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http://www.medscape.org/viewarticle/782113 Fallbasierte Entscheidung bei akutem Koronarsyndrom (ACS): Konservative Behandlung bei NSTEMI Prof. Dr. Christian W. Hamm Guten Tag. Ich bin Dr. Christian Hamm vom Kerckhoff-Herzzentrum in Bad Nauheim, Deutschland und bin Professor für Kardiologie an der Universität Gießen. Ich heiße Sie herzlich zu diesem Programm willkommen. Wir werden einige interessante Fälle des akuten Koronarsyndroms (ACS) diskutieren, insbesondere des akuten Koronarsyndroms ohne ST- Streckenhebung (NSTE-ACS).

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Fallbasierte Entscheidung bei akutem Koronarsyndrom (ACS): Konservative Behandlung bei NSTEMI

Prof. Dr. Christian W. Hamm Guten Tag. Ich bin Dr. Christian Hamm vom Kerckhoff-Herzzentrum in Bad Nauheim, Deutschland und bin Professor für Kardiologie an der Universität Gießen. Ich heiße Sie herzlich zu diesem Programm willkommen. Wir werden einige interessante Fälle des akuten Koronarsyndroms (ACS) diskutieren, insbesondere des akuten Koronarsyndroms ohne ST-Streckenhebung (NSTE-ACS).

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Es ist mir eine große Freude, Gabriel Steg, Professor für Kardiologie am Hôpital Bichat in Paris und Stefan James, Associate Professor am Klinischen Forschungszentrum Uppsala in Schweden an meiner Seite zu haben.

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Im nachfolgenden Programm werden wir einige Fälle von Patienten mit ACS ohne ST-Streckenhebung sowie, basierend auf den aktuellen Leitlinien der European Society of Cardiology (ESC), die besten Behandlungsoptionen für diese Patienten diskutieren. Zunächst möchte ich Dr. James bitten, uns seinen Fall vorzustellen.

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Dr. Stefan James Es handelt sich hier um eine Patientin aus meiner Abteilung. Sie war 75 Jahre alt und zuvor in guter Gesundheit, hatte jedoch in den vergangenen zwei Wochen sporadisch Schmerzen im Brustkorb. Jetzt traten die Schmerzen in der Brust auch bei Ruhe zu Hause auf. Sie wurde mit einem Privatauto zur Notaufnahme gebracht, wo ihr Nitroglycerin verabreicht wurde. Danach war sie schmerzfrei. Sie hatte eine Herzfrequenz von 95 Schlägen/Minute und einen Blutdruck von 130/95 mm/Hg.

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Wie bereits erwähnt, war die Patientin zuvor in guter Gesundheit und nahm zu diesem Zeitpunkt keine Medikamente ein. Sie war eine kleine, schlanke Frau mit einem Gewicht von 62 kg. Ihr Hämoglobinspiegel lag bei 122 g/l (leicht erniedrigt) und ihr Kreatininspiegel lag bei 115 µmol/l, was einer glomerulären Filtrationsrate (GFR) von 36 ml/min entspricht. Sie hatte leicht erhöhte Werte für Troponin I von 0,3 ng/ml und eine erhöhte Blutzuckerkonzentration von 8,5 mmol/l. Elektrokardiographie (EKG) zeigte eine ST-Strecken-Senkung in den lateralen Ableitungen.

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Wir haben bei ihr eine GRACE (Global Registry of Acute Coronary Events)-Berechnung durchgeführt und einen relativ hohen GRACE-Risikoscore von ca. 180 ermittelt. Dieser Risikoscore ergab sich hauptsächlich auf Grund ihres Alters und vor allem auch auf Grund ihrer moderaten Nierenfunktionsstörung.

Dr. Hamm: Dies ist ein interessanter Fall. Ähnlichen Patienten begegnen wir tagtäglich in der Praxis. Es ist eine erste Diagnose eines wahrscheinlichen akuten Koronarsyndroms. Es besteht bei ihr auf jeden Fall ein hohes Risiko. Zu diesem Zeitpunkt und mit diesen begrenzten Informationen - welche nächsten Schritte könnten wir unternehmen? Diese Frage richtet sich an die Zuschauer. Sollte sie direkt in ein Katheterlabor überwiesen werden? Sollten wir ihr zu diesem Zeitpunkt einen P2Y12 -Rezeptorantagonisten verabreichen? Sollte sie auf die kardiologische Intensivstation verlegt werden? Sollten wir ein Echokardiogramm durchführen (dies ist auch eine Empfehlung in den Leitlinien)? Sollten wir zu diesem Zeitpunkt die Werte für weitere Biomarker abwarten oder sollten wir eventuell ein CT-Angiogramm (Computertomographie) anordnen? Was, denken Sie aus Ihrer Sicht, wäre der nächste

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Schritt?

Dr. James: Diese Frau ist ein typischer Patient mit einem hohen Risiko für ischämische Ereignisse auf Grund der Veränderungen im EKG, der Troponinerhöhung und der Schmerzen im Brustkorb. Sie hat außerdem einen hohen GRACE-Risikoscore und gleichzeitig besteht bei ihr auf Grund ihrer Nierenfunktionsstörung, ihres erniedrigten Hämoglobinspiegels und ihres geringen Körpergewichts ein hohes Risiko für Blutungen. Ich denke, dass es deutliche Hinweise gibt, die für eine Überweisung ins Katheterlabor sprechen. Dies muss jedoch nicht sofort erfolgen.

