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Klar ging es Watzlawick letztlich um die Stärkung der Souveränität des Bürgers, dem er ironisch empfiehlt, seine Unmün- digkeit zu trainieren. EINE INITIATIVE DER ÄRZTEKAMMER FÜR WIEN IMPRESSUM: PAUL WATZLAWICK EHRENRING „Paul Watzlawick Ehrenring“ ist eine entgeltliche Schaltung in Form einer Medienkooperation mit der Ärztekammer für Wien. Die redaktionelle Verantwor- tung liegt bei der „Presse“. Koordination: Ärztekammer für Wien Redaktion: „Die Presse“ Verlags-Gesellschaft mbH & C0KG, 1030 Wien, Hainburger Straße 33 Internet: diepresse.com www.watzlawickehrenring.at Aus dem Inhalt Philosophicum Lech Initiiert von Liessmann, Muxel und Köhlmeier wird Lech am Arlberg jeden Herbst zum Denker-Dorf. 2016 geht es um existenzielle Fragen. SEITE III Jury und Preisträger Das Who’s who des Paul-Watzlawick-Eh- renrings. SEITE III Wozu Bildung? Ein Diskurs mit Stimmen aus Politik, Wirtschaft und Geistesleben zur Bil- dungssituation. SEITE IV Adorno: Halbbildung „Das Halbverstandene und Halberfahre- ne indes ist nicht die Vorstufe der Bil- dung, sondern ihr Todfeind.“ Auszüge aus Theodor W. Adornos „Theorie der Halbbildung“. SEITE VI Zum Gedenken, als Ansporn Ärztekammerpräsident Thomas Szekeres und Laudator Hubert Christian Ehalt zur Bedeutung des Ehrenrings. SEITE VIII D as erfolgreichste Buch von Paul Watzlawick trägt den Titel „An- leitung zum Unglücklichsein“. Getreu der therapeutischen Ma- xime der paradoxen Intervention gibt Watzlawick Menschen, die gern über ihr Unglück klagen, gute Ratschläge, wie sie so richtig unglücklich werden können, damit das Klagen sich auch wirklich auszahlt. Das mit viel Humor geschriebene Buch, das 1983 erschien, und unzählige Auflagen erlebte, wurde in der Regel dann auch als kontrain- tuitiver Vorschlag gelesen, wie man Unglück vermeiden kann – indem man den Anleitun- gen eben gerade nicht folgt. Übersehen hat man dabei, dass der listige Kommunika- tionsforscher und Therapeut im Vorspann einen Gedanken von Dostojewski zitiert, der besagt, dass Menschen, die mit Glücks- gütern aller Art überschüttet werden, alles tun werden, um ein bisschen unglücklich zu werden. Und Watzlawick folgert daraus: „Es ist höchste Zeit, mit dem jahrtausendealten Ammenmärchen aufzuräumen, wonach Glück, Glücklichkeit und Glücklichsein erstrebens- werte Lebensziele sind.“ Das ist so provokant wie doppeldeutig. Die Pointe bei Watzlawick: Der paternalistische Staat habe es sich zur Aufgabe gemacht, das „Leben des Staatsbürgers von der Wie- ge bis zur Bahre sicher und glückstriefend zu ge- stalten“. Dieser Aufgabe kann er – mit einer ungeheuer aufgeblähten Bürokratie – nur nachkommen, wenn die Bürger sich ohne Staat allein gelassen und unglücklich fühlen. Jeder Ansatz zur Mün- digkeit, jede Form, für sein Leben selbst ver- antwortlich zu sein, minimiert die Chancen des Staates, dem Bürger sein Glück zu garan- tieren. Die Anleitung zum Unglücklichsein möchte dieser Gefahr ironisch vorbeugen und zeigen, was der Einzelne zu seinem Un- glück beitragen kann, um die Interventions- ansprüche des Staates zu erhöhen. Klar ging es Watzlawick letztlich um die Stärkung der Mündigkeit und Souveränität des Bürgers, dem er augenzwinkernd emp- fiehlt, seine Unmündigkeit und Unselbst- ständigkeit zu trainieren. Watzlawick schrieb in einer Zeit, in der er hoffen konnte, dass der Leser sich an dieser Ironie erfreuen und dahinter den aufklärerischen Impuls erken- nen und in den Anleitungen eine zynische Handreichung sehen konnte, deren Nichtbe- folgung zwar kein Glück, aber mehr Selbst- ständigkeit und Autonomie des Einzelnen möglich machen sollte. Die Zeiten haben sich gewandelt. Ironie, Doppeldeutigkeiten und Paradoxien – seit der Antike wesentliche Ingredienzien von Lebensweisheit – haben in einer Kultur der Eindeutigkeit, die nur noch Gut und Böse, rechts und links, Richtiges und Falsches kennt, ausgespielt. Ein zeitgenössischer Le- ser würde sich nicht nur an dem konsequent verwendeten generischen Maskulinum bei Watzlawick stören, sondern vor allem ein- wenden, dass es menschenverachtend wäre, Menschen Anleitungen zu ihrem Unglück in die Hand zu geben. Implizit bestätigt das Glücksdiktat der aktuellen Bildungspolitik die schlimmsten Befürchtungen Watzlawicks. Dass Watzlawick die Schule und die Bildungs- politik als Beispiel unein- lösbarer staatlicher Glücksversprechen zitiert, kommt nicht von unge- fähr. Ohne alle Ironie scheint sich die Bildungs- politik der vergangenen Jahre an genau jene Emp- fehlungen zu halten, die das reale Unglück verstär- ken, indem die Illusion von Glück beschworen wird. Das beginnt da- mit, dass in den vergangenen Jahren alle Ein- richtungen, in denen Kinder und junge Men- schen aufbewahrt, kontrolliert, erzogen, trai- niert, beschult und qualifiziert werden, zu Bildungseinrichtungen erhoben wurden. Das führt zu den paradoxen Effekten, dass einfa- che Fragen wie etwa der basale Erwerb von Kulturtechniken und Tischsitten zu Bildungs- fragen stilisiert werden, was das Unglück ver- mehrt, wenn bekannt wird, dass viele Kinder als Analphabeten die Grundschulen verlas- sen. Weil es ja um Bildung geht, muss gleich eine Bildungsrevolution ausgerufen werden, müssen Bildungsdirektionen eingerichtet und Ganztagsschulen gefordert werden. Auf die Idee, dass vielleicht die moderne Schreib- und Lesedidaktik wenig zielführend ist und es auch nicht wirklich klug ist, Kindern, die die Unterrichtssprache nicht beherrschen, in dieser das Lesen und Schreiben beizubrin- gen, darf man dann nicht mehr kommen. Eine zentrale Anweisung von Watzlawick, um unglücklich zu werden, lautet: mehr des- selben. Das Grundprinzip dieser Strategie besagt, dass man von der Richtigkeit eines Konzepts überzeugt ist; sollte es sich in der Wirklichkeit nicht bewähren, liegt es nur da- ran, dass man sich noch nicht genügend an- gestrengt hat. Das Schöne an diesem Konzept ist, dass es nicht zu widerlegen ist, weil auf alle Einwände geantwortet werden kann: Ja, es stimmt, weil man eben noch nicht genug davon gemacht oder etwas noch nicht flä- chendeckend eingeführt oder nicht in der nötigen Intensität wiederholt hat. Wenn mehr Schule alles verbessert, wa- rum dann nur Ganztags- und nicht gleich Tag- und Nachtschulen? Früher nannte man das übrigens Internate. Oder nehmen wir die aus diesem Grund so beliebten Bildungs- tests: Sie produzieren objektive Daten, schaf- fen internationale Vergleichbarkeit und ver- bessern dadurch das System. Wird dieses nicht verbessert, brauchen wir mehr Bil- dungstests: Pisa, Iglu, Timms, Bildungsstan- dardtests für Kindergärten, Volksschulen, Mittelstufen, eine zentralisierte Reifeprüfung, die nicht nur von unabhängigen Experten beurteilt und ausgewertet werden sollte, son- dern am besten durch – von ebenfalls unab- hängigen Experten vorgenommenen – Kom- petenzüberprüfungen ergänzt werden sollte, um die Ungerechtigkeit von Schulstandorten auszugleichen. Hat man trotzdem den Ein- druck, dass das Wissen und Können der Ju- gendlichen noch immer weit unter dem Ni- veau der 1950er-Jahre liegt – als Analphabe- tismus kein großes Problem war –, kann man getrost mit der Forderung nach mehr, ge- naueren: neueren, aussagekräftigeren, diffe- renzierenden, zusätzliche Dimensionen er- fassenden Tests antworten. Das Unglück der Betroffenen ist dabei ebenso garantiert wie das Glück der Testindustrie. Oder denken wir an die Digitalisierungs- propaganda, mit der das Bildungssystem der- zeit überschwemmt wird. Seit Jahren wird mit Fortsetzung Seite II „Nichts ist so flüchtig wie das Versprechen digitaler Innovationen.“ K. P. Liessmann, Träger des Watzlawick-Ehrenrings 2016. [ Foto: Picturedesk] Konrad Paul Liessmann erhielt am 10. Mai den Paul-Watzlawick- Ehrenring „für Gespräch und Dialog, für Diskurs zwischen wissenschaftlichen Disziplinen“. Aus diesem Anlass: ein Essay über Watzlawicks Aktualität, über Schule und Bildungspolitik, Belesenheit und literarischen Kanon, Selbstständigkeit und Autonomie des Einzelnen in Zeiten von staatlichem Regulie- rungs- und Kontrollwahn. Von Konrad Paul Liessmann Werde, der du bist! MITTWOCH, 11. MAI 2016 Paul Watzlawick Ehrenring

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IMPRESSUM: PAUL WATZLAWICK EHRENRING„Paul Watzlawick Ehrenring“ ist eine entgeltlicheSchaltung in Form einer Medienkooperation mit derÄrztekammer für Wien. Die redaktionelle Verantwor-tung liegt bei der „Presse“.Koordination: Ärztekammer für WienRedaktion: „Die Presse“ Verlags-Gesellschaft mbH& C0KG, 1030 Wien, Hainburger Straße 33Internet: diepresse.comwww.watzlawickehrenring.at

Aus dem Inhalt

Philosophicum LechInitiiert von Liessmann, Muxel undKöhlmeier wird Lech am Arlberg jedenHerbst zum Denker-Dorf. 2016 geht esum existenzielle Fragen. SEITE III

Jury und PreisträgerDas Who’s who des Paul-Watzlawick-Eh-renrings. SEITE III

Wozu Bildung?Ein Diskurs mit Stimmen aus Politik,Wirtschaft und Geistesleben zur Bil-dungssituation. SEITE IV

Adorno: Halbbildung„Das Halbverstandene und Halberfahre-ne indes ist nicht die Vorstufe der Bil-dung, sondern ihr Todfeind.“ Auszügeaus Theodor W. Adornos „Theorie derHalbbildung“. SEITE VI

Zum Gedenken, als AnspornÄrztekammerpräsident Thomas Szekeresund Laudator Hubert Christian Ehalt zurBedeutung des Ehrenrings. SEITE VIII

Klar ging esletztlich umder SouveräBürgers, demempfiehlt, sdigkeit zu tr

D as erfolgreichste Buch von PaulWatzlawick trägt den Titel „An-leitung zum Unglücklichsein“.Getreu der therapeutischen Ma-xime der paradoxen Intervention

gibt Watzlawick Menschen, die gern über ihrUnglück klagen, gute Ratschläge, wie sie sorichtig unglücklich werden können, damitdas Klagen sich auch wirklich auszahlt. Dasmit viel Humor geschriebene Buch, das 1983erschien, und unzählige Auflagen erlebte,wurde in der Regel dann auch als kontrain-tuitiver Vorschlag gelesen, wie man Unglückvermeiden kann – indem man den Anleitun-gen eben gerade nicht folgt. Übersehen hatman dabei, dass der listige Kommunika-tionsforscher und Therapeut im Vorspanneinen Gedanken von Dostojewski zitiert, derbesagt, dass Menschen, die mit Glücks-gütern aller Art überschüttet werden, allestun werden, um ein bisschen unglücklich zuwerden. Und Watzlawick folgert daraus: „Esist höchste Zeit, mit dem jahrtausendealtenAmmenmärchen aufzuräumen, wonachGlück, Glücklichkeit undGlücklichsein erstrebens-werte Lebensziele sind.“

Das ist so provokantwie doppeldeutig. DiePointe bei Watzlawick:Der paternalistische Staathabe es sich zur Aufgabegemacht, das „Leben desStaatsbürgers von der Wie-ge bis zur Bahre sicherund glückstriefend zu ge-stalten“. Dieser Aufgabekann er – mit einer ungeheuer aufgeblähtenBürokratie – nur nachkommen, wenn dieBürger sich ohne Staat allein gelassen undunglücklich fühlen. Jeder Ansatz zur Mün-digkeit, jede Form, für sein Leben selbst ver-antwortlich zu sein, minimiert die Chancendes Staates, dem Bürger sein Glück zu garan-tieren. Die Anleitung zum Unglücklichseinmöchte dieser Gefahr ironisch vorbeugenund zeigen, was der Einzelne zu seinem Un-glück beitragen kann, um die Interventions-ansprüche des Staates zu erhöhen.

Klar ging es Watzlawick letztlich um dieStärkung der Mündigkeit und Souveränitätdes Bürgers, dem er augenzwinkernd emp-fiehlt, seine Unmündigkeit und Unselbst-

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ständigkeit zu trainieren. Watzlawick schriebin einer Zeit, in der er hoffen konnte, dassder Leser sich an dieser Ironie erfreuen unddahinter den aufklärerischen Impuls erken-nen und in den Anleitungen eine zynischeHandreichung sehen konnte, deren Nichtbe-folgung zwar kein Glück, aber mehr Selbst-ständigkeit und Autonomie des Einzelnenmöglich machen sollte.

Die Zeiten haben sich gewandelt. Ironie,Doppeldeutigkeiten und Paradoxien – seitder Antike wesentliche Ingredienzien vonLebensweisheit – haben in einer Kultur derEindeutigkeit, die nur noch Gut und Böse,rechts und links, Richtiges und Falscheskennt, ausgespielt. Ein zeitgenössischer Le-ser würde sich nicht nur an dem konsequentverwendeten generischen Maskulinum beiWatzlawick stören, sondern vor allem ein-wenden, dass es menschenverachtend wäre,Menschen Anleitungen zu ihrem Unglück indie Hand zu geben. Implizit bestätigt dasGlücksdiktat der aktuellen Bildungspolitik dieschlimmsten Befürchtungen Watzlawicks.

