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Persönliche Öffentlichkeiten und Privatsphäre im Web 2.0 Dr. Jan-Hinrik Schmidt Wissenschaftlicher Referent für digitale interaktive Medien und politische Kommunikation Passau,19./20.11.2010

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Vortrag bei der Interdisziplinären Tagung "Privatheit", 19./20.11.2010, Passau

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Persönliche Öffentlichkeiten und Privatsphäre im Web 2.0

Dr. Jan-Hinrik Schmidt

Wissenschaftlicher Referent für digitale interaktive Medien und politische Kommunikation

Passau,19./20.11.2010

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Worüber spreche ich?

These: Die verschwimmenden Grenzen zwischen Privatsphäre und Öffentlichkeit im Internet lassen sich auf eine spezifische Kommunikationsarchitektur – die „persönlichen Öffentlichkeiten“ - zurückführen.

Agenda:

• Ursprung: Nutzungspraktiken im Web 2.0

• Folge: Entstehen und Struktur persönlicher Öffentlichkeiten

• Leitbild: Informationelle Selbstbestimmung im Web 2.0

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Web 2.0 unter jungen Nutzern populär

0

10

20

30

40

50

60

70

80

90

100

Twitter (3%) Weblogs (7%) PrivateNetzwerkplattformen

(39%)

Videoportale (58%) Wikipedia (73%)

14-19 20-29 30-39

40-49 50-59 60+

Nutzung ausgewählter Web 2.0-Anwendungen nach Altersgruppen (zumindest selten; in %)

Quelle: ARD/ZDF Onlinestudie 2010

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• Die Bezeichnung „Web 2.0“ spielt darauf an, dass das Internet inzwischen in eine neue Phase eingetreten sei – es also eine „neue Version“des World Wide Webs gebe, die anders, besser, revolutionärer sei als das alte Internet, z.B. durch…

– Wikipedia– Youtube– Facebook– Twitter– … und viele viele andere Dienste & Plattformen

• Die Bezeichnung ist problematisch, weil es solche „Updates“ im Internet nicht wirklich gibt, und weil in der ganzen Euphorie um das Web 2.0 oft vergessen wird, dass viele Menschen das Internet nach wie vor „traditionell“ (oder gar nicht) nutzen

• Dennoch: Das gegenwärtige Internet erleichtert bestimmte Nutzungsweisen und erzeugt so ganz bestimmte soziale Folgen, verändert also unser individuelles und gesellschaftliches Leben – es ist zum „social web“ geworden

Was ist das Web 2.0?

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Was geschieht im Social Web? Diagnosen.

Commons-Based Peer Production(Yochai Benkler)

Convergence/ Participatory Culture

(Henry Jenkins)

Emergenz digitaler Öffentlichkeiten (Stefan Münker)

Heranwachsen mit dem Social WebDas neue Netz

Politik in Echtzeit (Christoph Bieber)

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Was geschieht im Web 2.0?

Das Web 2.0 senkt die Hürden für onlinebasiertes…

www.flickr.com/photos/44029537@N00/12760664/

– Identitätsmanagement (Darstellung individueller Interessen, Erlebnisse, Meinungen, Kompetenzen, etc.) z.B. Weblogs, YouTube

http://flickr.com/photos/mylesdgrant/495698908/

– Beziehungsmanagement (Pflege von bestehenden und Knüpfen von neuen Beziehungen)

z.B. Facebook, studiVZ, XING, Wer-kennt-Wen

http://www.flickr.com/photos/axels_bilder/1267008046/

– Informationsmanagement (Selektion und Weiterverbreitung von relevanten Daten, Informationen, Wissen- und Kulturgütern)

z.B. Wikipedia, Twitter

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Die soziologische Perspektive

• Identitäts- und Beziehungsmanagement sind Anforderungen und Aufgaben, die in breiterem gesellschaftlichem Kontext stehen

• Individualität – die eigene unverwechselbare Identität zu entwickeln und darzustellen – ist gesellschaftliches Leitbild und normative Anforderung an den Einzelnen

• Identität ist aber nicht von der Einbettung in soziale Gebilde zu trennen und entsteht nur im Wechselspiel von individuell-persönlichen Merkmalen und sozialen Zugehörigkeiten

• Formen der sozialen Organisation haben sich geändert – zeitlich stabile, traditionell begründete und örtlich gebundene Gruppen verlieren gegenüber flexiblen, interessengeleiteten und ortsübergreifenden Bindungen relativ an Gewicht

• Teilhabe an Gesellschaft, die von „vernetzter Individualität“ gekennzeichnet ist, setzt daher auch die aktive Pflege und das Knüpfen von sozialen Beziehungen voraus; „Networking“ ist nicht nur im beruflichen Kontext eine Schlüsselqualifikation, sondern muss auch im alltäglichen Leben beherrscht werden

www.flickr.com/photos/44029537@N00/12760664/

http://flickr.com/photos/mylesdgrant/495698908/

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Internet – eine eigene Welt?

http://themiddleeastinterest.files.wordpress.com/2007/12/matrix.jpg

• Verbreitete Annahme: Das Internet sei ein „Cyberspace“, in dem Menschen ihren Körper hinter sich lassen und neue Identitäten schaffen

Aber: Wie wird Identität im Internet tatsächlich abgebildet?

