PATHOS - Göteborgs universitet · 2019. 2. 26. · erster Linie auf den Charakter des Redners, in...
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INSTITUTIONEN FÖR SPRÅK OCH LITTERATURER
PATHOS
Eine textlinguistische Analyse zweier Reden von Angela Merkel
Isabelle Belas
Uppsats/Examensarbete: 15 hp
Program och/eller kurs: TY1310
Nivå: Grundnivå
Termin/år: Ht 2016
Handledare: Christiane Andersen
Examinator: Michelle Waldispühl
Rapport nr: xx (ifylles ej av studenten/studenterna)
Nyckelord: Angela Merkel, Pathos, Rede, Videos, Transkripte, Flüchtlingspolitik
Zusammenfassung
Heutzutage wird die Flüchtlingspolitik in den öffentlichen Medien lebhaft diskutiert. In
diesem Aufsatz wird Folgendes untersucht: Wie kommt Pathos in den Reden von Merkel
sprachlich zum Ausdruck? Im Vordergrund steht der rhetorische Ansatz von Aristoteles
nach Pathos in der Sprache von Merkel. Im Theoriekapitel wird vorgestellt, wie Pathos
in der Rede auftreten kann. Der politolinguistische Ansatz ist gewählt, weil er aus der
linguistischen Perspektive zeigt, wie Sprachgebrauch in den Medien vorkommt. Da das
Untersuchungskorpus zwei Videos umfasst, ist der kommunikationsorientierte
textlinguistische Ansatz hervorgehoben. Er besagt, dass mündliche monologische
Äußerungen als Text bezeichnet werden können. In den Videos, welche in dieser Arbeit
transkribiert und analysiert werden, behandelt Merkel das Thema Flüchtlingspolitik. Die
Ergebnisse zeigen: In der ersten Rede verwendet Merkel Wörter und Sätze, die eine Nähe
zum Publikum erzeugen und gleichzeitig eine Handlung bewirken. In der zweiten Rede
wird das pathetische Sprechen hingegen nicht bestätigt, weil ihre Wörter und Sätze hier
sehr individuell interpretiert werden können.
Summary
Nowadays the refugee policy is lively discussed in the public media. This essay examines
the following: How does pathos appear in the speeches of Merkel? In the foreground is
the rhetorical approach of Aristotle to pathos in the language of Merkel. In the theory
chapter it is presented how pathos can occur in the speech. The politolinguistic approach
is chosen because, from the linguistic perspective, it shows how language usage occurs
in the media. Since the investigation data are two videos, is further the
communicationoriented textlinguistic approach emphasized. It says that monologue
utterances can be defined as text. In the videos, which are transcribed and analysed in this
work, Merkel deals with the subject refugee policy. The results show: Merkel uses words
and sentences that create closeness to the audience and create at the same time an effect
of action. In the second speech, on the other hand, the pathetic language is not confirmed
because she uses words and sentences here that can be interpreted very individually.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung ................................................................................................... 1
1.1 Problem und Fragestellung .......................................................................... 1
1.2 Der rhetorische Ansatz ................................................................................ 2
1.2.1 Pathos in der Rede ....................................................................................... 4
1.3 Verschiedene Ansätze der linguistischen Textanalyse ................................ 5
1.3.1 Die kommunikationsorientierte Textlinguistik ............................................ 6
1.3.2 Die Politolinguistik ...................................................................................... 7
2 Methode und Material .............................................................................. 9
3 Textlinguistisch-rhetorische Analyse anhand der transkribierten
Texte .......................................................................................................... 11
3.1 Transkript 1: Rede vor dem Bundestag ..................................................... 12
3.1.1 Zusammenfassung ..................................................................................... 14
3.2 Transkript 2: Antwort in einer Fragerunde ................................................ 15
3.2.1 Bestätigung ................................................................................................ 15
3.2.2 Erklärung ................................................................................................... 16
3.2.3 Richtungsentscheidung .............................................................................. 17
3.2.4 Zusammenfassung ..................................................................................... 19
4 Zusammenfassung der Ergebnisse und Ausblick ................................. 21
5 Literaturverzeichnis ................................................................................ 23
6 Anhang…...………………………………………………………..…….25
Transkript1: Rede vor dem Bundestag…………………………………...25
Transkript 2: Antwort in einer Fragerunde……………………………....28
1
1 Einleitung
Angela Merkel ist eine deutsche Politikerin, die die meisten Menschen durch öffentliche
Medien kennen. Ihre politische Karriere begann im Jahre 1990 und seit 2005 ist sie die
Bundeskanzlerin von Deutschland. Derzeit ist Merkel als Bundeskanzlerin wegen ihrer
Flüchtlingspolitik in den deutschen Medien umstritten. Brinkbäumer (2016: 6) schreibt
im Leitartikel in der Zeitschrift Der Spiegel:
Seltsame Zeiten sind dies, in denen Wahrheiten weniger Einfluss auf die
politische Wirklichkeit haben als Stimmungen und Gefühle. Zahlen zählen kaum
mehr, jedenfalls nicht so viel wie Ängste und Hass, wie Gerüchte und
Verschwörungsgemurmel. (Brinkbäumer 2016: 6)
Brinkbäumer (2016: 6) erklärt, dass Merkel früher kaum Interesse an Migrationsfragen
hatte, bis sie im Sommer 2015 auf einmal entschieden hat, ihren Gefühlen zu folgen. Laut
Brinkbäumer (2016: 6) hat sie das Land in Unsicherheit versetzt, indem sie eine
entgegengesetzte Richtung in der Flüchtlingspolitik zeigte. Früher seien das
Aufenthaltsrecht verschärft und die Grenzen im Land unter Kontrolle gewesen.
Heutzutage sei dies nicht mehr der Fall. Merkel habe die Kontrolle verloren. Die Angst
vor Fremden lasse sich aufs Neue schüren.
Maria Becker hat in ihrer linguistischen Forschungsarbeit die Konzeptualisierung von
Angst in der medialen Debatte über Flüchtlinge in Deutschland in den Jahren 2013 und
2014 untersucht. Sie zeigt Belege, dass in erster Linie die Politik und die Medien eine
Erzeugung und Steigerung von Angst verursachen. Becker kommt zu dem Ergebnis, dass
die Verwendung verschiedener sprachlicher Mittel die Wirklichkeit abbildet. Die
Flüchtlingsdebatte habe die Sprache deutlich geprägt und wirke in der Gesellschaft
handlungsleitend (vgl. Becker 2016: 1-11).
Es lässt sich feststellen, dass die Sprache ein Faktor der Machtausübung ist, welcher
Einwirkungen auf den Alltag des Menschen hat. Hinsichtlich der Person Merkels wäre es
daher interessant zu erforschen, wie sie ihre Argumente hervorbringt?
1.1 Problem und Fragestellung
Eine wissenschaftliche Herangehensweise ist die Rhetorik. Rhetorik erklärt die Kunst,
andere Menschen zu beeinflussen (vgl. Ueding 2005: 698). Noch heute unterscheidet man
2
in der Redekunst von Aristoteles die drei Mittel der Überzeugung: Vernunft (Logos),
Gefühl (Pathos) und Vertrauen (Ethos). Der rhetorische Ansatz von Aristoteles wird
übernommen. Im Vordergrund steht die Frage nach Pathos in der Sprache von Merkel. In
diesem Aufsatz wird Folgendes untersucht: Wie kommt Pathos in den Reden von Merkel
sprachlich zum Ausdruck?
In dieser Arbeit werden zwei Videos analysiert, in denen Angela Merkel das Thema der
Flüchtlingspolitik behandelt. Die Videos sind mir besonders aufgefallen, weil sie in den
Medien gezeigt wurden und die Äußerungen von Merkel Aufmerksamkeit verursachten.
In beiden Videos verwendet Merkel eine Sprache, die die Menschen berührt. Sie ist eine
Politikerin und muss mit ihrer Sprache einen Einfluss auf die Menschen haben. Eines der
Videos zeigt eine offene Fragerunde in Bern in der Schweiz aus dem Jahre 2015 und das
andere Video zeigt eine Rede vor dem Bundestag in Berlin im Jahre 2002.
Als erwartetes Ergebnis könnte sich eine sprachliche Veränderung bezüglich Pathos in
Merkels öffentlicher Rede heute (Videoaufnahme von 2015) im Vergleich zu früherer
Rede (Videoaufnahme von 2002) ergeben.
Der Aufsatz beginnt mit der Darstellung, wie die Rhetorik die Geschichte der jeweiligen
Zeit beeinflusst hat und noch heute für Reden bedeutsam ist. Es wird gezeigt, welche
Merkmale das pathetische Sprechen haben kann. Die Politolinguistik zeigt, aus der
linguistischen Perspektive, wie der Sprachgebrauch in den Medien vorkommt. Dazu wird
gezeigt, dass mündliche Äußerungen als Text definiert werden können. Nach dem
theoretischen Teil werden die Methode und das Material präsentiert. Danach folgen die
Analyse und die Ergebnisse dieser Arbeit.
