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Peter L. Berger, Silke Steets, Wolfram Weiße (Hrsg.) Zwei Pluralismen Positionen aus Sozialwissenschaft und Theologie zu religiöser Vielfalt und Säkularität RELIGIONEN IM DIALOG | 12

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Peter L. Berger, Silke Steets, Wolfram Weiße (Hrsg.)

ZweiPluralismenPositionen aus Sozialwissenschaft undTheologie zu religiöser Vielfalt undSäkularität

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R E L I G I O N E N I M D I A L O G | 1 2

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Religionen im Dialog

Eine Schriftenreihe der Akademie der Weltreligionen

der Universität Hamburg

Band 12

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Peter L. Berger, Silke Steets, Wolfram Weiße (Hrsg.)

Zwei Pluralismen Positionen aus Sozialwissenschaft und Theologie

zu religiöser Vielfalt und Säkularität

Waxmann 2017Münster • New York

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Religionen im Dialog, Band 12 Eine Schriftenreihe der Akademie der Weltreligionen der Universität Hamburg

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Inhalt

Peter L. Berger, Silke Steets, Wolfram Weiße Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

Peter L. BergerDie zwei Pluralismen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17

Positionen aus Theologie und Religionswissenschaft

Michael von BrückAntwort auf Peter L. Berger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31

Reinhold BernhardtEin neues Paradigma? Eine kritische Auseinandersetzung mit Peter Berger’s „The Two Pluralisms – Toward a coexistence of religious and secular discourses“ . . . . 35

Walter HomolkaKoexistenz von säkularen und religiösen Diskursen in Deutschland am Beispiel der Jüdischen Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51

Harry Harun BehrDer dritte ModusZur Frage der Pragmatik zwischen Säkularität und Religion am Beispiel des Korans . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63

Perry Schmidt-LeukelPeter Bergers „Viele Altäre“ und die Theologie der Religionen . . . . . . . . . . . . 81

Anne Hege GrungDie zwei Pluralismen: Positionen und Diskussionen in Norwegen . . . . . . . . . 91

Positionen aus den Sozialwissenschaften

Grace DavieMit Pluralismus umgehen: Der europäische Fall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107

Linda WoodheadPluralismus und der Aufstieg der „Nones“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127

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Detlef PollackUnterminiert oder verstärkt religiöser Pluralismus individuelle Religiosität? Einige soziologische Beobachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147

Anna KörsDie Pluralität der „zwei Pluralismen“ in DeutschlandKonkretionen und Lokalisierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159

Silke SteetsPluralismus im Bewusstsein und die Struktur kognitiver Minderheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179

Michaela PfadenhauerZwischenräumePluralität und Hybridität als Elemente eines Neuen Paradigmas für Religion in der Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191

Nachwort

Peter L. BergerPluralismus und christlicher GlaubeEine theologische Positionierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207

Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211

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Peter L. Berger, Silke Steets, Wolfram Weiße

Einleitung

In der Erläuterung seines Konzepts der „Relevanzstruktur“ benutzte Alfred Schütz (1900–1959) das Beispiel einer Gesellschaftsdame, die bei einer Dinner-Party ne-ben einem Insektenspezialisten festsitzt, der während des gesamten Abendessens unaufhörlich über Insekten redet. Beim Abschied, als das Abendessen endlich vo-rüber war, sagte sie: „Das ist sehr interessant – wenn man sich dafür interessiert“. Die Beiträge in diesem Band gehen auf ein wissenschaftliches Symposion der Akademie der Weltreligionen der Universität Hamburg im Oktober 2015 zurück. Die Autoren der Vorträge wurden gebeten, auf ein Grundsatzreferat des Soziolo-gen Peter L. Berger zu reagieren, dass ein Paradigmenwechsel notwendig sei, um die Beziehung zwischen Moderne und Religion zu verstehen. Warum sollte sich jemand für etwas interessieren, das auf den ersten Blick wie eine abstruse Thema-tik erscheint, die lediglich für Akademiker relevant ist, die durch solche Esoterica wachsen und gedeihen?

Treffen der Royal Society of Mathematics wurden gewöhnlich mit einem Trinkspruch eröffnet: „Auf die reine Mathematik – und möge sie niemals jeman-dem nützen!“ Es gibt keinen Einwand gegen Gelehrte, die durch nichts anderes motiviert sind als durch ihre Neugier, eine Thematik mit keinem Gedanken daran zu untersuchen, wie ihr Werk für das Gemeinwohl nützlich sein könnte. Die spe-zielle Thematik, die hier angesprochen wird, ist jedoch höchst relevant für dring-liche Fragen, denen man in den meisten gegenwärtigen Gesellschaften individuell und kollektiv gegenübersteht.

Etwa zwei Jahrhunderte lang war das vorherrschende Paradigma für das Ver-ständnis der Beziehung zwischen Moderne und Religion die sogenannte Säkula-risierungstheorie, die sowohl von denen akzeptiert wurde, die den Anbruch eines angeblich säkularen Zeitalters begrüßten, als auch von denen, die ihn bedauerten. Thomas Kuhn beschreibt in seinem berühmten Buch von 1962, The Structure of Scientific Revolutions, wie ein altes Paradigma angesichts zwingender Beweise des Gegenteils zusammenbricht. Beispielsweise versuchten diejenigen, die sich gegen die neue kopernikanische Revolution in der Astronomie wehrten, zunächst, die störenden Daten in das alte ptolemäische Paradigma zu integrieren: Okay, dann bewegt sich die Sonne eben nicht im Kreis um die Erde; sie bewegt sich in Ellipsen. Dann hielt diese Verteidigung des alten Weltbildes unter dem Gewicht der Daten doch nicht stand. Schließlich warfen die Verteidiger (oder die meisten von ihnen) das Handtuch: Okay, dann ist es anders herum – es ist die Erde, die sich um die Sonne bewegt. Etwas sehr Ähnliches ist auch in der Religionssozio-logie geschehen. Die Schlüsselthese der Säkularisierungstheorie lässt sich kurz und bündig ausdrücken. Es gilt unvermeidlich: Je mehr Moderne, desto weniger Religion. Sehr elegant. Aber – hélas – empirisch unhaltbar.

