Peter Wunderli Ferdinand de Saussure: Cours de linguistique...

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Ferdinand de Saussure: Cours de linguistique générale Zweisprachige Ausgabe französisch-deutsch mit Einleitung, Anmerkungen und Kommentar Peter Wunderli

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  • Ferdinandde Saussure:Cours de linguistique gnraleZweisprachige Ausgabefranzsisch-deutsch mit Einleitung,Anmerkungen und Kommentar

    Peter Wunderli

  • Ferdinand de Saussure: Cours de linguistique gnrale

  • Peter Wunderli

    Ferdinand de Saussure:Cours de linguistique gnrale

    Zweisprachige Ausgabe franzsisch-deutschmit Einleitung, Anmerkungen und Kommentar

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    Satz: typoscript GmbH, WalddorfhslachDruck und Bindung: Hubert & Co., Gttingen

    ISBN 978-3-8233-6761-1

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  • Inhalt

    0. Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

    1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

    1. Biographische Skizze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112. Der CLG und seine Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263. Zur Rezeption des CLG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 374. Die deutsche bersetzung des CLG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425. Editionsprinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 496. Ausgewhlte Sprachregelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52

    2. Cours de linguistique gnrale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54

    Prfaces . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54Introduction . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60

    Appendice: Principes de phonologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120Premire partie: Principes gnraux . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166Deuxime partie: Linguistique synchronique . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226Troisime partie: Linguistique diachronique . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290Appendices aux deuxime et troisime parties . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358Quatrime partie: Linguistique gographique . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 370Cinquime partie: Questions de linguistique rtrospective. Conclusion . . . . . . . . . . 408

    3. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55

    Vorworte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61

    Anhang: Prinzipien der Lautlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121Erster Teil: Allgemeine Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167Zweiter Teil: Synchronische Linguistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227Dritter Teil: Diachronische Linguistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291Anhnge zum zweiten und dritten Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359Vierter Teil: Geographische Linguistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371Fnfter Teil: Fragen der retrospektiven Linguistik. Schlu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409

    4. Ergnzungen und Kommentare . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443

    5. Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 465

  • 0. Vorwort

    Die Frage, wozu denn hier eine deutsche Neubersetzung der Vulgatafassung des Cours delinguistique gnrale vorgelegt wird, scheint sich aufzudrngen. Schlielich gibt es ja seit ber80 Jahren eine deutsche Fassung dieses Jahrhunderttextes in der Redaktion von CharlesBally und Albert Sechehaye1. Ebenso selbstverstndlich wie diese Frage ist ihre Beant-wortung: Die existierende bersetzung ist unzulnglich und stellenweise schlicht unbrauch-bar. Sie ist gekennzeichnet durch eine Flle von bersetzerischenMngeln, die zu einemnichtunerheblichen Teil auf der uerst puristischen Grundhaltung des bersetzers HermanLommel, oft aber auch einfach auf einemNichterfassen der Nuancen des franzsischen Textesberuhen. Dann ist sie v.a. hinsichtlich der spezifischen Terminologie Saussures schwach, oftfehlerhaft und immer wieder inkonsequent. Und schlielich kann der antiquierte, gestelzteund gequlte Stil heute niemandem mehr zugemutet werden. Aus all diesen Grnden hatteauch Rudolf Engler in den 80er Jahren mehrmals das Projekt einer neuen deutschenbersetzung angesprochen, dieses aber leider nie ernsthaft in Angriff genommen.

    So weit, so gut. Aber weshalb soll man die Vulgata neu bersetzen? Der Text von Bally undSechehaye steht ja schon seit langem als solcher ebenfalls in der Kritik, und die Arbeit derbeiden Herausgeber-Autoren ist von verschiedenen Seiten von nicht unproblematisch bisvllig verfehlt eingestuft worden. Dabei fllt das Urteil bei Robert Godel, Rudolf Engler undPeter Wunderli moderat aus, und wenn auch punktuell Vorbehalte angebracht sind, wird imGroen und Ganzen die Leistung der beiden Schler und Nachfolger Saussures als bewun-dernswrdig eingestuft. Rabiat und vernichtend ist dagegen die Kritik bei Ludwig Jger,Christian Stetter und Annette Kaud, die den Dsseldorfer Germanistenzirkel reprsentieren,an der Vulgata keinen guten Faden lassen und sich zum Ziel gesetzt haben, einen au-thentischen Saussure zu rekonstruieren.

    Halten wir bezglich dieser Position fest: Auch der angeblich authentische Saussure isteine Interpretation, genauso wie Bally und Sechehaye, spter Robert Godel und RudolfEngler, aber auch E.F.K. Koerner, Roy Harris u.a.m. Saussure interpretiert haben. Zudemhaben diese Quellen z.T. uerst fragmentarischen Charakter, und es wird bei der angeb-lichen Rekonstruktion auch die Tatsache vernachlssigt, da Saussures Denken einenausgeprgt dynamischen Charakter hat und Texte vom Anfang der 90er Jahre des19. Jahrhunderts einen Entwicklungsstand reprsentieren, der keineswegs mit dem derVorlesungen von 19071911 identisch ist, ja da sich selbst innerhalb des Vorlesungszykluserhebliche Vernderungen feststellen lassen. Einen authentischen Saussure gibt es imobigen Sinne nicht; man knnte hchstens von einer Abfolge von aufeinander aufbauendenauthetischen Saussures sprechen aber auch diese Rekonstruktionen wren wiederInterpretationen und mit allen Unwgbarkeiten von Interpretationen behaftet.

    1 Wir verzichten hier auf bibliographische Angaben. Diese finden sich alle in den folgenden Teilen derEinleitung bzw. in der Bibliographie.

  • Selbst wenn man zugesteht, da die Vulgata eine von vielen mglichen Interpretationenist, entwertet sie dies noch keineswegs, ja sie ist sogar eine in vielerlei Hinsicht privilegierteInterpretation. Dies gilt vor allem in rezeptionsgeschichtlicher Hinsicht: Bis gegen 1960verlief die Saussure-Rezeption ausschlielich ber die Vulgatafassung des CLG, und auch inden anschlieenden Jahrzehnten spielte die Version von Bally/Sechehaye weiterhin eineentscheidende Rolle; die Interpreten, die sich die Mhe machten, auf Godels Sourcesmanuscrites oder sogar auf Englers dition critique zurckzugreifen, bleiben eindeutig inder Minderzahl, und dies gilt letztlich bis zum Ende des 20. Jahrhunderts2.

    Desweiteren gilt bis heute, da es auer der Vulgata keinen anderen Text bzw. keineandere Version gibt, die Saussures Sicht der allgemeinen Sprachwissenschaft in all ihrenAspekten in hnlich umfassender und kompakter Weise prsentiert. Zwar sind einzelneVorlesungen oder Vorlesungsteile inzwischen zugnglich: Godel hat die Einleitung zum2. Cours publiziert, Komatsu/Wolf haben den 1. und 2. Cours vorgelegt, Komatsu/Harrissowie Kaud die 3. Vorlesung aber diese Publikationen vermitteln nur immer eine der vonSaussure ins Auge gefaten (mglichen) Perspektiven, denn jede dieser Lehrveranstaltungenist anders angelegt, geht von einem anderen Blickpunkt aus und vermittelt eine anderePerspektive auf den gesamten Fragenkomplex. Was die von Parret undMarchese publiziertenHarvard-Manuskripte und die von Bouquet/Engler zugnglich gemachten Orangerie-Manu-skripte angeht, so ist ihre Bedeutung unbestritten, aber ebenso unbestreitbar ist, da sie nureinzelne Aspekte und Komponenten von Saussures Sprach- und Sprachwissenschaftstheoriebehandeln; berdies liegen diese Texte (ebenso wie die von Engler 1974 publizierten Notes)zeitlich erheblich vor den drei Vorlesungen.

    Zu all dem kommt noch ein weiterer, auf den ersten Blick vielleicht sekundrer Punkt, derin Wirklichkeit aber ganz zentral ist: Die erwhnten Publikationen von einzelnen Vor-lesungen, von Vorlesungsteilen, von (unfertigen) Manuskripten usw. ebenso wie die ditioncritique von Engler sind etwas fr die Saussure-Spezialisten, aber ganz sicher nicht frStudenten oder den nur beilufig linguistisch interessierten Normalleser. Fr dieses breiterewissenschaftliche Publikum bleibt die Vulgata von Bally/Sechehaye so etwas wie dersaussuresche Referenztext, der zur Vermeidung von Fehlinterpretationen und Miverstnd-nissen allerdings mit erklrenden und kritischen Kommentaren versehen werden mu. Eingutes Beispiel fr eine derart angereicherte Vulgatafassung hat Tullio De Mauro mit seineritalienischen bersetzung des Cours geliefert, deren Kommentarteil dann 1972 auch fr diefranzsische Neuausgabe des CLG in einer bersetzung von Louis-Jean Calvet bernommenwurde. Aus heutiger Sicht drngt sich inzwischen allerdings eine Bercksichtigung undEinarbeitung der seither entdeckten Saussure-Texte in diesen Apparat auf.