1.2 Der rhetorische Ansatz
Laut Schlüter (1988: 15-21) spiegelt die Geschichte der Rhetorik die Gesellschaften der
jeweiligen Zeit wider. Er sagt, dass die Rhetorik sich als eine Macht erweist, mit der wir
rechnen müssen. Schlüter (1988: 17) erklärt die Geschichte, ob Republik oder Diktatur,
durch die Rhetorik, die die öffentliche Mitteilung lenkt. Ihre Blütezeit war in der Zeit der
griechischen und römischen Antike. Die Meinungsäußerungen in der Republik sind frei
und dies begünstigt das Amt des Redners. Das Auftreten des Redners sei für das Publikum
ein Theater. In Zeiten der Diktatur sei die Aufgabe der Rhetorik „das Regime in ritueller
Weise zu verherrlichen, seine Gegner verächtlich zu machen, gewisse staatserhaltende
3
Werte einzuhämmern“ (Schlüter 1988: 17). Mit Luthers Reformation bekomme die
Redekunst eine neue rhetorische Wirkung, besonders als eine Glaubenspropaganda.
Schriftsteller sind durch die antike Rhetorik stark beeinflusst worden. Mit der
französischen Revolution habe man einen revolutionären Stil entworfen, eine Rhetorik,
die die Massen in Bewegung setzte. Nach dem Ersten Weltkrieg erhielte die Rhetorik in
Deutschland den Einzug in den Reichstag durch die Sozialisten. Mit Hitler kam ein
Redestil mit hohem Pathos, das die Volksmassen in einen Rausch versetzte. „Hitlers
Genie lag in seinem Spürsinn für die triebhaften Bedürfnisse der Menschen“ (Schlüter
1988: 21). Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es eine Reaktion auf dieses Pathos und die
heroischen Schlagwörter. Der neue Stil der Sprache beschäftigte sich mit Klassenkampf,
der Umgangssprache und Modetendenzen (vgl. Schlüter 1988: 15-21). Wir können
annehmen, „dass wir wieder in einer ausgesprochen rhetorischen Welt leben. Offenbar
kommen wir ohne Rhetorik gar nicht aus“ (Schlüter 1988: 21).
Da der rhetorische Ansatz aus der klassischen Rhetorik und die aristotelischen
Überzeugungsmittel übergenommen wird, müssen diese Begriffe erklärt werden. Laut
Aristoteles gibt es drei Arten der Überzeugung: Logos, Pathos und Ethos.
Logos ist:
[D]er Sach- oder Wirklichkeitsbezug [, dabei] wird auch die Frage nach der
Wirklichkeitsentsprechung und damit das Wahrheitsproblem in besonderer
Weise aufgeworfen. (Ueding 2001: 624)
Ein sprachliches Beispiel aus meinen Transkripten1 ist: den islamistischen Terror haben
wir nicht nur in Europa, sondern auch in Syrien und in Libyen.
Pathos ist eine:
Gefühlsbewegung [und ein] zwar akuter und temporärer, aber heftiger,
spannungsreicher Gefühlsablauf, der durch ein Zusammenspiel von äußeren
Ursachen, kognitiven Bewertungen und seelischen Disposition veranlaßt ist [.
A]m Ende [mündet die] Affektentladung […] in Tempo und Intensität vom
individuellen Temperament. (Ueding 2003: 689-690)
Ein sprachliches Beispiel aus meinen Transkripten ist: der Politiker hat einen
aufregenden Satz gesagt, den ich nicht sagen will, weil wir wissen ja wie es ist.
1 Die Beispiele sind aus den Transkripten, die im Anhang aufgeführt sind.
4
Ethos ist der „sittlicher Charakter [und] moralische Gesinnung [. Es] bezieht sich […] in
erster Linie auf den Charakter des Redners, in zweiter Linie auf den seines Gegners“
(Ueding 1994: 1516-1517). Als eigenes sprachliche Beispiel kann der gleiche Satz, wie
in Pathos herangeführt werden: der Politiker hat einen aufregenden Satz gesagt, den ich
nicht sagen will, weil wir wissen ja wie es ist. Die Äußerung zeigt auch den Charakter des
Redners.
1.2.1 Pathos in der Rede
Laut Sandig (2006: 290-298) gibt es in der sprachlichen Form verschiedene Stilebenen.
Mit Stilebenen „sind Ressourcen zum Ausdruck von globalen Einstellungen“ gemeint
(Sandig 2006: 290). Die Sprachverwendungen können folgendermaßen eingeteilt werden
in: „vulgär - umgangssprachlich - einfach-literarisch - gehoben - poetisch“ (Sandig 2006:
291). Eine besondere Form in der politischen Sprache sind die emotionalen Ausdrücke.
Laut Sandig (2006: 295) sind sie mehr oder weniger von dem antiken Pathos abgeleitet.
Die pathoserregenden Themen seien die Existenz des Kollektivs und Werte wie Wahrheit,
Freiheit, Solidarität, Vaterland, Zukunft und Existenz. Eine Tradition aus der Antike ist
auch, dass die besondere Situation feierlich markiert wird. Sandig bezeichnet dies als ein
„hohes“ Thema in einem „hohen“ Stil (Sandig 2006: 295). Sie definiert Pathos nach Kern
als:
Eine Haltung, in der man Sachverhalten Bedeutsamkeit zuweist, auf dass man
sich mit ihnen identifizieren kann und mittels dieser Identifikation ein
Kommunikationsangebot macht, mit anderen eine auf Einverständnis
beruhende, wertorientierte Erlebnis- oder gar Handlungsgemeinschaft zu bilden.
(Sandig 2006: 295)
Sandig (2006: 296) beschreibt „pathetisches Sprechen/Schreiben“ mit folgenden
Merkmalen und Beispielen. Bei einigen Merkmalen hat Sandig keine Beispiele genannt.
Nach der folgenden Darstellung von Sandig werden noch eigene Beispiele ergänzt:
a) Themenwahl: Es sind Themen, die […] an „Schlüsselwörtern“ [festzumachen
sind] wie Nation, Schicksal […]
b) Themenverknüpfung […] durch Parallelismus.
5
c) Sprechakte: BEKENNEN, PROPHEZEIEN, BESCHWÖREN, pathetisch
BEWERTEN: tragisch, schicksalhaft…
d) Satzsemantik: Personifizierungen […]: Dornenweg der Selbstbefreiung…
d) Lexik: Pathetische Bildlichkeit und Metaphorik: z.B. […] dass er, ,das Spiel
lesen kann´ […]
e) „Ausführung“ […] stimmlich: Lautstärke und Intonation […]
f) Sprecher – Schreiber – Rollen wie die von Festrednern, Laudatoren und
Repräsentanten sowie „markierte Situationen“ wie „hohe Tage“ […] verlangen
ein gewisses Maß an Pathos. (Sandig 2006:296)
Ein eigenes sprachliches Beispiel aus meinen Transkripten zur Themenverknüpfung
durch Parallelismus ist, wenn ein Zustand mit einer anderen Situation verglichen werden
kann: den islamistischen Terror haben wir nicht nur in Europa, sondern auch in Syrien
und in Libyen.
Ein eigenes sprachliches Beispiel zu einer „markierten Situation“ wie „hoher Tag“ ist2:
meine Damen und Herren, heute ist kein gewöhnlicher Tag, es ist der Neujahrstag, den
wir jetzt feiern werden.
Die Erklärung zu der Lautstärke und der Intonation muss weiter begründet werden. Das
Pathos müsse sich nicht nur in starker Lautstärke und Intonation zeigen. Es könne auch
in leiser Lautstärke und Intonation erscheinen (vgl. Sandig 2006: 290-298).
1.3 Verschiedene Ansätze der linguistischen Textanalyse
Die linguistische Textanalyse wird anhand von zwei verschiedenen Ansätzen betrachtet.
Der kommunikationsorientierte textlinguistische Ansatz besagt, dass mündliche
monologische Äußerungen als Text bezeichnet werden können. Hier hebt man den Text
als sprachliche Handlung hervor. Der zweite Ansatz wird aus der politolinguistischen
Perspektive vorgestellt. Sie beschäftigt sich nicht mit Politik, sondern „in erster Linie mit
Sprache, ihrem Gebrauch und ihren Funktionen“ (Niehr 2014: 11-12). Die
Politolinguistik zeigt aus der linguistischen Perspektive, wie Sprachgebrauch in den
Medien vorkommt (vgl. Niehr 2014: 12).
2 Dieses Beispiel ist nicht aus den Transkripten entnommen, die im Anhang aufgeführt sind, sondern ein selbst konstruiertes.