Dr. Hamm: Laut Leitlinien gibt es verschiedene Gründe für die leichte Erhöhung des Troponins. Eine ST-Strecken-Senkung gilt als ein Hauptkriterium für die Überweisung eines Patienten ins Katheterlabor ebenso wie Diabetes. Es gibt viele gute Gründe, diese Patientin ins Katheterlabor zu überweisen.

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Dr. James: In der Tat, und ihr hoher GRACE-Risikoscore indiziert außerdem eine Katheterisierung innerhalb von 24 Stunden, jedoch nicht unbedingt sofort. Bevor sie ins Katheterlabor gebracht wird ist es jedoch wichtig, sie mit Antithrombotika und Antikoagulanzien zu behandeln.

Dr. Hamm: Ja, denn im Moment besteht bei ihr ein sehr hohes Risiko eines ST-Hebungsinfarkts (STEMI). Wie sollte sie jetzt weiterbehandelt werden? Welche antithrombozytäre Therapie sollte sie erhalten?

Dr. James: Gemäß Krankenhausprotokoll wurde sie auf die Kardiologische Intensivstation überwiesen. Sie erhielt Aspirin, in einer Aufsättigungsdosis von 300 mg, gefolgt von 75 mg täglich sowie Ticagrelor in einer Aufsättigungsdosis von 180 mg, gefolgt von 90 mg zweimal täglich.

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Dr. Hamm: Wir sollten Gabriel in die Diskussion mit einbeziehen. Haben wir andere Optionen? Wäre sie beispielsweise eine Kandidatin für Prasugrel? Sollten wir von einer Behandlung mit den neuen P2Y12-Inhibitoren absehen und sie nur mit Clopidogrel aufsättigen?

Dr. P. Gabriel Steg: Zunächst einmal, glaube ich, gibt es eine Option, die in den USA gebräuchlich ist. Hier werden die Patienten, von denen wir wissen, dass sie zu einem frühen Zeitpunkt ins Katheterlabor überwiesen werden, oft auf eine singuläre antithrombozytäre Therapie gesetzt. Die Entscheidung über den zweiten Thrombozytenaggregationshemmer, den P2Y12-Inhibitor, wird dann später getroffen, wenn die Koronaranatomie bekannt ist.

Dr. Hamm: Nur Aspirin?

Dr. Steg: Ja. Ich denke, dass der Hauptgrund für diese Wahl die Befürchtung ist, dass der Patient eine Operation benötigt, was in den USA bei etwa 10% der Patienten der Fall ist, während es in Europa auf nur etwa 5% der Patienten zutrifft. Wenn der Patient eine Operation verlangt, müsste die Operation verschoben werden, da die Gefahr übermäßiger Blutungen besteht, wenn der Patient mit Clopidogrel behandelt wurde. Dies ist erst recht der Fall, wenn der Patient Prasugrel oder Ticagrelor bekommen hat, was das Blutungsrisiko weiter erhöhen könnte, wobei die Wirkung von Ticagrelor noch eher reversibel ist. Ich glaube, dass in Nordamerika in der Praxis ein erheblicher Anteil dieser Patienten schnell zur Angiographie zur Darstellung der Anatomie weitergeleitet würde. Der Plan, keinen P2Y12-Inhibitor zu geben, bis die angiographische Anatomie bekannt ist, würde die Angiographie beschleunigen.

Dr. Hamm: Laut Leitlinien kann bei Fällen, bei denen eine aortokoronare Bypass-Operation (ACB) erwartet wird, mit der Gabe eines P2Y12-Inhibitor gewartet werden. Bis zur Katheterisierung kann mit der Gabe eines Glykoprotein-(GP) IIb/IIIa Rezeptor-Antagonisten überbrückt werden. Dies sollte dann allerdings sofort geschehen.

Dr. Steg: Es ist nicht einfach, im Voraus zu wissen, ob der Patient ein Kandidat für eine Operation ist.

Dr. Hamm: Das weiß niemand genau; ja, da gebe ich Ihnen völlig recht.

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Dr. James: Desweiteren deuten die Ergebnisse der PLATO (PLATelet inhibition and patient Outcomes)-Studie darauf hin, dass Patienten, die sich einer Bypass-Operation unterziehen, zu einem großen Teil von einer Vorbehandlung mit Ticagrelor profitieren.

Dr. Hamm: Das war meine nächste Frage. Welches Risiko besteht, wenn der Patient mit Ticagrelor aufgesättigt wird? Welches Risiko wurde in der PLATO-Studie beobachtet? Stefan, Sie kennen die Daten sehr gut. Besteht bei unserer Patientin jetzt ein erhöhtes Risiko?

Dr. James: Die Bindung von Ticagrelor an seinen Rezeptor ist reversibel. Daher lässt die Wirkung relativ schnell nach. Wenn man 2 bis 3 Tage warten kann, ist die Wirkung zum größten Teil abgeklungen und der Patient kann sicher operiert werden. Die Vorteile des Einsatzes von Ticagrelor bei Patienten, die tatsächlich eine Bypass-Operation hatten, waren enorm.