    Ein weiteres Argument fr eine neue deutsche bersetzung des Vulgatatextes des Cours istdie Tatsache, da die Franzsischkenntnisse innerhalb der scientific community stark rck-lufig sind und da es um sie heute noch deutlich schlechter bestellt ist als zu Beginn der 30erJahre des 20. Jh.s. Aus diesem Grunde hat Johannes Fehr 1997 die von ihm zusammen-getragenen und thematisch geordneten Saussure-Texte ins Deutsche bertragen, und 2003hat Ludwig Jger eine (modifizierte) deutsche Ausgabe der von Simon Bouquet und RudolfEngler 2002 publiziertenOrangerie-Texte vorgelegt.Was fr diese Texte gilt, gilt in nochweitstrkerem Ausma fr den Vulgatatext, der dringend einer brauchbaren bersetzung fr dasdeutschsprachige Publikum bedarf. Da diese Ausgabe zudem zweisprachig (franzsisch-deutsch) sein soll, hat der Leser (sofern des Franzsischen einigermaen mchtig) dieMglichkeit, die bersetzung zu kontrollieren und die (unausweichlichen) Interpretationen

    2 Cf. hierzu auch SECHEHAYE 1940:1, CALVET 1975:5355, v. a. aber HARRIS 1987:VII ss.

    8 0. Vorwort

  • des bersetzers zu erkennen; zudem erlaubt ihm diese Anlage, gegebenenfalls zu einereigenen, abweichenden Interpretation zu gelangen.

    Gleichwohl werden gewisse Kreise fragen:Wozu denn eine deutsche Fassung? Es gibt dochfr die des Franzsischen nicht Mchtigen nicht nur eine, sondern sogar zwei englischebersetzungen, diejenige von Wade Baskin (1959) und die von Roy Harris (1983). Und desEnglischen mte doch heute jeder einigermaen mchtig sein, ist es doch inzwischen soetwas wie die internationale Wissenschaftssprache geworden, die das Deutsche und dasFranzsischeweitgehend ins Abseits gedrngt hat. Und derartige Argumentationen sind nichtetwa konstruiert, wir sind vielmehr verschiedentlich mit ihnen konfrontiert worden!

    Einmal ganz abgesehen davon, da die einseitige und extreme Privilegierung des Eng-lischen als Wissenschaftssprache gerade im Bereich der neusprachlichen Philologien absurdist und ein permanentes rgernis darstellt, gibt es im einzelnen auch noch eine Reihe vonhandfesteren Einwnden gegen einen Rckgriff auf die englischen bersetzungen des CLG.Da ist zuerst einmal die Tatsache, da die Englischkenntnisse bei Nicht-Anglisten sehr ofteher zweifelhaft sind; was sie fr Englisch halten, ist in Wahrheit meist nichts anderes als einenglischbasiertes scientific pidgin. Dann darf nicht bersehen werden, da die englischenbersetzungen nicht in allen Punkten ber jeden Zweifel erhaben sind. Allerdings mu dasletztlich von jeder bersetzung gesagt werden (auch von der unseren). Entscheidend istvielmehr, da es sich fr den deutschen Leser um eine Fremdsprache handelt, deren Nuancensehr oft nicht wirklich erfat werden. Arbeiten deutschsprachige Leser mit einer englischenbersetzung der Vulgata, ist das Textverstndis bzw. das Erfassen von Saussures Intentioneneiner Mehrfachbrechung unterworfen: Die Umsetzungskette Franzsisch Englisch Deutsch ist ein permanenter Quell von Unschrfen und Miverstndnissen, und diesemStrfaktor ist zudem noch die Interpretationsarbeit von Bally/Sechehaye vorgeschaltet, dieman (in einem weiteren Sinne) ebenfalls als eine bersetzung betrachten kann.

    So spricht letztlich eine ganze Menge fr eine neue deutsche bersetzung der Vulgata. So,wie wir sie konzipiert haben, kann die zweitletzte der potentiellen Verzerrungsstufenvollstndig eliminiert werden; und da unsere Ausgabe zweisprachig ist, kann die letzteStufe zumindest als in erheblichem Ausma gepuffert gelten.

    *

    Die vorliegende Publikation war ursprnglich ein Gemeinschaftsprojekt mit SimoneRoggenbuck, damals an der RWTH Aachen ttig, und der konzeptuelle Rahmen ist auchgemeinsam erarbeitet worden. Anfangs 2011 sah sich Simone Roggenbuck leider gezwungen,sich aus diesem Unternehmen zu verabschieden: Ein Karrierewechsel und der Rcktritt vonihrer Aachener Professur verunmglichten ihr, die ntige Zeit in das Projekt zu investieren.

    Zu diesem Zeitpunkt hatte ich bereits einen erheblichen Teil des franzsischen Textesbersetzt. In Aachen war der franzsische Text im wesentlichen eingescannt worden, undauch die Graphiken waren bereits eingearbeitet. Simone Roggenbuck berlie mir diesenBaustein im damaligen Zustand; ich brauchte ihn nur noch zu korrigieren und zu redigieren,sowie eine Reihe von wenig befriedigenden Graphiken zu ersetzen. Mein aufrichtiger Dankhierfr gebhrt nicht nur meiner ursprnglichen Mitstreiterin, sondern auch ihren AachenerMitarbeiterinnen Nana Paliani und Caroline Kutsch, die mit groem Einsatz und beein-druckender Sorgfalt die mhsame Arbeit des Einscannens in erstaunlich kurzer Zeit erledigthaben.

    Ein besonderer Dank gebhrt auch meinem Freund Jakob Bachmann, der mit scharfemBlick und feinem Stilgefhl die deutsche bersetzung Korrektur gelesen und mit zahlreichenVerbesserungsvorschlgen zur Glttung des Textes beigetragen hat. Noch viel umfassendere

    0. Vorwort 9

  • Hilfe habe ich von Ricarda Liver erfahren, die das gesamteManuskript durchgesehen undmitdurch die jahrelange gemeinsame Herausgeberschaft der Vox Romanica geschrftem BlickTippfehlern, Anakoluthen und Inkonsequenzen nachgesprt hat; vor allem verdanke ich ihraber eine minutise Kontrolle der griechischen Zitate, Beispiele und Transliterationen.

    Ein besonderer Dank gebhrt Gunter Narr fr die grozgige Aufnahme dieser Publikationin sein Verlagsprogramm und seinen Mitarbeitern fr die rasche und kompetente Druck-legung.

    Twann, den 1. Februar 2013 Peter Wunderli

    10 0. Vorwort

  • 1. Einleitung

    1. Biographische Skizze

    1.0. Der gegenwrtige Stand der biographischen Literatur zu Ferdinand de Saussure ist leiderwenig erfreulich: Es gibt bis heute keine vollstndige und umfassende Darstellung seinesLebens und Wirkens.

    Eine knappe, das Wesentlichste bietende Skizze findet sich bei SCHEERER 1980:171. Dieumfassendste Darstellung ist zum gegenwrtigen Zeitpunkt jedoch diejenige von DE MAURO1968:285363, wenn sie auch zahlreichewichtige Punkte aufgrundmangelnder Vorarbeitenoder zum Zeitpunkt der Publikation (1967) nicht zugnglicher Quellen aussparen mu;zudem fehlen auch einige Passagen nicht, wo De Mauro irrt oder eine fragwrdige Inter-pretation der Fakten vorschlgt. Dies ndert nichts an der Tatsache, da seine Darstellung bisheute unverzichtbar geblieben ist.

    Lesenswerte berblicke finden sich berdies bei MOUNIN 1968:1221 und KOERNER1973:20362.

    1.0.1. Claudia Meja hat eine umfassende Biographie Ferdinand de Saussures in Angriffgenommen, von der 2008 der rund 400seitige erste Band erschienen ist (MEJA 2008). DieDarstellung ist differenziert, auf das Peinlichste detailgetreu und stellt berdies eine Flle vonDokumenten zur Verfgung, die bisher nicht oder zumindest nicht in gedruckter Formzugnglich waren.

    Die Darstellung beginnt bei den Vorfahren Saussures im 16. Jahrhundert und endet(vorlufig) bei Saussures Pariser Zeit. Hier stellt sich allerdings ein erstes Problem: Handeltes sich um den Anfang (1881) oder das Ende (1891) dieser Phase? Nach MEJA 2008:268wrde die Darstellung im wesentlichen mit der bersiedelung Saussures nach Paris enden,also 1880/81. Dies kann so aber nicht zutreffen, denn Saussures Beziehungen zuMichel Bralwerden schon in diesem Band bis ins letzte Detail untersucht, und auch andere Ereignisseseines Pariser Aufenthalts finden ausgedehnte Bercksichtigung, u.a. Saussures Werben umNomie Mallet, das 1889 mit einem schmerzlichen Mierfolg endete. Selbst wenn Meja inBand 2 nochmals auf die Pariser Zeit zurckkommen sollte, kann keinesfalls gesagt werden,der 1. Band ende mit dem Jahr 1881.

    Diese in ihrer Anlage umfassende Biographie ist somit (noch) in hohem Mae unvoll-stndig, fehlen doch die letzten 20 bis 30 Jahre von Saussures Leben. Dazu kommt alsweiteres, da sie in ihrer Konzeption kaum die Zustimmung der Mehrzahl der Linguistenfinden wird. Stein des Anstoes ist ihre geradezu penetrant psychoanalytische Anlage, diedazu fhrt, da das hinterste und letzte Detail sowohl im Leben Ferdinands als auch in dem

    1 Cf. ferner auch ERNST 2001:293302. JOSEPH 2012 war bei Abschlu des Manuskripts noch nichterschienen und konnte nicht mehr bercksichtigt werden.