6
1.3.1 Die kommunikationsorientierte Textlinguistik
In der Textlinguistik gibt es zwei relevante Forschungsrichtungen, den
sprachsystematischen und den kommunikationsorientierten Ansatz. Laut Brinker (2010:
16) sind sie komplementär und beziehen sich eng aufeinander. Den
kommunikationsorientierten Ansatz wird kurz in groben Zügen präsentiert. In der
kommunikationsorientierten Textlinguistik hebt man den Text als sprachliche Handlung
hervor. Diese Perspektive fragt nach dem Zweck in den verschiedenen
Kommunikationssituationen. Es handelt sich um die Fähigkeit des Sprechers, mit Hilfe
sprachlicher Äußerungen, dem Rezipienten einen bestimmten kommunikativen Sinn zu
vermitteln (vgl. Brinker 2010: 15). Laut Brinker (2010: 19-20) bezeichnet der Begriff
„Text“ insbesondere in monologischen Texten nicht nur die schriftliche Gestalt, sondern
auch mündliche Äußerungen:
Ein „Text“ ist demzufolge als eine sprachliche und zugleich kommunikative
Einheit zu betrachten, d.h. als eine begrenzte, grammatisch und thematisch
zusammenhängende (kohärente) Folge von sprachlichen Zeichen, die als solche
eine erkennbare kommunikative Funktion (Textfunktion) realisiert. Wichtigste
Struktureinheit des Textes ist der Satz. (Brinker 2010:19-20)
Laut Brinker (2010: 127) kann man eine Kommunikationssituation in verschiedene
Formen einteilen. Brinker erklärt, dass es fünf verschiedene Kommunikationsformen
gibt, die abhängig von den Medien sind: direktes Gespräch (kann auch als Konversation
verstanden werden), Telefongespräch, Rundfunksendung, Fernsehsendung, Brief/Mail
und Zeitungsartikel/Buch. Die besonderen Merkmale für eine Fernsehsendung seien eine
monologische Kommunikation, zeitlich unmittelbar oder getrennt, räumlich getrennt und
gesprochen. Neben diesen Kommunikationsformen gibt es verschiedene
Handlungsgebiete. Einige solche seien das Recht und die Politik. Sie gehören bestimmten
gesellschaftlichen Bereichen an. Sie bestimmen die Art des Rollenverhältnisses zwischen
den Kommunikationspartnern. Brinker (2010: 123-130) macht eine Unterscheidung
zwischen privatem, offiziellem und öffentlichem Handlungsbereich. Diese Einteilung sei
wichtig, weil es in jeder Kategorie spezifische sprachliche und kommunikative Muster
gebe.
7
1.3.2 Die Politolinguistik
Niehr (2014: 63-74) beschreibt verschiedene Methoden und Analyseobjekte der
Politolinguistik. Er sagt, dass die Analyse politischer Sprache als
Sprachhandlungsanalyse aufzufassen sei:
Pragmatische Sprachanalysen verstehen menschliche Kommunikation als
Handeln, das in jeweils speziellen Kontexten mit speziellen Absichten geschieht.
Eine sprachliche Äußerung kann demnach nie isoliert von der
Äußerungssituation vollständig verstanden werden. (Niehr 2014: 64)
Er erklärt, dass es weder eine politische Lexik noch eine politische Fachsprache gibt. Laut
Niehr (2014: 64) ist sich die Forschung einig, dass der politische Wortschatz nicht
fachsprachlich ist. Aber trotzdem sei man zu gewissen Schlussfolgerungen gekommen.
Er präsentiert verschiedene Analysen auf der Wortebene, z.B. wie man den Wortschatz
politisch verstehen kann. Niehr (2014: 65) verwendet eine Darstellung von Dieckmann,
der vier verschiedene Vokabularbereiche unterscheidet. Er gibt dazu auch Beispiele:
1. Institutionsvokabular ist die neutrale Benennung von Sachverhalten, Prozessen und
Personen: parlamentarische Demokratie, Misstrauensvotum, Staatssekretär.
2. Ressortvokabular ist das Expertenvokabular: Abwrackprämie, Giftmüll, Hartz IV.
3. Ideologievokabular ist die ideologische Darstellung von Sach- bzw.
Problemverhalten: Frieden, Demokratie, Terrorist/Freiheitskämpfer.
4. Allgemeines Interaktionsvokabular ist der Rest, der nicht zugeordnet werden kann:
Affäre, Beschluss, Talsohle (vgl. Niehr 2014: 65-66).
Niehr (2014: 67) erwähnt noch die Wortebene, in der er über Bedeutungskomponenten
spricht. Es handele sich um eine Bewertung der Bezeichnung von Dingen und
Sachverhalten. Er erklärt: „[S]o evozieren bestimmte Ausdrücke spezielle Konnotationen
bei den Rezipienten“ (Niehr 2014: 67). Das bedeutet, dass bestimmte Ausdrücke eine
Handlung bewirken. Ein sprachliches Beispiel aus Merkels Rede, wie bestimmte
Ausdrücke eine Handlung bewirken, ist: am 22. September entscheiden wir uns für den
weiten Weg, meine Damen und Herren.
Des Weiteren sind, nach Niehr, die Schlagwörter wichtig. Sie verstärken das Denken und
die Gefühle des Menschen und steuern sein Verhalten. Ein Schlagwort wird bezeichnet
als:
8
Ein Ausdruck, der zu einer bestimmten Zeit besondere Aktualität gewinnt und
mit dem ein Programm oder eine Zielvorstellung öffentlich propagiert wird. S.
[Schlagwörter] sollen sowohl das Denken wie auch die Gefühle und das
Verhalten von Menschen steuern […]. (Niehr 2014: 70)
Niehr (2014: 69-71) betont, dass ein Schlagwort kein bestimmtes Wort ist, sondern nur
als Schlagwort gebraucht wird. Ein sprachliches Beispiel von Merkel, wie ein Schlagwort
ausgedrückt werden kann, ist: die Menschen wissen, dass es keine Begrenzung von
Zuwanderung gibt. Der Definition nach kann Zuwanderung in dieser Äußerung als ein
Schlagwort verstanden werden. Das Wort ist heute in den Medien sehr aktuell und kommt
oft im Alltag des Menschen vor. Ein Grund weswegen der inhaltliche Begriff des Wortes
Zuwanderung das Denken und die Gefühle des Menschen verstärken kann.
Die „Schlagwörter“ (Niehr 2014: 70) können parallel zu dem Begriff von Sandig (2006:
296) als „Schlüsselwörter“ verstanden werden. Den Begriff verwendet Sandig (2006:
296) für das pathetische Sprechen. Nach ihrer Perspektive sind Schlüsselwörter spezifisch
für jede Themenwahl. Da der sprachliche Verwendungszweck in beiden Videos die
Flüchtlingspolitik ist, werden Schlüsselwörter nach Sandig (2006: 296) und Schlagwörter
nach Niehr (2014: 70) in diesem Aufsatz gleich verstanden. Daher wird im weiteren
Verlauf die einheitliche Bezeichnung als Schlagwörter verwendet.
9
2 Methode und Material
Es werden zwei Videos analysiert, in denen das Thema der Flüchtlingspolitik behandelt
wird. Ein Video zeigt eine Rede vor dem Bundestag in Berlin im Jahre 2002. Das andere
Video zeigt eine offene Fragerunde in Bern in der Schweiz aus dem Jahre 2015. Die
gesprochene Sprache wird nach GAT (das gesprächsanalytische Transkriptionssystem)
transkribiert. Die Version Transkribieren nach GAT 2 (Minimal- und Basistranskript) –
Schritt für Schritt wird verwendet. Auf der Homepage der pädagogischen Hochschule
Freiburg kann man Transkriptionsregeln nach GAT finden und Erklärungen, wie man sie
benutzt. Hier wird erklärt, dass GAT sich in der empirischen Erforschung von
Kommunikation als Standard durchgesetzt hat:
Da die Transkription immer von besonderen Analyseinteressen abhängt, gibt es
im GAT zunächst einen Mindeststandard (Basistranskript) mit notwendigen
Transkriptionszeichen, der dann noch nach speziellen Fragestellungen im
Feintranskript erweitert werden kann (wie beispielsweise für die Prosodie). Das
Transkriptionssystem enthält Notationskonventionen für nonverbale
Kommunikation und Intonation. (Homepage der pädagogischen Hochschule
Freiburg)
Im Benutzerhandbuch gibt es eine bestimmte Abfolge zu beachten. Alle Schritte werden
jedoch nicht befolgt. Der Grund dafür ist, dass nicht alle Schritte im Benutzerhandbuch
dem Zweck der Fragestellungen in diesem Aufsatz dienen. Einige Schritte wie die
Intonation und simultan Gesprochenes werden beispielsweise ausgeschlossen. Im
Vordergrund stehen die Wörter, die Angela Merkel äußert. Folgende Teile im
Benutzerhandbuch werden ausgewählt:
1. Kleinschreibung wird verwendet: die Schriftart „Courier New“, 12 pt und 1,5 zeilig.
2. Unter „Absatz“ wird keine Abstände „vor“ und „nach“ angegeben.
3. Ein Transkriptionskopf wird erstellt.
4. Keine Interpunktionszeichen werden verwendet: z.B. /?/!/;/,/ weil sie in GAT 2
Tonhöhenbewegung und starke Akzente markieren. Silbentrennung wird deaktiviert,
weil der Strich ein Intonationszeichen markiert. Das Komma wird zu einer
Ausnahme gemacht. Das Komma wird verwendet, wenn Pausen und Dehnungen
vorkommen. Es gibt verschiedene Gründe dafür. Es ist leichter für den Leser/die
Leserin einen Text zu lesen und anzunehmen, wann es Pausen gibt. Das gleiche gilt,
10
wenn ein Wort gedehnt ausgesprochen wird. Man kann es hören, als ob eine Pause
vorkommt.