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Das neue, im folgenden Beitrag von Peter L. Berger vorgelegte Paradigma, das ausführlicher in einer englischen und deutschen Publikation entfaltet ist (Berger, 2014 und Berger, 2015), ersetzt Säkularisierung durch Pluralisierung (oder – um einen gängigeren Begriff zu verwenden – durch Pluralismus). Tatsächlich legt es sogar zwei Pluralismen nahe. Einer ist im üblichen Sinne als eine Diversität von Religionen, Weltanschauungen und Wertesystemen in einer Gesellschaft zu ver-stehen, der andere bezieht sich auf die Koexistenz von religiösen und säkularen Diskursen (beziehungsweise – mit Schütz – Relevanzstrukturen), ohne die eine moderne oder sogar eine sich modernisierende Gesellschaft nicht existieren kann. Beispiele für diese säkularen Diskurse sind Wissenschaft und Technologie, die globale Ökonomie oder das internationale Recht. Wenn das neue Paradigma empi-risch tragfähig sein soll, muss es auf drei Ebenen getestet werden. Die Hamburger Konferenz fand in einem Land statt, in dem die politische Diskussion viel um die eine Frage kreist: „Gehört der Islam zu Deutschland?“ Das Paradigma sollte diese Frage auf drei Ebenen aufbrechen. Auf der Ebene der individuellen Gläubigen: „Wie kann ich ein frommer Muslim und auch ein moderner Mensch sein?“ Auf der Ebene von religiösen Institutionen: „Wie können wir den Anspruch erheben, Zeugnis für gewisse Wahrheiten abzulegen, während wir freundschaftliche Bezie-hungen zu denen haben, die unseren Anspruch nicht akzeptieren?“ Auf der Ebene der politischen Ordnung: „Wie kann der Staat seine eigene Beziehung zu Religion definieren und dazu dienen, zwischen den Ansprüchen verschiedener Religionen zu schlichten?“

Den Herausgebern dieses Buches erscheint es einleuchtend, dass das neue Paradigma auf einer Theorie des Pluralismus begründet sein sollte. Die Autoren dieses Bandes haben ihre Stellungnahmen, die sie auf der erwähnten Konferenz in Hamburg formuliert haben, für die vorliegende Publikation überarbeitet. Aus theologischer wie auch aus soziologischer Sicht legen wir hier ihre verschiedenen Reaktionen auf Bergers Grundthesen vor. Einige sind bereit, sie als neues Paradig-ma zu akzeptieren, es zu vertiefen und weiter zu entwickeln, andere setzten sich kritisch damit auseinander. Wir freuen uns sehr darüber, dass mit der Konferenz (und dem nun vorgelegten Band) eine intensive wissenschaftliche Auseinander-setzung mit einer der Kernfragen heutiger Wissenschaft und Gesellschaft initiiert wurde, die – so unsere Hoffnung – weiter fortgesetzt werden kann.

Beiträge dieses Buches

Den ersten Beitrag bilden acht Thesen, die Peter L. Berger zur Begründung der „Zwei Pluralismen“ aufführt. These Nr. 2 heißt kurz und klar: „Zum einen gibt es religiösen Pluralismus im üblichen Sinne des Wortes – mehrere Religionen ko-existieren mehr oder weniger tolerant innerhalb einer Gesellschaft. Zum anderen ist ein Pluralismus von Religion in Koexistenz mit dem einflussreichen säkularen Diskurs vorhanden, ohne den eine moderne Gesellschaft nicht existieren könnte.“

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Diese Hauptthese wird entfaltet und unter anderem ergänzt durch die Aussagen, – dass es angesichts von religiösem Pluralismus schwierig sei „Gewissheit in Glau-bensfragen zu erlangen“ (These 3), – dass die Kirchen zu freiwilligen Zusammen-schlüssen werden, – dass die Koexistenz der Religionen mit unterschiedlichem Erfolg reguliert worden ist, – Säkularität in modernen Gesellschaften oft dominant ist, – Säkularität und Religion auch im Bewusstsein von Individuen verankert seien, – und es schließlich Schwierigkeiten geben könne, wenn aus religiösem Pluralismus ein moralischer würde, was auf die Relevanz eines gesicherten Rau-mes für säkulare Diskurse hinweise. An diesen Thesen und der genannten neuen Veröffentlichung von Peter Berger knüpfen die nachfolgenden Beiträge an.

… aus theologischer und religionswissenschaftlicher Sicht

Michael von Brück unterstreicht aus religionswissenschaftlicher Perspektive, dass Religionen immer – und dies entspricht den Vorstellungen von Peter L. Berger – ein historisches und damit veränderbares Konstrukt seien. Auch die Unterscheidung zwischen „religiös“ und „säkular“ könne keine Generalisierung für sich in An-spruch nehmen, weil sie sich über Jahrhunderte in der westlichen Welt entwickelt habe. Sie gelte aber nicht in der gleichen Weise in China oder Indien. Und selbst in der westlichen Welt gebe es in der Mystik eine Tradition, in der nicht trennscharf zwischen religiös und säkular geschieden werden könne. Michael von Brück gibt dem Ansatz von Berger damit eine religionsvergleichende Tiefenschärfe .

Reinhold Bernhardt stellt aus systematisch-theologischer Sicht ähnlich wie von Brück die Frage, ob denn wirklich trennscharf zwischen einer religiösen und einer säkularen Sphäre geschieden werden könne. Er kontrastiert dies mit einem ganz-heitlichen, lutherisch-reformatorischen Verständnis, wonach Religion die ganze Person umfasse und nicht nur einen Teilbereich. Darüber hinaus stellt Bernhardt in Frage, ob denn der vorgestellte Ansatz wirklich so neu sei und ob die Kennzeich-nung „Paradigmenwechsel“ auf Bergers Ansatz zutreffe. Er weist darauf hin, dass Berger selber schon seit fast 20 Jahren eine Verbindung von Säkularisierung und religiöser Pluralisierung vertreten habe – und er spricht sich mit Rückbezug auf Thomas Kuhn dafür aus, dass es sich bei dem Ansatz der „zwei Pluralismen“ nicht um einen Paradigmenwechsel, sondern um eine Modifikation vorheriger Ansätze zu Säkularität und religiöser Pluralität handele.

Walter Homolka setzt sich aus der Sicht jüdischer Theologie mit der Frage aus-einander, ob die Moderne tatsächlich den Durchbruch des Säkularismus verursacht habe. Er unterscheidet zwischen einem weltanschaulich neutralen Staat und einer Gesellschaft, die durchaus in Teilen religiös sei. Am Beispiel der neu etablierten Jewish School of Theology in Berlin belegt er, dass Religion auch im Rahmen von weltanschaulicher Neutralität an staatlichen Hochschulen ihren Platz hat. Vor diesem Hintergrund arbeitet er zwei Aufgaben gegenwärtiger jüdischer Theologie heraus: zum einen die akademische Auseinandersetzung mit dem Judentum mit

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einer Ausbildung von Geistlichen und Lehrern, zum anderen die Kooperation mit anderen Religionen und den Bezug zur pluralen Gesellschaft. Um das damit ver-bundene Verhältnis von Staat und Gesellschaft zu bestimmen, sieht Homolka den Ansatz der „zwei Pluralismen“ als hilfreich an.

Harry Harun Behr geht aus der Perspektive islamischer Theologie davon aus, dass Religion und Säkularität miteinander verbunden gedacht und praktiziert wer-den müssen. Hierfür bilden die „zwei Pluralismen“ einen produktiven Bezugs-punkt. Grade beim Islam tragen die latent vorhandenen Spannungen zwischen Religion und Säkularität dazu bei, die Ressourcen für eine ethische Verantwortung von Muslimen im Rahmen unserer Gesellschaft zu beschneiden. Demgegenüber begründet Behr, dass der Rahmen des säkularen Staates und seiner Verfassung geradezu Voraussetzung und Garant für islamische Werte bilde. Es gehe gerade nicht um eine „partikulare Islamizität“, sondern um eine universale Ethik – um das Humanum – aus den lebendigen Quellen des Islam. Dies wird mit einem Beispiel aus dem Koran exemplifiziert, der aus einer „Vergöttlichung des Papiers“ heraus-geführt und in dynamischer Koran-Exegese auf das gesprochene Wort hin geöffnet werden solle.

