Opfer der Schreckensjahre 1933-

1945 gewidmet von der Stadt Kassel.«

Denkmal für die Zwangsarbeiter

Während des Zweiten Weltkrieges wurden hunderte ausländische Zwangsarbeiter,

darunter auch diejenigen, die bei denLuftangriffen ums Leben gekommen waren,

auf dem Jüdischen Friedhof begraben. ImJahre 1960 bettete man die Gebeine derRussen, Tschechen, Bulgaren, Polen und

Rumänen auf den christlichen Friedhof inBettenhausen auf der anderen Straßen-seite um. In diesem Jahr errichtete Heinz

Wiegel das Mahnmal und die Gedenksteinemit den Namen der Toten.

»Mahnender Engel«, Brüderkirche

Vom Gesamtverband der evangelischenKirchengemeinden in Kassel im November

1958 als »Erinnerungsmal an die Opfer derBombenangriffe in Kassel« errichtet,

geschaffen von Professor Kurt Lehmann.

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Gedenkstein für Adam von Trott zu Solz

Im Zusammenhang mit der Einweihungder »Adam-von-Trott-zu-Solz-Siedlung«am Warteberg wurde im Juni 1960ein Gedenkstein für den Namensgeberder Siedlung enthüllt. Der Stein trägtden Namen Adam von Trott zu Solz undden Satz »Er starb für die Freiheit«.

Mahnmal »Die Rampe«

»Die Rampe. Ankunft und Ende«, 1982 von E. R. Nele geschaffen, wurde 1985von der Universität in der Moritzstraßeaufgestellt. Die Künstlerin erinnert andie Deportationen in die Vernichtungs-lager und an die Millionen Zwangs-arbeiter, die auf dem Schienenweg nachDeutschland »transportiert« wurden.

Gedenktafel für die Gestapo-Opfer

1985 enthüllte der Ortsbeirat von Wehl-heiden auf dem Wehlheider Friedhofeine Gedenktafel, die an die zwölf am30. März 1945 ermordeten Insassen derStrafanstalt Wehlheiden erinnert. Sie istneben der Gedenkstätte für die Opferder Luftangriffe angebracht worden.

»Gedenksteinsammlung«

Auf dem Kasseler Hauptbahnhoferinnert ein Gepäckwagen des KünstlersHorst Hoheisel an die Deportationender Juden aus Kassel 1941 und 1942.In Kästen sind Erinnerungen vonKasseler Schülern und anderenMenschen an die Ermordeten deponiert.

Stephan von Borstel / Dietfrid Krause-Vilmarbreitenau 1933-1945. bilder, texte, dokumente deutsch und englisch, Kassel 2008.

Jörg Kammler Ich habe die Metzelei satt und laufe über ...Kasseler Soldaten zwischen Verweigerung und Widerstand.Mitarbeit Marc Poulain. 3. erweiterte Aufl., Fuldabrück1997.

Literaturhinweise

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Foto Umschlag: Zerstörte historische Bauwerke an der nordöstlichen Seite des Friedrichsplatzes,23.10.1943, am Morgen nach dem Großangriffauf Kassel unerlaubt fotografiert. Fotograf F. Unkel

ImpressumHerausgegeben vom Stadtarchiv und

Stadtmuseum der Stadt KasselRedaktion: Frank-Roland Klaube, Alexander Link

Texte: Dietfrid Krause-VilmarGrafik: Stephan von Borstel, Kassel

Fotos: Stadtarchiv Kassel,Stadtmuseum Kassel, S. v. Borstel,

D. Krause-Vilmar, S. Link, D. Schwerdtle© Kassel 2008

Stadtarchiv Kassel

Wildemannsgasse 1, 34117 Kassel Tel.: 0561. 787 40 50 Fax: 0561.787 40 [email protected]

Stadtmuseum Kassel

Ständeplatz 16, 34117 KasselTel.: 0561. 787 14 00 Fax: 0561. 787- 41 [email protected]

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Univ. Kassel, FB 5, Nora-Platiel-Str. 1Tel.: 0561. 804 28 27 / 28 32 Fax: 0561. 804. 31 [email protected] www.uni-kassel.de/fb1/infonsnh

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Brückenstraße 12, 34302 Guxhagen,Tel.: 05665. 35 33 Fax: 05665. 17 [email protected] www.gedenkstaette-breitenau.de

Volksgemeinschaft und Volksfeinde. Kassel 1933-1945 Eine Dokumentation. Herausgegeben von Jörg Kammler undDietfrid Krause-Vilmar. Fuldabrück 1984.

Volksgemeinschaft und Volksfeinde. Kassel 1933-1945 Band 2: Studien. Herausgegeben von Wilhelm Frenz,Jörg Kammler und Dietfrid Krause-Vilmar. Fuldabrück 1987.

Mahnmale sind zeitlich gebunden und nicht seltender Absicht einer kritischen Vergegenwärtigung ver-gangener Ereignisse entsprungen. Sie sind Denk-anstöße, Orte des Innehaltens, des Nachdenkens,des Gesprächs.

Die Orte der Mahnung und Erinnerung an die Zeitnationalsozialistischer Barbarei, von denen es seitdem Untergang des Hitler-Staates in Kassel einigegibt, sind aus sich selbst heraus verständlich. Gleich-wohl sind einige wenige Informationen vielleicht hilf-reich. Dies möchte der vorliegende Wegweiser leisten.

Die Stadt Kassel selbst hat früh Forschungen der Uni-versität zur Geschichte der Stadt in der NS-Zeit ange-stoßen und gefördert. In Ausführung des Beschlussesder Stadtverordnetenversammlung von 1984, dieErinnerung an die Zeit des Nationalsozialismus inKassel wach zu halten, wurden elf historische Stättenausgewählt und an diesen Orten in den folgendenJahren Gedenktafeln angebracht. Damit wurde eineneue Dimension des Gedenkens eröffnet: Die ausge-wählten Häuser, Baracken oder staatlichen Einrich-tungen führen zu den Orten der Schande und desVerbrechens in der Stadt selbst. Durch Einbeziehungneuerer Forschungsergebnisse kommen in diesemHeft an einigen Stellen auch Menschen, die an diesenOrten gelitten haben, zu Wort.

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Orteder Erinnerungund MahnungKassel 1933 -1945

Ein Wegweiser

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