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Identitäten im Internet

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Artikulierte soziale Netzwerke

• 12-24jährige Nutzer von Netzwerkplattformen hatten 2008…• … im Durchschnitt: 130 Freunde

• … davon bereits persönlich getroffen

die meisten: 85 Prozent

weniger als die Hälfte: 5 Prozent

• … als enge Freunde angesehen

die meisten: 15 Prozent

weniger als die Hälfte: 62 Prozent

Das Internet dient als Werkzeug, um Kontakte aufrechtzuerhalten, die bereits auf anderem Weg bestanden

Quelle: Schmidt/Paus-Hasebrink/Hasebrink 2009

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Authentizität und Selbstdarstellung

59,6

48,2

3

70,164,2

3,5

64,8

56

3,20

10

20

30

40

50

60

70

80

Es ist mir wichtig, mich im Internet sozu zeigen, wie ich wirklich bin.

Bestimmte Informationen über michsind nur für meine Freunde bzw.

Kontakte zugänglich.

Ich habe auch Profile, in denen ichmich ganz anders darstelle, als ich

wirklich bin.

Männlich Weiblich Gesamt

Aussagen zur Selbstpräsentation im Internet (2008; 12-24jährige; Zustimmung in %)

Quelle: Schmidt/Paus-Hasebrink/Hasebrink 2009;„Stimme voll und ganz zu“ und „Stimme eher zu“ auf vierstufiger Skala.

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Entstehen persönlicher Öffentlichkeiten

• Social Web unterstützt das Entstehen persönlicher Öffentlichkeiten, in denen Nutzer

• (a) Informationen nach Kriterien der persönlichen Relevanz auswählen,[anstatt nach journalistischen Nachrichtenfaktoren]

• (b) sich an ein (intendiertes) Publikum richten, das aus sozialen Kontakten besteht,[anstatt des verstreuten, unbekannten, unverbundenen Publikums der Massenmedien]

• (c) und sich im Kommunikationsmodus des „Konversation betreibens“ befinden.

[anstatt im Modus des „Publizierens“]

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Entstehen persönlicher Öffentlichkeiten

• Vor allem in diesen persönlichen Öffentlichkeiten des Social Web verschwimmt die Trennung zwischen „Sender“- und „Empfänger“-Rollen der Massenkommunikation

• Twitter, Facebook u.ä. Angebote haben Konzept des „streams“ popularisiert – der konstante Informationsfluss, der an die Seite bzw. Stelle von statischem Text tritt

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Architektur netzbasierter Öffentlichkeiten

• Die Architektur von netzbasierten Öffentlichkeiten unterscheidet sich von der Öffentlichkeit der Schulhöfe, Stammtische oder Fernseh-Talkshows; sie sind…

– Dauerhaft: Fotos, Kommentare oder Meinungen sind auch Tage, Wochen oder Jahre später noch abrufbar

– Kopierbar: Texte, Bilder, Videos etc. können ohne Qualitätsverlust (und damit möglicherweise unbemerkt) kopiert und an anderer Stelle eingefügt werden

– Skalierbar: Ein Video, Foto, Text kann zehn, hundert oder fünf Millionen Menschen erreichen

– Durchsuch/Aggregierbar: Informationen über eine Person oder ein Thema können von ganz unterschiedlichen Stellen im Netz zusammen getragen werden

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Architektur netzbasierter Öffentlichkeiten

• Diese Merkmale onlinebasierter Kommunikationsräume berühren auch die Balance von Selbstoffenbarung und Privatsphärenschutz - über das Konzept von „Publikum“

a) Intendiertes Publikum: Welches Publikum habe ich ganz allgemein im Sinn, wenn ich einen bestimmten Social Web-Dienst nutze?b) Adressiertes Publikum: Welchem Publikum mache ich in einer spezifischen Situation bestimmte Äußerungen/Informationen tatsächlich zugänglich?

c) Empirisches Publikum: Welches Publikum nimmt faktisch tatsächlich Kenntnis von einer Äußerung bzw. Information? d) Potentielles Publikum: Wie ist die „technische Erreichbarkeit” – welches Publikum hat technisch die Möglichkeit, irgendwann irgendwie Zugang zu haben?

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Informationelle Selbstbestimmung im Web 2.0

• Die vernetzen Öffentlichkeiten des Web 2.0 erfordern eine Rückbesinnung auf das Prinzip der „informationellen Selbstbestimmung“, die drei Facetten hat

1. Sie ist ein normatives Konzept, da sie Bestandteil der verfassungsmäßigen Ordnung (und in Datenschutzregelungen etc. näher spezifiziert) ist; sie umfasst die Kontrolle einer Person (a) über die von ihr selbst mitgeteilten Daten, (b) über die sie betreffenden Daten, die andere Nutzer preisgeben sowie (c) über die Daten, die Betreiber, aber auch staatliche Stellen sammeln.