Perry Schmidt-Leukel setzt sich aus der Sicht der Interkulturellen Theologie und Religionswissenschaft kritisch mit den zentralen Termini der „zwei Plura-lismen“ auseinander und fragt danach, ob Bergers These stimme, dass religiöse Pluralität zu einer Schwächung von Religion führen müsse. In seiner Auseinan-dersetzung mit der Frage von Säkularität weist Schmidt-Leukel darauf hin, dass Säkularität nicht nur als Gegensatz zu Religion verstanden werden müsse, sondern dass „säkular“ sowohl mit als auch ohne religiöse Konnotation verwendet werden könne. Dieser Ambivalenz sollte ein größerer Stellenwert eingeräumt werden, als dies bei Berger zum Ausdruck komme, um wahrnehmen zu können, dass säkulare und religiöse Einstellungen auch in einer Person miteinander verwoben sein kön-nen. Mit Hinweis auf die Theologie der Religionen argumentiert Schmidt-Leukel, dass es keineswegs einen automatischen Zusammenhang von Pluralismus und Schwächung von Religion gebe, sondern dass die Wahrnehmung religiöser Vielfalt Religionen stärken und ihre Wahrnehmung steigern könne, dass Religionen mit ih-ren unterschiedlichen Ausprägungen für die Menschheit wichtig seien, was – ganz auf der Linie von Peter L. Berger – eine belastbare Alternative zu Relativismus und Fundamentalismus biete.

Anne Hege Grung bezieht als Theologin im Bereich Praktische Theologie den Ansatz der „zwei Pluralismen“ auf den norwegischen Kontext und fragt nach den produktiven Herausforderungen von Bergers Theorie für den interreligiösen Dia-log. In Norwegen mit einer langen Tradition der lutherischen Volkskirche gehe es darum, eine Sprache zu entwickeln, um innerreligiöse Anliegen für säkulare Positionen verstehbar zu machen und in einen Dialog miteinander eintreten zu können. Zwei Modelle des interreligiösen Dialogs werden vor dem Hintergrund von Ergebnissen einer empirischen Studie herausgearbeitet, die Grung in einer muslimisch-christlich zusammengesetzten Frauengruppe in Oslo durchgeführt

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hat. Im ersten Modell dient religiöse Differenz als Scheidelinie zwischen Religi-onen und verstärkt das Trennende im Dialog. Im zweiten Modell geht es darum, dass religiöse Differenz als Herausforderung gesehen wird, bei der es nicht vor-rangig um Repräsentanz von Religion, sondern auch um individuelle Suche nach Sinn und um mögliche Veränderung im Dialog geht. Grung sieht viel Impulskraft im neuen Ansatz von Peter L. Berger, unterstreicht aber auch die Notwendigkeit, diesen durch weitere empirische Studien zu vertiefen und auszudifferenzieren.

… aus sozialwissenschaftlicher Sicht

Der Beitrag der britischen Soziologin Grace Davie beleuchtet den gesellschaft-lichen, politischen und juristischen Umgang mit religiösem Pluralismus in vier verschiedenen europäischen Ländern, genauer in Großbritannien, Frankreich, den Niederlanden und Griechenland. Die von Davie eingenommene historisch-verglei-chende Perspektive macht deutlich, dass sich die vier Fälle im Hinblick auf sechs verschiedene – Pluralismus begünstigende oder einschränkende – Faktoren unter-scheiden: (1) in der Art der Bezugnahme einer Gesellschaft auf ihr (in allen vier Fällen) christlich-jüdisches Erbe, (2) in der Beziehung von Staat und Religion, (3) in den Veränderungen der Art der individuellen Bindungen an Religion, (4) in der sich wandelnden Stellung der Religion in Privatheit und Öffentlichkeit, (5) in den Überschneidungen von religiösen und ethnischen Gruppierungen und schließlich (6) in der Einsicht, dass Europa nicht die globale Blaupause für das Verhältnis von Religion und Moderne ist, sondern eher ein Spezialfall darstellt. Mit Hilfe dieser Faktoren zeichnet Davie ein komplexes Bild des „europäischen Falls“.

Im Zentrum des Beitrages der britischen Soziologin Linda Woodhead stehen die sogenannten „nones“, womit diejenigen Menschen gemeint sind, die in stan-dardisierten Umfragen auf die Frage nach der Religionszugehörigkeit mit „none“ beziehungsweise „keine“ antworten. Woodhead zeigt zunächst, dass die „nones“ in mehreren europäischen Ländern mittlerweile die Mehrheit bilden und nutzt dann die Berger’sche Idee des Doppelpluralismus’, um den Aufstieg der „nones“ zu erklären. Sie argumentiert, dass Bergers Vorschlag zwar einen ergiebigen Aus-gangspunkt bietet, man darüber aber hinausgehen müsse, um die Reichweite des Phänomens wirklich zu erfassen. Daher plädiert sie für das Konzept der „Super-diversity“, mit dem gesellschaftliche De-differenzierungsprozesse stärker in den Mittelpunkt rücken. Vor diesem Hintergrund zeigt sie, dass zwar klassische For-men der Zugehörigkeit zu den traditionellen Religionen abnehmen, aber neue und mit den herkömmlichen Kategorien kaum fassbare individualisierte Formen von Religiosität entstehen, die eine unübersichtliche, „superdiverse“ religiöse Land-schaft hervorbringen.

Der Soziologe Detlef Pollack setzt das neue Paradigma Bergers einem quan-titativen empirischen Test aus. Im Zentrum des Beitrags steht die Frage nach den Effekten religiös-pluralistischer Situationen auf die Vitalität individueller Religio-

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sität in Europa und den USA. Berger hatte bereits in seinen frühen Schriften argu-mentiert, dass religiöse Vielfalt die Selbstverständlichkeit individueller Glaubens-systeme unterminiert. Während er aus dieser These jedoch in den frühen Schriften einen allgemeinen Rückgang religiöser Überzeugungen ableitete (was einen wich-tigen Aspekt der Säkularisierungstheorie darstellte), argumentiert Berger heute, dass sich in religiös vielfältigen Gesellschaften zwar das Wie des Glaubens, nicht notwendigerweise aber sein Ob wandele. Um diese neue These zu testen, führt Pollack eine Reihe quantitativer Analysen durch. Er beleuchtet hier vor allem die lebensweltliche Ebene der persönlichen Netzwerke, familiären Bindungen, Nach-barschaften und Arbeitsplätze und kommt zu dem Schluss, dass in den USA eine religiös-homogene Lebenswelt in der Regel zu größerer individueller Religiosität führt, während im stärker säkularisierten Europa persönliche Kontakte von Gläu-bigen zu Andersgläubigen (aber immerhin Gläubigen) die eigene Religiosität eher beflügeln als lähmen. In diesem Befund zeige sich, dass die Trennlinie in den USA zwischen den verschiedenen Religionen und Konfessionen verlaufe, in Eu-ropa hingegen zwischen Glauben und Unglauben. In beiden Fällen aber bestätige sich Bergers Hypothese aus seinen frühen Schriften, dass religiöse Weltdeutungen durch die Einbettung in homogene Plausibilitätsstrukturen gestärkt und durch eine Zunahme des religiösen Pluralismus langfristig geschwächt würden. Eine Abkehr von den Kernthesen der Säkularisierungstheorie sei demnach nicht notwendig.