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Dr. Hamm: Ja, die Überlebensrate war deutlich größer. Wenn eine enge Läsion am Hauptstamm gefunden wird und die Patientin weiterhin Schmerzen hat, würde dies eine unmittelbare Überweisung zur Operation indizieren. Natürlich muss der Chirurg die Blutungsprobleme in den Griff bekommen.

Dr. James: Diese Patientin erhielt auch Fondaparinux, was laut Europäischen Leitlinien ebenfalls dringend empfohlen ist. Es wird in den USA selten eingesetzt. In unserer Einrichtung erhalten die meisten Patienten Fondaparinux, wenn die Katheterisierung um mehr als einen Tag verschoben wird.

Dr. Hamm: Welche Vorteile hat Fondaparinux gegenüber Enoxaparin, was, wie ich glaube, in Frankreich verbreitet eingesetzt wird?

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Dr. Steg: In unserer Einrichtung würde sie Fondaparinux erhalten.

Dr. Hamm: Dann stellen Sie in Frankreich eine Ausnahme dar.

Dr. Steg: Ich denke, wir sind die Ausnahme in Frankreich, da Enoxaparin häufiger eingesetzt würde. In Europa wird Bivalirudin bei diesen Patienten nur selten eingesetzt wegen der Kosten und in erster Linie, glaube ich, wegen der Verordnungsgewohnheiten. Ein zusätzlicher Faktor von Interesse hier ist die Nierenfunktionsstörung der Patientin. Der pharmakologische Vorteil von Fondaparinux gegenüber Enoxaparin in der OASIS 5 (Organization for the Assessment of Strategies for Ischemic Syndromes 5)-Studie war am deutlichsten für Patienten mit leichter bis moderater Nierenfunktionsstörung. In einer solchen Patientin mit moderater Nierenfunktionsstörung wäre dies ein zusätzlicher Grund, Fondaparinux gegenüber Enoxaparin den Vorzug zu geben.

Dr. Hamm: Dies ist der Hauptgrund, Fondaparinux zu geben, da das Blutungsrisiko wirklich verringert wird. Laut OASIS 5-Studie führt dies zu einer Senkung der Mortalität.

Dr. James: Dies bietet ein optimales Gleichgewicht zwischen Sicherheit und Wirksamkeit.

Dr. Hamm: Was passierte als nächstes mit dieser Patientin?

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Dr. James: Sie blieb auf der Station weiterhin schmerzfrei und es wurde beschlossen, keine Katheterisierung durchzuführen. Trotz allem, was ich zuvor gesagt habe, wurde diese Option gewählt.

Dr. Hamm: War das die Wahl der Patientin?

Dr. James: Es wurde entschieden, dass sie trotz Schmerzfreiheit doch ein hohes Blutungsrisiko hatte. Ihre EKG-Veränderungen hatten sich wieder normalisiert und sie war jetzt in einem stabilen Zustand. Angiographie wurde als nicht erforderlich angesehen und sie wurde stattdessen auf ein Fahrradergometer gesetzt.

Dr. Hamm: Trotz der deutlichen Empfehlung in den Leitlinien?

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Dr. James: Ja, das genau wurde getan.

Dr. Hamm: Sicher, eine Situation aus dem Leben gegriffen.

Dr. James: Es wurde mit ihr ein Fahrradergometer-Belastungstest gemacht und sie erreichte 80 Watt, was etwas schwierig zu interpretieren war.

Dr. Hamm: Natürlich.

Dr. James: Sie hatte keine spezifischen Schmerzen im Brustkorb, aber ihre Belastung war auch nicht sehr stark gewesen, nur bis 80 Watt. Aus diesem Grund wurde eine nicht-invasive Strategie gewählt.

Dr. Hamm: Sie wurde entlassen und auf Aspirin und Ticagrelor gesetzt.

Dr. James: Ticagrelor, ja.

Dr. Steg: Das ist interessant, da wir wissen, dass die Leitlinien bei Hochrisiko-Patienten eine invasive Strategie empfehlen, und die Patientin weist Hochrisikofaktoren auf und hatte einen hohen GRACE-Risikoscore. Wie müssen auch verstehen, dass bei Frauen die Evidenz für eine invasive Therapie vermutlich von geringerer Bedeutung ist als bei Männern. Es scheint eine Art Wechselwirkung zwischen dem Geschlecht und dem Nutzen einer invasiven Strategie zu geben. Es gibt einige Daten, die in diese Richtung weisen. Sie sind jedoch nicht ganz eindeutig, schon deshalb, weil weniger Frauen an randomisierten klinischen Studien teilnehmen.

Ein weiterer Faktor, auf den hingewiesen werden sollte, ist, dass eine medikamentöse Therapie zunächst nicht gleichbedeutend mit „keiner Therapie” ist. Viele Menschen denken schwarz-weiß: es ist entweder Katheterisierung oder gar nichts. In der Praxis hat die medikamentöse Therapie eine beträchtliche Wirksamkeit. Erst vor kurzen konnten wir zeigen, dass eine invasive Strategie bei Patienten mit höchstem Risiko überlegen ist, und dass deren Vorteile größer zu sein scheinen, als eine medikamentöse Therapie. Medikamentöse Therapie bedeutet nicht „keine Behandlung”. Es ist eine sehr effektive Behandlung.