5. Wenn Standardsprache ausgesprochen wird, dann werden die Wörter in
Standardsprache geschrieben. Meiner Meinung nach verwendet Angela Merkel die
Standardsprache. Die Substantive in den Transkripten werden mit kleinen
Anfangsbuchstaben geschriebenen.
6. Abkürzungen werden in Sprechsilben ausgeschrieben: z.B. „SPD“ als es pe de.
7. Zahlwörter werden ausgeschrieben: z.B. „22“ als zweiundzwanzig.
8. Verzögerungssignale (so genannte gefüllte Pausen) werden eingefügt: z.B. hm, ja,
nee.
9. Nonverbale oder paraverbale Handlungen und Ereignisse werden in doppelten
runden Klammern markiert: z.B. wie Husten, Räuspern und Händeklatschen.
10. Unverständliche Stellen werden in einfachen runden Klammern markiert ( ) und mit
einem Leerraum je nach geschätzter Länge versehen.
11. Schwer verständliche Stellen werden in einfachen runden Klammern markiert: z.B.
welche/solche.
12. Eine Kontrolle des Transkripts ist zu empfehlen. Höreindrücke können variieren und
sogar bei ein und demselben Hörer zu unterschiedlichen Zeitpunkten.
Beide Transkripte sind im Anhang zu finden. Im Analyseteil wird jedes Transkript
analysiert und zusammengefasst. Das Zeichen „(Z)“ in runden Klammern steht dort nach
den referierten Äußerungen von Angela Merkel und bezeichnet die Zeilen in den
Transkripten. Sie stehen nach den referierten Äußerungen von Angela Merkel. Das
bezeichnet die Zeilen in den Transkripten. Die Substantive kommen in den
Zusammenfassungen vor, wie in der deutschen Standardsprache mit groß geschriebenen
Anfangsbuchstaben. Die Kommas in den referierten Äußerungen kommen nicht immer
gleich wie in den Transkripten vor, weil sie andere Bedeutungen in den Transkripten
haben.
11
3 Textlinguistisch-rhetorische Analyse anhand der transkribierten
Texte
Laut Brinker (2010: 19) sind mündliche Äußerungen, insbesondere monologische, auch
mit dem Begriff „Text“ verbunden. Der Text werde in diesem Fall als eine sprachliche
und kommunikative Einheit betrachtet (vgl. Brinker 2010: 19). Brinker (2010: 19-20)
definiert den „Text“ als eine begrenzte, grammatisch und thematisch zusammenhängende
Folge von sprachlichen Zeichen. Die zwei Videos von Angela Merkel sind nach Brinker
auch Texte, d.h. es handelt sich hier um zusammenhängende mündliche Äußerungen mit
einer erkennbaren kommunikativen Funktion. Laut Brinker (2010:18) ist die wichtigste
Struktureinheit des Textes der Satz. Da in diesem Aufsatz nicht die Satzeinheit im
Vordergrund steht, wird von der allgemeinen Definition in Duden online ausgegangen.
Der „Satz“ wird hier bezeichnet als eine „im Allgemeinen aus mehreren Wörtern
bestehende, in sich geschlossene, eine Aussage, Frage oder Aufforderung enthaltende
sprachliche Einheit“. Mit „Rede“ wird in dieser Arbeit die „mündliche,
zusammenhängende, meist längere, von einer einzelnen Person vor einem Publikum
vorgetragene Äußerung“ gemeint (Ueding 2005: 698). Ein Videomanuskript handelt von
der Zuwanderung und der Abstimmung über ein neues Zuwanderungsgesetz und das
andere von der Flüchtlingspolitik. Beide Transkripte behandeln das gleiche Thema, es
geht um die Flüchtlingspolitik. Während Transkript 1 eine Rede vor dem Bundestag ist,
wird im Transkript 2 eine Antwort auf eine Frage aus dem Publikum vorgestellt. Der
Unterschied liegt textlinguistisch darin, dass in der Rede der Text schriftlich vorliegt,
während die Antwort von Merkel spontan (ohne schriftliches Manuskript) gegeben wird.
Eine genauere Auseinandersetzung mit beiden Transkripten erfolgt weiter unten.
Nach den genannten Kriterien des Pathos von Sandig (2006: 296) und der Definition nach
Kern (Sandig 2006: 295), die bereits in Kapitel 1 definiert wurden, werden Merkels
Äußerungen in den beiden Transkripten untersucht. Ihre Äußerungen werden weiter als
Handeln verstanden, die mit speziellen Absichten verbunden sind. Deswegen sind auch
Schlagwörter (Niehr 2014: 70) zu beobachten, weil sie das Denken und die Gefühle des
Menschen verstärken und das Verhalten des Menschen steuern. Um Merkels Vokabular
einzuordnen, werden die genannten Kriterien von Dieckmann (Niehr 2014: 65-66)
verwendet. Diese Einteilung ermöglicht eine Kategorisierung des Materials bei der
Analyse von Merkels Sprache. Durch die Unterscheidung verschiedener
Vokabularbereiche kann das Pathos mehr hervorgehoben werden.
12
3.1 Transkript 1: Rede vor dem Bundestag
Die erste Rede Merkels ist der Internetseite YouTube entnommen. Nach Brinker (2010:
127) ist hier die Form der Kommunikationssituation das Fernsehen und es wird eine
monologische Kommunikationsrichtung angezeigt. Die Dauer des Videos beträgt 2:09
Minuten. Die Rede findet zu einer bestimmten Zeit (13. September 2002) und an einem
bestimmten Ort (Bundestag) statt. Der Handlungsbereich ist öffentlich und findet in der
politischen Kommunikation statt. Angela Merkel ist die Vertreterin der Partei der CDU
(Die Christlich Demokratische Union Deutschlands). Das Thema der Rede ist die
Zuwanderung und die Abstimmung über ein neues Zuwanderungsgesetz. Unten folgen
die Analyse und die Zusammenfassung von Transkript 1.
Angela Merkel erklärt in der Rede vor dem Bundestag Folgendes: wir wissen doch wie
es ist. Die Menschen im Lande wissen, dass ihr Gesetz eben keine Begrenzung von
Zuwanderung gibt (Z. 2-5). Sie sagt: das Maß des Zumutbaren ist überschritten (Z. 9-
10). Sie macht klar, bevor wir neue Zuwanderungen zulassen: müssen wir (Z. 13) etwas
machen. Nach Merkel: müssen wir erst mal die Integration der bei uns lebenden
ausländischen Kinder verbessern (Z. 13-15). Nach Merkel sind 40% der ausländischen
Kinder und Jugendlichen in Berlin-Kreuzberg ohne einen Schulabschluss oder einen
Berufsabschluss. Dafür gebe es kein Geld zur Finanzierung: wir haben keine einzige
Mark vorgesehen um das Problem zu beseitigen (Z. 16-17). Dabei verwendet sie häufig
das Wort Zuwanderung. Sie sagt, dass es sich ändern werde: mit uns haben sie die
Alternative, wir werden das ändern (Z. 24-25). Sie fragt: wie vertreten wir besser
deutsche Interessen? (Z.33-34). Merkel gibt die Alternativen: durch emotionales
Geschrei auf deutschen Marktplätze oder durch eine Haltung Freundschaft und
Kooperation und Vertretung deutscher Interessen zusammen mit Verbündeten und
Freunden auf der ganzen Welt? (Z. 34-38). Beim Aufzeigen der zwei Alternativen wird
deutlich, welche davon Merkel bevorzugt. Schritt für Schritt macht sie klar, dass es ein
Problem mit der Zuwanderung gibt, warum dies so ist und was die Bevölkerung in Europa
machen kann, um das Problem zu lösen. Was sie will, ist eine neue:
Richtungsentscheidung und eine Richtungsentscheidung für die Außenpolitik (Z. 30, 31).
Aber die Menschen müssen eine Wahl treffen. Den Weg: können Menschen am
zweiundzwanzigsten September entscheiden (Z. 41-42).
Die Rede von Angela Merkel ist sehr emotional. Merkel betont diese besondere Situation
(öffentliche Rede), wenn sie das Publikum anspricht: meine Damen und Herren (Z. 00-
13
01, 15, 39). Merkel markiert in der Rede Pathos in ihrer Stärke des Tons und in der
Satzmelodie. Sie ruft ihre Sätze in den Bundestag. Hier gibt es eine wechselseitige
Beziehung mit dem Publikum. Oft kommen andauerndes Klatschen und Stimmengewirr
vor. Dabei benutzt sie auch eine starke Körpersprache, denn sie hebt oft ihre rechte Faust,
wenn sie etwas verdeutlichen will.
Die oben erwähnten Transkriptausschnitte werden unten zu einem Verlauf dieser Rede
von Merkel zusammengefasst. Die folgenden Sätze sind in chronologischer Reihenfolge
zu finden (ohne Zeilenangabe):
- wir wissen wie es ist
- die Menschen im Lande wissen, wie es ist
- wir müssen etwas verbessern
- wir haben das Problem nicht vorhergesehen und haben keine Bereitschaft dies zu
ändern
- mit uns haben sie die Alternative
- wir werden das ändern
- wie vertreten wir besser deutsche Interessen?