Anna Körs, Soziologin an der Akademie der Weltreligionen in Hamburg, blickt in ihrem Beitrag auf die Situation in Deutschland. Sie nimmt das Berger’sche Konzept zum Ausgangspunkt, um insbesondere die Ebene der vermittelnden In-stitutionen in lokalen Aushandlungsprozessen religiöser Pluralität zu untersuchen. Im Vergleich der sechzehn Bundesländer zeigt sie zunächst die teils erheblichen regionalen Differenzen in den religiös-weltanschaulichen Bevölkerungsanteilen, um dann – am Beispiel Hamburgs – detailliert auf die Handlungsfelder Recht und Politik, religiöse Bildung, räumlich-symbolische Repräsentanz und interreligiöse sowie religiös-säkulare Kommunikation einzugehen. Sie kommt zu dem Schluss, dass die Aushandlungsprozesse religiöser Pluralität nicht nur Politik und Religi-onsgemeinschaften umfassen, sondern auch weite Teile der Zivilgesellschaft, die sich zudem lokal sehr unterschiedlich ausformen. Daher fordert sie horizontale ebenso wie Mehrebenenanalysen, um Muster, Pfade und Sonderfälle besser zu erkennen.

Die deutsche Soziologin Silke Steets schließt an Bergers Konzeption der „zwei Pluralismen“ an, indem sie ein empirisches Forschungsdesign skizziert, das es ermöglichen soll, die Implikationen der beiden Pluralismen auf der Ebene der Individuen zu untersuchen. Im Zentrum steht die Frage, wie es möglich ist, dass Menschen religiöse und säkulare Wissensbestände mehr oder weniger gleichzei-tig in ihrem Bewusstsein integrieren können. Der vorgeschlagene theoretische Rahmen setzt an Alfred Schütz’ Konzept der „Relevanzstrukturen“ an, die Steets allerdings komplexer einführt als Berger dies tut, um vor allem die Verflochtenheit unterschiedlicher Typen von Relevanzen hervorzuheben. Deutlich wird auf diese

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Einleitung 13

Weise, dass Menschen in ihrem Alltag keinesfalls klar zwischen religiösen und säkularen Handlungsbezügen unterscheiden und sich diese – im Gegenteil – oft überlagern. Die Verwendung der Schütz’schen Konzepte aber führt auf der analy-tischen Ebene zu einer fruchtbaren Klarheit.

Eine stärker wissenssoziologisch orientierte Kontextualisierung von Bergers Thesen unternimmt schließlich die Soziologin Michaela Pfadenhauer. Sie zeich-net in ihrem Beitrag nach, wie sich die Vorstellung der modernen Gesellschaft als einer pluralistischen Gesellschaft (und die damit verbundene Abkehr von der Sä-kularisierungstheorie) im Werk Peter L. Bergers entwickelt hat. Dem von Berger vorgeschlagenen Konzept der Relevanzstrukturen, mit dessen Hilfe er den Plura-lismus im Bewusstsein von Menschen fasst, setzt Pfadenhauer das Konzept der Hybridität entgegen. Während Relevanzstrukturen auf einer Differenzlogik (des Codeswitchings) verharrten, erlaube es der Hybriditätsbegriff das Gleichzeitige zu denken. Da alles Hybride zugleich im kommunikativen Handeln sozial und performativ hergestellt werde, wird Pluralität zum Vollzugsmodus, der im Mitein-andersein hervorgebracht wird.

… zum Abschluss

Abschließend dokumentieren wir einen Versuch Peter L. Bergers, seinen sozio-logischen Ansatz der „zwei Pluralismen“ in einen theologischen zu übersetzen. Dieser stand den Autorinnen und Autoren dieser Publikation bei ihren Kommenta-ren zu Bergers Thesen nicht zur Verfügung. Wir nehmen ihn hier mit auf, weil er die interdisziplinäre Relevanz seiner Theoriebildung aus eigener Perspektive zeigt und deutlich macht, wie gläubige Menschen mit religiöser Vielfalt umgehen und dabei gleichzeitig die eigene Religiosität stärken können. Hierzu entfaltet Berger drei Thesen: Zum einen sei es notwendig, dass im Angesicht von religiösem Plu-ralismus nicht die Gewohnheit, sondern die Entscheidung für eine Religion zähle. Zum anderen werde damit die Religionsfreiheit zu einer praktischen Notwen-digkeit, und zum dritten fordere diese Situation heraus, zwischen dem Kern des eigenen Glaubens und dessen zusätzlichen, aber nicht ganz so wichtigen Punkten zu unterscheiden. Religiöse Pluralität könne damit zu einer Dynamisierung und Fokussierung des Glaubens beitragen.

Rahmen: Akademie der Weltreligionen der Universität Hamburg

Nur angedeutet werden kann, dass es eine zunehmende Zahl von theoretischen Analysen und empirischen Arbeiten zur Frage von Religion und Religionen in modernen Gesellschaften gibt (Amirpur/Weiße, 2015). Hierbei wird auch grundle-gend die Frage nach dem Verhältnis von religiösen und politischen Diskursen (Ha-bermas, 2011, 26) sowie nach der Rolle „öffentlicher Religion in der Demokratie“ (Polke, 2009) gestellt. Bei aller Unterschiedlichkeit der gewählten thematischen

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Fokussierungen, der theoriebezogenen Prioritäten und der verwendeten Methodo-logien wird eines deutlich: Eine Befassung mit diesem Themenkomplex ist in den letzten Jahren an der Universität immer intensiver geworden und dies entspricht auch der größeren Relevanz von Religion und Dialog im gesellschaftlichen Be-reich. Als Beispiel für wissenschaftliche Aufnahme von Religion und Dialog in modernen Gesellschaften sei auf konzeptionelle Ansätze und Forschungsvorhaben der Akademie der Weltreligionen der Universität Hamburg verwiesen, zumal diese das wissenschaftliche Symposion, auf die die Beiträge dieser Publikation zurück-gehen, initiiert hat.