Dass Watzlawick dieSchule und die Bildungs-politik als Beispiel unein-lösbarer staatlicherGlücksversprechen zitiert,kommt nicht von unge-fähr. Ohne alle Ironiescheint sich die Bildungs-politik der vergangenenJahre an genau jene Emp-fehlungen zu halten, diedas reale Unglück verstär-ken, indem die Illusion

von Glück beschworen wird. Das beginnt da-mit, dass in den vergangenen Jahren alle Ein-richtungen, in denen Kinder und junge Men-schen aufbewahrt, kontrolliert, erzogen, trai-niert, beschult und qualifiziert werden, zuBildungseinrichtungen erhoben wurden. Dasführt zu den paradoxen Effekten, dass einfa-che Fragen wie etwa der basale Erwerb vonKulturtechniken und Tischsitten zu Bildungs-fragen stilisiert werden, was das Unglück ver-mehrt, wenn bekannt wird, dass viele Kinderals Analphabeten die Grundschulen verlas-sen. Weil es ja um Bildung geht, muss gleicheine Bildungsrevolution ausgerufen werden,müssen Bildungsdirektionen eingerichtetund Ganztagsschulen gefordert werden. Auf

die Idee, dass vielleicht die moderne Schreib-und Lesedidaktik wenig zielführend ist undes auch nicht wirklich klug ist, Kindern, diedie Unterrichtssprache nicht beherrschen, indieser das Lesen und Schreiben beizubrin-gen, darf man dann nicht mehr kommen.

Eine zentrale Anweisung von Watzlawick,um unglücklich zu werden, lautet: mehr des-selben. Das Grundprinzip dieser Strategiebesagt, dass man von der Richtigkeit einesKonzepts überzeugt ist; sollte es sich in derWirklichkeit nicht bewähren, liegt es nur da-ran, dass man sich noch nicht genügend an-gestrengt hat. Das Schöne an diesem Konzeptist, dass es nicht zu widerlegen ist, weil aufalle Einwände geantwortet werden kann: Ja,es stimmt, weil man eben noch nicht genugdavon gemacht oder etwas noch nicht flä-chendeckend eingeführt oder nicht in dernötigen Intensität wiederholt hat.

Wenn mehr Schule alles verbessert, wa-rum dann nur Ganztags- und nicht gleichTag- und Nachtschulen? Früher nannte mandas übrigens Internate. Oder nehmen wir dieaus diesem Grund so beliebten Bildungs-tests: Sie produzieren objektive Daten, schaf-fen internationale Vergleichbarkeit und ver-bessern dadurch das System. Wird diesesnicht verbessert, brauchen wir mehr Bil-dungstests: Pisa, Iglu, Timms, Bildungsstan-dardtests für Kindergärten, Volksschulen,Mittelstufen, eine zentralisierte Reifeprüfung,die nicht nur von unabhängigen Expertenbeurteilt und ausgewertet werden sollte, son-dern am besten durch – von ebenfalls unab-hängigen Experten vorgenommenen – Kom-petenzüberprüfungen ergänzt werden sollte,um die Ungerechtigkeit von Schulstandortenauszugleichen. Hat man trotzdem den Ein-druck, dass das Wissen und Können der Ju-gendlichen noch immer weit unter dem Ni-veau der 1950er-Jahre liegt – als Analphabe-tismus kein großes Problem war –, kann mangetrost mit der Forderung nach mehr, ge-naueren: neueren, aussagekräftigeren, diffe-renzierenden, zusätzliche Dimensionen er-fassenden Tests antworten. Das Unglück derBetroffenen ist dabei ebenso garantiert wiedas Glück der Testindustrie.

Oder denken wir an die Digitalisierungs-propaganda, mit der das Bildungssystem der-zeit überschwemmt wird. Seit Jahren wird mit

Fortsetzung Seite II

„Nichts ist so flüchtig wie das Versprechen digitaler Innovationen.“ K. P. Liessmann, Träger des Watzlawick-Ehrenrings 2016. [ Foto: Picturedesk]

Konrad Paul Liessmann erhieltam 10. Mai den Paul-Watzlawick-Ehrenring „für Gespräch undDialog, für Diskurs zwischenwissenschaftlichen Disziplinen“.Aus diesem Anlass: ein Essay überWatzlawicks Aktualität, überSchule und Bildungspolitik,Belesenheit und literarischenKanon, Selbstständigkeit undAutonomie des Einzelnen inZeiten von staatlichem Regulie-rungs- und Kontrollwahn.

Von Konrad Paul Liessmann

Werde,derdu bist!

EINE INITIATIVE DER ÄRZTEKAMMER FÜR WIEN MITTWOCH, 11. MAI 2016

Paul Watzlawick Ehrenring

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Liessmanns Kanonder österreichischen Literatur

Walther von der Vogelweide: LiederWernher der Gartenaere: „Meier Helmbrecht“Oswald von Wolkenstein: LiederFranz Grillparzer: „König Ottokars Glück

und Ende“; „Der arme Spielmann“Nikolaus Lenau: GedichteJohann Nestroy: „Lumpazivagabundus“;

„Der Talisman“Ferdinand Raimund: „Der Verschwender“Adalbert Stifter: Erzählungen;

„Der Nachsommer“Marie von Ebner-Eschenbach:

„Das Gemeindekind“Ferdinand von Saar: „Die Steinklopfer“Ludwig Anzengruber: „Das vierte Gebot“Peter Rosegger: „Jakob der Letzte“Leopold von Andrian: „Im Garten der

Erkenntnis“Arthur Schnitzler: „Anatol“; „Reigen“;

„Das weite Land“Hugo von Hofmannsthal: „Der Schwierige“;

„Elektra“; GedichteKarl Kraus: „Die letzten Tage der Menschheit“Heimito von Doderer: „Ein Mord, den jeder

begeht“; „Die Strudlhofstiege“Robert Musil: „Die Verwirrungen des

Zöglings Törleß“; „Der Mann ohneEigenschaften“ (1. Buch)

Rainer Maria Rilke: GedichteFelix Salten: „Josefine Mutzenbacher“Georg Trakl: GedichteStefan Zweig: „Schachnovelle“Joseph Roth: „Die Kapuzinergruft“Franz Kafka: „Der Prozess“Ödön von Horvath: „Geschichten aus dem

Wiener Wald“; „Jugend ohne Gott“Hermann Broch: „Der Tod des Vergil“Christine Lavant: „Die Bettlerschale“Ingeborg Bachmann: „Malina“; GedichteH. C. Artmann: „med ana schwoazzn dintn“Ernst Jandl: „Laut und Luise“Thomas Bernhard: „Verstörung“

Zur Person: K. P. Liessmann

1953: Geboren in Villach.Akademisches: Studium der Philoso-phie, Germanistik und Geschichte an derUniversität Wien. Als Student zeitweiligbei den Marxistisch-Leninistischen Stu-denten. 1976 Magisterium, 1979 Promo-tion, 1989 Habilitation. Universitätspro-fessor für Methoden der Vermittlung vonPhilosophie und Ethik an der UniversitätWien. 2004 bis 2008 Studienprogramm-leiter für Philosophie und Bildungswis-senschaft ebendort. Seit 2008 Vizedekander Fakultät für Philosophie und Bil-dungswissenschaft.Seit 1997 wissenschaftlicher Leiter desPhilosophicums Lech, Herausgeber dergleichnamigen Buchreihe bei Zsolnay.Seit 2002 Leiter des Friedrich-Heer-Ar-beitskreises der Österreichischen For-schungsgemeinschaft und Herausgeberder Werke Heers im Böhlau Verlag.

Publikationen (Auswahl)

1994: „Der Aufgang des Abendlandes.Eine Rekonstruktion Europas“1994: „Über Nutzen und Nachteil des Vor-lesens. Eine Vorlesung über die Vorlesung“2000: „Philosophie des verbotenen Wis-sens“2004: „Spähtrupp im Niemandsland“2006: „Theorie der Unbildung. Die Irrtü-mer der Wissensgesellschaft“2009: „Schönheit“2010: „Das Universum der Dinge. Zur Äs-thetik des Alltäglichen“2012: „Lob der Grenze. Kritik der politi-schen Unterscheidungskraft“2014: „Geisterstunde. Die Praxis der Un-bildung. Eine Streitschrift“

Auszeichnungen (Auswahl)

1996: Ö. Staatspreis für Kulturpublizistik1998: Kulturpreis der Stadt Villach2003: Ehrenpreis des österreichischenBuchhandels für Toleranz in Denken undHandeln2007: Wissenschaftler des Jahres 2006des Klubs der österreichischen Bildungs-und Wissenschaftsjournalisten2010: Donauland-Sachbuchpreis2014: Preis der Stadt Wien für Geistes-wissenschaften2016: Paul-Watzlawick-Ehrenring derÄrztekammer für Wien

II PAUL WATZLAWICK EHRENRING MITTWOCH, 11. MAI 2016

Werde, der du bist! Fortsetzung von Seite I

Die Provokarischen Wisin der persöveränderndtrollierbareLiteratur.

Computern, Laptops, Whiteboards, Tablets,Smartphones unterrichtet, und alle Erfahrun-gen und Untersuchungen zeigen, dass derEinsatz dieser Technologien nichts verbes-sert, die Lernleistung, die Konzentrationsfä-higkeit, die Artikulationsmöglichkeit, dasWissen nicht steigen, sondern sinken, besten-falls gleich bleiben, und trotzdem wird unent-wegt getrommelt, dass die Digitalisierung derBildung das Gebot der Stunde sei. Plötzlich istdafür auch Geld vorhanden, das angeblichfür andere, sinnvollere Einsätze fehlt.

Dabei ist nichts so flüchtig wie das Ver-sprechen digitaler Innovationen. Noch vorKurzem waren etwa für Universitäten MOOCsder letzte Schrei: online gestellte Vorlesungen,die es weltweit ermöglichen sollen, von zuHause aus in Harvard oder Stanford zu stu-dieren. Da ja jedes Kind hochbegabt sein soll,wohl kein Problem, ganz im Gegenteil: eineungeheure Möglichkeit, nahezu allen jungenMenschen der Erde den Zugang zu Eliteuni-versitäten zu ermöglichen. Da wurde inves-tiert, Start-ups schossen aus dem Boden, dieBertelsmann-Stiftung jubilierte, und technik-fromme Medien wie die „Zeit“ riefen begeis-tert die neue Bildungsrevolution aus.

Ohne großes Medienecho erklärte aller-dings erst jüngst John Hennessy, der Präsi-dent der Stanford University, die sich hier alsVorreiter verstanden hatte, in ebendieserWochenschrift das Ende des Experiments:„Die Vorstellung, MOOCs könnten das Rück-grat der akademischen Bildung im 21. Jahr-hundert werden, hat sich nicht bewahrhei-tet. Die Abbrecherquoten waren enorm, dieHeterogenität der Gruppen macht ein sinn-volles Curriculum fast unmöglich. Das Prä-senzstudium bleibt der Normalfall. Wir Men-schen brauchen fürs Lernen die persönlicheAnsprache, das Mentoring, die Unterstüt-zung.“ Und dann fällt lapidar der Satz: „DieRevolution fällt aus.“ Klar ist: Diese Erfahrun-gen und Einsichten werden niemanden daranhindern, die Digitalisierung der Schulbücher,Klassenzimmer und Hörsäle weiter voranzu-treiben. Es wird sich zwar nichts verbessern,aber mehr desselben ist immer gut – gut fürsUnglücklichsein.

Verhindert wird durch diese erlösungs-süchtige Penetranz übrigens auch eine nüch-terne Reflexion über den sinnvollen Einsatzdigitaler Technologien im Bildungswesen –ab wann, in welchem Ausmaß, bei welchenThemen. Und verhindert wird dadurch auchdie Frage, ob es nicht zur Aufgabe von Schu-le gehören könnte, analoge Techniken undKommunikationsformen als kritisches Kor-relat zu der den Alltag ohnehin überfluten-den Digitalisierung zu pflegen, und sei esnur, um dem einen Postulat des Hum-boldt’schen Bildungsbegriffs – der „Mannig-faltigkeit der Situationen“ – Genüge zu tun.Das andere ist übrigens „Freiheit“ gewesen.Aber wer spricht noch von Humboldt? Dassseine Werke längst online sind und auch vonjedem Bildungspolitiker kostenfrei herunter-geladen werden könnten, bestätigt eher dieThese, dass Digitalisierung allein keinen Bil-dungsschub bewirkt.

Was uns als Glück in der Bildung ver-kauft wird, wird uns unglücklich machen.Wie sieht es aber mit den umgekehrten Fäl-len aus? Könnte es sein, dass das, was uns alsUnglück in der Bildungausgetrieben wurde oderausgetrieben werden soll,das eine oder andereGlücksgefühl aufkommenlassen könnte? Kandida-ten dafür gäbe es viele.Das Gymnasium zum Bei-spiel, die alten Sprachen,die höhere Mathematikoder der literarische Ka-non. Bleiben wir bei Letz-terem. Der Kanon gehörteüber lange Jahre zum Kernbestand jedes Bil-dungscurriculums, die Kenntnis der Klassi-ker der Dichtkunst zeichnete den Gebildetenaus, der Besitz einer ansehnlichen Biblio-thek, in der die Klassikerausgaben einen Eh-renplatz einnahmen, war Ausdruck, Voraus-setzung und Zentrum der Bildung. Und dastraf nicht nur für das Bildungsbürgertumzu, sondern gehörte auch für jene zumFundament einer emanzipatorisch gedach-ten Bildung, die mit jeder BürgerlichkeitSchluss machen wollten. Die auf viele Bän-de angelegte „Bibliothek deutscher Klassi-ker“ war nicht nur ein gelungenes Editions-projekt der DDR, sondern bewahrte auchdie Erinnerung an jene These, nach der dieBildung der Massen nicht in der Ignoranzgegenüber dem Kanon, sondern in dessenkritischer Aneignung bestand. Davon ist im

Belesenheitdem GedanBücher gibtdie Welt unMenschen iHinsicht ärm

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Zeitalter der Kompetenzorientierung keineRede mehr.