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Dr. Hamm: War Ticagrelor in gleichem Maße wirksam in medikamentös behandelten Patienten in der PLATO-Studie?

Dr. James: In der PLATO-Studie haben wir zu diesem Aspekt zwei verschiedene Analysen durchgeführt. Zunächst wurden die Prüfärzte gebeten, vor der Randomisierung durch Markierung eines Kästchens auf dem Prüfbogen anzugeben, ob sie eine (bzw. keine) invasive oder medikamentöse Behandlung planen. In unserer ersten Arbeit zu diesem Thema betrachteten wir alle Patienten sowie diejenigen, für die eine medikamentöse Therapie geplant war. In der Patientenkohorte, in der die Behandlungsentscheidung vor der Randomisierung getroffen wurde, wurde im Laufe der Zeit ein konsistenter Vorteil von Ticagrelor gegenüber Clopidogrel beobachtet.

Vor kurzen haben wir eine zweite Arbeit zu diesem Thema präsentiert, für welche wir ausschließlich NSTE-ACS-Patienten gewählt hatten. Wir schlossen STEMI-Patienten aus und untersuchten nur Patienten, die während der ersten 10 Tage nach der Randomisierung tatsächlich medikamentös behandelt wurden. Dies ähnelte daher in den tatsächlich medikamentös behandelten Gruppen der TRILOGY ACS-Studie zum Vergleich von Prasugrel und Clopidogrel bei Patienten mit akutem Koronarsyndrom in Bezug auf Prasugrel.

Vielleicht nicht überraschend stand der Vorteil von Ticagrelor stark in Übereinstimmung mit der Gesamtstudie und zeigte eine deutliche Überlegenheit bei der Reduzierung des primären Endpunkts und der Mortalität.

Dr. Hamm: Prasugrel wäre keine Therapieoption bei medikamentös behandelten Patienten. Hier besteht lediglich die Wahl zwischen Clopidogrel und Ticagrelor, wobei Ticagrelor laut PLATO klar überlegen ist. Dies ist jedoch nicht das Ende der Geschichte.

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Dr. James: Nein, sie wurde bereits nach nur einer Woche wieder eingewiesen mit rezidivierenden Schmerzen im Brustkorb.

Dr. Hamm: Nicht ganz unerwartet.

Dr. Steg: Ihre Krankenhaus-Verwaltung wird sich sicher nicht darüber freuen, da derzeit in vielen Ländern nicht neu dafür berechnet werden kann, wenn Patienten innerhalb von 30 Tagen wiedereingewiesen werden.

Dr. James: Sie hatte erneut einen positiven Troponin-Test mit leicht steigenden Werten. Sie wurde nun zur Angiographie überwiesen.

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Während der Angiographie klagte sie über Schmerzen in der Brust und hatte eine leichte Tachykardie, da sie nervös war. Das Angiogramm zeigte hochgradig kalzifizierte Läsionen in den proximalen Gefäßen. Es zeigte sich eine Kalzifikation im linken koronaren Hauptstamm und das Kalzium ragte in sowohl den Ramus interventricularis anterior (RIVA, engl.: left anterior descending: LAD) als auch den proximalen Ramus circumflexus (RCX) hinein. In Nachhinein wurde dies als Thrombus fehlinterpretiert.

Dr. Hamm: Es ist sehr schwierig, diese voneinander zu unterscheiden.

Dr. James: Es handelte sich um eine stark kalzifizierte Läsion. Angesichts ihrer Vorgeschichte mit rezidivierenden Schmerzen im Brustkorb und einer leichten Tachykardie wurde angenommen, dass es sich um eine sehr gefährliche thrombotische Läsion handelt. Deshalb wurde ihr ein GP IIb/IIIa-Antagonist gegeben.

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Dr. Hamm: Geschah dies zusätzlich zur dualen antithrombozytären Therapie, mit der sie bereits behandelt worden war?

Dr. James: Ja. Davor fand im Katheterlabor eine Besprechung des Herzteams statt, auf der beschlossen wurde, diese Patientin auf Grund dieser stark kalzifizierten Hauptstamm- und RCX-Läsion für eine Operation zu empfehlen.

Zu diesem Zeitpunkt wurde Ticagrelor abgesetzt und sie wurde zwei Tage später operiert. Leider wurde kein Transplantat aus der linken inneren Brustwandarterie (Arteria mammaria interna, IMA, engl: left internal mammary artery, LIMA) eingepflanzt; sondern es wurden lediglich zwei Vena-saphena-Transplantate implantiert.

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Dr. Hamm: Das ist seltsam, da sie in einem Alter war, wo ein ein IMA-Bypass von Vorteil sein könnte.

Dr. James: Ich glaube, dass der eigentliche Grund war, dass dies als eine akute Operation angesehen wurde. Es bestand ein Blutungsrisiko und aus bestimmten Gründen konnte leider kein IMA-Bypass gelegt werden. Sie hatte Blutungen und bekam Transfusionen, die Operation verlief jedoch gut. Sie wurde aus der Chirurgie entlassen und auf Aspirin gesetzt.