Die Akademie der Weltreligionen der Universität Hamburg verfolgt seit ihrer Gründung im Jahr 2010 einen dialogorientierten Ansatz, der neben Christentum und Islam weitere ausgewählte Religionen wie Judentum, Buddhismus, Hindu-ismus und Alevitentum einbezieht (Roloff/Weisse, 2015; Aksünger/Weiße 2015), und sich dabei nicht auf das Nebeneinander der Religionen beschränkt, sondern auf die Wechselwirkungen zwischen den Religionen gerichtet ist. Damit löst sie ein, was auch der Wissenschaftsrat 2010 (Wissenschaftsrat, 2010) empfohlen hat: eine Pluralisierung der Theologie und der religionsbezogenen Wissenschaften an deutschen Universitäten. Diesen Dialogansatz verfolgen wir in der Forschung und ebenso in Lehre und Praxis. Konkret bedeutet dies für die Lehre, dass die Theologi-en und Lehren der verschiedenen Religionen nicht nebeneinander, sondern mitein-ander unterrichtet werden. Dadurch werden die jeweiligen theologischen Entwürfe einer Weltreligion mit denen einer anderen Weltreligion in Verbindung gebracht, um Gemeinsamkeiten und Differenzen fundiert und umfassend zu thematisieren. So wird eine Basis geschaffen, um den interreligiösen Dialog wissenschaftlich zu verankern. Darüber hinaus wird der wissenschaftliche Horizont erweitert: Fragen des interreligiösen Dialogs werden an der Akademie der Weltreligionen nicht nur in grundlegenden Dimensionen, sondern in Bezug zu gesellschaftlichen Problem-feldern in modernen Einwanderungsgesellschaften erörtert, um einen praktischen Beitrag für das Zusammenleben in unserer multikulturellen und multireligiösen Gesellschaft zu leisten. Zudem tritt die Akademie der Weltreligionen mit Themen, die im Überschneidungsfeld von Wissenschaft und Politik liegen, auch an die Öffentlichkeit, so in einer Veranstaltung, in der es – thematisch durch die „zwei Pluralismen“ angeregt – unter der Überschrift „Religiöse Vielfalt und Säkularität“ um die Frage der Verträge zwischen dem Hamburger Senat und Religionsgemein-schaften ging (Weiße, 2015).

Vor diesem Hintergrund ist der Ansatz des europäischen Forschungsprojek-tes „Religion und Dialog in modernen Gesellschaften“ (Weiße/Amirpur/Körs/Vieregge, 2014b), das an der Akademie der Weltreligionen angesiedelt ist, zu verstehen. Es widmet sich seit 2013 dem Thema des interreligiösen Dialog, an den hohe gesellschaftliche Erwartungen für die Gestaltung des Zusammenlebens von Menschen unterschiedlichen religiösen und kulturellen Hintergrunds geknüpft sind, zu dem allerdings noch viel zu wenig wissenschaftliche Erkenntnisse vorlie-gen. Das Forschungsprojekt „Religion und Dialog in modernen Gesellschaften“

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soll einen wesentlichen Beitrag dazu leisten, dieses Defizit zu überwinden und die Lücke zu schließen (Weisse/Amirpur/Körs/Vieregge, 2014a). Im Konkreten er-folgt die Forschung auf zwei verschiedenen Ebenen, zum einen der „Dialogischen Theologie“ und zum anderen der „Dialogischen Praxis“. Ziel der „dialogischen Theologie“ ist die Entwicklung einer dialogisch ausgerichteten Theologie, die uns als wissenschaftlich notwendig erscheint und zudem eine Ressource für das friedliche Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher religiöser und weltan-schaulicher Hintergründe in unserer Gesellschaft bildet. Der Bereich „dialogische Praxis“ widmet sich dem interreligiösen Dialog im städtischen Raum sowie im Bildungsbereich in empirischen Studien.

Für beide Untersuchungsfelder spielt der Ansatz der „zwei Pluralismen“ eine impulsgebende Rolle, zumal die Frage nach der Verbindung religiöser und säkula-rer Ansätze und Positionen sowohl im Gebiet des theologischen Dialogs, als auch im Feld der empirischen Forschung eine erhebliche Rolle spielt.

Insgesamt geht es uns nicht nur um die theoretische Durchdringung und Grund-legung des interreligiösen Dialogs, sondern auch um die Frage seiner Fähigkeit, gesellschaftliche Probleme zu lösen, die in unserer modernen Einwanderungsge-sellschaft z. B. durch wechselseitige Beziehungen zwischen Mehrheiten und Min-derheiten entstehen können. Indem wir empirische und theologische Forschung verknüpfen, hoffen wir, einen substanziellen Zuwachs an Wissen auf diesem Ge-biet zu erzielen und einen praktischen Beitrag für das Zusammenleben in unserer multikulturellen und multireligiösen Gesellschaft zu leisten.

Danksagung

Wir danken vor allem unseren Kolleginnen und Kollegen sehr herzlich, die durch ihre Beiträge zu einer fundierten wissenschaftlichen Diskussion der Fragestellung dieses Buches beigetragen haben.

Besonders großen Dank richten wir an die Udo-Keller-Stiftung „Forum Hu-manum“, die die Akademie der Weltreligionen der Universität Hamburg seit zehn Jahren umfassend unterstützt und es uns dadurch z. B. ermöglicht, im Bereich Religion und Dialog international renommierte Gastprofessorinnen und Gast-professoren für jeweils ein Semester – z. T. auch wiederholt – in die Arbeit der Akademie der Weltreligionen einzubinden. Die Udo-Keller-Stiftung hat auch das wissenschaftliche Symposion, auf das die Beiträge dieses Buches zurückgehen, durch großzügige Unterstützung möglich gemacht.

Wir bedanken uns ebenfalls sehr herzlich bei denen, die am Zustandekommen dieser Dokumentation mitgewirkt haben, vor allem Halima Krausen für die Über-setzungen von englischen Beiträgen ins Deutsche, Laura Eichinger und Paulina Schmid für Redaktion und Textbearbeitung, sowie bei Beate Plugge vom Wax-mann-Verlag für eine ungewöhnlich gute Beratung und professionelle Produktion dieses Buches.

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Literatur

Aksünger, H./Weiße, W. (Hg.) (2015). Alevitische Theologie an der Universität Hamburg. Dokumentation einer öffentlichen Antrittsvorlesung, Dokumentationsreihe der Akade-mie der Weltreligionen der Universität Hamburg Nr. 3. Münster: Waxmann.

Amirpur, K./Weiße, W. (Hg.) (2015). Religion, Dialog, Gesellschaft. Analysen zur gegen-wärtigen Situation und Impulse für eine dialogische Theologie. Münster: Waxmann.

Berger, P. L. (2014). The Many Altars of Modernity. Toward a Paradigm for Religion in a Pluralistic Age. Boston/Berlin: de Gruyter.

Berger, P. L. (2015). Altäre der Moderne. Religion in pluralistischen Gesellschaften. Frankfurt/Main: Campus-Verlag. [Dies ist die deutsche Übersetzung des voranstehen-den Titels.]

Wissenschaftsrat (2010). Empfehlungen zur Weiterentwicklung von Theologien und re-ligionsbezogenen Wissenschaften an deutschen Hochschulen“ vom 29. Januar 2010: http://www.wissenschaftsrat.de/download/archiv/9678–10.pdf (Letzter Abruf am 7.1.2016).

Habermas, J. (2011). „The Political“: The Rational Meaning of a Questionable Inheritance of Politial Theology. In: E. Medieta/J. Vavantwerpen (Eds). The Power of Religion in the Public Sphere. Columbia: New York/Chichester, 15–33.

Kuhn, T. S. (1962). The Structure of Scientific Revolutions. Chicago: University of Chi-cago Press.