- den Weg können die Menschen entscheiden
In groben Zügen wird gezeigt: Am Anfang der Rede kommen Pronomen 1. Pers. Plural
und Verben im Präsens: wir wissen und wir müssen. In der Mitte der Rede stehen
Pronomen und Verben mit einer Negation im Präsens: wir haben nicht und wir haben
keine mit Pronomen und Verben in Futur I: wir werden ändern. Am Ende kommen
Substantive und wieder Verben im Präsens: die Menschen müssen machen und Menschen
können entscheiden. Diese Ausdrücke schaffen eine Nähe zum Publikum und gleichzeitig
bewirken sie ein Voranschreiten der Rede. Die Ausdrücke drücken eine starke Dynamik
in den verbalen Handlungen aus.
Sandig (2006: 295) erklärt, dass in einer pathetischen Rede eine Personifizierung
wiedergegeben wird. Das gehöre zur Satzsemantik. Merkel zeigt deutlich in dieser Rede
einen Zusammenhang zwischen Personifizierung und Identität, sie bezieht sich ständig
als Person in das Handeln ein. Das Pronomen wir kommt oft am Anfang der Rede vor,
später uns, wenn es sich um eine Entscheidung für den Menschen handelt. Weil Angela
Merkel die Vertreterin der Partei CDU ist, ist sie auch die Vertreterin der politischen bzw.
14
ideologischen Ideen dieser Partei. Aus dieser Hinsicht personifiziert sie sich mit einer
wertorientierten Gemeinschaft.
Einige Wörter in Merkels Äußerungen können hier als Schlagwörter verstanden werden:
Zuwanderung, deutsche Interessen und emotionales Geschrei. Die Wörter rufen in dieser
Rede ein starkes Gefühl hervor und können das Denken und die Gefühle des Menschen
verstärken. Darüber hinaus können diese Wörter dem Ideologievokabular zugeordnet
werden, weil sie ein Sach- und Problemverhalten darstellen und eine Möglichkeit zur
Lösungen des Problems bringen.
3.1.1 Zusammenfassung
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass diese Rede mehrere Merkmale für ein
pathetisches Sprechen hat. Einige Faktoren sind in dieser Rede identifiziert worden,
welche das Pathos sichtbar machen. Die distinktiven Faktoren (ohne Zeilenangabe) sind:
1. Die Markierung der spezifischen Situation, nämlich in der Merkel zum Publikum
spricht und wiederholt: meine Damen und Herren…
2. Verwendung von Wörtern und Sätzen, die eine Nähe zum Publikum erzeugen und
gleichzeitig einen Fortschritt der Rede bewirken: wir wissen und wir müssen, wir haben
nicht und wir haben keine, wir werden ändern, die Menschen müssen machen und
Menschen können entscheiden. Die Ausdrücke sollen auch Handlungen bewirken wie mit
der Verwendung von z.B. müssen und ändern. Hier kommen Pronomen in der ersten
Person, Plural, Verben im Präsens und Futur I sowie in verschiedenen Phasen der Rede
vor.
3. Verwendung von Wörtern und Sätzen, die eine Personifizierung und Identität
wiedergeben: das Pronomen wir kommt oft am Anfang der Rede vor, später uns, wenn es
sich um eine Entscheidung für den Menschen handelt.
4. Verwendung von Schlagwörtern, die in dieser Rede sind: Zuwanderung, deutsche
Interessen und emotionales Geschrei. Diese Wörter können dem Ideologievokabular
zugeordnet werden, weil sie ein Sach- und Problemverhalten darstellen.
15
3.2 Transkript 2: Antwort in einer Fragerunde
Das zweite Video ist ebenfalls von YouTube heruntergeladen worden. Die
Kommunikationssituation ist hier das Fernsehen und es zeigt eine monologische
Kommunikation, die durch eine Frage initiiert ist. Die Dauer beträgt 3:46 Minuten. Die
Rede findet zu einer bestimmten Zeit (8. September 2015) und an einem bestimmten Ort
(an der Universität Bern in der Schweiz) statt. Der Handlungsbereich ist öffentlich und
findet an der Universität statt. Es ist eine Dankesrede in einer Fragerunde, nachdem
Angela Merkel die Ehrendoktorwürde an der Universität Bern überreicht wurde. Der Titel
wurde ihr u.a. „für ihren Einsatz für das öffentliche Wohl /…/ sowie für ihre Verdienste
um die europäische Integration“ (Imme 2015) verliehen. Die Teilnehmer sind Angela
Merkel als Bundeskanzlerin Deutschlands und die Bürger der Schweiz. Das Thema ist
die Flüchtlingspolitik.
Die Ausdrücke in dieser Dankesrede lassen sich in drei verschiedene Redeabschnitte
untergliedern: Bestätigung, Erklärung und Richtungsentscheidung. Die folgende Analyse
wird anhand dieser drei genannten Abschnitte durchgeführt. In den einzelnen
Unterkapiteln werden, wie bei der Analyse der ersten Rede, die erwähnten
Transkriptausschnitte zusammengefasst und spiegeln den Verlauf dieser Dankesrede von
Merkel wider. Die Sätze sind auch hier in chronologischer Reihenfolge zu finden (ohne
Zeilenangabe).
3.2.1 Bestätigung
Eine unbekannte Bürgerin aus der Schweiz ist sehr verlegen und bedankt sich, dass sie
das Wort erhält. Sie äußert sich zu einem kollektiven Gedanken der Angst vor der
Islamisierung in Europa: eine große Angst hier in Europa zu dieser Islamisierung (Z. 9-
10). Die Bürgerin behauptet, dass Merkel als Bundeskanzlerin die Verpflichtung hat, die
Menschen in Europa zu schützen: sie haben /…/ die Verantwortung /…/ uns, hier in
Europa zu schützen (Z. 1-5). Sie fragt Merkel: wie wollen sie Europa in dieser Hinsicht
und unsere Kultur schützen? (Z. 10-12). Die Absicht der Rede - in Form einer Antwort -
von Merkel in der Fragerunde ist es, einen glaubwürdigen Gedankenaustausch über die
Angst der Islamisierung in Europa zu führen. Die Antwort von Merkel kommt nach den
ersten 20 Sekunden mit viel Überlegung. Am Anfang und zwischen den Äußerungen
16
verwendet sie oft mit Verzögerung die Gesprächspartikel äh. Merkel erklärt zuerst, dass
der islamistische Terror in Europa leider eine Vielzahl von islamistischen Kämpfern
hervorgebracht hat. Sie spricht langsam und nachdenklich, was man daran erkennt, dass
einige Wörter wiederholt werden: äh, ich glaube, erst mal das, der Islamismus,
Islamismus und die, der islamistische Terror, leider Erscheinungen sind, die wir ganz
stark natürlich in Syrien haben, in Libyen haben, im Norden des Irak haben (Z. 13-16).
In diesem ersten Teil der Rede bestätigt Merkel den islamistischen Terror, und auch eine
große Angst in Europa vor Islamisierung. Dazu verwendet sie folgende Äußerung:
- erst mal das, der Islamismus, Islamismus und die, der islamistische Terror /…/ die
wir ganz stark /…/ haben
Die Antwort von Merkel ist spontan und es gibt kein schriftliches Manuskript. Sie
antwortet nachdenklich. Ihre Stimme ist gleichmäßig. Die Wörter stocken und werden
wiederholt. Ihre Körpersprache ist ruhig. Im Raum ist es ansonsten sehr still. Eine
Unsicherheit spiegelt diese Situation wider, nicht nur von Merkel, sondern von der
verlegenen Bürgerin, die sich bedankt, weil sie das Wort erhält. Merkel antwortet nicht
direkt auf die Frage, wie sie Europa und die Kultur schützen will. Sie versetzt dieses
Thema in größere Dimensionen, nämlich, dass es den islamistischen Terror auch in
Syrien, Libyen und im Norden des Irak gibt.
Hier werden die Wörter Angst, Islamisierung und Kultur verwendet. Diese Wörter
können als Schlagwörter verstanden werden und innerhalb des Ideologievokabulars
eingeordnet werden, weil sie ein Problemverhalten darstellen. Die Wörter Angst und
Islamisierung rufen ein negatives Gefühl hervor. Sie bezeichnen eine kollektive Angst
vor Islamisierung. Das Gefühl in den Äußerungen wird verstärkt, indem sie die Adjektive
groß und ganz stark sowie das Pronomen wir verwendet: große Angst und Islamismus,
die wir ganz stark haben. Das Pronomen wir ist auch mit den Verben haben und schützen
verwendet worden. Sie beziehen sich auf das Substantiv Kultur. Der Zeitaspekt wird im
Präsens dargestellt.
3.2.2 Erklärung
Merkel erklärt: wir können nicht sagen /…/ dass es uns nicht angeht (Z. 19-20). Es gebe
sehr jungen Menschen, die in unseren Ländern aufgewachsen sind und /…/ wir auch
17
unseren, Beitrag leisten (Z. 21-22). Merkel macht dann klar, dass persönliche und
gesellschaftliche Handlungen in Angst nicht erfolgreich seien: zweitens, äh, Angst war
noch nie ein, guter Ratgeber /…/ im persönlichen Leben /…/ auch in gesellschaftlichen
Leben /…/ Kultur und Gesellschaften die von Angst geprägt sind, werden mit Sicherheit
die Zukunft nicht meistern (Z. 23-27).