Allerdings: Literarisches Wissen war im-mer schon umstritten. Die Reduktion diesesWissens auf eine Literaturgeschichte, diesich damit begnügte, Epochen zu konstruie-ren und ihnen Autoren und Werke zuzuord-nen, vermochte ebenso wenig zu befriedigenwie das Lernen der Inhaltsangaben diverserLiteraturlexika. Andererseits war der litera-risch versierte Mensch nicht nur einer, der ineinem bestimmten Segment kultureller Pro-duktion exzellente Kenntnisse aufwies, son-dern er galt auch in einem exemplarischenSinn als gebildet. Belesenheit war einmal na-hezu ein Synonym für einen avancierten Bil-dungsanspruch, und die-ser wiederum forderte ge-radezu ein Nahverhältniszu ganz bestimmten Bü-chern und Texten. Bele-senheit erschöpfte sichgerade nicht in einer wieimmer ausgereiften undartikulierten Texterschlie-ßungskompetenz, sondernverblüffte immer wiederdamit, was alles gelesenworden war. Belesenheitwar und ist deshalb immer auch eine Provo-kation. Sie verweist auf ein Privileg: dass esMenschen gibt, die Zeit haben, sich intensivmit literarischen Texten zu beschäftigen,ohne dass sie dadurch im Alltag oder in ih-rem beruflichen Umfeld wesentlich gewin-nen. Den Fall des Literaturwissenschaftlers,der Lesen zu seiner Profession gemacht hat,wollen wir dabei einmal ausklammern.

Jenseits der wissenschaftlichen Beschäfti-gung mit Literatur aber besteht die Heraus-forderung der Belesenheit auch im Ansprucheiner bestimmten Quantität. Nach der Lek-türe von drei Romanen und fünf Gedichtenist noch niemand belesen. Natürlich wäre esmüßig, darüber zu streiten, ab welcher Zahlgelesener Bücher jemand als belesen be-zeichnet werden könnte, aber dass es nichtnur einige sind, steht ebenso fest wie die still-schweigende Annahme, dass es nicht beliebi-ge, sondern bestimmte Texte sein müssen.Auch wer alle Romane von Karl May oderJoanne K. Rowling gelesen hat, wird nicht alsbelesen gelten, auch wenn Belesenheit dieLektüre dieser Autoren nicht ausschließt. Weres versteht, Karl May mit Hegel zu verbindenoder Joanne K. Rowling mit Max Weber ineine kritische Beziehung zu setzen, kommtder Idee von Belesenheit schon näher. Dieseselbst aber zehrt von dem Gedanken, dass esBücher gibt, ohne die die Welt und damit dieauf ihr lebenden Menschen in jeder Hinsichtärmer wären.

Literarische Bildung lebt von der Fiktion,dass es in der Tat Bücher gibt, deren Lektüreuns verändern kann, und dass dies nicht nuran uns, unserer Disposition und unserer Si-tuation liegt, sondern auch an genau diesenBüchern. Nur solch ein Denken legitimierteinen Kanon, und nur ein Kanon, wie um-stritten und veränderbar er auch immer seinmag, gibt eine Orientierung für das, was wirliterarische Bildung nennen können. Aller-dings gehört auch zu dieser Bildung: Je mehrich gelesen habe, desto klarer wird das Wis-

sen und Bewusstsein da-von, was ich alles nichtgelesen habe und was ichvielleicht nie lesen werde.Der sokratische Habitusdes Belesenen, der weiß,was er nicht weiß, wider-spricht prinzipiell der Ar-roganz des vermeintli-chen Bildungsbürgers, dermit aus dem Zusammen-hang gerissenen Zitatenhausieren geht, ebenso

wie dem auftrumpfenden Gebaren digitalerOmnipotenzfantasien, die suggerieren, allesim Griff zu haben und überall Bescheid zuwissen, weil überall ein Smartphone in derNähe ist.

Die Provokation literarischen Wissensbesteht nicht zuletzt in der persönlichkeits-verändernden Kraft der Literatur, die un-merklich vonstattengeht, keinen Zielvorstel-lungen folgt, nicht operationalisierbar unddeshalb auch nicht kontrollierbar und prüf-bar ist. Dass es Wissen, Kenntnisse, Einsich-ten, Praktiken, kognitive und seelische Dy-namiken gibt, die sich dem Zugriff der quali-tätssichernden Behörden entziehen, kratztan all jenen Quantifizierungs- und Messbar-keitschimären, ohne die die gegenwärtigeBildungsforschung ebenso wenig auszukom-men glaubt wie die Bildungspolitik. Der An-

ehrt vonen, dass esohne diediejederer wären.

spruch literarischer Bildung ist deshalb auchaus einem anderen Grund ein Ärgernis. Weilliterarische Erfahrungen – wie jede authenti-sche Form von Bildung – von Bildungsein-richtungen zwar ermöglicht und erleichtert,aber nicht erzwungen und auch nicht über-prüft werden können, widersprechen sieeinem Prinzip von Chancengerechtigkeit,das auf Erfolgsgleichheit abzielt. Lesen istein einsames Geschäft, und welche formen-den Auswirkungen eine Lektüre auf den Ent-wicklungs- und Bildungsprozess eines Men-schen hat, welches Interesse dadurch ange-stachelt, welches vielleicht sabotiert werdenkann, lässt sich weder planen noch prognos-tizieren. Literarische Bildung widerspricht

auch deshalb dem päd-agogischen Zeitgeist, weilder Anspruch, sie in Un-terrichtsprozessen zu ge-stalten, stets klarmacht:Dieser Unterricht kannletztlich nur für Einzelnestattfinden.

Ein Aspekt von Bele-senheit darf aber nichtübersehen werden: Manuntergräbt den Sinn vonLiteratur, wenn man nicht

auch deren Eigensinn bedenkt. Man kannBücher lesen wollen, weil man sie gelesenhaben will. Ob und welche Wirkung dieseLektüren haben, ob und inwieweit man sichdabei verändert, muss letztlich dahingestelltbleiben. Jeder Kanon verwies auch implizitauf diesen Eigenwert eines literarischen Tex-tes. Allein seine Gestalt, seine Besonderheit,seine ästhetische Qualität und Wirksamkeitrechtfertigen seine Lektüre – dazu bedarf esweder der Aktualisierung noch bestimmterEinordnungs- und Verwertungsstrategiennoch der Perspektive, dass man nach der Lek-türe sich und die Welt besser verstehen wer-de. Das Werk – und dies gilt für ästhetischeObjekte von Rang vielleicht schlechthin –stellt allein durch seine Existenz den Grundfür seine Rezeption dar. Dass man Shake-speares „Hamlet“, Dostojewskis „Schuld undSühne“, Thomas Manns „Zauberberg“ oderMusils „Mann ohne Eigenschaften“ gelesenhaben sollte, bedarf keiner weiteren Begrün-dung in Hinblick auf deren Funktionalität.Der verächtliche Hinweis, dass man sich sol-che Lektüren ersparen könne, handelte essich dabei doch um leeres und totes Bil-dungsgut, verrät mehr über die Idee von Bil-dung, als deren Verächtern lieb sein kann.

Schließen wir mit einem Gedankenexpe-riment, das auch eine Anleitung zum Un-glücklichsein abgeben könnte. Man stellesich vor, man begegnete einem gebildetenMenschen, der über die wichtigsten Erschei-nungsformen des Wissens, über Möglichkei-ten und Grenzen von Wissenschaft und For-schung Bescheid weiß, der im obigen Sinnbelesen ist, begründete Urteile und Wertun-gen formuliert, Wichtiges von Unwichtigem,Großes von Minderwertigem zu unterschei-den weiß und gerade deshalb sensibel, ge-nau, neugierig und unsicher ist: Wir wärenbeschämt, vielleicht von Neid erfüllt, viel-leicht unangenehm berührt, weil wir unsereeigenen Defizite plötzlich erkennen müss-ten. Und: Wir wären unglücklich und wür-den alles Mögliche vorbringen, um uns voruns selbst zu versichern, dass all dies dochunnütz, unnötig, vorgestrig und vor allemAusdruck eines ungerechten sozialen Privi-legs sei!

Und nun stellen wir uns vor, wir begeg-neten einem nach modernem Verständnisumfassend „kompetenten“ Menschen: derzwar lesen kann, ohne etwas wirklich Wichti-ges gelesen zu haben, der kommunizierenkann, ohne etwas zu sagen zu haben, der re-cherchieren kann, ohne dass ihn dabei etwasanderes fasziniert als die Frage der Verwert-barkeit des Recherchierten, der teamfähigist, ohne dass er dem Gruppendruck noch ir-gendeine Form von Individualität und damitEinsamkeit entgegenzusetzen wüsste, derselbstkompetent ist, weil er sich immer undüberall zu präsentieren und in Szene zu set-zen weiß, ohne wirklich eine Persönlichkeitentwickelt zu haben, der eine hohe Anwen-dungskompetenz besitzt, die es ihm erlaubt,alles Wissen sofort zu ignorieren, das nichtverspricht, effizient für eine Problemlösungeingesetzt zu werden – wie beruhigend, wieglatt, wie modern, aber auch wie bedeu-tungslos!

Fassen wir zusammen: je geringer die Bil-dungsansprüche, desto glücklicher die Men-schen. Dem Glücksunterricht an den Schu-len kann eine große Zukunft prognostiziertwerden.

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Who’s who desEhrenringsAlle Jurymitglieder und(bisherigen) Preisträger aufeinen Blick.

S eit die Ärztekammer für Wien 2008den ersten Paul-Watzlawick-Ehren-ring an Peter L. Berger überreichthat, hat sich einiges getan. Bisher

wurde der Preis für Kommunikation, In-terdisziplinarität und Weltoffenheit acht-mal vergeben. Ein Überblick:

DIE JURYDr. Erhard Busek ist Vizekanzler

a. D., Bundesminister für Wissenschaftund Unterricht a. D. und Vorstandsvorsit-zender des Instituts für den Donauraumund Mitteleuropa (IDM).

Univ.-Prof. Dr. Hubert ChristanEhalt ist österreichischer Historiker undAnthropologe. Er ist Wissenschaftsrefe-rent der Stadt Wien, Koordinator der Wie-ner Vorlesungen, Honorarprofessor ander Universität für angewandte KunstWien und der TU Wien.

Univ.-Prof. DDr. Ulrich Körtner istTheologe, Medizinethiker, Mitglied des Jo-hanniterordens, Ordenspfarrer der Kom-mende Österreich sowie Bundespfarrerder Johanniter-Unfallhilfe Österreich.

Mag. Peter Nömaier, MA, ist Kauf-männischer Leiter des Sigmund-Freud-Museums, stellvertretender Vorsitzenderder Sigmund-Freud-Privatstiftung und GFder Sigmund Freud GmbH.

Elisabeth J. Nöstlinger-Jochum istseit 2000 Producerin der Radiosendung„Das Salzburger Nachtstudio“, Moderato-rin und Autorin von Zeitungsartikeln undBüchern.

Rainer Nowak ist seit 1. Oktober 2012Chefredakteur und seit 2014 Herausgeberder „Presse“.

Univ.-Prof. Dr. Rudolf Taschner istProfessor an der Technischen UniversitätWien. Mit dem Projekt math.space setztesich Rudolf Taschner für den öffentlichenZugang zur Mathematik ein.

DDr. Christoph Thun-Hohensteinleitet seit 1. September 2011 das Museumfür angewandte Kunst (MAK) in Wien undwurde im März 2016 in diesem Amt bis2021 bestätigt.

Mag. DDr. Stefan Thurner ist Profes-sor für die Wissenschaft komplexer Syste-me an der Med-Uni Wien, wo er die Lei-tung des Instituts für die Wissenschaftkomplexer Systeme innehat.

Peter Weibel ist Künstler, Ausstel-lungskurator, Kunst- und Medientheoreti-ker. Seit Januar 1999 ist er Vorstand desZKM – Zentrum für Kunst und Medien-technologie Karlsruhe.

Arch. Dipl.-Ing. Dipl.-TP AlbertWimmer ist Architekt und Stadtplaner.

Em. o. Univ.-Prof. DDr. Paul Zuleh-ner ist einer der bekanntesten Religions-soziologen Europas, Theologe und katho-lischer Priester. Er emeritierte 2008.

DIE PREISTRÄGER2008: Dr. Peter L. Berger. Streitbarer

Philosoph, Soziologe und Christ. Globali-sierungskritiker und scharfzüngiger Ana-lytiker.

2009: Univ.-Prof. Dr. Aleida Ass-mann. Beschäftigt sich mit dem Phäno-men des kollektiven Gedächtnisses amBeispiel des Nationalismus oder derdeutsch-deutschen Vergangenheit.

2010: Hon.-Prof. Dr. Rüdiger Sa-franski. Zählt zu den bedeutendsten Wis-senschaftsautoren und Historikern derGegenwart.

2011: Prof. Mag. Arch. FriedrichAchleitner. Der große Chronist der öster-reichischen Architektur und gleichzeitigeiner der feinsinnigsten Poeten des Lan-des.

2013: Univ.-Prof. Dr. Walter Thir-ring. Hat die Dimensionen seiner Diszi-plinen gesprengt und ist an die Grenzender Physik gegangen.

2015: Univ.-Prof. Dr. Ruth Klüger.Eine der brillantesten Literaturwissen-schaftlerinnen und Essayistinnen, dieSelbstreflexion mit Philosophie verbindet.

2016: Univ.-Prof. Dr. Konrad PaulLiessmann. Einer der prononciertestenund in der breiten Öffentlichkeit bekann-testen Intellektuellen Österreichs.

Das Philosophicum Lech geht2016 existenziellen Fragen nach:Wie wollen wir leben? Was wissenwir über uns, über andere, überdie Welt? Warum Krieg, warumGewalt, warum Terror, warumGrausamkeit?Eine Initiative von Konrad PaulLiessmann, Ludwig Muxel undMichael Köhlmeier.