Polke, C. (2009). Öffentliche Religion in der Demokratie. Eine Untersuchung zur weltan-schaulichen Neutralität des Staates. Evangelische Verlagsanstalt: Leipzig.

Roloff, C./Weisse, W. (Eds) (2015). Dialogue and Buddhism and Hinduism. Public presentations of The 14th Dalai Lama, Sallie B. King, Anantanand Rambachan and Samdhong Rinpoche. Documentation series of the Academy of World Religions No. 2. Münster: Waxmann.

Weisse, W./Amirpur, K./Körs, A./Vieregge, D. (Eds) (2014a). Religions and Dialogue. International Approaches. No. 7 of the series „Religions in Dialogue“. Münster: Wax-mann.

Weiße, W./Amirpur, K./Körs, A./Vieregge, D. (Hg.) (2014b). Religion und Dialog in mo-dernen Gesellschaften. Dokumentation der öffentlichen Auftaktveranstaltung eines internationalen Forschungsprojektes. Nr. 1 der Dokumentationsreihe der Akademie der Weltreligionen der Universität Hamburg. Münster: Waxmann.

Weiße, W. (Hg.) (2015). Religiöse Vielfalt und Säkularität. Die Verträge zwischen Staat und Religionsgemeinschaften in Hamburg. Dokumentationsreihe der Akademie der Weltreligionen der Universität Hamburg Nr. 4. Münster: Waxmann.

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Peter L. Berger

Die zwei Pluralismen

Was ich in diesem Beitrag1 versuchen möchte, ist die Darstellung eines neuen Paradigmas für das Verständnis der gegenwärtigen religiösen Situation. An die-sem Paradigma – der Begriff scheint für die Vorstellung einer Übersicht eventuell etwas ausgefallen – arbeite ich nun seit mehreren Jahren im Gespräch und in der Zusammenarbeit mit zahlreichen Kollegen. Ich habe darüber ein Buch geschrieben mit dem Titel The Many Altars of Modernity, auf deutsch: Altäre der Moderne (Berger, 2014). (Ich gebe diesen Literaturhinweis getreu meinem Zulu-Lieblings-sprichwort: Wenn nicht ich meine Trommel schlage, wer dann?!). In der Anfangs-zeit meiner Laufbahn als Religionssoziologe – vor mehr Jahren als ich zählen mag –, galt die sogenannte „Säkularisierungstheorie“ als das dominante Paradigma. Die Grundprämisse war schlicht und einfach: Modernisierung gleich Rückgang der Religion. Ich brauchte mehr als zwanzig Jahre, um zu der Schlussfolgerung zu gelangen, dass diese Theorie empirisch unhaltbar ist. Die nächste Frage, die sich logischerweise stellt, lautet: Was könnte die Säkularisierungstheorie ersetzen? So dachte ich weiter und stellte fest, dass dies eine Theorie des Pluralismus sein müsse; das neue Paradigma, welches nach wie vor in Arbeit ist, stellt einen Schritt in die Richtung des Verständnisses von Pluralismus als den wichtigsten Faktor bei der Ausformung zeitgenössischer Religion dar. Noch eine Anmerkung: Mein Sinneswandel in Bezug auf Säkularisierung war nicht das Ergebnis irgendeiner religiösen Bekehrung. Seit meiner Jugend gab es keine grundlegende Veränderung in meiner theologischen Positionierung – einem hoffnungslos unheilbaren Luther-tum, aufgeschlossen aber doch lutherisch. Die Veränderung brachte vielmehr mein Studieren empirischer Belege mit sich. Als Soziologe mit persönlichen Glaubens-vorstellungen hätte ich dieses Buch auch schreiben können, wenn ich katholisch oder Buddhist oder Atheist wäre. In der Wissenschaft gibt es keine endgültigen Wahrheiten; alle Aussagen sind „bis auf weiteres“ zu treffen.

These 1

Wir leben nicht in einem säkularen Zeitalter; wir leben in einem pluralistischen Zeitalter.

Pluralismus bringt Herausforderungen für die Religion, aber diese unter-scheiden sich von den Herausforderungen der Säkularität. Die Welt als Ganzes ist so religiös wie sie immer war, mit einigen Ausnahmen (darunter Westeuropa, ausdrücklich nicht die Vereinigten Staaten, und eine internationale Intelligenzia).

1 Hauptvortrag an der Akademie der Weltreligionen der Universität Hamburg, 22. Oktober 2015.

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Der religiöse Pluralismus jedoch wurde globalisiert – Hare Krishnas singen und tanzen vor mittelalterlichen Kathedralen, protestantische Missionare aus Südkorea schleichen sich mit Koffern voller Bibeln nach China und Indien ein; und in der Europäischen Union leben schätzungsweise fünfzehn Millionen Muslime.

These 2

Eigentlich gibt es zwei Pluralismen. Zum einen gibt es religiösen Pluralismus im üblichen Sinne des Wortes – mehrere Religionen koexistieren mehr oder weniger tolerant innerhalb einer Gesellschaft. Zum anderen ist ein Pluralismus von Religi-on in Koexistenz mit dem einflussreichen säkularen Diskurs vorhanden, ohne den eine moderne Gesellschaft nicht existieren könnte.

Der zweite Pluralismus ist es, bei welchem die Säkularisationstheorie nicht völlig falsch lag; sie übertrieb nur die Möglichkeiten des säkularen Diskurses, die Religion zu marginalisieren. Säkularität ist selbst da, wo ein robuster Sinn für Übernatürliches vorherrscht, wie in der römisch-katholischen Kirche (worin sie sich von einem großen Teil des Mainstream-Protestantismus unterscheidet, der den christlichen Glauben oft moralisiert, psychologisiert oder politisiert). Stellen wir uns vor, wie der Papst in das berühmte „Papamobil“ einsteigt (das seltsamer-weise wie ein Golfauto aussieht) – nehmen wir einmal an, er sei zu einer Veran-staltung unterwegs, die seine Autorität auf das Jenseits ausdehnt – die Erhebung eines verstorbenen Individuums in den Stand der Heiligkeit, was die Fähigkeit beinhaltet, Wunder zu bewirken, und den Leuten erlaubt, zu dem neuen Heiligen zu beten. Daran ist nicht viel Säkularität! Stellen wir uns weiterhin vor, dass das „Papamobil“ sich weigert zu starten. Ich nehme an, der Vatikan pflegt zu Auto-mechanikern ebenso Kontakte wie zu Exorzisten. Ich halte es für wahrscheinlich, dass die Gehilfen des Papstes in diesem Notfall einen Automechaniker rufen, nicht einen Exorzisten. Das bedeutet nicht, dass der Papst und seine Gehilfen nicht an Exorzismus glauben; vielmehr halten sie sich an Rossinis Barbier von Sevilla, der singt: „Alles zu seiner Zeit. Alles zu seiner Zeit“!

These 3

Religiöser Pluralismus macht es schwierig, Gewissheit in Glaubensfragen zu er-langen.