Dr. Steg: Warum wurde nur Aspirin verordnet?

Dr. James: Ja, das habe ich mich auch gefragt.

Dr. Steg: Wir wissen, dass dies die Realität ist und obwohl die Daten zeigen, dass ein ACS-Patient ein Jahr lang mit dualer antithrombozytärer Therapie behandelt werden sollte, ist die Wahrscheinlichkeit sehr groß, dass ein Patient, der operiert wird, nur mit einem einzelnen Thrombozytenaggregationshemmer behandelt wird. In den meisten Fällen ist dies Aspirin.

Dr. Hamm: Dies ist ein interessanter Punkt, weil viele dieser Patienten, die wir nach der Operation nicht wieder sehen, beim Verlassen des Krankenhauses wahrscheinlich unterbehandelt sind. Dies bringt uns zu einer Frage an das Publikum. Wie würden Sie im Anschluss an eine erfolgreiche Operation weiter verfahren? Wie würden Sie die Langzeit-Behandlung bei einer Patientin nach akutem Koronarsyndrom gestalten? Würden Sie nur Aspirin verordnen, wie es viele Chirurgen tun? Würden Sie sie erneut mit Clopidogrel aufsättigen? Sollte sie Ticagrelor einnehmen? Ist Prasugrel eine Option? Keine Thrombozytenaggregationshemmer? Welche Wahl ist die richtige?

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Dr. James: Für Patienten nach ACS, die operiert werden, wird laut Daten der PLATO-Studie dringend empfohlen, die Behandlung mit Ticagrelor fortzusetzen.

Dr. Hamm: Sollte der Patient nach der Operation neu aufgesättigt werden? Wann wäre der optimale Zeitpunkt für eine Neuaufsättigung?

Dr. James: Ich glaube nicht, dass wir eine klare Antwort auf diese Frage haben. Mit Ticagrelor kann so früh wie möglich begonnen werden, sobald das Blutungsrisiko gering ist. Ich denke nicht, dass es notwendig ist neu aufzusättigen.

Dr. Hamm: So ist es in den Leitlinien dargestellt.

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Dr. James: Ich denke nicht, dass eine Neuaufsättigung unbedingt notwendig ist. Die Langzeit-Therapie ist jetzt das Wichtigste. Der Patientin wurde jedoch nach der Entlassung nur Aspirin verordnet.

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Ein Jahr nach der Bypass-Operation wurde sie mit einer rezidivierenden Angina wieder eingeliefert. Eine neue Angiographie zeigte Verschlüsse beider Venentransplantate.

Dr. Hamm: Das ist nicht überraschend.

Dr. James: Es ist in vieler Hinsicht suboptimal. Sie hatte keinen IMA-Bypass erhalten und wurde nach der Entlassung nur mit Aspirin behandelt. Das wirft auch die Frage auf, welche Therapie nach einer Operation optimal ist, nicht nur für ACS, sondern für jeden Patienten. Gibt es einen speziellen Bedarf für stärkere Antikoagulation oder zusätzliche antithrombotische Therapie? Wir haben in dieser Hinsicht nur ziemlich begrenzte wissenschaftliche Belege.

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Dr. Hamm: Das ist eine interessante Anschlussfrage.

Dr. James: Eine perkutane koronare Intervention (PCI) wurde erfolgreich durchgeführt.

Dr. Hamm: Wurde sie danach wieder neu mit Ticagrelor aufgesättigt?

Dr. James: Ja.

Dr. Hamm: Sie wurde ein ganzes Jahr lang mit Ticagrelor behandelt und ist seitdem klinisch unauffällig.

Dr. James: Das war ein sehr interessanter Fall, der gezeigt hat, wann Ticagrelor in der konservativen Therapie anzuwenden ist, und ob der Patient operiert werden muss. Der Fall zeigte außerdem, dass gemäß Empfehlungen in den Leitlinien mit der Gabe von Ticagrelor während der Langzeitnachsorge über einen Zeitraum von mindestens 12 Monaten fortgefahren werden muss.

Vielen Dank, Stefan. Es wird jetzt mit Gabriels Fall weitergehen. Gabriel, stellen Sie uns bitte Ihren Fall vor.

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Dr. Steg: Bei diesem Fall handelt es sich um einen 81-jährigen Mann mit einer medizinischen Vorgeschichte, inklusive eines früheren Schlaganfalls. Seit seinem Schlaganfall wurde er langfristig mit Clopidogrel behandelt. Vor 2 Jahren wurde ihm ein Schrittmacher implantiert. Er ist ehemaliger Raucher und hat periphere arterielle Verschlusskrankheit (PAVK) als Begleitkomplikation. Daher leidet er sowohl unter zerebrovaskulärer Krankheit (ZVK) als auch PAVK. Jetzt wird er mit einem Nicht-ST-Hebungsinfarkt (NSTEMI) vorstellig.