    2 Auch Kapitel 1 des ersten Teils von BOUQUET 1997 (5770) enthlt zahlreiche biographischeInformationen, die allerdings nur selten ber die andern Darstellungen hinausgehen.

  • seiner Familienmitglieder psychoanalytisch ausgedeutet wird. Das ist vorab einmal nichtjedermanns Sache und bringt zweitens fr den Linguisten und die (Geschichte der) Linguistikin der Regel wenig. Ohne die stndigen Rckgriffe auf Freud und seine Nachfolger wre dieseBiographie zweifellos erheblich lesbarer und ihrem Gegenstand angemessener.

    Einen sehr guten biographischen Abri enthlt auch die Einfhrung von Ludwig Jger(JGER 2010:2575); die verschiedentlich angekndigte umfassende Saussure-BiographieJgers und seiner Mitarbeiter ist dagegen (noch?) nicht erschienen.

    Biographische Sketches ber Ferdinand de Saussure finden sich auch in Wikipedia. DieTexte unter den verschiedenen Sprachen (Franzsisch, Deutsch, Englisch, Italienisch,Spanisch . . .) sind nicht identisch und von sehr unterschiedlicher Qualitt. So ist z.B. diefranzsische Version voll von Fehlern und unhaltbaren Literaturleichen; recht brauchbar istdie deutsche Version.

    1.0.2. Die wichtigsten Quellen zur Saussures Biographie finden sich bei KOERNER 1972:4650zusammengestellt. Weitere relevante Quellenangaben liefern SCHEERER 1980:1 sowie CANDAUX1974/75:712. Bei FEHR 1997:53350 findet sich eine sehr ntzliche Auflistung von Daten.

    Ausgesprochen ergiebig sind auch die Nekrologe und Gedenkadressen, die nach SaussuresTod erschienen sind: Sie liefern eine Flle von Einzelheiten und z.T. persnliche Erinne-rungen, die jede biographische Darstellung in nicht unerheblichem Mae prgen. Diewichtigsten unter ihnen, die auch immer wieder zitiert werden, sind GAUTHIOT 1914, MEILLET1913/14, MURET 1913 und STREITBERG 1915.

    Von groer Bedeutung ist auch die Korrespondenz von Saussure mit einer Reihe vonZeitgenossen und Kollegen, wobei v.a. die Schreiben Saussures an seine Briefpartner erhaltensind; von den Anfragen und Antworten seiner Korrespondenten lt sich in SaussuresNachla nur sehr wenig finden. Die Korrepondenz fngt mit einem Brief an Adolphe Pictet(vermutlich aus dem Jahr 1872) an, in dem er dem Nachbarn und Familienfreund sein(verunglcktes) Systme gnral du langage vorlegt (CANDAUX 1974/75). Des weiteren liegenBriefe vor: an Karl Brugmann (VILLANI 1990 und MARCHESE 2007), an William D. Whitney(JOSEPH 1988), an Gaston Paris (DCIMO 1994), an Paul Boyer (DCIMO 1994), an Jan Baudouinde Courtenay (SLIJUSAREVA 197072), an Casimir Jaunius (GODEL 1973), anWilhelm Streitberg(VILLANI 1990), an Albert Sechehaye (MARCHESE 2007), anAntoineMeillet (BENVENISTE 1964 undBOUQUET 1986), an Charles Bally (AMACKER 1994, PROSDOCIMI/MARINETTI 1990, REDARD 1982), anMax von Berchem (LOUCA 1974/75), an Michel Bral (DCIMO 1993:52), an Giovanni Pascoli(NAVA 1968), ebensowie einigewenige Briefe von Louis Havet, Johannes Baunack und RudolfKgel (REDARD 1976); schlielich einige Schreiben vonOtto Jesperson, A. Barth, Victor Henry,G.Maspro, AntoineMeillet und Charles Bally (DCIMO 1993 undAMACKER 1994). Das Interesseund die Aussagekraft dieser letztlich doch eher sprlichen Dokumente sind jedoch von ganzunterschiedlichem Gewicht und reichen von nichtssagend bis zu absolut zentral.

    Ein Dokument von herausragender Bedeutung sind die Souvenirs von Ferdinand deSaussure ber seine Jugend und seine Studienzeit, die dieser 1903 fr Wilhelm Streitbergverfat zu haben scheint (GODEL 1960). Ob Streitberg diesen Text allerdings je zu sehenbekommen hat, ist nach GODEL 1960:12 fraglich. berdies scheint es einen weiteren, heuteverlorenen Text (oder Brief) gegeben zu haben, in dem Saussure eine eindrckliche Analyseseines Mmoire vornimmt und auf die sich Streitberg in seinem Nachruf (STREITBERG 1915)ausdrcklich bezieht (GODEL 1960:12).

    1.0.3. Von groer Bedeutung fr die Formation von Saussure und sein linguistisches Denkensind natrlich auch seine Zeitgenossen aus den unterschiedlichsten Disziplinen, ganzgleichgltig, ob er von ihnen nun zustimmend oder ablehnend Kenntnis nimmt. Auf diesen

    12 1. Einleitung

  • Aspekt wollen wir hier jedoch nicht nher eingehen, da er nur in einem sehr weiten Sinnebiographisch relevant ist. Wichtige Hinweise zum Thema finden sich bei MOUNIN 1967:211,MOUNIN 1968:20ss., KOERNER 1973:21 und DE MAURO 1968:326ss. sowie in den inzwischenzahlreichen Geschichten der Sprachwissenschaft.

    1.0.4. Es kann hier nicht darum gehen, eine umfassende, ja gar erschpfende BiographieFerdinand de Saussures vorzulegen, wie sie von Claudia Meja und u.U. auch von LudwigJger angestrebt wird. Vielmehr wollen wir eine Art biographische Skizze vorlegen, die diewichtigsten Fakten, Daten und Ereignisse in Saussures Leben zur Verfgung stellt und es soerlaubt, seine wissenschaftlichen Aktivitten den Abschnitten und Stationen seines Lebens-weges zuzuordnen. Was wir anstreben, ist eine Art reduzierte De Mauro-Darstellung bzw.eine aktualisierte Skizze la Koerner (cf. DE MAURO 1968:285355, KOERNER 1973:2031).

    1.1. Ferdinand de Saussure entstammt einer traditionsreichen Genfer Familie, die seit derMitte des 16. Jahrhunderts zur Elite der Stadt zhlt. IhreWurzeln hat sie in Lothringen, wo ihrerster bekannter Vertreter, Mongin Schouel aus Saulxure-sur-Moselotte anfangs des16. Jahrhunderts Grofalkner und Rat des Herzogs von Lothringen war3. Sein Sohn Antoine(15141569) bernahm spter die Funktionen seines Vaters, geriet aber durch seinenbertritt zum Calvinismus zunehmend in Schwierigkeiten. 1550 wurde er unter demVorwurf, den minderjhrigen Herzog Karl mit protestantischem Gedankengut vertrautgemacht zu haben, eingekerkert, doch gelang ihm 1552 die Flucht mit seiner ganzen Familie.Nach Stationen in Neuchtel, Straburg und Lausanne fand er schlielich in Genf Zuflucht,wo er 1556 das Brgerrecht erhielt.

    Von da an zhlt die Familie zu den Sttzen der Genfer Gesellschaft; sie spielt sowohlpolitisch wie auch wissenschaftlich-kulturell eine zentrale Rolle, wobei im letzteren Bereichv.a. vier Persnlichkeiten herausragen:

    An erster Stelle wre Nicolas de Saussure (170991) zu nennen, der als Advokat wirkte,gleichzeitig aber auch ein bedeutender, in ganz Europa bekannter Agronom war; frdieses Sachgebiet zhlte er auch zu den profiliertestenMitarbeitern der Encyclopdie vonDiderot und DAlembert.

    Der mit Abstand berhmteste von Ferdinands Vorfahren ist zweifellos Horace-Bndictde Saussure (174099), der mit seinem Nachfahren Ferdinand die fast unglaublicheFrhreife gemeinsam hat: Er war schon mit 22 Jahren Professor fr Philosophie undNaturwissenschaften an der Genfer Akademie, der er 1774/75 auch als Rektor vorstand.Horace-Bndict war in erster Linie Naturwissenschaftler, wobei fr ihn Botanik,Mineralogie, Hydrologie und Geologie im Vordergrund standen; berdies spieltenfr ihn auch die Elektrizittslehre und die Mechanik eine wichtige Rolle. Heute kenntman seinen Namen v.a. aufgrund einer alpinistischen Pioniertat, der (angeblichen)Erstbesteigung4 des Mont-Blanc am 3. August 1787. Wissenschaftsgeschichtlich auch

    3 Mongin ist der eigentliche (1. Vorname) von Ferdinand.4 Auf diese Legende stt man in der Literatur immer wieder; inWirklichkeit liegen die Dinge anders.

    Horace-Bndict war alpinistisch durchaus interessiert, allerdings v.a. mit wissenschaftlicherZielsetzung. Deshalb setzte er 1786 eine Belohnung fr die Erstbesteigung des Mont-Blanc aus;der Bergfhrer Jacques Balmat und der ArztMichel Paccard erreichten dann denGipfel am8. August1786. Im folgenden Jahr machte sich Horace-Bndict mit Balmat auf den Weg und erreichte denGipfel am 3. August 1787 wir haben es also mit einer Zweitbesteigung zu tun, wobei dieseallerdings aufgrund der durchgefhrten Messungen, Experimente etc. erstmals einen gewissenwissenschaftlichen Charakter hatte. Eine (wirkliche) Erstbesteigung geht aber gleichwohl auf dasKonto von Horace-Bndict: diejenige des Kleinen Matterhorns vom Theodulpass aus im Jahr 1792.