Von Sophia Klug

ÜberGott unddie Welt

E xistiert Gott? Darf man diese Frageüberhaupt stellen? In welcherWelt wollen wir leben? Und gibt esdie Welt überhaupt?Es sind große und kleine Fragen,

die Fragen nach dem, was die Welt im In-nersten zusammenhält, und die Fragen nachden Möglichkeiten und Grenzen menschli-chen Lebens und Zusammenlebens, die Fra-gen nach den großen Entwürfen und Ein-sichten und die Fragen nach dem kleinenGlück, die nicht nur die Philosophie um-treibt, bewegt und am Leben erhält.

Das Philosophicum Lech ist dem Bemü-hen entsprungen, diese Fragen zu diskutie-ren und vielleicht auch zu beantworten – aneinem besonderen Ort der Begegnung. DieIdee zu einem philosophischen Austausch inLech entstand im Gespräch zwischen Bür-germeister Ludwig Muxel und dem Vorarl-berger Schriftsteller Michael Köhlmeier. Alswissenschaftlichen Leiter luden sieUniv.-Prof. Dr. Konrad Paul Liessmann ein –das Philosophicum Lech war geboren. Fürsein Bemühen, wissenschaftliche Arbeiteiner breiten Bevölkerung zu vermitteln,wurde Prof. Dr. Konrad Paul Liessmann vonden Bildungs- und Wissenschaftsjournalis-ten als Wissenschaftler des Jahres 2006 aus-gezeichnet.

Das Philosophicum Lech hat sich als inter-nationales Zentrum für philosophische, kul-tur- und sozialwissenschaftliche Reflexion,Diskussion und Begegnung etabliert undstellt auch einen wesentlichen kulturellenImpuls für das Dreiländereck Deutschland/Österreich/Schweiz dar. Die großen Erfolgeder Tagungen der vergangenen Jahre ermuti-gen die Veranstalter, diesem Konzept auchweiterhin zu vertrauen.

Die Vorträge des Philosophicum Lechwerden im Zsolnay Verlag publiziert. Mit

dieser Buchreihe hat sich das Philosophi-cum Lech im akademischen und öffentli-chen Diskurs prominent positioniert. So istdas Philosophicum eine der wenigen wirk-lich transdisziplinär organisierten Tagungenim deutschen Sprachraum und stößt aufgroßes Publikumsinteresse und außeror-dentliches mediales Echo.

Die Themen bislang:A Faszination des Bösen. Über die Abgründedes Menschlichen (1997)A Im Rausch der Sinne. Kunst zwischen Ani-mation und Askese (1998)A Die Furie des Verschwindens. Über dasSchicksal des Alten im Zeitalter des Neuen(1999)A Der Vater aller Dinge. Nachdenken überden Krieg (2000)A Der listige Gott. Über die Zukunft des Eros(2001)A Die Kanäle der Macht. Herrschaft undFreiheit im Medienzeitalter (2002)A Ruhm, Tod und Unsterblichkeit. Über denUmgang mit der Endlichkeit (2003)A Der Wille zum Schein. Über Wahrheit undLüge (2004)A Der Wert des Menschen. An den Grenzendes Humanen (2005)A Die Freiheit des Denkens (2006)

ADie Gretchenfrage. „Nun sag’, wie hast du’smit der Religion?“ (2007)A Geld. Was die Welt im Innersten zusam-menhält (2008)A Vom Zauber des Schönen. Reiz, Begehrenund Zerstörung (2009)A Der Staat. Wie viel Herrschaft braucht derMensch? (2010)A Die Jagd nach dem Glück. Perspektivenund Grenzen guten Lebens (2011)A Tiere. Der Mensch und seine Natur (2012)A Ich. Der Einzelne in seinen Netzen (2013)A Schuld und Sühne. Nach dem Ende derVerantwortung (2014)A Neue Menschen! Bilden, optimieren, per-fektionieren (2015)

Beim 20. Philosophicum Lech – vom 21.bis 25. September 2016 – werden wieder re-nommierte Philosophen und Vertreter be-nachbarter Wissenschaften, darunter Prof.Dr. Heinz Bude, Prof. Dr. Carlos Fraenkel,Prof. Dr. Markus Gabriel, Prof. Dr. Käte Mey-er-Drawe, Dr. Rüdiger Safranski, Prof. Dr.DDr. h. c. Anton Zeilinger und viele mehrsich diesen fundamentalen Fragen stellenund mit dem Publikum darüber diskutieren:Woran können wir uns orientieren? Was gibtunserem Leben Sinn? Es gibt viel zu ergrün-den und zu erfahren. Q

WAS DENKEN KOLLEGEN, LESER, BEWUNDERER? ZITATE ZUM AUTOR UND DENKER LIESSMANN

„Der Philosoph hat uns nicht über eine breite Straßegeführt, die er längst planiert hat, er hat uns mit-genommen – hinein in den Urwald. Er hat den Pfadgeschlagen; wir sind ihm gefolgt . . .“ Michael Köhl-meier, Schriftsteller.

„Gewohnt eloquent erhebt der Wiener PhilosophEinspruch gegen das Pathos der Grenzüberschrei-tung. Ein Plädoyer für die Urteilskraft.“ ChristopherSchmid, „Süddeutsche Zeitung“, über „Lob derGrenze“.

„Liessmann betreibt angewandte Philosophie mitSinn für Paradoxien und für den Wert der Ideen-geschichte. Wohltuend hebt er sich von den kurz-atmigen Empörungen und wolkigen Globaldiagnosenab, die den Diskurs weiterhin bestimmen.“Wolfgang Sofsky, „Die literarische Welt“, über „Lobder Grenze“.

„Liessmann liefert nicht nur eine provokative Analyseder postindustriellen Gesellschaft mit kulturkriti-schem Impetus. Elegant verwebt er darüber hinausphilosophiegeschichtliche Überlegungen mit einerTheorie ästhetischer Erfahrung.“Michael Haas, „Der blaue Reiter“, über „Das Univer-sum der Dinge“.

„Doch Liessmann, das macht seine Texte zu einemLese- und Denkvergnügen, schmeißt sich nicht nurran an die Alltags- und Konsumkultur, sondern wahrtimmer den gemessenen Abstand eines Flaneurs.“Thorsten Jantschek, „Berliner Zeitung“, über „DasUniversum der Dinge“.

„Die kulturkritische Intention Liessmanns wird inseinen Texten verwirklicht mittels einer Verfahrens-weise, die souverän zwischen alltäglichen Detail-beobachtung, ausgefeilten Überlegungen und philo-

sophiegeschichtlichen Referenzen wechselt.“Manfred Geier, „Süddeutsche Zeitung“.

„Vom Projekt Europa bis zum Lärm in der Moderne:Liessmann behandelt die großen Fragen der Gegen-wart mit staunenswerter intellektueller Leichtigkeit.Die Essays des Bandes sind exzellent geschriebenund auch für Laien gut verständlich.“ Günter Kaindl-storfer, Deutschlandfunk, über „Lob der Grenze“.

„Notwendige Bücher sind solche, die Dogmen desöffentlichen Diskurses einer kritischen Prüfungunterziehen. Ein Dogma des Fortschrittsdiskurseslautet: Grenzen müssen aufgehoben werden, weil sieuns behindern. Diesem Dogma setzt Konrad PaulLiessmann sein ,Lob der Grenze‘ entgegen, ein not-wendiges Buch, das zu differenziertem Nachdenkeneinlädt.“ Christian Schacherreiter, „OÖN“, über„Lob der Grenze“.

MITTWOCH, 11. MAI 2016 PAUL WATZLAWICK EHRENRING III

Nachdenken und darüber diskutieren: eine Grundidee des Philosophicums. [ Foto: Picturedesk.com]

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Was hat der Einzelne vomLernen? Was hat die Gesellschaftvon der Bildung ihrer Mitglieder?„Zwar weiß ich viel, doch möchtich alles wissen“ – davon träumtnicht nur Fausts Famulus. Wasbraucht der Mensch eigentlich fürein selbstbestimmtes Leben? Undwie kann er es lernen?

Von Daniela Mathis

WozuBildung?EinDiskurs

An fehlender Neugier an neuem Lernstoff liegt es selten: Die allsommerlichen Kinderuniversitäten boomen in ganz Österreich. Schulen und Hochschulen dagegen kämpfen um Budget, Ausrichtung und Perspektiven. [ Fotos: picturedesk,]

Z war weiß ich viel, doch möcht’ ichalles wissen“ versus „Wenn ich großbin, geh ich AMS.“ Was sich der Fa-mulus Fausts erträumt und was vie-le Schüler angeben, später zu ma-

chen (Magazin „Biber“), bringt die Palette derBildungszugänge heute auf den Punkt. Neu-gierige Menschen auf der einen Seite, die sichin einem formalen System – Stichwort Bolog-na – zu eingezwängt fühlen, um ihre wahreNeugier zu stillen, und jene auf der anderenSeite, die davon weder etwas wissen nochwissen wollen. Warum? Was bringt Bildungheute dem Einzelnen? Und was der Gesell-schaft, deren Mitglieder sie sind?

In Bologna, ausgerechnet dort, wo 1219der erste Doktortitel vergeben wurde, unter-schrieben 1999 die Vertreter 29 europäischerLänder die letzte große Bildungsreform: Kür-zer, kompakter, international vergleichbarerist das Studium mit Bachelor, Master, PhDstatt Magister und Doktorat geworden. Undhat die Diskussionen beflügelt: Was ist ausdem Humboldt’schen Bildungsideal gewor-den? Steht Bologna für Lebenspraxis oderHalbwissen? Längst hat es auch die Schulenerfasst: Was soll denn wie gelehrt werden indieser unsteten Welt?

Neues Wissen in einen Kontext zu stel-len, Widersprüchliches zu bewerten, einzu-ordnen, mit den eigenen Erfahrungen zuvernetzten, zu lernen eben – dazu braucht esZeit und Begleitung. Schule könnte man die-sen Ort nennen, in dem motivierte, gut aus-gebildete und bezahlte Menschen in ausrei-chender Zahl das Einmaleins der Sprache,der Literatur, der Mathematik, der Wirt-schaft, der Psychologie und der Kommuni-kation vermitteln. Grundbildung eines jedenKindes, um zu verstehen, wie man selbst unddie Welt so tickt, um sich in ihr zurechtzufin-den. Das kostet. Zu viel?

Bildungswege sind immer Einzelschick-sale. Und zeichnen doch in Summe dieLandkarte einer Gesellschaft mit. Wie soll sieaussehen? Einige Gedanken und Ideen.

Wozu Bildung?

Dr. Erhard Busek

Wir befinden uns ineiner Zeit von Krisenund des allgemeinenWandels. Diese Weis-heit bestreitet nie-mand. Die Antworten,

wie wir das bewältigen können, gehen eben-so in die gleiche Richtung, nämlich in die Be-deutung von Bildung. Die Vorschläge dazusind schon wesentlich bescheidener, dennÖsterreich ringt seit geraumer Zeit um Bil-dungsreformen, wobei die Ergebnisse ansich schon schmal ausfallen und die Ver-wirklichung auf sich warten lässt. Man gefällt

sich in Österreich darin, über die Ergebnissezu streiten, sie infrage zu stellen oder sie spä-ter zu ergänzen, so als hätte man vorhernicht alles diskutiert. Zweifellos ist mehrErnsthaftigkeit und Ergebnisorientierungnotwendig.

Zu einem Problem möchte ich geson-dert Stellung nehmen: der Lehreraus- und-weiterbildung. Die jüngsten Bildungsrefor-men haben dazu eigentlich so gut wie nichtsenthalten, wobei die ewige Konzentrationauf Organisationsfragen nicht sehr sinnvollist. Migration und Flüchtlingsströme ma-chen es notwendig, hier noch mehr Augen-merk darauf zu richten, wobei es um die Fä-higkeit geht, Bildung zu vermitteln. Die Aus-einandersetzung zwischen Bund und Bun-desländern oder mit Interessenvertretungenallein lösen das Problem nicht. Wir brauchenmehr Freiheit der Gestaltung für jene, diedas im Wesentlichen tragen. Das sind dieLehrer und alle, die Inhalte dazu liefern kön-nen.

Vom Nutzen des Nutzlosen

Univ.-Prof. Dr. Peter Kampits

Gleich einer Möbius-schleife kreist die Bil-dungsdiskussion seitJahrzehnten in Öster-reich vor sich hin. Ab-gesehen von der Un-

schärfe des Bildungsbegriffs, der nicht mitWissenserwerb identisch ist, ertönt überallder Ruf nach Bildung, mit dem gemeint wird:praxis- und berufsnahe Ausbildung, Em-ployability, Zulieferung der Universitätsab-solventen für ökonomisch orientierte Zwe-cke – in möglichst kurzer Zeit von möglichstbilligem Lehrpersonal unterrichtet. Ziel deruniversitären Bildung ist nicht mehr das Be-fördern eines kritischen, freien und reflexi-ven Geistes der Studierenden, sondern das

rasche Absolvieren von Studiengängen, de-ren Uniformität durch das dreistufige Bolog-na-System begründet wird.

Schon die Semantik der Reformer, dieaus dem Managementkontext stammt, istverräterisch. Die Verwandlung der Unis inUnternehmen ist leider missglückt, indemsie Abschied genommen hat von einem Bil-dungsbegriff, der weit über die Erwerbungvon Fachwissen hinausgeht. Hinzu kommtder neue Fetisch der Datenspeicherung, dievorgibt, Wissen bilanzieren zu können.

Bildung hat keinen Nutzen im Sinn einerpraktischen Verwertbarkeit, denn Bildung istmehr als Wissensaneignung und -anwen-dung. Sie betrifft im Grunde genommen dieExistenz und Lebenswelt des Menschen.

Bildung ist Urteilskraft

Elisabeth J. Nöstlinger

Bildung ist die Antwortauf die Orientierungs-losigkeit unserer Weltund die Grundlage,neue Chancen zu nut-zen, die Herausforde-

rungen der Zukunft anzunehmen, dem Le-ben einen Sinn zu geben. Bildung, nicht Wis-senschaft, nicht Information, nicht Kommu-nikation, nicht moralische Aufrüstung befä-higt zur Analyse und Reflexion der Gescheh-nisse. Nur der gebildete Mensch kann seineGrenzen überschreiten, seinen Horizont er-weitern, sich selbst erkennen.