2. Sie ist ausgeübte Praxis, da Nutzer sie (mehr oder weniger kompetent, reflektiert, evtl. auch scheiternd) ausüben, wenn sie sich in den vernetzten persönlichen Öffentlichkeiten des Social Web bewegen.

3. Sie ist notwendige Kompetenz, weil das eigenständige Wahrnehmen des „Rechts auf Privatheit”, die informierte Einwilligung in Datenverarbeitung oder auch die informationelle Autonomie bestimmte Wissensformen und Fertigkeiten voraussetzt.

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Umgang mit Privatsphäre anderer Personen (Auszug aus Gruppendiskussion mit 18-24jährigen)

Int: Und kennst du jemanden, der auch schon ein bisschen Ärger mit peinlichen Fotos... oder gab's da mal Probleme?

F_1: Also bei uns ist das eigentlich so, bei meinen ganzen Bekannten, wir fragen vorher, ob wir das Foto reinstellen können, oder solche Sachen. Weil ich weiß nicht, nachher fotografieren die mich, wenn ich da halbwegs irgendwie besoffen (..) in den Hafen reinfall' oder so was. Das will ich ja auch nicht, dass das im Internet ist und daher wird eigentlich bei uns immer vorher gefragt.

Umgang mit Privatsphäre (1): Soziale Normen

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Umgang mit Privatsphäre (2): Publika

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Umgang mit Privatsphäre (3): Publika

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Umgang mit Privatsphäre (4): Technische Optionen

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Das Ende der Privatsphäre?

http://www.colinupton.com/illus/images/cyberillo1.jpg

http://www.flickr.com/photos/mrlerone/2360572263/

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Fazit

Das gegenwärtige Internet verändert das Umfeld, in dem Menschen Identitäts-, Beziehungs- und Informationsmanagement betreiben

Es lässt einen neuen Typ von Öffentlichkeit entstehen: Persönliche Öffentlichkeiten bestehen aus Informationen von persönlicher Relevanz, die an vergleichsweise kleine Publika gerichtet sind; es geht eher um Konversation als um Publizieren

Durch diese Entwicklung verschieben sich Grenzen zwischen Privatsphäre und Öffentlichkeit, was neue Mechanismen und Strategien der Grenzziehung erforderlich macht, die sich am Leitbild der informationellen Selbstbestimmung messen lassen

Weiterführende Frage: Wer kontrolliert und gestaltet die Architektur und Normen dieser neuen Kommunikationsräume? Wer hat Einfluss auf die Gestaltung von Algorithmen & Code? Wie begegnen wir neuen Formen der Medienkonzentration und Medienmacht? Wie lassen sich Datenschutz und informationelle Selbstbestimmung mit staatlichen

Überwachungswünschen und kommerzieller Verwertung vereinbaren?

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Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!

Dr. Jan-Hinrik Schmidt

Hans-Bredow-Institut

Warburgstr. 8-10, 20354 Hamburg

[email protected]

www.hans-bredow-institut.de

www.schmidtmitdete.de

www.dasneuenetz.de

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Weiterführende Literatur

– ARD-ZDF-Onlinestudie 2010:– Van Eimeren, Birgit/Beate Frees (2010): Fast 50 Millionen Deutsche online – Multimedia

für alle? Ergebnisse der ARD/ZDF-Onlinestudie 2010. In: Media Perspektiven, Nr. 7-8, 2010, S. 334-349.

– Busemann, Katrin & Gscheidle, Christoph (2010). Web 2.0: Nutzung steigt – Interesse an aktiver Teilnahme sinkt. Media Perspektiven, 7-8/2010, 359-368.

– Benkler, Yochai (2006): The Wealth of Networks. How social production transforms markets and freedom. New Haven/London.

– Boyd, Danah/ Nicole Ellison (2007). Social network sites: Definition, history, and scholarship. Journal of Computer-Mediated Communication, 13(1), article 11.http://jcmc.indiana.edu/vol13/issue1/boyd.ellison.html

– Bruns, Axel (2008): Blogs, Wikipedia, Second Life, and beyond. From production to produsage. New York.

– Jenkins, Henry (2006): Convergence Culture. Where old and new media collide. New York.– Neuberger, Christoph/Christian Nuernbergk/Melanie Rischke (Hg.) (2009): Journalismus im

Internet. Profession – Partizipation – Technisierung. Wiesbaden. – Schmidt, Jan (2009): Das neue Netz. Merkmale, Praktiken und Konsequenzen des Web 2.0.

Konstanz.– Schmidt, Jan/Ingrid Paus-Hasebrink/Uwe Hasebrink (Hrsg.) (2009): Heranwachsen mit dem

Social Web. Berlin.