Wir sind soziale Wesen. Wenn wir mit anderen Menschen reden, werden wir zumindest ein bisschen von dem beeinflusst, wie sie die Welt betrachten – das nenne ich „kognitive Kontamination“. Religion ist darin keine Ausnahme. Nicht jedes Gespräch wird diese „kontaminierende“ Wirkung haben: Wenn ich katho-lisch bin und nur ein paar Worte mit meinem/r protestantischen Postzusteller/in wechsle, hat dies wahrscheinlich wenig Auswirkung auf uns beide. Ein anderer Prozess setzt ein, wenn wir ein ausführliches Gespräch in einem sozialen Rah-

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men führen – und noch viel mehr, wenn wir heiraten! Deshalb existieren in vielen Religionsgemeinschaften Verbote gegen das, was Anthropologen Kommensalität und Konnubium nennen – mit anderen Worten, gegen Tischgespräche und Bettge-flüster! Pluralismus tendiert zu einer Situation, in der jeder mit jedem redet. Das führt natürlich nicht immer zu Konversionen in die eine oder andere Richtung. Es bedeutet jedoch, dass der über die eigene Sozialisation erworbene Glaube nicht mehr als selbstverständlich hingenommen werden kann; er wird zu einer Sache der Reflexion und Entscheidung. Dies bewirkt eine wichtige Veränderung in der Art, wie Menschen heute glauben: Glaube wird nicht mehr qua Geburt erworben, sondern ist die Folge einer Reihe von Entscheidungen – wie sich anzuschließen, dabeizubleiben oder woanders hinzugehen. Religion wird hier Teil einer gewalti-gen Verschiebung vom Schicksal zu Wahl, welche die Moderne in allen Bereichen des Lebens auslöst.

Wenn sich im alten Griechenland zwei Individuen begegneten, dann mögen sie einander gefragt haben: „Wer sind deine Götter?“ Ein Äquivalent unserer Zeit wäre es, nach Vorwahlnummern oder Postleitzahlen zu fragen (die in einer plura-listischen Gesellschaft wohl kaum etwas über jemandes Glauben aussagen). Wenn man sich für die Religion des anderen interessiert, kann man sehr wohl eine kom-plizierte Antwort bekommen wie: „Ich bin katholisch. Das heißt, ich bin irgend-wie in einer katholischen Familie geboren; meine Großmutter ging jeden Tag zur Frühmesse. Ich befasse mich gerade mit buddhistischer Meditation. Meine Frau ist Jüdin. Unsere Tochter geht mit einem Episkopalen aus“. Um diese Situation auf eine andere Art und Weise zu beschreiben, könnte man auch sagen, dass Glaube immer von einem Halbschatten des Zweifels umgeben ist.

Aus bekannten empirischen Gründen war Amerika immer ein Vorreiter des religiösen Pluralismus. Aber dieser Zustand breitet sich aus. Möchten Sie den amerikanischen religiösen Pluralismus einmal selbst physisch erfahren, sollten Sie nach Washington gehen und vom Weißen Haus aus auf der 16. Straße nach Norden fahren. In fast jedem Wohnblock bis kurz vorm Verlassen des Distrikts von Columbia findet sich eine Kirche oder ein Tempel aller größeren Denominationen, sowie auch kleinerer Religionsgemeinschaften – wie ein Baha’i-Zentrum oder bei-spielsweise ein großes Gebäude, das anscheinend zu einer vietnamesischen Sekte gehört (deren Botschaft deutlich sichtbar in vietnamesischer Schrift angezeigt wird). Offensichtlich haben andere Länder diesen Überschwang an religiöser Viel-falt nicht. Aber sie kommen ihm näher. Vor ein paar Jahren war ich auf einer Party in Deutschland. Aus irgendeinem Grund wurde ein hinduistischer „Gottesmann“ erwähnt; ich wagte die Ansicht zu äußern, dieser Mann sei ein Schwindler. Ein Mann, der in breitem schwäbischen Tonfall sprach, wandte sich ärgerlich zu mir und verkündete, er sei ein ergebener Anhänger dieser heiligen Person. Paul Zuleh-ner (2011), ein Soziologe mit profunden Forschungsarbeiten zum Thema Religion in Österreich, hat diese Veränderung im Titel seines neuen Buches Verbuntung eingefangen: In der Tat ist die religiöse Szene sehr viel bunter geworden, selbst in den provinzielleren Regionen Mitteleuropas!

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Wenn der Pluralismus dem Glauben von Individuen die Notwendigkeit der Wahl aufgezwungen hat, dann hat er dies auch bei religiösen Institutionen (Kir-chen, Synagogen, Moscheen und so weiter) getan.

These 4

Wenn die pluralistische Situation mit gesetzlich garantierter Religionsfreiheit einhergeht, werden alle Kirchen, ob es ihnen gefällt oder nicht, zu freiwilligen Zusammenschlüssen.

Die klassische Soziologie von Max Weber und Ernst Troeltsch unterschied zwischen zwei Grundtypen von religiösen Institutionen – der „Kirche“, einer gro-ßen Körperschaft, in die man hineingeboren wird, und der „Sekte“, einer kleinen, eng verwobenen Gruppe, der man sich anschließt. Der amerikanische Kirchen-historiker Richard Niebuhr (1965) fügte einen dritten Typ – die „Denomination“ – hinzu, eine Kirche, der man sich anschließt und dies gewissermaßen immer wieder tut, indem man Mitglied bleibt. Dieser Prozess hin zu „Denominationen“ ist besonders schwer für religiöse Institutionen zu ertragen, die gewöhnlich eine Monopolstellung in der Gesellschaft innehatten, bzw. genossen. Eine Art religi-öser Markt entsteht: Kirchen konkurrieren eher, als um Vorherrschaft zu ringen, die Laienschaft gewinnt Macht gegenüber der Geistlichkeit, und der Staat wird zu einer Art neutralem Vermittler.

Das kurze Jahrhundert in der Geschichte der römisch-katholischen Kirche zwischen dem Ersten und Zweiten Vatikanischen Konzil kann als Lehrbeispiel für die erfolgreiche Anpassung einer religiösen Institution an den Verlust der Mo-nopolstellung dienen. Als das Erste Vatikanische Konzil 1870 endete, hielt Rom nach wie vor an der Idee fest, dass „Irrtum keine Rechte hat“; als man 1965 das Zweite Vatikanische Konzil beendete, wurde als wichtigstes Dokument Dignitatis humanae verabschiedet, das Religionsfreiheit zu einem grundlegenden Menschen-recht erklärte, und zwar nicht nur für Katholiken, sondern für Menschen anderen Glaubens oder ohne Glauben. Die Umsetzung war nicht leicht. So hat das Franco-Regime in Spanien einen letzten Versuch unternommen, wieder ein katholisches Monopol in der Gesellschaft einzuführen. Seitdem hat die katholische Kirche ihre Beziehungen mit anderen Glaubensgemeinschaften radikal verändert und ist eine treibende Kraft für Menschenrechte (einschließlich der Religionsfreiheit) in vielen Teilen der Welt geworden, vor allem in Ost- und Mitteleuropa, Lateinamerika, Südost- und Ostasien. Ist dieser Prozess einer Vertiefung des Pluralismus unum-kehrbar? Natürlich nicht. Sollte genug Zwang mobilisiert werden, kann dies der pluralistischen Dynamik entgegenwirken. Den heftigsten Versuch, dies zu tun, stellt heute der radikale Islamismus dar (sein Erfolg oder Misserfolg wird, denke ich, durch wirtschaftlichen Druck entschieden und durch „Boots on the ground“). Das Putinregime hat Druck ausgeübt in Richtung einer neuen „Sinfonia“ zwischen dem russischen Staat und der orthodoxen Kirche. Das kommunistische Regime in

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China ist, soweit ich sehen kann, noch unentschlossen zwischen Repression und relativer Toleranz der Religion. Religiöser Pluralismus muss politisch gestaltet werden.