Welche Art von Bildung ist dafür nötig?Genügt es, in unserer globalisierten Weltdas humanistische Menschenbild, geprägtvom Geist der Aufklärung, vor sich herzu-tragen, ohne die antiken politischen undreligiösen Gesellschaften in Europa, desOrients, der indigenen Völker anderer Kon-tinente zu kennen? Muss nicht jeder eman-zipierte Mensch daran interessiert sein, un-

sere Zukunft auf der Basis des Wissens mit-zubestimmen? Der Berliner Philosoph Pe-ter Bieri, definiert Bildung als „etwas, wasMenschen mit sich und für sich machen:Man bildet sich.“ Eine Ausbildung durch-läuft man, um etwas zu können, durch Bil-dung streben wir danach, „auf eine be-stimmte Art und Weise in der Welt zusein“. Dazu gehört die Wachheit für unbe-antwortete Fragen, die Bereitschaft zurSelbstverantwortung und Verantwortung inder res publica.

In diesem Sinn gebildet zu sein ermög-licht dem Menschen jene Beharrlichkeitaufzubrechen, der zu bleiben, der er immerschon war. Unbeirrbar an seine Gewohnhei-ten gefesselt und in seinen Vorurteilen ver-haftet.

Jeden Tag ein Gedicht

Mag. Inge Scholz-Strasser

Bildungspolitik be-ginnt mit einem Ge-dicht. „Wozu Bildung“bedeutet daher, dentäglichen Schulunter-richt nicht mit einem

Gebet, sondern mit einem Gedicht zu begin-nen. So könnte die Vision einer aufgeklärtenGesellschaft lauten. Eine Kultur und ihre Be-deutungsmuster zu erkennen heißt auch, sieentziffern zu können.

Dazu eine Geschichte: Ich fahre U-Bahn.Neben mir sitzt ein kleines Mädchen (musli-misch, in der Großfamilie reisend und kurzvor der voraussichtlichen Verschleierung)voller Neugier – ich lese ein Magazin einerdeutschen Wochenzeitschrift – und sie gucktin mein Reisemagazin, wo die schönstenHotspots dieser Welt aufgezählt sind – dies-mal mit Gedichten verbrämt. Und sie fängtan, leise lispelnd zu lesen – in meinem Ma-gazin, über das Lesen hineinwachsend mit-

ten in ein Hölderlin-Gedicht. Ich neige dieZeitung mehr zu ihr, und sie liest weiter. Un-berührt. Sie wollte einfach ihr Lesen erpro-ben, Wort für Wort, sich in die fremde Spra-che hineinspulend, mit Hölderlin. Leise lis-pelnd. Und als ich aussteigen musste, fragteich sie: „Soll ich dir die Zeitung schenken?“,und sie ganz einfach: „Nein, danke. Ich habeschon fertig gelesen.“

Bildungspolitik heißt, den Menschen dieChancen zu eröffnen, auf die sie in einer auf-geklärten Gesellschaft hoffen dürfen, selbstwenn sie in anderen – nicht der Aufklärungverpflichteten Gesellschaften – aufgewachsensind. Sie werden unsere Kultur entziffern ler-nen. Und – hoffentlich – wir ihre.

Schlüssel zur Teilhabe

Dr. Andreas Mailath-Pokorny

Bildung ist der Schlüs-sel zur gesellschaftli-chen Teilhabe undSelbstbestimmung.Diese triviale Einsichthat bis heute nichts an

Gültigkeit verloren, auch wenn sich das, wasunter Bildung verstanden wird, veränderthat. Der Zugang zur Bildung, die Freiheit, dievielfältigen Angebote, ungeachtet sozialerFaktoren und Zuschreibungen, in Anspruchnehmen zu können, ist von anhaltender po-litischer Relevanz. Der in Europa selbstver-ständlich gewordene freie Zugang zu Bil-dung wird gerade wieder infrage gestellt –durch sich verstärkende ökonomische Ge-gensätze, durch sich rasant verschiebendedemografische Bedingungen und daraus re-sultierende politische Extrempositionen.Der Konsens, dass sämtliche Bildungsange-bote für alle offen stehen müssen, wird brü-chig und muss wieder gestärkt werden. Vordiesem Hintergrund ist die grundsätzlicheFrage nach der Funktion von Bildung einfach

zu beantworten: Bildung ist ein Weg von vie-len, um soziale Gerechtigkeit herzustellen.Dieser leichten Antwort steht eine schwie-rige und im Detail komplexe Umsetzung ge-genüber. Publikationen wie diese Sonder-ausgabe sind ein weiterer Schritt in dieser fa-cettenreichen Debatte.

Zentrales Aus für die Literatur?

Daniela Strigl

Spricht man mit enga-gierten Deutschlehre-rinnen und -lehrern,wird klar, dass dieEinführung der Zen-tralmatura das Ende

eines Literaturunterrichts, der diesen Na-men verdient, besiegelt hat. Geboten wer-den muss jetzt ein maturaorientiertes Trai-ning von einigermaßen beliebig anmuten-den Textsorten, vom Leserbrief bis zur In-terpretation, nicht zu verwechseln mit derTextanalyse. Literarische Themen sindmöglich, sie beschränken sich aber auf kur-ze Vorlagen, die mit der Aufgabe mitgelie-fert werden und geradezu programmatischdie österreichische Literatur auszublendenscheinen. Anders als in etlichen deutschenBundesländern konnten sich die Verant-wortlichen hierzulande nicht auf einen Ka-non wesentlicher Werke deutscher Sprache,eine Pflichtlektüre für die Oberstufe, eini-gen. Das führt dazu, dass die Behandlungumfangreicherer Beispiele im Deutschun-terricht als Luxus betrachtet und nur nochvon überdurchschnittlich motivierten Lehr-kräften unternommen wird. Dichtung ver-kommt so zur bloßen Stichwortlieferantinfür aktuelle politisch-ideologische Erörte-rungen; Fragen nach der künstlerischenForm werden gar nicht mehr gestellt. Da-raus folgt aber auch, dass jene, die nachder Matura Germanistik studieren, nicht

mehr auf ein in groben Zügen gemeinsa-mes Corpus von literarischen Texten zu-rückgreifen können. Literaturgeschichtewird in der Schule ohnehin nur noch rudi-mentär vermittelt.

Der Kanon, griechisch das Lineal, dieRichtschnur, ist den sogenannten Bildungs-experten, die nach einer schleichendenfeindlichen Übernahme das Feld der Schul-praxis beherrschen, verdächtig: Einen Lehr-stoff vorzuschreiben, Wissensgebiete abzu-stecken halten sie schlicht für reaktionär. EinLektürekanon lässt sich aber auch andersdeuten: als Einladung für junge Menschen,sich kritisch und intensiv mit Kunstwerkenauseinanderzusetzen und nicht mit sach-textkonformen mundgerechten Häppchenabspeisen zu lassen. Die Deutschzentralma-tura 2015 etwa lud mit einer Kurzgeschichtevon Patrick Süskind dazu ein, den „Zwangzur Tiefe“ zu kritisieren – was den Aufgaben-stellern offenbar aus der Seele sprach. Kano-nische Leselisten sind nicht die Zehn Ge-bote; sie können diskutiert und regelmäßigüberarbeitet werden. Verzichtet man jedochauf einen literarischen Kanon, so nimmtman künftigen Generationen die Chance aufeine ideelle und ästhetische Gesprächsbasis,auf einen gemeinsamen Grundstock desWissens, auf dem sich individuell aufbauenlässt, und verabschiedet sich dezidiert voneinem Begriff der Bildung, der seine Wurzelnim Humanismus hat. Aber genau das warwohl der Sinn der fatalen Reform.

Ärzte, die schreiben und dichten

Univ.-Prof. Dr. Thomas Szekeres

Ich bekenne: Ich binein Bildungsbürger.Und ich weiß vielesnicht, was man lautBildungskanon eigent-lich wissen sollte. Ich

sehe aber noch immer den klassischen, mankönnte sagen klischeehaften Hausarzt vormir: umfassend gebildet, musikalisch oderliterarisch tätig, ein Kenner der Philosophieund der Künste. Mich verwundert, dass es soviele Ärzte gab und gibt, die literarisch oderim Unterhaltungsbusiness tätig sind. Von M.Ludwig über Georg Ringsgwandl bis zu Pau-lus Hochgatterer, dem österreichischen Ro-mancier. Ein ehemaliger Ärztekammer-Prä-sident war begnadeter Komponist und Ken-ner von Musikinstrumenten, viele Ärzte sindim Journalismus tätig, viele können populär-wissenschaftlich schreiben, wie meine Kolle-gen Dietrich Grönemeyer und Manfred Lütz,oder auch Giovanni di Maio. Sie geben derGesellschaft weiter, was Gesundheitsbe-wusstsein bedeutet.

Ärzte sind im Wesentlichen Kommuni-katoren und Empathiker, wenn sie gute Ärztesind. Dazu braucht es mehr als nur Fachwis-sen, nämlich die Fähigkeit zum vernetztenDenken und die Begabung, anderes, nichtmedizinisches einzubeziehen. SigmundFreud war als Psychoanalytiker und alsSchriftsteller bedeutend, sogar Kandidat fürden Nobelpreis, und Arthur Schnitzlers Dra-men sind bis heute aktuelle Studien der See-le. Bildung des Herzens und des Geistes. Dasist es, was mich leitet.

Kreative Bildung in der digitalenModerne

DDr. Christoph Thun-Hohenstein

Die Digitalisierung istüberall: Sie durch-dringt alle Lebensbe-reiche und betreibteinen rasanten, radi-kalen Umbau mensch-

licher Gesellschaft. Bildungssysteme stehendadurch vor der größten Herausforderungseit Jahrhunderten. Auf der einen Seite istmit dem Internet das Wissen der Mensch-heit jederzeit abrufbar, auf der anderen Sei-te sehen die Menschen vor lauter Bäumenden Wald nicht mehr. Zudem kann heuteniemand mit Sicherheit vorhersagen, wiesich unsere Arbeitswelt in 20 Jahren gestal-ten wird; klar ist nur, dass Roboter mit ex-ponentiellem Wachstum menschliche Ar-beit übernehmen und dass die digitale Er-weiterung des menschlichen Hirns dem-nächst salonfähig wird.

Vor diesem Hintergrund hat Bildung drei– miteinander verknüpfte – Kernaufgaben:Erstens muss sie uns zu UniversalistInnenmachen, d. h. ausreichend Orientierung ver-

mitteln, damit wir den Überblick behaltenund ganzheitlich denken und handeln kön-nen; dies betrifft insbesondere auch demo-kratische und andere menschliche Werte,also die Pflege eines neuen Humanismus imdigitalen Zeitalter. Zweitens muss siemenschliche Kreativität bestmöglich för-dern, damit wir im Beruf, aber auch privatviel Interessanteres als die Algorithmen zubieten haben. Auf Basis dieser beiden Kern-aufgaben muss sie uns drittens Spezialisie-rungen anbieten, die uns ein würdiges undsinnstiftendes Leben ermöglichen. Wennsich ohnehin alles ändert, kann sich bei ent-sprechendem Ehrgeiz auch viel zum Gutenwenden!

Brauchen wir mehr Bildung?

Peter Nömaier

Bildung gilt heute alsSchlüssel zu gesell-schaftlichem Aufstiegund wirtschaftlicherProsperität: Menschenbringen erlernte fachli-

che Fertigkeiten in den ökonomischenProzess ein, komplexe Produktions- und Lo-gistikabläufe werden von immer höher spe-zialisierten Arbeitskräften gesteuert. Einefachspezifische und laufend aktualisierteAusbildung auf hohem Niveau ist daherGrundvoraussetzung für Erfolg im Beruf.Dieses (Aus-)Bildungsideal drängt die Be-deutung klassischer humanistischer Bildungin den Hintergrund. Der direkt ableitbarewirtschaftliche Nutzen eines breiten Allge-meinwissens scheint überschaubar, überAusbildung hinausgehendes Wissen drohtdamit zum Privatvergnügen zu werden.Dennoch ist diese Form der Bildung zentralfür eine moderne, entwicklungsfähige Ge-sellschaft: Respekt, Offenheit, Toleranz undBewusstsein für historische und aktuelle Zu-sammenhänge werden gerade durch kriti-sches Denken geschult. Der deutsche Psy-choanalytiker und Schriftsteller AlexanderMitscherlich konstatierte 1938 angesichtsder bildungsfeindlichen Politik der National-sozialisten: „Die Demokratie ist auf dasEngste mit der Bildung verknüpft.“ In Zeitensteigender Politikverdrossenheit mit demRuf nach einem starken Staat mit starkenMännern, und wiederkehrenden demokra-tie- und freiheitsfeindlichen Attacken aufunsere Gesellschaft, lässt sich – mit Alexan-der Mitscherlichs Diktum vor Augen – klarsagen: Ja. Wir brauchen mehr Bildung. Sie istwichtiger denn je.

Keine Blaupause nach Masterplan

Rudolf Taschner

Den Bildungsdiskurs,der sich aktuell in Klas-senzimmern, in Hörsä-len und in Seminar-und Prüfungsräumen,in Redaktionsstuben

und in der realen Politik abspielt, unterziehtder dieses Jahr mit dem Paul-Watzlawick-Ring geehrte Konrad Paul Liessmann einerbeinharten Kritik: Mit der ihm eigenen glas-klaren gedanklichen Präzision und mit demihn auszeichnenden bewundernswerten En-gagement für die Ideale der traditionellenBildung.

Alle fordern Bildungsreform. Der Markt,auf dem Bildungsforscher, Agenturen, Test-institute und Lobbys der Bildungspolitik ihrUnwesen treiben, floriert. Aber niemand vonihnen weiß, was Bildung bedeutet, ob siemarxistischer, anarchistischer, emanzipato-rischer, ökologischer oder welcher Naturauch immer sein möge. Allein, dass sie an-ders als die traditionelle sein müsse, war undist bis heute allen selbst ernannten Bildungs-experten und deren Epigonen klar.

Liessmann hingegen beweist, dass Bil-dung nicht nach der Blaupause eines Mas-terplans gelingt, dass sich Bildung allein imDialog zwischen der lernenden Person undihrem Vorbild vollzieht – jener Lehrerper-sönlichkeit, die kraft ihres Wissens und ihrerAusstrahlung zu bilden vermag. So einfachwäre es, und so klar vermochte schon Dioge-nes das Wesen von Bildung zu beschreiben,dessen kynischer Vernunft sich Liessmannverpflichtet fühlt: als Mittel zur Disziplinie-rung der Jungen und als Trost für die Alten.Als Zierde für die Reichen und als Reichtumfür die Armen. [ Foto: Fabry (4), APA, Pauty, Bruckberger]

IV PAUL WATZLAWICK EHRENRING MITTWOCH, 11. MAI 2016

MITTWOCH, 11. MAI 2016 PAUL WATZLAWICK EHRENRING V
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Und heute?Unbildung!In Fortführung vonTheodor W. Adornos „Theorieder Halbbildung“.