    1. Einleitung 13

  • heute noch von Bedeutung sind seine Voyages dans les Alpes prcds dun Essai surlhistoire naturelle des environs de Genve, 4 vol., Neuchtel/Genve/Paris 177996, einewenig systematische Sammlung seiner vielfltigen wissenschaftlichen Erkenntnisse.

    Beachtung verdient auch Albertine-Adrienne de Saussure (17661841), eine Tochtervon Horace-Bndict und Schwester von Nicolas-Theodore5; sie stellt insofern eineAusnahmeerscheinung in der Familie dar, als sie gegen die (mnnliche) bermacht derNaturwissenschaftler die geisteswissenschaftlichen Disziplinen vertritt. Verheiratet mitJacques Necker (Enkel des Ministers von Ludwig XVI. und berhmter Professor frBotanik in Genf), war sie nicht nur mit Mme de Stal, sondern auch mit den wichtigstenPersnlichkeiten des idealistischen und romantischen Deutschland befreundet. Ausdiesem Beziehungsgeflecht heraus erklrt sich auch, da sie August Wilhelm vonSchlegels ber dramatische Kunst und Litteratur (180911) ins Franzsische bersetzte.Berhmt ist sie aber in erster Linie durch ihre pdagogische Schrift Lducationprogressive (auch unter dem Namen tude du cours de la vie bekannt) geworden (1828),der auch die Weihe einer Auszeichnung durch die Acadmie franaise zuteil wurde.

    Zu erwhnen ist schlielich auch Albertine-Adriennes Bruder Nicolas-Thodore deSaussure (17671845), ebenfalls Professor an der Akademie von Genf fr die GebieteMineralogie und Geologie; seine persnlichen Interessen galten aber vor allem derChemie, der Physik und der Biologie. Berhmtheit erlangte er in erster Linie durch seineArbeiten im Bereich der Chemie. Nach DE MAURO 1968:287 wre er der Grovater vonFerdinand, doch ist dies durch MEJA 2008:48 korrigiert worden: Nicolas-Thodore hatkeine direkten Nachkommen, der Grossvater von Ferdinand ist vielmehr dessen in jederHinsicht unbedeutender Bruder Alphonse Jean Franois.

    Nur schon dieser geraffte berblick macht deutlich, da in der Familie De Saussure dienaturwissenschaftliche Tradition in hohem Mae dominant ist. Dies mag wesentlich dazubeigetragen haben, da Ferdinands Vater Henri mit allen Mitteln versuchte, seinen Sohn ineine naturwissenschaftliche Karriere zu drngen und dieser nur mit erheblichen Schwierig-keiten das Studium seines bevorzugten Interessengebiets Sprachen schlielich durchsetzenkonnte. In diesem Sinne hat der vorgngige Andere (MEJA 2008:37) in Ferdinands Lebensicher eine gewichtige Rolle gespielt.

    1.2. Der dritte Sohn von Horace-Bndict, Alphonse Jean Franois, hat selbst zwei Shne,Thodore undHenri (18291905). Letzterer steht ebenfalls in der berwiegend naturwissen-schaftlichen Tradition der Familie und hat es als Zoologe und Entomologe zu einer gewissenBerhmtheit gebracht6. Am 25. Juli 1856 verlobte er sich mit der erst 19-jhrigen Louise dePourtals und heiratete siewenig spter (30. 9. 1856)7. Am26. November 1857wird der ersteSohn des Paares geboren, der auf den Namen Mongin-Ferdinand getauft wird8. Louise istnicht nur eine sehr schne, knstlerisch begabte Frau, sie ist auch von einer erstaunlichenFruchtbarkeit, folgen doch auf Mongin-Ferdinand noch 8 weitere Kinder, 5 Brder und3 Schwestern. Die Brder sind: Horace (*1859), Lopold (*1866), Ren (*1868), Louis

    5 Cf. hierzu unten.6 Zu Henri de Saussure und seiner (wissenschaftlichen) Bedeutung cf. JGER 2010:33ss.7 Zur Familie De Pourtals und ihren preussischen Beziehungen und Verflechtungen cf. JGER

    2010:32s.8 Mongin ist eine ostfranzsische Dialektform fr Dominique und stellt wohl eine Reverenz an die

    lothringische Herkunft der Familie dar.

    14 1. Einleitung

  • (*1869) und Maximilien (*1873)9, die Schwestern Albertine (*1861), Dora (*1863) undJeanne (*1869). Horace wird Maler und Photograph, Lopold macht zuerst eine Karriere alsfranzsischer Marineoffizier und wird spter ein bedeutender Sinologe, Ren ist eigentlichMathematiker, wird aber vor allem als engagierter Esperantist bekannt. Ferdinand scheint einbesonders enges Verhltnis zu den beiden direkt auf ihn folgenden Geschwistern, Horace undAlbertine, gehabt zu haben. Interessant wre natrlich auch ein Vergleich der linguistischenIdeen von Ferdinand und Ren; KOERNER 1973:33 N3 hat eine entsprechende Untersuchungangekndigt, die unseres Wissens jedoch nie erschienen ist. Es ist aber wohl kein Zufall, daim CLG das Esperanto verschiedentlich angesprochen wird.

    Die schulische Ausbildung von Ferdinand war traditionell klassisch ausgerichtet10 undkopierte bis zu einem gewissen Grade diejenige seines Vaters Henri. ber die Anfnge seinerschulischen Bildung ist wenig bekannt, doch drfte sie wohl im elterlichen Haus statt-gefunden haben; immerhin attestieren ihm aber die Tagebcher seines Vaters schon inkindlichem Alter eine ungewhnliche Wibegier und v.a. eine stupende Lernfhigkeit. 1868wurde er dann auf das damals europaweit bekannte, ja berhmte Internat Hofwil beiMnchenbuchsee (Bern) geschickt, das schon Henri besucht hatte; Ferdinand scheint dortaber eher unglcklich gewesen zu sein und wurde von seinem Vater im Frhjahr 1870frhzeitig nach Genf zurckgeholt11. Ab Herbst dieses Jahres besuchte er dann das InstitutMartine in Genf, wo er (nach Franzsisch, Deutsch, Englisch und Latein) unter der Anleitungseines Lehrers Millenet Griechisch zu lernen beginnt. 1872 halten ihn seine Eltern noch frnicht reif genug fr das Gymnasium und schicken ihn whrend eines Jahres auf das Collgepublic in Genf ein Jahr, das Ferdinand spter in seinen Souvenirs als ein verlorenesbezeichnen wird (GODEL 1960:17). 1873 wird er dann als einer von drei Direktkandidaten insGymnase aufgenommen, das er 1875 mit hchsten Auszeichnungen verlt. In dieser Zeit(1874) beginnt er mithilfe der Grammatik von Bopp selbstndig Sanskrit zu lernen; gleich-zeitig studiert er auch die Grundzge der griechischen Etymologie von Georg Curtius. Whrendseiner ganzen Schulzeit war Ferdinand immer der Beste oder zumindest einer der Bestenseiner Klasse; sein stupendes Wissen und seine beeindruckende Lernfhigkeit wurden immerwieder mit Preisen und Auszeichnungen honoriert.

    Aus dieser knappen Skizze von Ferdinands Schulzeit geht schon mit aller Deutlichkeit seinfrhes Interesse fr Sprachen und die Sprachwissenschaft hervor. Daneben hatte er von seinerMutter Louise auch die knstlerische Ader geerbt und schrieb zahlreiche Gedichte undProsastcke; berdies war er ein begabter Zeichner (MEJA 2008:176ss.). Zum Leidwesenseines Vaters hielt er dagegen wenig von krperlichen Aktivitten und Sport, sieht maneinmal von seiner Leidenschaft fr das Fischen und die Jagd ab (MEJA 2008:155). ber-raschen mag, da er auch ein regelmssiger und begabter Spieler war; da er Schach beralles liebte, ist dabei weniger erstaunlich als seine Leidenschaft fr Poker und verwandteGlcksspiele (MEJA 2008:159).

    1.3. Wie bereits erwhnt, fhlte sich Ferdinand de Saussure schon in seiner Gymnasialzeitvon der Linguistik angezogen, ja fasziniert. Dieses Interesse war v.a. durch Adolphe Pictetgeweckt worden, ein Freund der Familie und Nachbar in der Sommerresidenz in Maligny beiVersoix, dessen umfangreiche Studie Les origines indo-europennes damals groe Beachtungfand und von dem Halbwchsigen mit Begeisterung studiert wurde. Die Bewunderung fr

    9 KOERNER 1973:32s. N3 kennt nur die ersten drei Brder; die Schwestern werden nicht erwhnt. Freine korrekte Darstellung cf. JGER 2010:208 N21.