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Meine Kollegen in der Notaufnahme schickten ihn sofort auf die kardiologische Intensivstation, obwohl er keine Brustschmerzen mehr hatte. Sein EKG war sehr eindeutig, mit T-Wellen-Inversion und ST-Strecken-Senkung in allen vorderen Ableitungen. Er hatte eine ST-Strecken-Hebung in aVR, was stark auf eine linke Hauptstamm- oder eine 3-Gefäßerkrankung hinweist. Die Troponin I-Werte lagen bereits bei 5,0 ng/ml. Die obere Normgrenze liegt bei 0,14 ng/ml, er hatte also deutlich erhöhte Troponin-Werte. Angesichts seines Alters und seiner medizinischen Vorgeschichte überraschte es nicht, dass er eine erhebliche Nierenfunktionsstörung hatte. Die GFR lag bei 34ml/min. Er war hämodynamisch stabil. Er wurde an einem Tag eingewiesen, an dem unsere AiPs wechseln. Wir hatten daher einen neuen AiP, der anrief und wissen wollte, was die Vorschrift für eine antithrombotische Therapie bei solchen Patienten ist.

Dr. Hamm: Wir können diese Frage an unser Publikum weiterleiten und fragen, was Sie tun würden? Es ist ein schwieriger Fall. Sollten wir zusätzlich zur bestehenden Clopidogrel-Behandlung Aspirin verordnen und damit das Blutungsrisiko erhöhen? Sollten wir zusätzlich Aspirin geben und Clopidogrel

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neu aufsättigen? Sollten wir an dieser Stelle Aspirin und Prasugrel kombinieren? Sollten wir Aspirin mit Ticagrelor zusätzlich zur bestehenden Clopidogrel-Behandlung kombinieren? Sollten wir zusätzlich Aspirin geben und dann das Angiogramm abwarten, bevor wir uns für eine zusätzliche antithrombozytäre Therapie entscheiden?

Dr. Hamm: Was haben Sie getan?

Dr. Steg: Dies ist ganz klar ein Hochrisikopatient, der von einer dualen antithrombozytären Therapie profitieren würde. Angesichts des Ausmaßes seiner arteriellen Verschlusskrankheit und der Tatsache, dass der Patient einen Nicht-ST-Hebungsinfarkt mit ausgedehnter Erkrankung hatte, würde man wahrscheinlich eine duale antithrombozytäre Therapie mit einem wirksameren, neueren Mittel in Erwägung ziehen müssen. Gleichzeitig jedoch zeigen die EKG-Befunde, dass der Patient sehr wohl ein Kandidat für eine Operation sein könnte. Es bestehen Bedenken, dass die Ergebnisse des

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Fallbasierte Entscheidung bei akutem Koronarsyndrom (ACS): Konservative Behandlung bei NSTEMI

Angiogramms den Patienten zur Operation schicken könnten und dass wir dann 5 Tage warten müssten, falls wir einen P2Y12-Inhibitor geben.

Die Wahl unter den P2Y12-Inhibitoren ist interessant, da der Patient mehrere Optionen hat. Es bestehen bei ihm jedoch auch Kontraindikationen gegen Prasugrel. Erstens hatte er zuvor einen Schlaganfall, was ihn mit Prasugrel einem sehr hohen Blutungsrisiko aussetzt.

Dr. Hamm: Das ist eine Kontraindikation.

Dr. Steg: Das ist eine ganz klare Kontraindikation. Es gibt bei ihm einen zweiten Grund, kein Prasugrel zu geben: Er wird bereits mit Clopidogrel behandelt und Prasugrel wurde nur in Clopidogrel-naiven

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Patienten in der TRITON TIMI 38-Studie (Trial to Assess Improvement in Therapeutic Outcomes by Optimizing Platelet Inhibition with Prasugrel-Thrombolysis in Myocardial Infarction 38) getestet. Prasugrel scheint keine sehr gute Wahl zu sein.

Dr. Hamm: Drittens ist ein Angiogramm erforderlich, bevor wir ihm Prasugrel geben dürften.

Dr. Steg: Wir bräuchten ein Angiogramm bevor wir ihm Prasugrel geben dürfen, da es nur dann als Option bei einem Nicht-ST-Hebungsinfarkt in Betracht kommt, wenn das Einsetzen eines Stents geplant ist.

Dr. Hamm: Die einzige Option war, die Behandlung mit Clopidogrel fortzusetzen und zusätzlich Aspirin

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zu geben oder Ticagrelor zu geben. Gemäß Leitlinien kann man die Behandlung mit Clopidogrel jedoch nur dann fortzusetzen, wenn Ticagrelor nicht zur Verfügung steht. Legt man die Leitlinien zu Grunde, ist die Entscheidung eindeutig.

Dr. Steg: Angesichts seiner fortgeschrittenen Nierenfunktionsstörung gibt es bei ihm einen interessanten Grund, Ticagrelor zu geben. In der PLATO-Studie hatten Patienten mit Nierenfunktionsstörung nicht nur einen konsistenten Vorteil von einer Behandlung mit Ticagrelor, es gab sogar Hinweise, dass der Vorteil von Ticagrelor gegenüber Clopidogrel umso größer war, je schwerer der Grad der Nierenfunktionsstörung war. Das ist eindeutig eine Hochrisiko-Gruppe. Ich denke, dass der Einsatz von Ticagrelor gut begründet gewesen wäre.