Von Konrad Paul Liessmann

A ls Theodor W. Adorno im Jahre1959 seine „Theorie der Halbbil-dung“ schrieb, konnte er diesnoch unter der soziologischen

Prämisse tun, dass die humanistische Bil-dung, wird sie zum Ziel von Menschen,denen die dafür notwendigen Vorausset-zungen – vorab die Muse – nicht gewährtwerden, zur Halbbildung herabsinkenmuss.

Unter den gegenwärtigen Bedingun-gen radikalisiert sich dieses Konzept undnimmt doch eine andere Wendung. Wäh-rend Halbbildung noch kritisch auf dieIdee von Bildung bezogen werden konn-te, verliert diese nun jede Legitimität. DiePartikularisierung, Fragmentierung undgleichzeitige universelle Verfügbarkeit desWissens lässt sich auf keine verbindlicheBildungsidee mehr beziehen, auch nichtin einem kritischen Sinn. Nicht Halbbil-dung ist das Problem unserer Epoche,sondern die Abwesenheit jeder normati-ven Idee von Bildung, an der sich so etwaswie Halbbildung noch ablesen ließ.

Alle Bildungstheorie heute müsste, ge-messen an dem, was in der europäischenTradition seit der Antike unter der Bild-barkeit des Menschen verstanden wordenwar, und in Fortführung des kritischenProgramms Adornos deshalb eine „Theo-rie der Unbildung“ sein. Unbildung meintdabei nicht die schlichte Abwesenheit vonWissen, auch nicht eine bestimmte Formvon Unkultiviertheit, sondern den mit-unter durchaus intensiven Umgang mitWissen jenseits jeder Idee von Bildung.Unbildung heute ist weder ein individuel-les Versagen noch Resultat einer verfehl-ten Bildungspolitik: Sie ist unser allerSchicksal, weil sie die notwendige Konse-quenz der Kapitalisierung des Geistes ist.

Unbildung als Konsequenzder Kapitalisierung des GeistesKeine Frage, dass die Spuren von Halb-bildung, wie Adorno sie diagnostizierte,noch allüberall zu sehen sind. Wer in denJahren der Bildungsreformen seit den1960er-Jahren sozialisiert wurde, wuchsin diesem Konzept auf, ohne Chance, ihmzu entgehen. Denn die bildungspoliti-schen Ansätze dieser Jahre, gleichgültig,von welcher Fraktion sie vorgetragenwurden, fühlten sich der Idee von Halb-bildung verpflichtet, auch wenn sie dieseselten beim Namen nannten. Ablesen ließsich das daran, dass Bildung als norma-tive Vorstellung noch existierte – so wiedas Gymnasium –, aber die Sache selbstallmählich aus dem Blick geriet. Wasals notwendiger Demokratisierungsschubund als Öffnung der Bildungssystemepropagiert wurde, hatte seinen Preis: dieInstitutionalisierung von Halbbildung.

Viel von dem, was man unter dem Ti-tel Didaktik rubrizierte, gehorchte einemeinfachen Prinzip: die Inhalte klassischerBildung zu einem äußerlichen, auf dievermeintlichen Bedürfnisse der Jugend-lichen zugeschnittenen, halbwegs attrak-tiven Sammelsurium von Reizen, Zugän-gen, Anregungen und Aufhängern ver-kommen zu lassen.

„Unbildung“ meint demgegenüber,dass die Idee von Bildung in jeder Hin-sicht aufgehört hat, eine normative oderregulative Funktion zu erfüllen. Sie istschlicht verschwunden. Der entfremdeteGeist, der bei Adorno noch in den zu Bil-dungsgütern herabgesunkenen Versatz-stücken einstiger Bildungsansprüche sichumtrieb, ist in akklamierte Geistlosigkeitumgeschlagen.

Unbildung heute ist deshalb auch keinintellektuelles Defizit, kein Mangel an In-formiertheit, kein Defekt an einer kogniti-ven Kompetenz – obwohl es alles dasauch weiterhin geben wird –, sondern derVerzicht darauf, überhaupt verstehen zuwollen.

Aus: Konrad Paul Liessmann: „Theorieder Unbildung. Die Irrtümer der Wissens-gesellschaft“ (2006 im Zsolnay Verlag, als

Taschenbuch lieferbar bei Piper).

VI PAUL WATZLAWICK EHRENRING MITTWOCH, 11. MAI 2016

Bildung: Zeichen der Emanzipa-tion des Bürgertums. OhneBildung hätte der Bürger kaumreüssiert. Das Halbverstandeneund Halberfahrene indes ist nichtdie Vorstufe der Bildung, sondernihr Todfeind: Bildungselemente,die ins Bewusstsein geraten,ohne in dessen Kontinuitäteingeschmolzen zu werden,verwandeln sich in böseGiftstoffe. Zum Problem derHalbbildung.

Von Theodor W. Adorno

Theorieder Halb-bildung

Die Entmendurch den klistischen Pprozess verProletariat asetzungen z

W as heute als Bildungskriseoffenbar wird, ist weder bloßGegenstand der pädagogi-schen Fachdisziplin nochvon einer Bindestrichsozio-

logie – eben der der Bildung – zu bewältigen.Die allerorten bemerkbaren Symptome desVerfalls von Bildung, auch in der Schicht derGebildeten selber, erschöpfen sich nicht inden nun bereits seit Generationen bemän-gelten Unzulänglichkeiten des Erziehungs-systems und der Erziehungsmethoden.

Isolierte pädagogische Reformen alleinhelfen nicht. Ebenso wenig reichen Reflexio-nen und Untersuchungen über soziale Fak-toren, welche die Bildung beeinflussen undbeeinträchtigen, über deren gegenwärtigeFunktion, über die ungezählten Aspekteihres Verhältnisses zur Gesellschaft, an dieGewalt dessen heran, was sich vollzieht. Ih-nen bleibt die Kategorie der Bildung selbst,ebenso wie jeweils wirksame, systemimma-nente Teilmomente innerhalb des gesell-schaftlichen Ganzen, vorgegeben; sie bewe-gen sich im Rahmen von Zusammenhängen,die selber erst zu durchdringen wären. Wasaus Bildung wurde und nun als eine Art ne-gativen objektiven Geistes sich sedimentiert,wäre selber aus gesellschaftlichen Bewe-gungsgesetzen, ja aus dem Begriff von Bil-dung abzuleiten. Sie ist zu sozialisierter Halb-bildung geworden, der Allgegenwart des ent-fremdeten Geistes.

Inbegriff eines der Selbstbestimmungentäußerten Bewusstseins, klammert siesich unabdingbar an approbierte Kulturele-mente. Aber unter ihrem Bann gravitierensie, als Verwesende, zum Barbarischen. DassHalbbildung, aller Aufklärung und verbreite-ten Information zum Trotz und mit ihrerHilfe, zur herrschenden Form des gegenwär-tigen Bewusstseins wird – eben das erheischtweiter ausgreifende Theorie. Ihr darf dieIdee der Kultur nicht, nach den Gepflogen-heiten der Halbbildung selber, sakrosanktsein. Bildung ist keine Invariante; nicht nurihrem Inhalt und ihren Institutionen nachin verschiedenen Epochen verschieden,sondern selbst als Idee nicht beliebig trans-ponierbar, ihre Idee emanzipierte sich mitdem Bürgertum. Bildung sollte sein, wasdem freien, im eigenen Bewusstsein grün-denden, aber in der Gesellschaft fortwir-kenden und seine Triebe sublimierendenIndividuum rein als dessen eigener Geistzukäme. Sie galt stillschweigend als Bedin-gung einer autonomen Gesellschaft: je hel-ler die Einzelnen, destoerhellter das Ganze.

Soweit in der Bildungs-idee zweckhafte Momentemitklingen, sollten sie ihrzufolge allenfalls die Ein-zelnen dazu befähigen, ineiner vernünftigen Gesell-schaft als vernünftige, ineiner freien Gesellschaftals freie sich zu bewähren,und eben das soll, nachliberalistischem Modell,dann am besten gelingen, wenn jeder fürsich selber gebildet ist. Der Fortschritt vonBildung, den das junge Bürgertum gegen-über dem Feudalismus sich zuschrieb, ver-lief denn auch keineswegs so geradlinig, wiejene Hoffnung suggerierte. Als das Bürger-tum im England des siebzehnten und imFrankreich des achtzehnten Jahrhundertspolitisch die Macht ergriff, war es ökono-misch weiter entwickelt als die Feudalität,und doch wohl auch dem Bewusstsein nach.Die Qualitäten, die dann nachträglich denNamen Bildung empfingen, befähigten dieaufsteigende Klasse zu ihren Aufgaben inWirtschaft und Verwaltung. Bildung warnicht nur Zeichen der Emanzipation desBürgertums, nicht nur das Privileg, das dieBürger, vor den geringen Leuten, den Bau-ern, voraushatten. Ohne Bildung hätte derBürger, als Unternehmer, als Mittelsmann,als Beamter und wo auch immer kaum reüs-siert. Anders stand es um die neue Klasse,die von der bürgerlichen Gesellschaft her-vorgebracht ward, kaum dass diese sich nurrecht konsolidiert hatte.

Das Proletariat war, als es die sozialisti-schen Theorien zum Bewusstsein seinerselbst zu erwecken suchten, subjektiv kei-neswegs avancierter als das Bürgertum;nicht umsonst haben die Sozialisten seinegeschichtliche Schlüsselposition aus seinerobjektiven ökonomischen Stellung gefolgert,nicht aus seiner geistigen Beschaffenheit.Die Besitzenden verfügten über das Bil-dungsmonopol auch in einer Gesellschaftformal Gleicher; die Entmenschlichungdurch den kapitalistischen Produktionspro-zess verweigerte den Arbeitenden alle Vo-raussetzungen zur Bildung, vorab Muße.Versuche zur pädagogischen Abhilfe miss-

chlichungapita-oduktions-eigerte dem

lle Voraus-r Bildung.

rieten zur Karikatur. Alle sogenannte Volks-bildung krankte an dem Wahn, den gesell-schaftlich diktierten Ausschluss des Proleta-riats von der Bildung durch die bloße Bil-dung revozieren zu können. Aber der Wider-spruch zwischen Bildung und Gesellschaftresultiert nicht einfach in Unbildung altenStils, der bäuerlichen. Eher sind die ländli-chen Bezirke heute Brutstätten von Halbbil-dung. Dort ist, nicht zuletzt dank der Mas-senmedien Radio und Fernsehen, die vor-bürgerliche, wesentlich an der traditionellenReligion haftende Vorstellungswelt jäh zer-brochen. Sie wird verdrängt vom Geist der

Kulturindustrie; das Aprio-ri des eigentlich bürgerli-chen Bildungsbegriffs je-doch, die Autonomie, hatkeine Zeit gehabt, sich zuformieren. Das Bewusst-sein geht unmittelbar voneiner zur anderen Hetero-nomie über; anstelle derAutorität der Bibel tritt diedes Sportplatzes, des Fern-sehens und der „wahrenGeschichten“, die auf den

Anspruch des Buchstäblichen, der Tatsäch-lichkeit diesseits der produktiven Einbil-dungskraft sich stützt. Ein nach traditionel-len Kriterien ungebildeter Radioreparateuroder Autoschlosser bedarf, um seinen Berufausüben zu können, mancher Kenntnisseund Fertigkeiten, die ohne alles mathema-tisch-naturwissenschaftliche Wissen nichtzu erwerben wären, dem übrigens die soge-nannte Unterklasse näher ist, als der akade-mische Hochmut sich eingesteht.

Die Phänomenologie des bürgerlichenBewusstseins allein reicht indessen zur Er-

klärung des neuen Zustands nicht aus. Kon-trär zur Vorstellung der bürgerlichen Ge-sellschaft von sich selbst war das Proletariatzu Beginn des Hochkapitalismus gesell-schaftlich exterritorial, Objekt der Produk-tionsverhältnisse, Subjekt nur als Produ-zent. Die frühen Proletarier waren deposse-dierte Kleinbürger, Handwerker und Bauernsowieso jenseits der bürgerlichen Bildungbeheimatet. Der Druck der Lebensbedin-gungen, die unmäßig lange Arbeitszeit, dererbärmliche Lohn in den Dezennien, die im„Kapital“ und in der „Lage der arbeitendenKlasse in England“ behandelt sind, habensie zunächst weiter draußen gehalten.Während aber am ökonomischen Grundder Verhältnisse, dem Antagonismus wirt-schaftlicher Macht und Ohnmacht, und da-mit an der objektiv gesetzten Grenze vonBildung nichts Entscheidendes sich änderte,wandelte die Ideologie sich umso gründli-cher. Sie verschleiert die Spaltung weithinauch denen, welche die Last zu tragen ha-ben. Sie sind während der letzten hundertJahre vom Netz des Systems übersponnenworden.

Der soziologische Terminus dafür lautet:Integration. Subjektiv, dem Bewusstseinnach, werden, wie längst in Amerika, die so-zialen Grenzen immer mehr verflüssigt. DieMassen werden durch zahllose Kanäle mitBildungsgütern beliefert. Diese helfen alsneutralisierte, versteinerte die bei der Stangezu halten, für die nichts zu hoch und teuersei. Das gelingt, indem die Gehalte von Bil-dung, über den Marktmechanismus, demBewusstsein derer angepasst werden, dievom Bildungsprivileg ausgesperrt waren unddie zu verändern erst Bildung wäre. DerProzess ist objektiv determiniert, nicht erstmala fide veranstaltet. Denn die gesell-schaftliche Struktur und ihre Dynamik ver-hindern, dass die Kulturgüter lebendig, dasssie von den Neophyten so zugeeignet wer-den, wie es in ihrem eigenen Begriff liegt.Dass die Millionen, die früher nichts vonihnen wussten und nun damit überflutetwerden, kaum, auch psychologisch nicht da-rauf vorbereitet sind, ist vielleicht noch dasHarmloseste.