    10 Cf. DE MAURO 1968:288ss., MEJA 2008:54ss., 125ss.11 Zu diesem Lebensabschnitt cf. v. a. JGER 2010:36s. und 208 N22.

    1. Einleitung 15

  • Pictet war derart nachhaltig, da er drei Jahre nach dessen Tod und aus Anla der Neuauflageder Origines indo-europennes im Journal de Genve vom 17. April 1878 einen Wrdigungs-artikel verffentlichte, den man schon fast panegyrisch nennen kann12.

    Die von Pictet ausgelste Begeisterung regte Saussure auch zu einem ersten eigenenlinguistischen Versuch an, dem Systme gnral du langage (auch als Essai sur les langueserwhnt). Die Grundthese ist, da alle Wrter aller Sprachen auf Wurzeln aus drei (teilweiseauch zwei) Konsonanten zurckgefhrt werden knnen13. Dieses noch in jeder Hinsichtunreife Produkt seiner Linguistikbegeisterung legte Saussure Pictet zur Begutachtung vor, derihm auf diskret-vterliche Art den Kopf zurecht setzte und ihn vorerst von weiterenlinguistischen Abenteuern abhielt. Hinsichtlich der Datierung dieser Episode gibt es inder Literatur gewisse Widersprche. Bally weist sie den Jahren 1874/75 zu, d.h. Saussurewre 17 Jahre alt gewesen14. Dem steht Saussures eigene Aussage in den Souvenirs entgegen,der sie dem Jahr 1872 zuordnet; er wre also knapp 15-jhrig gewesen15. Diese Datierungwird von CANDAUX 1974/75:712 mit guten Argumenten gesttzt. JOSEPH 2007:15560dagegen weist den Essai wieder dem Jahr 1874 zu16.

    Trotz seiner Neigung zur Linguistik nimmt Ferdinand 1875/76 in Genf das Studium derChemie und Physik auf wie er selbst in seinen Souvenirs erklrt, auf Druck der Familie undv.a. seines Vaters, der die naturwissenschaftliche Tradition weiterpflegen wollte; da erschlielich zugestimmt hat, mag aber auch noch eine Nachwirkung des Mierfolgs seineslinguistischen Erstlings bei Pictet gewesen sein. Allerdings zeigte er weder Eifer nochBegeisterung fr seine Studienfcher und lie sich nach der Aussage von Kommilitonenbei den einschlgigen Lehrveranstaltungen kaum sehen mit der Folge, da er (derMusterschler par excellence!) die Jahresabschluprfung nicht bestand. Statt sich mitChemie und Physik herumzuqulen, besuchte er vielmehr Veranstaltungen in Theologie,Jurisprudenz, Philosophie und Kunstgeschichte, vor allem aber in klassischer Philologie. DieLinguistique compare des wenig kompetenten und unbeliebten Joseph Wertheimer (den er1906 gewissermaen beerben sollte) mied er tunlichst, besuchte dafr die Linguistique indo-europenne des jungen Privatdozenten Louis Morel, der wiedergab, was er im Jahr zuvor beiGeorg Curtius in Leipzig gehrt hatte17.

    Nach diesem durch passiven Widerstand gezielt herbeigefhrten Scheitern im naturwis-senschaftlichen Bereich gab Henri seinenWiderstand gegen Ferdinands Studienwnsche auf:Er kann im Herbst 1876 nach Leipzig gehen und dort Linguistik bzw. Indogermanistikstudieren. Der Gesinnungswandel Henris geht sogar so weit, da er Ferdinand nach Leipzigbegleitet allerdings wohl nicht nur aus vterlicher Zuneigung, sondern auch in der Absicht,die Unterbringung und die Knpfung der ersten Kontakte im Auge zu behalten.

    Warum fiel die Wahl auf Leipzig? Fr Henri mag eine nicht unwichtige Rolle die Tatsachegespielt haben, da eine Reihe von Genfer Freunden und Bekannten (douard Favre, Lucien,Raoul und dmond Gautier) in Leipzig Theologie und Jura studierten18 und so einbescheidenes soziales Netz bereits existierte. Fr Ferdinand drfte dagegen wohl entschei-dend gewesen sein, da Leipzig die Hochburg der aufstrebenden Junggrammatiker war. Hier

    12 Cf. MEJA 2008:136ss.13 Cf. GODEL 1960:13, 17, DE MAURO 1968:289.14 Cf. BALLY 1952:148.15 Cf. GODEL 1960:13, 17.16 Der Text hatte Bally vorgelegen, war dann aber lange Zeit verschollen. Nach seiner Wieder-

    entdeckung wurde er von DAVIS 1978 publiziert.17 Cf. hierzu GODEL 1960:20, STREITBERG 1966:102, DE MAURO 1968:290s., MOUNIN 1968:13s., KOERNER

    1973:21.18 Cf. DE MAURO 1968:291, JGER 2010:42.

    16 1. Einleitung

  • wirkten Georg Curtius (Vergleichende Grammatik, Altphilologie), Heinrich Hbschmann(Altpersisch), Hermann Osthoff (Sanskrit), August Leskien (Slawisch, Litauisch), ErnstWindisch (Altirisch), Wilhelm Braune (Germanistik) und Karl Brugmann (Indogermanistik),z.T. als Professoren, oder als junge Privatdozenten19. Ferdinand besuchte ihre Veranstal-tungen mit sehr unterschiedlicher Intensitt, u. a. wohl auch deshalb, weil er kein kleinerStudent, sondern vielmehr ein Gesprchspartner auf Augenhhe fr diese Berhmtheiten undangehenden Berhmtheiten war. Unterbrochen wurde der bis 1880 dauernde LeipzigerAufenthalt fr das Studienjahr 1878/79, whrend dem Saussure in Berlin bei HermannOldenberg (Sanskrit) und Heinrich Zimmer (Keltisch, Indisch) seine Kenntnisse in derenSpezialgebieten zu vertiefen suchte.

    Auf den Anfang der Zeit in Leipzig fllt die legendr gewordene Episode um die nasalissonans20. Im verlorenen Schuljahr 1872, whrend dem Saussure das Collge public in Genfbesuchen mute, fielen ihm anllich einer Herodot-Lektre gewisse paradigmatischeEntsprechungen zwischen und auf, die den Schlu nahelegten, da die Formen mit ursprnglich an der entsprecheden Stelle ein sonantisches (zwischen zwei Konsonantenstehendes) gehabt htten: also (sonantisches) . Dies nahm er als evidente Gegebenheitzur Kenntnis (GODEL 1960:18). Bei seiner Ankunft in Leipzig stattet Saussure HeinrichHbschmann einen Antrittsbesuch ab, um sich fr dessen als privatissime ankndigte Ver-anstaltung zum Altpersischen anzumelden. Von diesem zuhause freundlichst empfangen,fragte Hbschmann ihn beilufig, was er denn von dem eben erschienen Artikel ber dienasalis sonans von Brugmann halte, der in Leipzig das Tagesgesprch sei. Saussure verstandvorerst nur Bahnhof, und nachdem ihn Hbschmann kurz ber Brugmanns These aufgeklrthatte, meinte er, das sei doch nichts Aufregendes, das wisse er schon seit Jahren. Nachdem ersich dann Brugmanns Publikation beschafft hatte, mute er feststellen, da dieser gerade mitder Erkenntnis Furore machte, auf die er schon 1872 bei der Herodot-Lektre gestoen war(GODEL 1960:29s.). Diese verpate Chance, Linguistikgeschichte zu schreiben, wurmte ihnnoch 1903, als er seine Souvenirs fr Wilhelm Streitberg zu Papier brachte (GODEL 1960:23s.).Wie er schlielich mit einiger Bitterkeit feststellt, ist es ihm mit der Einfhrung desAnalogieprinzips in die junggrammatische Doktrin hnlich ergangen (GODEL 1960:24s.).

    Saussure war ganz offensichtlich in linguistischer Hinsicht frhreif, denn er ist 1876 nochnicht einmal 20 Jahre alt (und 1872 gerademal 15!). Und auch an Selbstbewutsein fehlte esihm in dieser Hinsicht nicht, denn er hielt sich schon 1875 fr wrdig, Mitglied der vorkurzem gegrndeten Socit linguistique de Paris zu werden und reichte ber die Vermittlungdes Genfer Familienfreundes Lopold Favre und des Pariser Sanskritisten Abel Bergaigne einentsprechendes Aufnahmegesuch ein. Und er wird in der Tat am 13. Mai 1876 in die SLPaufgenommen21. Und er macht sich auch gleich daran, sich in diesem illustren Kreis zuprofilieren. Am 13. Januar 1877 hlt er einen ersten Vortrag ber das indogermanische Suffix-T-, dann folgt ein Referat Sur une classe de verbes latins en -eo, ein drittes mit dem Titel Latransformation latine de tt en ss suppose-t-elle un intermdiaire ts?, und schlielich noch diewohl wichtigste Arbeit aus dieser Frhphase seiner Forschungsaktivitt, der Essai dunedistinction des diffrents a indo-europens, vorgetragen am 21. Juli 187722. Dieser letzteText stellt eine noch viele Fragen offen lassende Vorstufe von SaussuresMmoire dar; er selbst

    19 Cf. hierzu u.a. MEILLET 1951:174s., STREITBERG 1966:102, GODEL 1960:21s., DE MAURO 1968:292s.,MOUNIN 1968:14s., KOERNER 1973:22s., SCHEERER 1980:2, JGER 2010:45s.