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In Wirklichkeit wurde der Patient weiter mit Aspirin behandelt und schnell zur Angiographie überwiesen.

Das Angiogramm zeigte die erwarteten Ergebnisse, nämlich dass der Patient eine 3-Gefäßerkrankung hatte. Wie Sie sehen, hatte der Patient nicht nur eine 3-Gefäßerkrankung, sondern die Erkrankung war schwerwiegend, diffus und im Bereich der gesamten Koronararterie sehr stark kalzifiziert. Das sind keine guten Neuigkeiten, wenn eine Entscheidung über eine Revaskularisationsstrategie getroffen werden soll.

Dr. Hamm: Die Frage an unser Publikum ist, was wir jetzt tun sollten, wo der Patient mit Clopidogrel und Aspirin behandelt wird. Sollte er zur Bypass-Operation überwiesen werden? Sollten wir eine Mehrgefäß-PCI durchführen, was sehr schwierig wäre und vermutlich nur mit einem Rotablator durchgeführt werden kann? Sollten wir diesen Patienten konservativ behandeln? Was würden Sie tun?

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Dr. James: Die diffuse Erkrankung lädt nicht gerade dazu ein, mit einer Bypass-Operation oder PCI mit Rotablation in 3 Gefäßen fortzufahren.

Dr. Steg: Im Falle einer derart komplexen 3-Gefäßerkrankung und wenn der Patient eine GFR von 34ml/min hat, würde eine PCI mit Rotablator mit nahezuer Sicherheit dazu führen, dass der Patient dialysiert werden muss. Wir waren von dieser Aussicht nicht begeistert.

Dr. Hamm: Wofür haben Sie sich entschieden?

Dr. Steg: Aus denselben Gründen waren wir nicht sonderlich begeistert über die Aussichten bei einem operativen Eingriff. Die Nierenfunktionsstörung und die Begleiterkrankungen bei diesem Patienten

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waren sehr hohe Risikofaktoren. Chirurgen operieren nicht gern an einem Patienten, der in der Vergangenheit einen Schlaganfall hatte. Es handelt sich hier eindeutig um einen Hochrisikopatienten und allein die Transplantation bei diesem Patienten wäre kritisch gewesen.

Letzten Endes entschlossen wir uns, den Patienten anfänglich mit einer medikamentösen Therapiestrategie zu behandeln, und nur dann auf einen operativen Eingriff zurückzugreifen, falls der Patient nicht auf die medikamentöse Therapie ansprechen sollte.

Dr. Hamm: Was bedeutet medikamentöse Therapie? Fragen wir das Publikum. Aspirin und Clopidogrel? Vielleicht nur Aspirin allein? Dies bedeutet einen Wechsel von Clopidogrel zu ausschließlich Aspirin. Sollten wir eine Behandlung mit Aspirin und Prasugrel fortsetzen, jetzt, wo wir die Koronaranatomie kennen? Können wir zu diesem Zeitpunkt Prasugrel geben, oder Aspirin und Ticagrelor? Was würden Sie tun?

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Dr. James: Rivaroxaban ist nicht zugelassen, aber das wäre eine andere theoretische Option gewesen.

Dr. Hamm: Das wäre eine Dreifach-Option.

Dr. James: Ja, eine Dreifach-Therapie.

Dr. Hamm: Diese würde Aspirin, Clopidogrel und Rivaroxaban beinhalten, was zum gegenwärtigen Zeitpunkt sehr exotisch ist. Es könnte jedoch in der Zukunft möglicherweise eine Option sein.

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Dr. Steg: Die erste Frage, die wir klären müssen, ist, ob wir die Behandlung um Rivaroxaban in geringer Dosierung oder sehr geringer Dosierung (2,5 mg zweimal täglich) ergänzen sollten, was die Dosis zu sein scheint, die sich mit der dualen antithrombozytären Therapie vereinbaren lässt. Die duale antithrombozytäre Therapie müsste Aspirin und Clopidogrel sein.

Dr. Hamm: Unbedingt.

Dr. Steg: Rivaroxaban wurde bisher nicht zusätzlich zu Ticagrelor oder Prasugrel getestet. Bei dieser Kombination könnte ein sehr hohes Blutungsrisiko bestehen.

Dr. James: Besonders, wenn man seinen vorherigen Schlaganfall bedenkt.

Dr. Steg: Wir haben übrigens gerade Forschungsergebnisse der Patientengruppe mit vorausgegangenem Schlaganfall und koronarer Arterienkrankheit in Circulation veröffentlicht. Bei Patienten mit vorausgegangenem Schlaganfall besteht ein extrem hohes Risiko für intrakranielle Hämorrhagie und Blutungen. Eine intensive antithrombotische Therapie ist bei diesen Patienten mit einem hohen Risiko verbunden und ist nicht unbedingt effektiv. Obwohl sie eine Patientengruppe mit einem hohen Risiko für thrombotische und ischämische Ereignisse darstellen, besteht bei ihnen auch ein hohes Risiko intrakranieller Hämorrhagie.