Aber die Bedingungen der materiellenProduktion selber dulden schwerlich jenenTypus von Erfahrung, auf den die traditio-nellen Bildungsinhalte abgestimmt waren,die vorweg kommuniziert werden. Damitgeht es der Bildung selbst, trotz aller Förde-rung, an den Lebensnerv. Vielerorten stehtsie, als unpraktische Umständlichkeit undeitle Widerspenstigkeit, dem Fortkommenbereits im Wege: Wer noch weiß, was einGedicht ist, wird schwerlich eine gut bezahl-te Stellung als Texter finden. Die unablässigweiter anwachsende Differenz zwischen ge-sellschaftlicher Macht und Ohnmacht ver-weigert den Ohnmächtigen – tendenziell be-reits auch den Mächtigen – die realen Vo-raussetzungen zur Autonomie, die der Bil-dungsbegriff ideologisch konserviert. Ge-rade dadurch nähern die Klassen ihremBewusstsein nach einander sich an, wennauch, nach jüngsten Forschungsergebnis-sen, kaum so sehr, wie es vor wenigen Jahrenschien.

Das Modell von Halbbildung ist auchheute noch die Schicht der mittleren Ange-stellten, während ihre Mechanismen in deneigentlich unteren Schichten offenbar so we-nig eindeutig nachgewiesen werden könnenwie nivelliertes Bewusstsein insgesamt. ImKlima der Halbbildung überdauern die wa-renhaft verdinglichten Sachgehalte von Bil-dung auf Kosten ihres Wahrheitsgehalts undihrer lebendigen Beziehung zu lebendigenSubjekten. Das etwa entspräche ihrer Defini-tion. Dass heute ihr Name den gleichen anti-quierten und arroganten Klang angenom-men hat wie Volksbildung, bekundet nicht,dass das Phänomen verschwand, sonderndass eigentlich sein Gegenbegriff, der derBildung selber, an dem allein es ablesbarwürde, nicht mehr gegenwärtig ist. An ihmpartizipieren nur noch, zu ihrem Glück oderUnglück, einzelne Individuen, die nicht ganzin den Schmelztiegel hineingeraten sind,oder professionell qualifizierte Gruppen, diesich gern selbst als Eliten feiern. Die Kultur-industrie im weitesten Umfang jedoch, alldas, was der Jargon als Massenmedien be-stätigend einordnet, verewigt jenen Zustand,indem sie ihn ausbeutet, eingestandenerma-ßen Kultur für jene, welche die Kultur vonsich stieß, Integration des gleichwohl weiterNichtintegrierten.

Halbbildung ist ihr Geist, der misslunge-ner Identifikation. Die bestialischen Witzeüber Emporkömmlinge, welche Fremdwörterverwechseln, sind darum so zählebig, weilsie mit dem Ausdruck jenes Mechanismusalle die, welche darüber lachen, im Glaubenbestärken, die Identifikation wäre ihnen ge-

Adorno-Denkmal von Vadim Zakharov inFrankfurt am Main. [ Foto: Picturedesk]

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Zur Person: Th. W. Adorno

1903: Geboren in Frankfurt am Main.Ab 1921 Studium der Philosophie, Sozio-logie und Musikwissenschaft in Frankfurt.Von 1925 bis 1926: Kompositionsstu-dium bei Alban Berg in Wien.1931: Habilitation mit einer Kierkegaard-Studie in Frankfurt.1938: Emigration nach New York, 1941:nach Los Angeles. Mitarbeiter an MaxHorkheimers Institute of Social Research.1953: Rückkehr nach Deutschland. Pro-fessur für Philosophie und Soziologie ander Universität Frankfurt am Main. Lei-tung des Frankfurter Instituts für Sozial-forschung. Mit Max Horkheimer Haupt-vertreter der als Kritische Theorie be-zeichneten Denkrichtung. Wegen der Re-sonanz, die seine Kritik an der kapitalisti-schen Gesellschaft unter den Studentenfand, galt er bei Befürwortern wie Kriti-kern als einer der geistigen Väter derdeutschen Studentenbewegung. Den Ak-tionen der Studentenbewegung stand erallerdings wegen deren Bereitschaft zumGewalteinsatz mit Distanz gegenüber.1969: Tod durch Herzinfarkt währenddes Sommerurlaubs in Visp im Schwei-zer Kanton Wallis.Bekannte Schüler: Jürgen Habermas,Alexander Kluge, Joachim Kaiser, BazonBrock, Peter Gorsen, Ivan Nagel, OskarNegt, Gisela von Wysocki.

Publikationen (Auswahl)

1947: (gemeinsam mit Max Horkheimer)„Dialektik der Aufklärung“1951: „Minima Moralia. Reflexionen ausdem beschädigten Leben“1952: „Versuch über Wagner“1955: „Prismen. Kulturkritik und Gesell-schaft“1956: „Dissonanzen. Musik in der ver-walteten Welt“1964: „Moments musicaux“1964: „Jargon der Eigentlichkeit. Zurdeutschen Ideologie“1966: „Negative Dialektik“1967: „Ohne Leitbild. Parva Aesthetica“1970: (aus dem Nachlass) „ÄsthetischeTheorie“Briefwechsel mit Walter Benjamin, AlbanBerg, Max Horkheimer, Thomas Mann,Siegfried Kracauer, Gershom Scholem,Ernst Krenek, Lotte Tobisch, Paul Celan,Siegfried Unseld.Adornos Werke sind im Suhrkamp Verlag,Berlin, lieferbar.

Berühmte Adorno-Zitate

„Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“

„Das Ganze ist das Unwahre.“

„Bei vielen Menschen ist es bereits eineUnverschämtheit, wenn sie Ich sagen.“

„Die fast unlösbare Aufgabe besteht da-rin, weder von der Macht der anderennoch von der eigenen Ohnmacht sichdumm machen zu lassen.“

„Nach Auschwitz ein Gedicht zu schrei-ben ist barbarisch.“

„Die Forderung, dass Auschwitz nichtnoch einmal sei, ist die allererste an Er-ziehung. Sie geht so sehr jeglicher ande-ren voran, dass ich weder glaube, sie be-gründen zu müssen noch zu sollen.“

„WIR sagen und ICH meinen ist eine vonden ausgesuchtesten Kränkungen.“

„Leben, das Sinn hätte, fragte nicht da-nach.“

„Liebe ist die Fähigkeit, Ähnliches an Un-ähnlichem wahrzunehmen.“

„Wer hart gegen sich ist, der erkauft sichdas Recht, hart auch gegen andere zusein, und rächt sich für den Schmerz,dessen Regungen er nicht zeigen durfte.“

„Geliebt wirst du einzig, wo du schwachdich zeigen darfst, ohne Stärke zu provo-zieren.“

MITTWOCH, 11. MAI 2016 PAUL WATZLAWICK EHRENRING VII

glückt. Ihr Misslingen ist aber so unvermeid-lich wie der Versuch dazu. Denn die einmalerreichte Aufklärung, die wie sehr auch un-bewusst in allen Individuen der durchkapi-talisierten Länder wirksame Vorstellung, sieseien Freie, sich selbst Bestimmende, diesich nichts vormachen zu lassen brauchen,nötigt sie dazu, sich wenigstens so zu verhal-ten, als wären sie es wirklich. Das scheintihnen nicht anders möglich als im Zeichendessen, was ihnen als Geist begegnet, derobjektiv zerfallenen Bildung.

Die Schulreformen, an deren humanerNotwendigkeit kein Zweifel ist, haben dieveraltete Autorität beseitigt; damit aber auchdie ohnehin schwindende Zueignung undVerinnerlichung von Geistigem weiter ge-schwächt, an der Freiheit haftete. Bis heuteverkümmert diese, Gegenbild des Zwanges,ohne ihn, während doch wiederum keinZwang der Freiheit zuliebe sich empfehlenließe. Weil kaum mehr ein Junge sichträumt, einmal ein großer Dichter oderKomponist zu werden, darum gibt es wahr-scheinlich, übertreibend gesagt, unter denErwachsenen keine großen ökonomischenTheoretiker, am Ende keine wahrhafte politi-sche Spontaneität mehr. Der unwiderrufli-che Sturz der Geistesmetaphysik hat die Bil-dung unter sich begraben. Das ist kein Tat-bestand isolierter Geistesgeschichte, son-dern auch ein gesellschaftlicher. Geist wirddavon affiziert, dass er und seine Objektiva-tion als Bildung überhaupt nicht mehr er-wartet werden, damit einer gesellschaftlichsich ausweise. Das allbeliebte Desiderateiner Bildung, die durch Examina gewähr-leistet, womöglich getestet werden kann, istbloß noch der Schatten jener Erwartung. Diesich selbst zur Norm, zur Qualifikation ge-wordene, kontrollierbare Bildung ist als sol-che so wenig mehr eine wie die zum Ge-schwätz des Verkäufers degenerierte Allge-meinbildung.

Selbst der manifeste Fortschritt, die all-gemeine Steigerung des Lebensstandardsmit der Entfaltung der materiellen Produk-tivkräfte, schlägt den geistigen nicht durch-aus zum Segen an. Die Disproportionen, diedaraus resultieren, dass der Überbau langsa-mer sich umwälzt als der Unterbau, habenzum Rückschritt des Bewusstseins sich ge-steigert. Halbbildung siedelt parasitär imcultural lag sich an. Dass Technik und höhe-rer Lebensstandard ohne Weiteres der Bil-dung dadurch zugutekommen, dass alle vonKulturellem erreicht werden, ist pseudode-mokratische Verkäuferideologie, und sie wirdes darum nicht weniger, weil man den, der an

Weil kaum mJunge träumDichter zu wes am Endewahrhafte pSpontaneitä

ihr zweifelt, snobistisch schilt. Sie ist wider-legbar von der empirischen Sozialforschung.Zugleich aber wächst mit dem Lebensstan-dard der Bildungsanspruch als Wunsch, zueiner Oberschicht gerechnet zu werden, vonder man ohnehin subjektiv weniger stetssich unterscheidet. Als Antwort darauf wer-den immense Schichten ermutigt, Bildungzu prätendieren, die sie nicht haben. Wasfrüher einmal dem Protzen und dem nou-veau riche vorbehalten war, ist Volksgeist ge-worden. Ein großer Sektor der kulturindus-triellen Produktion lebt davon und erzeugtselbst wiederum das halb gebildete Bedürf-nis. Die Dummheit, mit welcher der Kultur-markt rechnet, wird durch diesen reprodu-ziert und verstärkt. Frisch-fröhliche Verbrei-tung von Bildung unterden herrschenden Bedin-gungen ist unmittelbareins mit ihrer Vernich-tung. Das Halbverstande-ne und Halberfahrene istnicht die Vorstufe derBildung, sondern ihr Tod-feind: Bildungselemente,die ins Bewusstsein gera-ten, ohne in dessen Konti-nuität eingeschmolzen zuwerden, verwandeln sichin böse Giftstoffe, tendenziell in Aberglau-ben, selbst wenn sie an sich den Aberglau-ben kritisieren. Der Halbgebildete betreibtSelbsterhaltung ohne Selbst. Erfahrung, dieKontinuität des Bewusstseins, in der dasNichtgegenwärtige dauert, in der Übung undAssoziation im je Einzelnen Tradition stiften,wird ersetzt durch die punktuelle, unverbun-dene, auswechselbare und ephemere Infor-miertheit, der schon anzumerken ist, dasssie im nächsten Augenblick durch andereInformationen weggewischt wird. Anstelledes temps duree, des Zusammenhangs einesin sich relativ einstimmigen Lebens, das insUrteil mündet, tritt ein urteilsloses „Das ist“.Halbbildung ist eine Schwäche zur Zeit, zurErinnerung, durch welche allein jene Syn-thesis des Erfahrenen im Bewusstsein geriet,welche einmal Bildung meinte. Nicht um-sonst rühmt sich der Halbgebildete seinesschlechten Gedächtnisses, stolz auf seineVielbeschäftigtheit und Überlastung. Viel-leicht wird in der gegenwärtigen philosophi-schen Ideologie nur deshalb so viel Aufhe-bens von der Zeit gemacht, weil sie denMenschen verloren geht und beschworenwerden soll. Der viel bemerkte Konkretis-mus und der Abstraktismus aber, der dasEinzelne überhaupt nur noch als Repräsen-

ehr eint, ein großererden, gibteine

olitischemehr.

tanten des Allgemeinen gelten lässt, mit des-sen Namen es benannt wird, ergänzen sich.Der Begriff wird von der dekretorischen Sub-sumtion unter irgendwelche fertigen, der dia-lektischen Korrektur entzogenen Klischeesabgelöst, die ihre verderbliche Gewalt untertotalitären Systemen enthüllen: Auch ihreForm ist das isolierende, aufspießende, ein-spruchslose „Das ist“.

Weil jedoch Halbbildung gleichwohl andie traditionellen Kategorien sich klam-mert, die sie nicht mehr erfüllt, so weiß dieneue Gestalt des Bewusstseins unbewusstvon ihrer eigenen Deformation. Darum istHalbbildung gereizt und böse; das allseitigeBescheidwissen immer zugleich auch einBesserwissen-Wollen. Ein halb gebildetes

Slogan, das einmal besse-re Tage gesehen hat, istRessentiment; Halbbil-dung selber aber ist dieSphäre des Ressentimentsschlechthin, dessen siejene zeiht, welche irgendnoch einen Funken vonSelbstbesinnung bewah-ren. Unverkennbar dasdestruktive Potenzial derHalbbildung unter derOberfläche des herrschen-

den Konformismus. Während sie fetischistischdie Kulturgüter als Besitz beschlagnahmt,steht sie immerzu auf dem Sprung, sie zuzerschlagen.

Hinge Erkenntnis von nichts ab als derfunktionellen Beschaffenheit der Gesell-schaft, so könnte wahrscheinlich heute dieberühmte Putzfrau recht wohl das Getriebeverstehen. Halbbildung ist defensiv; sieweicht den Berührungen aus, die etwas vonihrer Fragwürdigkeit zutage fördern könn-ten. Kritisches Bewusstsein ist verkrüppeltzum trüben Hang, hinter die Kulissen zu se-hen. Die Wahlverwandtschaft von Halbbil-dung und Kleinbürgertum liegt auf der Hand;mit der Sozialisierung der Halbbildung aberbeginnen auch ihre pathischen Züge die gan-ze Gesellschaft anzustecken, entsprechendder Instauration des auf Touren gebrachtenKleinbürgers zum herrschenden Sozialcha-rakter. Bildung hat keine andere Möglichkeitdes Überlebens als die kritische Selbstrefle-xion auf die Halbbildung, zu der sie notwen-dig wurde.