    20 Cf. MEILLET 1951:175, GODEL 1960:13s., 18s., DE MAURO 1968:292s.21 Cf. GODEL 1960:19, DE MAURO 1968:291, MOUNIN 1968:14, SCHEERER 1980:3.22 Alle diese Arbeiten abgedruckt in BALLY/GAUTIER 1922:339ss. Cf. auch KOERNER 1972:51s.

    1. Einleitung 17

  • ist sich des provisorischen Charakters seiner Darstellung durchaus bewut und kndigtbereits eine umfassendere und vertiefte Untersuchung an.

    Saussure hat an seinem Mmoire sur le systme primitif des voyelles dans les langues indo-europennes bis Sommer 1878 gearbeitet; erschienen ist dieses umfangreichste Werk seinerganzen Karriere im Dezember 1878 in Leipzig, doch trgt es bereits die Jahrzahl 1879. Er istgerade mal 21 Jahre alt und legt gleichwohl schon die Arbeit vor, die seine wissenschaftlicheAnerkennung, ja seinen Ruhm dauerhaft begrnden sollte23. Da dies von den Meisten nichtnur als ungewhnlich, sondern fr unmglich gehalten wurde, belegt die Anekdote mit demGermanisten Friedrich Zahrnke, der Saussure 1880 in einem Gesprch gefragt haben soll, ober denn mit dem berhmten Saussure, dem Verfasser des Mmoire, verwandt sei24.

    Die beste, gleichzeitig aber auch sehr gedrngte Zusammenfassung der von Saussure imMmoire vertretenen These liefert MEILLET 1951:17625:

    Toutes les alternances vocaliques quoffrent les anciennes langues indo-europennes sontramenes celles dune seule et mme voyelle qui, tantt a la forme e, tantt la forme o, ettantt manque tout fait. Ce que lon appelle les voyelles i et u, ce ne sont pas des voyellesproprement dites; ce sont les formes vocaliques de sonantes qui apparaissent ailleurs sousla forme soit de seconds lments de diphtongues, soit de consonnes y et w; les voyelles i etu ne sont que des y et w voyelles, parallles r, l, n, m, en regard des consonnes r, l, n, m.Mme les voyelles , , des types tels que , , du grec se ramnent au typegnral; tout se passe comme si elles taient composes de e (alternant avec o, zro) et dunlment spcial, qui apparat ltat isol, en sanskrit comme i, en latin comme , en grec ,, ou , savoir le type de skr. pitr-, gr. -, lat. pater-. Le vocalisme indo-europen taitainsi rduit un systme rigoureux o toutes les alternances rgulires employes dans lesformes grammaticales trouvaient leur place naturelle, et qui simpose par lmme lespritavec la clart de lvidence . . .

    Diese Theorie (und v.a. ihre weiteren Konsequenzen26) fand unterschiedliche Aufnahme.WhrendHavet, Kruszewski, Mller und einige andere sie unmittelbar begeistert aufnahmen,blieben die Junggrammatiker in Leipzig ihr gegenber reserviert, ja oft dezidiert ablehnend,und v.a. Osthoff erging sich in endlosen Polemiken gegen Saussure27. Dies hinderte allerdingskeinen, Saussures Schrift fr Detailfragen hemmungslos und ohne Nennung der Quelle zuplndern. Einen wirklichen Durchbruch erlebte Saussures Theorie erst mit der Ablautstudievon Hermann Hirt (HIRT 1900) und der Introduction von Meillet (MEILLET 1903). Als dannanfangs des 20. Jahrhunderts auch noch das Hethitische entdeckt und entziffert wurde undJerzy Kuryowicz Saussures lment spcial (A, seit Hermann Mller als schwa indoger-manicum bezeichnet) mit dem hethitischen h identifizieren konnte28, war die Theorie auchnoch faktisch abgesttzt.

    Nach seinem Berliner Aufenthalt kehrt Saussure fr das Wintersemester 1879/80 nachLeipzig zurck und bringt auch gleich seine DissertationDe lemploi du gnitif absolu en sanscritmit. Das Doktorexamen findet im Februar 1880 statt und Saussure besteht es summa cumlaude; die Dissertation erscheint im Jahr darauf (SAUSSURE 1881).

    23 Cf. auch DE MAURO 1968:291ss., MOUNIN 1968:15, SCHEERER 1980:14ss. JGER 2010:46ss.24 Cf. DE MAURO 1968:294s., DE MAURO 1972:II, SCHEERER 1980:3.25 Fr weitere, z.T. sehr ausfhrliche Zusammenfassungen und Diskussionen cf. STREITBERG 1966:

    103-07, DE MAURO 1968:294s. und v.a. SCHEERER 1980:14-22.26 Cf. dazu MEILLET 1951:176s. und oben N22.27 Cf. hierzu auch DE MAURO 1968:295, KOERNER 1973:24-26, STREITBERG 1966:105.28 Cf. hierzu BEDRICH 1915 und 1917; KURYOWICZ 1935 (bes. 27-76).

    18 1. Einleitung

  • Saussures Dissertation ist zuerst einmal eine enorme Fleiarbeit: Er sammelt in allen ihmzugnglichen Sanskrittexten die Belege fr den absoluten Genitiv und ermittelt die jeweiligeFunktion und Bedeutung dieser doch eher seltenen Konstruktion. Es ergibt sich daraus, dader absolute Genitiv im Sanskrit durchaus einen spezifischen Anwendungsbereich hat, dersich auch gegenber demjenigen des absoluten Lokativs abgrenzen lt; Saussure arbeitetalso (hnlich wie im Mmoire) auch hier mit Oppositionen und Differenzen und hat somitnicht nur das Einzelphnomen, sondern das System im Blick. Allerdings war dies nicht dasursprngliche Ziel der Arbeit. Vielmehr hatte Saussure eigentlich vor, den (gemeinsamen)Ursprung dieser syntaktisch-semantischen Erscheinungen zu rekonstruieren, genau wie er imMmoire den gemeinsamen Ursprung lautlicher Phnomene rekonstruiert hatte. Und darin ister letztlich gescheitert. Was uns als Dissertation vorliegt, ist eigentlich nur die Vorarbeit (evtl.ein Teil der Vorarbeit) fr das, was er sich zum Ziel gesetzt hatte.

    Sowohl Saussures Zeitgenossen als auch die aktuelle Saussure-Rezeption uern sich in derRegel enttuscht ber die Dissertation und betrachten sie als im Vergleich zum Mmoireunbedeutend29. Da es ein Geflle zwischen den beiden Arbeiten gibt, ist unbestreitbar.Deshalb die Dissertation als ein Produkt des Scheiterns abzutun,wie dies beiMeja der Fall ist,scheint mir aber unangebracht, v. a. wenn dabei auch noch der Umfang (95 Seiten) ins Spielgebracht wird. Man kann die Dinge nmlich auch ganz anders sehen. Eine Dissertation vonrund hundert Seiten ist Ende des 19./anfangs des 20. Jahrhunderts in Deutschland einedurchaus respektable Arbeit, ja sie liegt eher schon ber dem blichen. Und dann ist es auchabsolut normal, da deutsche Dissertationen zu dieser Zeit vor allem der Sammlung vonMaterial und seiner elementaren Interpretation dienen. Ferdinand de Saussure hat sich inseiner Dissertation nur den Usanzen des deutschen Universittswesens und insbesondere denPromotionsritualen angepat!

    Damit nhert sich die Leipziger Zeit ihrem Ende. Bevor Saussure Leipzig aber definitivverlt, scheint er noch die berhmte und in der Literatur umstrittene Reise nach Litauenunternommen zu haben. Mehrheitlich wird diese Reise auf Juni bis September 1880angesetzt, darber hinaus ist aber sehr wenig ber besuchte Orte, untersuchte Themenusw. bekannt30. Ursprnglich mute man sich in diesem Punkt auf die sehr summarischenAussagen von Bally, Favre und Muret sttzen (DE MAURO 1968:298s.); erst unter den 1996 inderGenferOrangerie der Familie Saussure entdeckten Papieren fanden sich Zeugnisse, die dieim Vordergrund stehenden thematischen Interessen (gesprochene Sprache, Lautung undIntonation) und einen Aufenthalt in der Gegend von Tilsit belegen (MEJA 2008:233)31.

    Die Datierung dieser Reise auf das Jahr 1880 war lange unangefochten. 1963 meldeteGeorges Redard diesbezglich jedoch Zweifel an und schlug vor, diese Reise um 1890anzusetzen; Robert Godel folgte ihm in diesem Punkt v.a. aufgrund der Korrespondenz vonSaussure mit dem Kanonikus Casimir Jaunius im Jahre 188932; eine Rolle bei dieserSptdatierung mag auch gespielt haben, da Saussure 1888/89 eine Lehrveranstaltungzum Litauischen in Paris durchgefhrt hat33, so da um 1890 ein diesbezglicher Interessen-

    29 Cf. z.B. MEILLET 1951:177, KOERNER 1973:26, SCHEERER 1980:22s., MEJA 2008:216s., 222, 234s.30 Cf. DE MAURO 1968:298, MOUNIN 1968:15, REDARD 1976:149, SCHEERER 1980:3s., MEJA 2008:232.31 Cf. ferner JOSEPH 2007:160ss. und JGER 2010:56s., 214s. N59; besonders aber PETIT/MEJA 2008, die

    zahlreiche neue Details liefern und in einem Postscriptum die Entdeckung eines uerst informa-tiven Briefentwurfs an August Leskien erwhnen, der demnchst publiziert werden soll.