Ich denke, eine konservative antithrombozytäre Therapie ist bei diesem Patienten wahrscheinlich der richtige Weg, entweder mit Aspirin und Clopidogrel, oder mit Aspirin und Ticagrelor, was die von uns gewählte Kombination war. Prasugrel ist eindeutig nicht indiziert, da keine PCI durchgeführt wurde und die TRILOGY-Studie bei medikamentös behandelten ACS-Patienten, die mit Prasugrel behandelt wurden, negativ war. Prasugrel ist keine Option, außerdem ist es aus den bereits erwähnten Gründen kontraindiziert.

Dr. Hamm: Viele unserer Kollegen haben vermutlich Bedenken, einem solchen Patienten Ticagrelor zu geben. Worin besteht das Risiko? Wie hoch ist das Blutungsrisiko bei Patienten, die in der Vergangenheit einen Schlaganfall hatten? Ist es verglichen mit Clopidogrel viel höher?

Dr. Steg: Stefan hat eine spezielle Analyse veröffentlicht, in der Patienten mit vorausgegangenem Schlaganfall untersucht wurden. Interessanterweise hatten Patienten mit einem vorausgegangenen

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Schlaganfall in PLATO erwartungsgemäß ein viel höheres Risiko ischämischer Ereignisse als Patienten ohne vorausgegangenen Schlaganfall. Der Nutzen von Ticagrelor im Vergleich zu Clopidogrel war bei Patienten mit vorausgegangenem Schlaganfall nicht nur konsistent, er war sogar größer. Insbesondere war die Mortalität erheblich reduziert, auch die Gesamtsterblichkeit. Bei Patienten mit vorausgegangenem Schlaganfall, die mit Ticagrelor behandelt wurden, wurde im Vergleich zu mit Clopidogrel behandelten Patienten eine Reduktion der Gesamtsterblichkeit von fast 40% beobachtet -- dieses Ergebnis war sogar noch deutlicher als in der PLATO-Gesamtstudie.

Im Hinblick auf Blutungen wurden keine übermäßigen Blutungen festgestellt. Bei Patienten mit und ohne vorausgegangenen Schlaganfall führt Ticagrelor in gleichem Maße zu Blutungen wie Clopidogrel. Ein Vorbehalt ist, dass für intrakranielle Hämorrhagie, was die befürchtete Hauptkomplikation beim Einsatz neuerer Mittel bei Patienten mit vorausgegangenem Schlaganfall ist, kein Unterschied beobachtet wurde. Es gab in jeder Gruppe 4 Ereignisse, was einem Hazard Ratio von genau 1 entspricht. Mit 4 Ereignissen in jeder Gruppe war jedoch das Konfidenzintervall sehr groß und wir können die Möglichkeit eines erhöhten Risikos nicht vollständig ausschließen. Ich denke, dass der allgemeine Rückgang der Gesamtsterblichkeit, was das ultimative Kriterium ist, sehr vielversprechend für einen Einsatz von Ticagrelor in dieser Patienten-Subgruppe ist.

Dr. James: Ich denke, dass die Therapiedauer in Betracht gezogen werden sollte. Je länger die Behandlung dauert, desto größer ist das Blutungsrisiko. Wenn wirksamere Mittel eingesetzt werden, sollte an einem gewissen Punkt die Indikation überdacht werden und die Therapie dann maximal auf ein Jahr verlängert werden, um etwas konservativer zu sein, was die Therapiedauer betrifft.

Dr. Hamm: Ich nehme an, Sie stimmen mit mir überein, dass die beste Behandlung für diesen Patienten ein Einsatz von Aspirin in Kombination mit Ticagrelor über einen Zeitraum von 12 Monaten ist?

Dr. James: Ich denke, wir haben hierfür sehr starke Belege aus den Studien.

Dr. Hamm: Dies wäre auch in voller Übereinstimmung mit den Leitlinien, da Ticagrelor für eine konservative Therapie die erste Wahl ist. Außerdem ist Prasugrel keine Option und Clopidogrel ist laut Leitlinien definitiv die zweite Wahl.

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Dr. James: Das stimmt auch sehr gut überein mit der Arbeit über die medikamentös behandelte Subgruppe, von der ich vor kurzen berichtet habe. Vierzig Prozent dieser Patienten hatten ein Angiogramm, wurden aber medikamentös behandelt. Es wurde keine signifikante Zunahme von schweren Blutungen beobachtet. Es gab jedoch einen Trend zu übermäßigen, nicht mit der Bypass-Operation in Verbindung stehenden Blutungen auf lange Sicht, es wurde jedoch keine signifikante Zunahme festgestellt.

Dr. Hamm: Vielen Dank, Stefan und Gabriel. Ich denke, das war eine sehr interessante und detaillierte Diskussion zum Thema konservative Therapie. Einige von uns vergessen diese Patienten, da wir immer gleich an chirurgische Intervention denken. Außerdem ist dies eine wichtige Patientenkohorte, die unsere Aufmerksamkeit verlangt und eine sehr detaillierte und spezielle Behandlung benötigt.

Ich hoffe, dass Sie diese Fälle interessant fanden und dass sie repräsentativ für Fälle aus Ihrer täglichen Praxis sind.

Dieses Transkript wurde hinsichtlich Stil und Klarheit überarbeitet.