In diesem zweiten Teil der Rede erklärt Merkel, dass man mit Angst nicht die Zukunft
meistern kann. Dazu verwendet sie folgende Äußerungen:
- wir können nicht sagen /…/ dass es uns nicht angeht
- zweitens, äh, Angst war noch nie ein, guter Ratgeber
- Kultur und Gesellschaften die von Angst geprägt sind, werden mit Sicherheit die
Zukunft nicht meistern
In dieser Erklärung markiert Merkel, was wir nicht voraussagen können. Hier stehen
Pronomen und Verben mit einer Negation im Präsens: wir können nicht sagen /…/ dass
es uns nicht angeht. Merkel bestätigt nicht länger die Angst, sondern erklärt, dass sie
kein guter Ratgeber sei. Sie meint dies in Bezug auf die Emotion Angst, welche keine
gute handlungsfähige Wirkung habe. Die Substantive Angst und Zukunft stehen mit
Verben in einer Negation im Futur I: die Angst /…/ werden die Zukunft nicht meistern.
Ein neues Schlagwort kommt jetzt vor: es heißt Zukunft. Auch dieses Wort kann das
Denken und die Gefühle des Menschen verstärken, da es in Zusammenhang mit dem
Wort Angst vorkommt und somit zu dem Ideologievokabular gehört.
3.2.3 Richtungsentscheidung
Merkel erklärt, warum diese Debatte aktuell ist und dass ein Dialog gefunden werden
muss, um einen neuen Weg zu finden: drittens, äh, wir haben diese Debatte /…/ dass wir
sehr viele Muslime in Deutschland haben (Z. 27-29). Merkel zeigt: finde ich, braucht man
nicht darüber zu streiten, ob jetzt die Muslime zu Deutschland gehören oder der Islam
nicht (Z. 31- 33). Im Gegensatz zu dieser Perspektive müsse man einen anderen Weg
finden. Sie erklärt, dass wir – die Christen – alle Freiheiten haben, unsere Religion
auszuüben und an sie zu glauben: da gibt es auch diese, diese Sorgen /…/ ich muss ihnen
ganz ehrlich sagen/…/ dann haben wir auch den Mut zu sagen, dass wir Christen sind
haben den Mut zu sagen, dass wir da in einen Dialog eintreten (Z. 35- 36). Merkel
18
reflektiert öffentlich über diese Debatte: und vielleicht, kann diese Debatte /…/ wieder
dazu führen, dass wir mit unseren eigenen Wurzeln befassen und ein bisschen mehr
Kenntnis darüber haben (Z. 54-57). Eine defensive Stellungnahme fördert diese Debatte
nicht, meint sie. Starke Wörter werden benutzt: insofern finde ich diese Debatte sehr
defensiv gegen terroristische Gefahren muss man beachten und ansonsten ist die
europäische Geschichte so reich an so dramatischen und gruseligen
Auseinandersetzungen, dass wir sehr vorsichtig sein sollten uns sofort zu beklagen /…/
wir müssen /…/ dagegen /…/ versuchen zu bekämpfen aber wir haben überhaupt keinen
Grund auch zu größerem Hochmut (Z. 57-65). In diesem Moment schlägt Merkel sich
mit der linken Hand auf die Brust. Mit Gefühl und Überzeugung sagt sie: muss ich sagen,
sage ich als deutsche Bundeskanzlerin (Z. 66-67).
In diesem dritten Teil der Rede erklärt Merkel, warum diese Debatte aktuell ist und dass
ein Dialog gefunden werden muss, um einen neuen Weg herauszufinden. Dazu verwendet
sie folgende Äußerungen:
- drittens, äh, wir haben diese Debatte
- da gibt es auch diese, diese Sorgen /…/ ich muss ihnen ganz ehrlich sagen /…/ dann
haben wir auch den Mut zu sagen, dass wir Christen sind /…/, dass wir da in einen
Dialog eintreten
- dass wir mit unseren eigenen Wurzeln befassen und ein bisschen mehr Kenntnis
darüber haben
- insofern finde ich diese Debatte sehr defensiv gegen terroristische Gefahren muss
man beachten und ansonsten ist die europäische Geschichte so reich an so
dramatischen und gruseligen Auseinandersetzungen, dass wir sehr vorsichtig sein
sollten uns sofort zu beklagen /…/ wir müssen /…/ dagegen /…/ versuchen zu
bekämpfen aber wir haben überhaupt keinen Grund auch zu größerem Hochmut
- muss ich sagen, sage ich als deutsche Bundeskanzlerin
Die früheren Schlagwörter kommen in diesem Redeteil nicht mehr vor. In dieser
Richtungsentscheidung kommen neue Wörter vor wie: Sorge, Mut, Christen, Dialog,
Wurzel, Kenntnis und Hochmut. Diese Wörter können dem allgemeinen
Interaktionsvokabular zugeordnet werden. Wenn Merkel das Wort Sorgen verwendet,
kann dieses Wort das Gefühl ausdrücken, sich um etwas zu sorgen. Sie sollen den Weg
in die neue Richtungsentscheidung führen. Merkel beantwortet auf diese Weise die Frage
mit einem neuen Problemlösungsverfahren, das durch neue Wörter gekennzeichnet wird.
19
Merkel spricht sehr persönlich und identifiziert sich als gläubige Christin. Laut Sandig
(2006: 295) kennzeichnet der Inhalt der Sätze in dem pathetischen Sprechen eine
Personifizierung. Dies zeigt Merkel, wenn sie in ihren Äußerungen das Pronomen: wir,
die Substantive: Mut, Christen und Dialog sowie Verben im Präsens verwendet: den Mut
zu sagen, dass wir Christen sind /…/, dass wir da in einen Dialog eintreten. Merkel sagt
bestimmt, dass ein defensiver Weg nicht der richtige Weg ist. Hier kommen
ausdrucksstarke Adjektive und Substantive vor: terroristische Gefahren, europäische
Geschichte, reich an so dramatischen und gruseligen Auseinandersetzungen und sehr
vorsichtig. Wie im ersten Teil des Redeabschnitts, antwortet Merkel nicht einfach direkt
auf die Frage, wie sie Europa und die Kultur schützen will. Sie macht noch einmal eine
Verknüpfung zu diesem Thema aber jetzt aus einer anderen Perspektive. Sie hebt hervor,
dass die Menschen über ihre eigenen Wurzeln begründen müssen. Sie endet mit Verben:
versuchen zu bekämpfen und mit dem Substantiv Hochmut im Satz: keinen Grund auch
zu größerem Hochmut. Merkel beschwört ihre Äußerungen und schlägt sich mit der
linken Hand auf die Brust, wenn sie sagt: muss ich sagen, sage ich als deutsche
Bundeskanzlerin. Damit ist die kollektive Handlung mit ihrer Identifikation als
Bundeskanzlerin verknüpft.
3.2.4 Zusammenfassung
Diese Dankesrede, die als Antwort auf eine Publikumsfrage gegeben wird, lässt sich in
drei verschiedene Redeabschnitte untergliedern: Bestätigung, Erklärung und
Richtungsentscheidung. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass das Pathos nicht
eindeutig sichtbar wird, vergleichend mit dem ersten Transkript, weil es sehr individuell
interpretiert werden kann. In mehreren Abschnitten der Dankesrede gibt es Beispiele
dafür. Vier davon werden nachfolgend vorgestellt. Das erste Beispiel kommt gleich am
Anfang der Dankesrede vor, als sie oft mit Verzögerung die Gesprächspartikel äh
verwendet. Nach der allgemeinen Definition in Duden online versteht man das „bei
unkonzentriertem Sprechen [, um] kurze Sprechpausen zu überbrücken“. Merkel
antwortet nicht direkt auf die Frage, wie sie Europa und die Kultur schützen will. Man
fragt sich, warum sie nicht auf die Frage antwortet? Der Anfang des Sprechaktes kann
auch als Unsicherheit Merkels interpretiert werden. Ihre Körpersprache bleibt ruhig. Das
zweite Beispiel kommt im zweiten Teil der Dankesrede vor, als Merkel nicht länger die
Angst bestätigt, sondern erklärt, dass sie kein guter Ratgeber ist. Das kann auch als eine
20
Zurechtweisung zu einem Gedanken der Angst verstanden werden. Nach der
Beschreibung von Sandig (2006: 296), wie das pathetische Sprechen vorkommen kann
und nach Kern (Sandig 2006: 295), dass man sich mit bestimmten Fragenkomplexen
identifizieren kann, können zurechtweisende Äußerungen mit dem pathetischen Sprechen
nicht vereinbart werden. Das dritte Beispiel kommt im dritten Teil der Dankesrede vor,
als Merkel eine neue Richtungsentscheidung erklärt. Sie verwendet neue Wörter wie:
Sorge, Mut, Christen, Dialog, Wurzel, Kenntnis und Hochmut. Sie können dem
allgemeinen Interaktionsvokabular zugeordnet werden. Diese Wörter führen in ein neues
Problemlösungsverfahren. Merkel meint, dass die Menschen eigenständige Reflexionen
über die eigenen Wurzeln machen sollen. Man könne sich fragen, wie die Menschen hier
eine Identifikation in Merkels Kommunikationsangebot schaffen. Denn, wie man sich zur
eigenen Religion und zu den eigenen Wurzeln verhält, kann sehr individuell sein. Dazu
gehört das Verständnis anderer Kulturen. Deswegen könnten Merkels Äußerungen auf
verschiedene Weise durch Gefühle verstanden werden. Das ist nicht vereinbar mit
pathetischem Sprechen, weil es sich um kollektive Werte handelt, die eine
Handlungsgemeinschaft bilden (vgl. Sandig 2006: 295). In den zwei ersten
Redeabschnitten haben sich die Gefühle deutlicher in den Schlagwörtern gezeigt: Angst,
Islamisierung, Kultur und Zukunft. Sie können dem Ideologievokabular zugeordnet
werden, weil sie die Probleme darstellen und die Lösungen präsentieren. Das vierte
Beispiel kommt im dritten Teil der Dankesrede vor, als Merkel ihre Äußerungen
beschwört und sich mit der linken Hand auf die Brust schlägt: muss ich sagen, sage ich
als deutsche Bundeskanzlerin. Mit dieser Handlung will sie zeigen, dass die kollektive
Handlung jetzt mit ihrer Identifikation als Bundeskanzlerin verknüpft ist. Doch bleiben
die Stärke ihres Tons und ihre Körpersprache gleich.