    32 Cf. hierzu DE MAURO 1972:331 N6 (diese Funote findet sich nur in der franzsischen bersetzungder Ausgabe von De Mauro). Fr die Korrespondenz mit Jaunius cf. GODEL 1973:13-22.

    33 Cf. DE MAURO 1968:298, MEJA 2008:233.

    1. Einleitung 19

  • schwerpunkt zu liegen scheint. Doch spter aufgetauchte Briefe veranlassen Redard danndazu, sich ebenfalls fr das Jahr 1880 auszusprechen34.

    Was veranlat nun Saussure aus wissenschaftlicher Sicht zu dieser Reise? Natrlich ist esdas Litauische und seine Dialekte, aber diese Begrndung ist noch zu pauschal. Entscheidenddrfte vielmehr gewesen sein, da das Litauische eine besonders archaische indogermanischeSprache ist, deren lteste Texte dem 16. Jh. angehren und die erst im 17. Jh. die erstenKodifizierungsversuche erlebt hat. Dazu kommt als weiterer Faktor, da Saussure um dieseZeit eine methodische Wende vollzieht und (wo immer mglich) die schriftlichen Zeugnissedurch orale zu ersetzen versucht, sich also der gesprochenen, spontanen Sprache zuwendet35.Allerdings publiziert er vorlufig nichts zum Litauischen, und auch der Text eines Vortragsber die litauische Akzentsetzung in der SLP am 8. Juni 1889 bleibt vorerst unzugnglich.Wohl auf Drngen Brals erscheint er schlielich 1894 in Band 8 der Mmoires, und imgleichen Jahr folgt noch eine Arbeit zur Morphologie des litauischen Nomens in denIndogermanischen Forschungen. 1896 kehrt Saussure dann im Anzeiger fr indogermanischeSprach- und Altertumswissenschaft nochmals zur Akzentproblematik zurck36. Erstaunen muallerdings, da er sich in diesen Arbeiten ausschlielich auf schriftliche Quellen sttzt undseine eigenen Erhebungen whrend der Litauenreise nicht zum Tragen kommen37. Dies hatzweifellos mit dem Einbruch des Publikationsrhythmus zu Beginn der Pariser Zeit zu tun.

    1.4. Mit der definitiven bersiedelung nach Paris Ende 1880 (November oder Dezember)beginnt fr Saussure nach Leipzig und Berlin ein universitr und gesellschaftlich uersterfolgreicher Lebensabschnitt38. Er ist seit 1876 Mitglied der SLP, und abgesehen vomMmoire und der Dissertation sind auch alle seine bisherigenArbeiten in denMmoires der SLPpubliziert worden. So kann es denn auch nicht erstaunen, da er vomMoment seiner Ankunftan im Institutionsleben der Socit aktiv wird39. Dies tut er mit solchem Erfolg, da er am16. 12. 1882, gerade einmal 25-jhrig, zum secrtaire adjoint der SLP ernannt wird und alssolcher die Nachfolge von Louis Havet antritt; damit wird er de facto Redaktor der MSLP 40.

    Anfnglich besucht er auch noch Lehrveranstaltungen an der cole pratique des Hautestudes (EPHE), u. a. bei Michel Bral, James Darmesteter, Abel Bergaigne und Louis Havet41.Havet war schon anllich der Publikation des Mmoire auf ihn aufmerksam geworden, undin Paris erkannte auch Bral sofort seine Begabung und seine Qualitten. Stndig auf derSuche nach jungen Talenten, die ihm als frderungswrdig erscheinen, berlt er Saussureim Herbst 1881 seine Lehrveranstaltung zur Grammaire compare an der EPHE42. Am30. 11. 1881 wird Saussure zum matre de confrences fr Vergleichende Grammatik dergermanischen Sprachen (und insbesondere des Gothischen und des Althochdeutschen)

    34 Cf. REDARD 1976, v.a.p. 149s. Cf. darberhinaus v.a. JGER 2010 56s., 214s. N59.35 Cf. hierzu z.B. SCHEERER 1980:3, MEJA 2008:233ss.36 Cf. SAUSSURE 1894a und 1894b, 1896. Vgl. ferner STREITBERG 1966:108s., MEJA 2008:233. Zu

    Saussures Notizen zum litauischen Akzent und ihrer Bedeutung fr seine Sprach- und Sprach-wissenschaftstheorie cf. jetzt auch JGER 2010:116ss.

    37 Cf. hierzu KOERNER 1973:26s.38 Cf. z.B.MEILLET 1951:177, DEMAURO 1968:301,MOUNIN 1968:15, KOERNER 1973:27s., SCHEERER 1980:3,

    JGER 2010:58ss.; usw.39 Cf. MEILLET 1951:177, KOERNER 1973:28.40 Cf. z.B. MEILLET 1951:178, DE MAURO 1968:305, MOUNIN 1968:16, SCHEERER 1980:4.41 Cf. DE MAURO 1968:301, MOUNIN 1968:15, KOERNER 1973:28.42 Cf. MEILLET 1951:177s., DE MAURO 1968:301, MOUNIN 1968:15, KOERNER 1973:28.

    20 1. Einleitung

  • ernannt43; am 5. 11. 1888 wird dann die Lehrbefugnis auf Grammaire compare ohne jedeEinschrnkung erweitert44.

    Von 1881 bis zu seinem Weggang nach Genf im Jahre 1891 wirkte Saussure in Paris alsauerordentlich erfolgreicher Universittslehrer, der von seinen Hhrern und Schlern ohneAusnahme in hchsten Tnen gelobt wird45. Und zu diesen Schlern zhlten eine Reihe vonWissenschaftlern, die eine erfolgreiche Universittskarriere in den unterschiedlichstenFachgebieten machen sollten: L. Duveau (der Saussures direkter Nachfolger an der EPHEwurde), G. Mohl, M. Grammont, P. Passy, A. Meillet, G. Dottin, P. Boyer, J. Psichari, F. Lotu.a.m.46.

    Die Aufnahme der Lehre in Paris stellt zweifellos eine bedeutende Zsur in Saussures Lebendar. Und diese Zsur macht sich auch anderweitig bemerkbar: Die Publikationen Saussureswerden immer seltener und sind mit wenigen Ausnahmen meist nur noch kurzeMiszellen.Diese Entwicklung fhrt gegen 1890 zu einer eigentlichen Publikationsphobie. Man hat vielber die Ursache dieser Entwicklung gertselt und sie u.a. auch auf Saussures Akribie undseinen Perfektionismus zurckgefhrt. Nach Claudia Meja47 liegt der Hauptgrund fr dasVersiegen des Publikationselans aber darin, da es fr Saussure einen gewissen Antago-nismus zwischen Forschung und Lehre gibt und er sich entschieden hat, der Rolle des Lehrersden Vorrang zu geben.

    Nach dem fulminanten Start nimmt Saussures Leben in Paris einen eher ruhigen Verlauf.Erst gegen Ende dieser Lebensphase kommt es wieder zu wichtigen Ereignissen. So lt sichSaussure fr das akademische Jahr 1889/90 beurlauben, angeblich um aus gesundheitlichenGrnden ein Jahr in Genf zu verbringen48. Mglicherweise findet in dieser Zeit auch dieumstrittene Reise nach Litauen statt, doch ist diese These inzwischen als recht unwahr-scheinlich zu betrachten49. Whrend seiner Abwesenheit wird Saussure durch AntoineMeillet vertreten, der zwar nicht sein direkter Nachfolger an der EPHEwerden wird, letztlichaber doch Saussures Erbe in Paris antritt.

    Das darauf folgende Jahr 1891 wird wieder zu einer Zsur in Saussures Leben. Nach MEJA2008:117 hatte er schon 1889 beschlossen, Paris zu verlassen, und dieser Beschluwird 1891nun realisiert: Saussure kehrt nach Genf zurck und bernimmt dort ein Extraordinariat.Damit verzichtet er auf einen Lehrstuhl amCollge de France:Michel Bral (erneut Bral!) botihm seine eigene chaire de grammaire compare an, um ihn in Paris zu halten50. DieEnttuschung in Paris mu gro gewesen sein; gleichwohl erhielt Saussure gewissermaenals Abschiedsgeschenk das Croix de la lgion dhonneur titre tranger51.

    Warum entscheidet sich Saussure fr Genf und gegen Paris, fr die Provinzstadt und gegendie Kapitale? Diese Frage hat die Saussure-Biographen immer wieder beschftigt, und oft istsie mit dem Nationalittenargument beantwortet worden: Saussure htte franzsischer

    43 MEILLET 1951:178, STREITBERG 1966:107, DE MAURO 1968:301, MOUNIN 1968:15, KOERNER 1973:28,SCHEERER 1980:4.

    44 Cf. MEILLET 1951:178, STREITBERG 1966:107, DE MAURO 1968:302.45 Cf. u.a. MEILLET 1951:178s., GAUTHIOT 1966:88ss., MOUNIN 1968:16, KOERNER 1973:28, SCHEERER

    1980:4.46 Cf. MEILLET 1951:178, STREITBERG 1966:107, GAUTHIOT 1966:88ss., DE MAURO 1968:302ss., MOUNIN

    1968:16, KOERNER 1973:28.47 Cf. MEJA 2008:236ss., 241s.48 Cf. GAUTHIOT 1966:89, MOUNIN 1968:16, JGER 2010:64.49 Cf. hierzu oben.50 Cf. MEJA 2008:27, 117ss.51 Cf. DE MAURO 1968:310, KOERNER 1973:28, SCHEERER 1980:4.