These 5

In der Geschichte wurden zahlreiche Versuche unternommen, die friedliche Ko-existenz mehrerer Religionen zu regulieren – mit unterschiedlichen Erfolgsquoten.

Das späte Römische Reich besaß eine Friedensformel, die mit folgenden schönen Worten von Edward Gibbon beschrieben wurde: Die Leute glaubten, alle Religionen seien wahr, die Philosophen, alle seien falsch, die Beamten, dass sie alle nützlich wären.

Die politische Elite, deren Mitglieder eine hellenistische Erziehung genossen hatten, verachtete im Wesentlichen den Glauben der Massen, da er potentiell ge-fährlich für die öffentliche Ordnung und daher am besten mit einer Art von „Seu-chenkontrolle“ zu behandeln war.

Den römischen Behörden war es völlig gleichgültig, was Christen über den Tod und die Auferstehung eines obskuren jüdischen Propheten glaubten; was sie störte war, dass Christen sich weigerten, politische Loyalität zu zeigen, indem sie auf den kaiserlichen Altären opferten. Konfuzianische Bürokraten verachteten das, was sie als den Aberglauben von Buddhismus, Taoismus und Volksreligion betrachteten. (Übrigens habe ich den Verdacht, dass die kommunistische Elite in China in ihrer sich entwickelnden Religionspolitik heute mehr konfuzianistisch als marxistisch ist – die marxistische Rhetorik funktioniert als konfuzianisches li, als Zeremonien der politischen Ordnung mehr denn als doktrinäre Aussagen). Mit dem hinduis-tischen Kastensystem stellte man eine sehr eigenartige Friedensformel auf – in gewisser Weise wurde jeder Kult eine Kaste. Der Islam hatte und hat immer noch eine charakteristische Friedensformel: Die politische Elite war muslimisch, doch diejenigen, die als „Leute des Buches“ klassifiziert wurden (ursprünglich Juden und Christen, bis man mit der Ausdehnung des islamischen Einflussgebiets noch andere Religionsgemeinschaften inkludierte), genossen zwar religiöse und soziale Rechte, wurden jedoch zu Bürgern zweiter Klasse. In Perioden der islamischen Geschichte konnten die Dhimmis nicht nur frei ihre Religion ausüben, sondern auch Wohlstand und Einfluss erwerben. (In anderen Perioden konnten sie natürlich niedergemetzelt, versklavt oder vertrieben werden, wie es auch Muslime in ver-schiedenen christlichen Ländern erfuhren).

In der modernen westlichen Geschichte wurden zwei wichtige Friedensfor-meln verabschiedet – zum einen die im Jahr 1648 als sogenannter „Westfälischer Frieden“ geschlossenen Friedensverträge, zum anderen der Prozess der Trennung von Kirche und Staat aus jüngerer Zeit. Hinter der Westfälischen Formel steckten natürlich territoriale Ansprüche – cuius regio eius religio: der Herrscher entschei-det über die Religion seines Staates; wem dies nicht gefiel, konnte oder musste

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auswandern – sicherlich eine bessere Alternative als getötet oder zwangsbekehrt zu werden. Gewiss erwies sie sich als erfolgreich in der Befriedung des mörderi-schen Dreißigjährigen Krieges zwischen Katholiken und Protestanten und funkti-onierte einigermaßen gut – vorausgesetzt, es bestand eine geographische Trennung der Religionen. Sind sie jedoch, wie es heute überwiegend der Fall ist, physisch vermischt, kann solch eine Formel furchtbare „ethnische Säuberungen“ bewir-ken, wie es sich in der Teilung Indiens und der Auflösung des jugoslawischen Staates zeigte. Zum jetzigen Zeitpunkt scheint es mir, als bringe eine Variante der Trennung von Kirche und Staat noch am ehesten eine friedliche Koexistenz der Religionen zustande. Interessante Varianten lassen sich zahlreich finden – die amerikanische, französische, deutsche, niederländische und vielleicht am interes-santesten die britische Fassung (de facto Trennung, aber nicht de jure).

These 6

In jeder modernen Gesellschaft bildet sich meist früher als später ein Sektor her-aus, welcher konsequent von einem säkularen Diskurs dominiert wird. Die Religi-onsgemeinschaften unterscheiden sich in ihrer Beziehung zu diesem.

Es ist offensichtlich, warum jeder Sektor, der moderne Wissenschaft und Tech-nologie beinhaltet, einem solchen Diskurs folgen muss: Die moderne Astronomie kann die Bewegungen der Galaxien nicht in Begriffen der hinduistischen Mytholo-gie beschreiben. Man kann nicht mit einem auf dem Talmud basierenden Handbuch ein modernes Flugzeug fliegen. Ein gläubiger Hindu hinter einem Teleskop oder ein frommer Jude im Cockpit eines Linienflugzeuges wird instinktiv das praktizie-ren, was ich „die zwei Pluralismen“ genannt habe. Aber auch außerhalb der Spar-ten Wissenschaft und Technologie, wo die Beziehung zu religiösem Pluralismus eindeutig ist, sind säkulare Diskurse entstanden. Ein bezeichnendes Beispiel hier-für ist der niederländische Jurist Hugo Grotius (1583–1645), welcher als einer der Begründer des modernen internationalen Rechts gilt. Er regte eine Formulierung seiner Disziplin an, die ohne jegliche theologische Voraussetzungen auskommen sollte; – in seinen Worten: etsi Deus non daretur: „als ob Gott nicht existiere“. Dies war keineswegs Ausdruck einer atheistischen Weltanschauung: Grotius war ein frommer Protestant, ein arminianischer Dissident gegenüber den strengen Cal-vinisten, welche die erst seit kurzem unabhängig gewordenen Niederlanden regier-ten (und Grotius ins Exil im lutherischen Deutschland zwangen). Vielleicht hätte er ein auf einer protestantischen Interpretation des biblischen Rechts basierendes, internationales Recht vorgezogen. In der Praxis hatte er jedoch keine Wahl: Das Europa seiner Zeit war international pluralistisch – es umfasste Staaten, die sich als protestantisch oder katholisch, calvinistisch oder lutherisch oder anglikanisch definierten, ebenso wie das orthodoxe Russland und das Osmanische Reich. Ein internationales Recht, welches von allen befolgt werden konnte, musste also so formuliert werden, „als ob Gott nicht existiere“. Ähnliches galt teilweise auch für