Aus: Theodor W. Adorno: „Theorie der Halb-bildung“ (1959). In: „Gesammelte Schriften“,

Band 8: „Soziologische Schriften I“(Suhrkamp Verlag). © Suhrkamp, Berlin

„Zugleich wächstmit dem Lebens-standard derBildungsanspruchals Wunsch, zu einerOberschicht gerech-net zu werden. Eingroßer Sektor derkulturindustriellenProduktion lebtdavon und erzeugtselbst wiederum dashalb gebildeteBedürfnis.“Theodor W. Adorno[Foto: Picturedesk]

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Bekenntnisund Appellzum DialogWarum uns der Paul-Watzlawick-Ehrenring sowichtig ist.

Von Thomas Szekeres

F ür die Ärztekammer für Wien istder seit 2008 vergebene Paul-Watzlawick-Ehrenring mehr alseine Hommage an den großen ös-

terreichischen Wissenschaftler und The-rapeuten, dessen Werk „Anleitung zumUnglücklichsein“ bis heute ein Bestsellerist. Die Vergabe des Ehrenrings an Per-sönlichkeiten, die sich für den Diskurszwischen den wissenschaftlichen Diszi-plinen sowie die Humanisierung der Welteinsetzen und auch dementsprechendePublikationen veröffentlicht haben, istauch ein Appell an die eigenen Mitglie-der, das aktive und konstruktive Ge-spräch mit den Patienten zu suchen, denDialog und den Diskurs in den Mittel-punkt zu stellen.

Watzlawick dachte und handelte in-terdisziplinär, es gelang ihm – wie kaumeinem anderen seit Sigmund Freud –komplexe Sachverhalte nicht nur litera-risch beeindruckend einfach, sondernauch ironisch witzig zu formulieren.

Das Verständnis für das Gegen-über, die Empathie für die Situation derPatienten, das Eingehen auf Gesten undnonverbale Zeichen sind auch Vorausset-zungen für Diagnose und Therapie. Nurwer zuhört und sich in die Lage der ande-ren versetzt, ist ein guter Arzt, eine guteÄrztin im hippokratischen, humanisti-schen Sinn.

Der Ehrenring ist ein aufrichtiges undnachhaltiges Bekenntnis zu einem dyna-mischen, sich permanent infrage stellen-den Selbstverständnis der Ärzteschaft.Paul Watzlawick hat exemplarisch – undin seinen erfolgreichen Büchern auchleicht verständlich – dargelegt, worum esin der zwischenmenschlichen Kommuni-kation geht, welche Missverständnisseund Asynchronitäten es geben kann undmit welchen Methoden man ihnen be-gegnet. In diesem Sinn ist er auch Vorbildfür unsere tägliche Praxis.

Darüber hinaus versteht sich die In-itiative der Ärztekammer für Wien auchals Bekenntnis des Brückenschlages zwi-schen Natur- und Geisteswissenschaften:als Absage an Spartendenken und Sepa-ratismen, als Anerkennung der großenLeistungen, die österreichische Wissen-schaftlerinnen und Wissenschaftler er-bracht haben.

Die Ärztekammer für Wien vertritt dieInteressen aller Wiener Ärzte in sozialen,wirtschaftlichen und berufsrelevanten Be-langen. Dazu kommen individuelle Inter-essenvertretungen und die Organisationvon Fortbildungen.

Thomas Szekeres, Präsident der Ärzte-kammer für Wien. [ Ärztekammer für Wien]

Der Philosoph Konrad PaulLiessmann setzt sich fürBildung – als Konzept undpädagogische Tat – ein, dienicht populistischen Trendsund ökonomischen Postulaten,sondern den Maximen derAufklärung und Lebenskunstfolgt. Zum Überleben brauchtdie Welt der MenschenBildung im Sinn von Freiheit,Gleichheit und Solidarität.

Von Hubert Christian Ehalt

Ein gutesLebenfür alle

M enschen haben, das zeigen alleuns zugänglichen Quellen –Schriften, Erzählungen, Ge-genstände – Geschichte. Ge-schichte heißt, dass Individuen

trotz aller Ähnlichkeiten unverwechselbareHandlungen setzten und setzen, sodass derGesamtstrom der Entwicklung stets eigen-ständig und individuell war, wie die einzel-nen Menschen selber.

Historiker haben daher stets – im Unter-schied zu Soziologen und Ethnologen, dienomothetisch das Allgemeine hervorheben –auf der idiografischen, das Einzelereignis be-tonenden Methode beharrt. Sie macht dasEinzigartige sichtbar, trägt in sich aber dieGefahr, das Große und Ganze zu übersehen.Wir brauchen einen Begriff von Geschichte,der auf die Eigenständigkeit des menschli-chen Handelns Bezug nimmt, aber auchzeigt, wie sich, warum sich Geschichte undGesellschaft verändern, wie Entwicklungenin Gang gebracht und Richtungsänderungenzustande kommen können.

Meine Arbeitsthese dazu lautet, dass derMensch ein flexibles Kulturwesen ist. Ergestaltet mit Institutionen, Organisationen,Gruppierungen, Normen und Werten ein ge-sellschaftliches Umfeld, das mit der Zeit jeneBedingungen schafft, in denen gehandeltwird. Kulturelle Flexibilität ist (m)ein Begriff,der zum Ausdruck bringt, dass es Rahmenbe-dingungen gibt, die die Möglichkeit für Kon-tinuität, Veränderung und Bruch bieten.

Der Mensch ist das denkende Tier. Er hatdie Fähigkeit zu Reflexion, Überdenken undKritisieren des eigenen Tuns, aber auch desgesellschaftlichen Handelns. Dieses ist zwei-erlei: das, was sich in einem Mainstream er-eignet, und zweitens das, was sich in der Re-flexionskultur durchsetzt. Geschichte ist derBegriff für das Geschehen und für die Refle-xion des Geschehens, das individuelle undkollektive Nachdenken und das wissenschaft-lich-methodisch fundierte Nachdenken überGeschichte und Gesellschaft.

Man sollte die Fähigkeit der Tiere nichtunterschätzen, Erfahrungen zu machen undin ihre Persönlichkeit zu integrieren. Bei denMenschen ist jedoch diese Fähigkeit des Ler-nens die hervorragende und bestimmendeEigenschaft. Lernen heißt Sozialisierung: DasIndividuum lernt sehr früh Werte und Struk-turen kennen und verinnerlicht sie. Lernenheißt Qualifikation: Fähigkeiten werden er-worben, die es ermöglichen, in einer arbeits-teiligen Gesellschaft nützlich zu sein – imgegenwärtigen Diskurs heißt das etwa, füreine Arbeitsstelle vermittelbar zu sein. Ler-nen heißt aber auch Bildung: Fähigkeiten,um über das Überleben hinaus die Welt ver-stehen, erklären und kritisieren zu können.

Die Hauptqualität von Bildung ist daher,die Frage beantworten zu können, „in wel-cher Welt wir leben“. Bildung ermöglichtnicht nur, Mechanismen und Funktionswei-sen einer Gesellschaft zu verstehen, sondernsie auch kritisch infrage zu stellen. Wer etwaWissensmanagement lernt und in einer Prü-fung repetiert, ist noch nicht gebildet. Bil-dung setzt ein, wo die Fähigkeit gegeben ist,Wissensmanagement als Instrumentariumim Dienst von Interessen zu verstehen.

Bildung heißt, Einblick in die Gesetze derSchöpfung (so sagte man früher) nehmen zukönnen. Es ist ein Wagnis, weil es über dieSchwelle des Raums der Eindeutigkeit – rich-tig/falsch, gut, wahr, schön – in jenen Raumübertritt, in dem man weiß, dass alles ambi-valent ist und sein kann. Bildung bedeutetetwa zu verstehen, warum Kunstwerke vonBruegel, Hundertwasser, Bourgeois, Koonsund anderen im Hauptsaal, aber auch imKeller von Museen stehen können, weil überden Wert von Kunst ständig verhandelt wird.Eine Liebesgeschichte kann als bedeutendesKunstwerk gelten, aber auch als „parfümierteKitschstory“. Eine Hinrichtung kann aus Per-spektive der Menschenrechte ein Verbre-chen, auf Grundlage einer martialischen Ju-dikatur eine gerechte Strafe sein, eine Abtrei-bung Frauenrecht oder Mord. Widersprüch-lichkeit und Ambivalenz sind Hauptgesetzder Kultur und ihrer Narration.

Die Aufklärung hat im 18. Jahrhunderteinen Hauptsatz formuliert: „Sapere aude“.Wage zu wissen, was dem bisherigen Wissenwidersprechen kann. Und: „Habe den Mut,dich deines eigenen Verstandes zu bedie-nen“. Über weite Strecken der Geschichtewaren Gesellschaftsordnungen, Normen undWerte „systemstabilisierend“, wie das der ge-sellschaftskritische Diskurs der 1970er-Jahrebenannte. Sie waren eine Zeit der Öffnung,die an die Werte der Aufklärung erinnerteund gleichzeitig bewusst machte, dass auchsie selbst ein dialektischer Prozess war, wieHorkheimer und Adorno in „Dialektik derAufklärung“ darstellten. Auch die Aufklärunghatte in der Geschichte barbarische Spuren

hinterlassen. Sie unterlag und unterliegt derWidersprüchlichkeit – in ihren Wirkungenund in ihrer historischen Bewertung.

In Österreich war die Phase von 1965 bisAnfang der 1990er-Jahre nicht nur jene eines„Fordismus“, in dem jede/jeder Arbeit fand,die Politik Spielräume für soziale Anliegengestaltete und der Sozialstaat bescheidenenWohlstand sicherte, sondern auch eine Zeitder Öffnung. Aus einer Korsettgesellschaft, inder das, was getan und gedacht werden soll-te, festgelegt war, entstand die individuali-sierte, die Spielräume bietet für Wünsche,Pläne, Sehnsüchte der einzelnen Menschen.

Im Hinblick auf das Tun und Lassen derIndividuen lautete der Hauptsatz der Erzie-hung bis in die 1960er-Jahre „das tut man“/„das tut man nicht“. Zwischen 1975 und 1985wurde „man“ durch „frau“ ergänzt, an Stellepatriarchalisch-paternalistischer (sozialpart-nerschaftlich gecheckter) Hauptmaximenentstand ein „da muss man sich schlau ma-chen“. Viele tradierte Werte standen zur Dis-

position. Begriffe für die individualisierte Ge-sellschaft – etwa Work-Life-Balance – wurdenerfunden. Individuen entdeckten, oft mit the-rapeutischer Begleitung, dass sie nicht nurfür die Arbeit leben wollten, Begriffe wie Ar-beitszeitverkürzung und Frühpensionierungwaren angesagt. Diese Entwicklungen warenTeil der Leistungen und Versprechungen desSozialstaates. Sie konstituierten bis Ende der1980er in vielen europäischen Ländern einGefühl der Sicherheit, Chancen und Zukunft.

Das Ende des Ost-West-Konflikts führtein Europa nicht zu einem Ende der Geschich-te, wie das Francis Fukuyama mit seinemgleichnamigen Buch postulierte. Das Gegen-teil war der Fall. Die durch den Ost-West-Konflikt gefesselte historische Dynamik wur-de wieder frei. Die Geschichte kehrte zurück:wild, unberechenbar, ungebärdig und barba-risch. Das multiethnische Jugoslawien zerfielin blutigen Kriegen, der Nahe und MittlereOsten wurde zum Pulverfass. In laisiertenGesellschaften wurden religiöse Inhalte wie-der zu Instrumenten gesellschaftlicher Iden-tifikation. Seither entstanden jene ethnischenPolarisierungen, die einen „Clash of Civilisa-tion“ zu einer realen Gefahr werden lassen.

Diese Entwicklungen haben ein zentralesFundament: eine Ökonomisierung aller Sek-toren des Gesellschaftlichen, in deren Rah-men alles – Waren, Dienstleistungen, alledenkbaren Güter – zu vermarktbaren Pro-dukten gemacht werden (sollen). Diese Ent-wicklung hat die Arm-Reich-Schere verstärkt,sodass die 62 reichsten Menschen dieserWelt über einen Besitz verfügen, der jenemder anderen Hälfte der Menschheit (3,7 Mil-liarden Menschen) entspricht. Die schwierigeSituation „der Welt“, das heißt einer Mensch-heit, die in guten, wenigstens erträglichenBedingungen überleben will, erfordert eineBildung sowie Wissen, die nicht noch mehrderselben Ökonomisierung, Zerstörung, Auf-hetzung und Militarisierung produzieren.

Es muss umgedacht werden. Und dasdarf sich nicht nur auf NGOs und engagierteIndividuen beschränken. Umdenken, nach-haltig wirtschaften, sparen, sozialen Aus-gleich fördern muss zu neuem Mainstreamwerden. Die Menschen wären bereit für dieseNeuorientierung. Es ist die Hauptbildungs-aufgabe dieser Welt in den Familien, Kinder-gärten, Schulen, Arbeits- und Lebenswelten,diese Neuorientierung in Taten zu setzen.

Bis zum Beginn der Zehnerjahre wurdeFortschritt mit häufig destruktiven wirtschaft-lichen Wachstumstendenzen gleichgesetzt.Fortschritt muss (!) zu einem Begriff dafürwerden, dass immer mehr Menschen dieSouveränität haben, Geschichte als Prozessdes Fortschritts in einem Handeln für und ineinem Bewusstsein der Freiheit für alle Men-schen zu interpretieren. Ich bin der Überzeu-gung, dass es in einer Zukunft, die diesenWeg nimmt, auch neue Möglichkeiten für Le-bensfreude und Lebenskunst geben wird.

VIII PAUL WATZLAWICK EHRENRING MITTWOCH, 11. MAI 2016

Univ.-Prof. Hubert Ch. Ehalt, Historiker und Wissenschaftsreferent Stadt Wien. [ Foto: Bruckberger]