21
4 Zusammenfassung der Ergebnisse und Ausblick
In diesem Aufsatz ist die Frage gestellt: Wie kommt Pathos in den Reden von Merkel
sprachlich zum Ausdruck? Diese Arbeit ist aus einer linguistischen Perspektive
behandelt. Im Vordergrund steht die Frage nach Pathos in der Sprache von Merkel. In der
Redekunst von Aristoteles ist Pathos eine Art der Überzeugung und der Begriff wird als
eine „Gefühlsbewegung“ verstanden (Ueding 2003:689-690). Der rhetorische Ansatz von
Aristoteles wird übergenommen. Rede wird in diesem Zusammenhang verstanden, als
mündliche und zusammenhängende Äußerungen einer einzelnen Person vor einem
Publikum (vgl. Ueding 2005:698). Zwei Videos, in denen Angela Merkel das Thema der
Flüchtlingspolitik behandelt, sind als Korpus gewählt. Sie sind aus YouTube entnommen.
Die Begriffe „Schlagwörter“ (Niehr 2014:70) und „Schlüsselwörter“ (Sandig 2006:296)
sind in diesem Aufsatz gleich betrachtet. Nach den Kriterien von Dieckmann sind
Merkels Äußerungen verschiedenen Wortschatzbereichen zugeordnet werden (vgl. Niehr
2014:65-66).
In der Rede vor dem Bundestag gibt es deutliche Merkmale für ein pathetisches Sprechen.
Eine Sprachmelodie und eine wechselseitige Beziehung mit dem Publikum
charakterisiert die Rede. Merkel verwendet hier Wörter und Sätze, die eine Nähe zum
Publikum erzeugen. Die Pronomen wir und uns kommen häufig vor. Es gibt einen
Fortschritt in der Rede und gleichzeitige Äußerungen, die eine Handlung bewirken.
Pronomen mit Verben im Präsens und Futur I sind verwendet: wir wissen, wir müssen
und wir werden ändern. Auffällig ist auch die Verwendung von Schlagwörtern:
Zuwanderung, deutsche Interessen und emotionales Geschrei. Die Schlagwörter wurden
dem Ideologievokabular zugeordnet, weil sie ein Sach- und Problemverhalten darstellen
und damit können Lösungen vorgestellt werden.
Sehen wir uns dagegen die offene Fragerunde an, ist das Pathos in Merkels Sprache nicht
eindeutig sichtbar, weil es verschieden interpretiert werden kann. Die wahrscheinlichste
Ursache dafür ist, dass diese Dankesrede spontan ist, im Vergleich zu der Rede vor dem
Bundestag, die schriftlich vorliegt und vorbereitet wurde. Dies erklärt die häufige
Verwendung des am Anfang oft mit Verzögerung geäußertem Gesprächspartikel äh. Es
muss nicht sein, dass sie unkonzentriert oder unsicher ist, sondern nur, dass sie nicht
vorbereitet ist. Trotz dieser verschiedenen Voraussetzungen kann das Pathos in der
Dankesrede analysiert werden. Merkel verwendet am Anfang der Rede Schlagwörter vom
Ideologievokabular: Angst, Islamisierung, Kultur und Zukunft. Wenn sie später eine neue
22
Richtungsentscheidung gibt, verwendet sie neue Wörter wie: Sorge, Mut, Christen,
Dialog, Wurzel, Kenntnis und Hochmut. Sie wurden dem allgemeinen
Interaktionsvokabular zugeordnet und sollen den neuen Weg zeigen. Sie können aber sehr
individuell interpretiert werden. Aus diesen Ergebnissen kann folgende Schlussfolgerung
gezogen werden. Es wird gezeigt, dass die Schlagwörter und ein pathetisches Sprechen
eng miteinander interagieren. Die Schlagwörter verstärken die Gefühle des Menschen. In
dieser Arbeit wurden die Schlagwörter dem Ideologievokabular zugeordnet.
Diese Arbeit zeigt, dass Pathos in einer Sprache eine wichtige Rolle spielt. Schlagwörter
und Sätze sind mit Pathos verstärkt. Eine Fragerunde und eine Rede vor dem Bundestag
haben verschiedene Voraussetzungen und dementsprechend äußert man sich sprachlich
unterschiedlich. Das hypothetische Ergebnis, welches zu Beginn der Arbeit
hervorgehoben wurde und von einer zeitlichen Veränderung in Merkels Rede
ausgegangen ist, erbringt hier keine zuverlässige Antwort, da nun deutlich wird, dass es
um eine andere Perspektive der Rede geht. Es wäre interessant weitere
Sprachforschungen in Bezug auf Angela Merkels Pathos in mehreren öffentlichen
Kommunikationssituationen und Beziehungen zum Publikum zu betreiben, weil Pathos
in verschiedener Weise vorkommen kann. In diesem Aufsatz sind zwei öffentliche
Situationen behandelt worden.
23
5 Literaturverzeichnis
Becker, Maria (2016): Die Flüchtlingsdebatte in den Medien Deutschlands – Eine
Korpus- und diskurslinguistische Untersuchung der Konzeptualisierung von Angst. In:
Institut für deutsche Sprache Mannheim 32, 1-11.
Brinker, Klaus (20107): Linguistische Textanalyse. Eine Einführung in Grundbegriffe
und Methoden. Berlin: Erich Schmidt Verlag.
Brinkbäumer, Klaus (2016): Die Entrückten. Wie Späte Kanzler Ihr Wolk verlieren. In:
der Spiegel. Das deutsche Nachrichten-Magazin 37, 2016.
Dieckmann, Walther (2005): Deutsch. politisch-politische Sprache im Gefüge des
Deutschen. In: Kilian, J. (Hrsg.): Sprache und Politik. Deutsch im demokratischen Staat.
Dudenredaktion. Mannheim: Dudenverlag (Duden 6), 11-30.
Kern, Peter Christoph (1994): Pathos. Vorläufige Überlegungen zu einer verpönten
Kommunikationshaltung. In: H. Löffler, K. Jakob, B. Kelle (Hrsg.): Texttyp,
Sprechergruppe, Kommunikationsbereich. Studien zur deutschen Sprache in Geschichte
und Gegenwart. Festschrift für Hugo Steger zum 65. Geburtstag. Berlin, New York:
Walter de Gruyter Verlag, 396 - 411.
Niehr, Thomas (20141): Einführung in die Politolinguistik. Ulm: Vadenhoeck &Ruprecht
Verlag.
Sandig, Barbara (20062): Textstilistik des Deutschen. Berlin: Walter de Gruyter Verlag.
Schlüter, Herman (19882): Grundkurs der Rhetorik. München: Deutscher Taschenbuch
Verlag.
Ueding, Gert (2005): Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Tübingen: Max Niemeyer
Verlag.
Ueding, Gert (2003): Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Tübingen: Max Niemeyer
Verlag.
Ueding, Gert (2001): Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Tübingen: Max Niemeyer
Verlag.
24
Ueding, Gert (1994): Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Tübingen: Max Niemeyer
Verlag.
Internetadressen:
Duden online. http://www.duden.de/woerterbuch
Imme Katja. Exzellenz auf Besuch in Bern (2015) URL:
http://derarbeitsmarkt.ch/de/interview/merkel-bern (Stand 16.1.2017)
Leitfaden zum Transkribieren nach GAT (Minimal- und Basistranskript) – Schritt für
Schritt (2014): https://www.ph-
freiburg.de/fileadmin/dateien/mitarbeiter/hagemannfr/GAT_2.pdf (Stand: 26.9.2016).
Pädagogische Hochschule Freiburg. URL:
(https://www.ph-
eiburg.de/de/quasus/einstiegstexte/datenaufbereitung/transkriptionsregeln.html (Stand:
26.9.2016).
YouTube. Die Oppositionspolitikerin Angela Merkel fordert in 2002 eine Obergrenze
für Zuwanderung. URL: https://www.youtube.com/watch?v=BHaUVe9bNrw (Stand:
8.9.2016).
YouTube. Das ist die großartige Antwort von Angela Merkel auf die Islam Angst eines
besorgten Bürgers. URL: https://www.youtube.com/watch?v=DE6IKihOyo0 (Stand:
8.9.2016).
25
6 Anhang
Transkript 1: Rede vor dem Bundestag
Signatur: Isabelle Belas
Gesprächspartner
Sigle Name Alter Geschlecht Berufsausbildung
M Angela Merkel 48 weiblich Dr. nat.; Bundeskanzlerin
Deutschland
Gesprächsdaten
Gesprächstyp
Rede vor dem Bundestag
Kommunikations-
situation
Öffentlich
Teilnehmerrollen
Angela Merkel als Vertreter in der CDU vor dem Bundestag
Aufnahmedaten
Aufnahmestatus
Offene, You Tube
Datum/Zeit
13. September 2002
Ort
Berlin, Bundestag
Dauer
2:09 Minuten
Allgemeine
Bemerkungen
Thema: Zuwanderung und Abstimmung über ein neues
Zuwanderungsgesetz
26
M:((klatschen im Publikum, 6 Sek.)) und meine damen 1
und herren, auch wenn wir mit noch so treuen augen ( 2
) hier über die zuwanderung sprechen, wir wissen doch 3
wie es ist, die menschen im lande wissen das ihr gesetz 4
eben keine begrenzung von zuwanderung gibt,((laute 5
Stimmen)) und die menschen im lande wissen das herr 6
schiwy am anfang dieser legislaturperiode gesagt hat 7
ein satz ich habe ihn doch gar nicht gesagt regen sie 8
sich doch nicht auf, das mass des zumutbaren ist 9
überschritten, und wir wissen das spätestens nach 10
pisa, wir wissen das spätestens nach pisa, ((M hebt 11
ihre rechte faust und markiert)) doch in deutschland 12
völlig klar ist, bevor wir neue zuwanderung haben 13
müssen wir erst mal die integration der bei uns 14
lebenden ausländischen kinder verbessern meine damen 15
und herren damit, ((Klatschen und Stimmengewirr, 10 16
Sek.)) wir haben keine einzige mark vorgesehen um das 17
problem zu beseitigen das hier in berlin kreuzberg 18
((hebt ihre rechte Faust und markiert)) vierzig 19
prozent der ausländischen kinder und jugendlichen, 20
((hebt ihre rechte Faust)) weder einen schulabschluss 21
haben noch einen berufsabschluss, und ((hebt ihre 22
rechte Faust und markiert))( ) trotzdem reden wir über 23
mehr zuwanderung, mit uns haben sie die alternative, 24
wir werden das ändern, dieses gesetz wird so nicht in 25
kraft treten, habe mich gefreut das die es pe de auch 26
was ändern will, und so wird deutschland ein anderes 27
zuwanderungsgesetz bekommen ab dem zweiundzwanzigsten 28
september ((Klatschen, 10 Sek.)) und deshalb wird es 29
eine richtungsentscheidung sein und auch eine 30
richtungsentscheidung für die außenpolitik,((hebt ihre 31
rechte Faust und markiert)) nämlich über die frage wie 32
vertreten wir besser deutsche interessen,((leises 33
Klatschen)) durch emotionales geschrei auf deutschen 34
marktplätzen, oder durch eine haltung freundschaft und 35
27
kooperation und vertretung deutscher interessen 36
zusammen mit verbündeten und freunden auf der ganzen 37
welt, wir entscheiden uns für den weiten weg meine 38
damen und herren ((Klatchen, 10 Sek)) und diese fünf 39
Punkte, die markieren die alternative, und über die 40
können menschen am zweiundzwanzigsten september 41
entscheiden 42
43
44
45
46
47
48
49
50
51
52
53
54
55
56
57
58
59
60
61
62
63
64
65
66
67
68
69
28
Transkript 2: Antwort in einer Fragerunde
Signatur: Isabelle Belas
Gesprächspartner
Sigle Name Alter Geschlecht Berufsausbildung
B unbekannt unbekannt weiblich unbekannt
M Angela Merkel 62 weiblich Dr. nat.; Bundeskanzlerin
Deutschland
Gesprächsdaten
Gesprächstyp Fragerunde
Kommunikations-
situation
öffentlich
Teilnehmerrollen Bundeskanzlerin; Bürger der Schweiz
Aufnahmedaten
Aufnahmestatus Offene; You Tube
Datum/Zeit 8. September 2015
Ort Bern (Schweiz)
Dauer 3:46 Minuten
Allgemeine
Bemerkungen
Fragerunde, nachdem Angela Merkel die Ehrendoktorwürde an der
Universität Bern überreicht wurde
29
B: frau bundeskanzlerin, danke dass ich das wort 1
kriege,((geniert)) ähm, sie haben vorhin auf die 2
verantwortung von dieser ganzen, geschichte mit den 3
flüchtlingen angesprochen, eine der verantwortung 4
nächstes jahr aber auch, uns, hier, in europa zu 5
schützen, und, vor allem mit flüchtlingen aus syrien 6
und aus diesen ländern, kommen ja noch mehr leute, mit 7
einem islamistischen hintergrund zu uns, und ich 8
glaube was( ) vor hin angesprochen hat, beinhaltet ja 9
auch, eine große, angst, hier in europa, zu dieser 10
islamisierung die immer mehr stattfindet, wie wollen 11
sie europa in dieser hinsicht und unsere kultur, 12
schützen, 13
M: äh, ich glaube, erst mal das, die islamismus, 14
islamismus und die, der islamistische terror, leider 15
erscheinungen sind die wir ganz stark natürlich in 16
syrien haben in libyen haben im norden des irak haben, 17
aber zu den, äh leider, die europäische union, äh, 18
eine vielzahl von kämpfern beigetragen hat, und äh, 19
wir können nicht sagen das ist ein phänomen das uns 20
nicht angeht sondern zum teil, menschen oft sehr jungen 21
menschen, die in unseren ländern aufgewachsen sind und 22
wo, äh, wir auch unseren, beitrag leisten, zweitens, 23
äh, angst war noch nie ein, guter ratgeber als im ( ) 24
persönlichen leben nicht und es ist auch in 25
gesellschaftlichen leben nicht, kultur und 26
gesellschaften die von angst geprägt sind, werden mit 27
sicherheit die zukunft nicht meistern, und drittens, 28
äh, wir haben diese debatte natürlich auch äh, dass 29
wir sehr sehr viele muslime in deutschland haben, wir 30
haben die debatte darüber ob der islam zu deutschland 31
gehört wenn man, vier millionen muslime hat finde ich 32
braucht man, nicht darüber zu streiten ob jetzt die 33
muslime zu deutschland gehören oder der islam nicht 34
30
oder, ob der islam auch zu deutschland gehört,äh, aber, 35
da gibt es auch diese, diese sorgen, und, ich muss 36
ihnen ganz ehrlich sagen, äh, wir, haben doch alle 37
chancen und alle freiheiten uns zu unserer religion 38
sofern dass wir sie ausüben und an sie glauben, zu 39
bekennen, und wenn ich was vermisse dann ist das nicht 40
das ich irgendjemandem vorwerfe dass es zu seinem, äh, 41
muslimischen glauben bekennt sondern, dann haben wir 42
auch den mut zu sagen dass wir christen sind haben den 43
mut zu sagen dass wir da in einen dialog eintreten, 44
äh, haben wir auch den, dann aber auch, bitteschön die 45
tradition, mal wieder in n gottesdienst zu gehen oder, 46
äh, bisschen bibelfest zu sein und vielleicht ob man, 47
will in der kirche noch erklären zu können und, äh, 48
wenn sie mal aufsätze in deutschland schreiben lassen 49
was sphinxen bedeutet, dann würde ich mal sagen es ist 50
mir der erkenntnis über das christliche abendland 51
nicht so, weit her, und sich an anschließend zu 52
beklagen das muslime sich im koran besser auskennen 53
das finde ich irgendwie komisch, und vielleicht, kann 54
diese debatte auch mal wieder dazu führen dass wir uns 55
mit unseren eigenen wurzeln befassen und ein bisschen 56
mehr kenntnis darüber haben, und, insofern finde ich 57
diese debatte sehr, defensiv gegen terroristische 58
gefahren muss man ( ) beachten und an sonsten ist die 59
europäische geschichte so reich an so, dramatischen 60
und gruseligen auseinandersetzungen, dass wir sehr 61
vorsichtig sein sollten uns sofort zu beklagen, denn 62
wo anders was schlimmes passiert wir müssen angehen 63
dagegen müssen versuchen das zu bekämpfen, aber wir 64
haben überhaupt keinen grund auch zu größerem hochmut 65
muss ich sagen sage ich ((schlägt sich die Brust))als 66
deutsche bundeskanzlerin 67