    1. Einleitung 21

  • Staatsbrgerwerdenmssen um in Paris zu bleiben52. Das ist insofern nicht richtig, als fr denmatre de confrences an der EPHE die Nationalitt nie ein Problem war; sie wurde es erst frden (potentiellen) Lehrstuhlinhaber am Collge de France und da hatte sich Saussure schonlngst fr die Rckkehr nach Genf entschieden53. Die Entscheidungsgrnde sind alsoanderweitig zu suchen. Claudia Meja hat sicher recht, wenn sie in Saussures gescheitertemWerben um Lucie Nomie Mallet einen wichtigen Faktor sieht54. Dazu kommt aber weiter und sicher mit einem erheblichen Gewicht , da Saussures Familienbindungen extrem starksind und bei allen (eher unterschwellig gebliebenen) Konflikten mit dem Vater Henri und derMutter Louise in seinem Leben eine zentrale Rolle gespielt haben. Nachdem Ende der 80erJahre die psychischen Probleme von Louise immer bedrohlicher, der Allgemeinzustand vonHenri immer prekrer gewordenwaren und die ganze engere Familie sich in einem kritischenZustand befand, bat Ferdinands Onkel Thodore diesen, nach Genf zurckzukehren; und umihm diesen Entscheid schmackhafter zu machen, wollte er ihm die auf Horace-Bndictzurckgehende Liegenschaft La Tertasse, gewissermaen das Stammhaus der Familie, ver-erben55.

    Zu all dem kommt noch hinzu, da Ferdinand de Saussure ein eingefleischter GenferAristokrat ist, der dem nachrevolutionren Frankreich und vor allem der 2. Republik nichtviel abgewinnen kann. Vor diesem Hintergrund ist der Wunsch nach einer Rckkehr in seinangestammtes Milieu leicht nachzuvollziehen56. Dazu pat auch, da Ferdinand erst in Genfinnerhalb seiner Kreise heiraten wird. Das Werben um Nomie Mallet in Paris steht dazukeineswegs im Widerspruch, hat doch Nomie aristokratische Wurzeln in der Westschweiz:Sie ist die Tochter von Anna de Rougemont, einer Cousine zweiten Grades seiner MutterLouise de Pourtals57.

    1.5. Zum Wintersemester 1891 kehrt Saussure definitiv nach Genf zurck58, wo fr ihn einExtraordinariat fr Histoire et comparaison des langues indo-europennes geschaffen wordenwar59. Diese auerordentliche Professur wurde dann 1896 in ein Ordinariat fr Sanskrit undindogermanische Sprachen umgewandelt60. In Genf sollte Saussure auch heiraten61. DieAuserwhlte, Marie Faesch, gehrte einer alten, urspnglich aus Basel stammenden62 Familiean, in deren Besitz sich auch das Schlo vonVufflens (beiMorges) befand;mit ihr hatte er drei

    52 Cf. u.a. MOUNIN 1968:16, KOERNER 1973:28, SCHEERER 1980:5.53 Cf. MEJA 2008:117.54 Cf. MEJA 2008:117, 268.55 Cf. MEJA 2008:118. Nach JGER 2010:59, 67 soll die Rckkehr Ferdinands nach Genf allerdings v.a.

    von seinemVater Henri betriebenworden sein, was imweiteren Familienkontext durchaus plausibelist; mglicherweisewar Thodore einfach vonHenri vorgeschickt, umAbwehrreaktionen von SeitenFerdinands zu vermeiden.

    56 Cf. MEJA 2008:118s.57 Cf. MEJA 2008:268.58 Cf. MEILLET 1951:179, STREITBERG 1966:107, DE MAURO 1968:310, MOUNIN 1968:16, KOERNER 1973:28,

    SCHEERER 1980:4, FEHR 1997:42s.59 Cf.MOUNIN 1968:16, KOERNER 1973:29. Der Text der (dreiteiligen) Antrittsvorlesung vomNovember

    1891 stellt eines der ersten Dokumente zu Saussures Beschftigung mit der Allgemeinen Sprach-wissenschaft dar und ist uns erhalten geblieben; cf. ENGLER 1974:3-14 (= N1.1, 1.2, 1.3 = 3283-85)bzw. SAUSSURE 2002:143-73. Fr eine deutsche bersetzung cf. FEHR 1997:240-73.

    60 Cf. u.a. STREITBERG 1966:107, DE MAURO 1968:310, MOUNIN 1968:16, SCHEERER 1980:5.61 Cf. DE MAURO 1968:313, JGER 2010:67. Die Hochzeit fand am 18. 3. 1892 statt.62 Cf. hierzu Wikipedia (fr.) 2010, s. Marie Faesch. Zum berhmten Johann Rudolf Faesch

    (15721659) cf. Schweizer Lexikon 2 (1992):534.

    22 1. Einleitung

  • Kinder, Raymond, Jacques undAndr, der aber schon dreiMonate nach seiner Geburt stirbt63.ber die angeblich nicht sonderlich harmonische Ehe gibt es zahlreiche Gerchte, derenWahrheitsgehalt aber zweifelhaft ist. Fest steht auf jeden Fall, da Marie den wissen-schaftlichen Leistungen ihres Gatten groen Respekt zollte und nach seinem Tode diezahlreichenNachrufe und Erinnerungsartikel sammelte und in einer (privaten)Gedenkschriftverffentliche (DE SAUSSURE 1915).

    In Genf scheint Saussures Interesse fr die Fragen der allgemeinen Sprachwissenschaftwieder neu geweckt worden zu sein, das in den spteren Pariser Jahren in den Hintergrundgetreten war64. Mglicherweise lieferte hierzu die Publikation der Sprachwissenschaft vonGeorg von der Gabelentz (GABELENTZ 1891) den Ansto. Eine wichtige Rolle hat aber sicherauch das fr Saussure in mancherlei Hinsicht bedeutende Jahr 1894 gespielt. Einmal stirbt indiesem Jahr der amerikanische Sanskritist und Sprachtheoretiker William Dwight Whitney,und Saussure wird vom Sekretr der American Philological Society gebeten, eine WrdigungWhitneys als Komparatist zu verfassen65. Diese Aufgabe hat Saussure auchmit Elan in Angriffgenommen, den Beitrag aber nie fertiggestellt66. Dann findet in diesem Jahr in Genf der 10.Internationale Orientalistenkongre statt, den Saussure mitorganisierte; und aus diesemAnla hielt er auch einen Vortrag ber den Akzent im Litauischen, der sonst wohl niefertiggestellt worden wre (SAUSSURE 1896)67. Und schlielich gehrt dem Jahr 1894 auchnoch der berhmte, vom 4. Januar datierte Brief an Antoine Meillet an, in dem sich Saussureu.a. ber die Inkonsistenz der linguistischen Terminologie beklagt68 und auch von derMglichkeit spricht, ein Buch ber die Grundlagen der allgemeinen Sprachwissenschaft zuverfassen69.

    Die nchsten zehn Jahre in Genf sind zumindest von auen gesehen wenig ereignis-reich, und SaussuresWirken scheint vor allem auf die Lehre fokussiert zu sein. DiesemBereichgehrt auch die nchste wichtige Zsur an: 1906 bernimmt Ferdinand de Saussure dieVorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft von dem als Linguist vollkommen unbe-deutenden JosephWertheimer, der sich 1905 von der Universitt zurckgezogen hatte70. Ausdiesem Anla wurde auch Saussures Lehrstuhl neu definiert, der von nun an Linguistiquegnrale et [. . .] histoire et comparaison des langues indo-europennes hie71. Die ersteVorlesungsreihe zur Allgemeinen Sprachwissenschaft hielt Saussure ab Januar 1907, diezweite 1908/09 und die dritte 1910/1172. Die Beschftigung mit dem zustzlichen Lehr-

    63 Cf. JGER 2010:67.64 Cf. KOERNER 1973:29, 174-90.65 Cf. GODEL 1969:32, KOERNER 1973:29.66 Die erhaltenen, umfangreichenNotizen und Entwrfe sind aber in die kritische Ausgabe desCLG von

    Rudolf Engler eingegangen (ENGLER 1974, N 10 [3297]); der zusammenhngende Text findet sichberdies in SAUSSURE 2002:203-22. Fr eine deutsche bersetzung cf. FEHR 1997:303ss. ZuSaussures Haltung gegenber Whitney cf. auch JGER 2010:94ss.

    67 Cf. hierzu auch MEILLET 1951:180, 181s., GODEL 1969:31, KOERNER 1973:30.68 Zu Saussures Ringen mit der traditionellen Terminologie cf. N 13 (3300) und N13a (3301), ENGLER

    1974:29; fr deutsche bersetzungen dieser Texte cf. FEHR 1997:342ss.69 Fr den Brief cf. BENVENISTE 1964:95, GODEL 1969:31s. Cf. ferner MOUNIN 1968:18, KOERNER 1973:30,

    31, SCHEERER 1980:6s.; JGER 2010:92s. Fr die erhaltenen Notizen zu diesem Projekt cf. ENGLER1974:21, 26-29 (N 9.1, 9.2, 9.3, 11, 12); fr den zusammenhngenden Text cf. SAUSSURE 2002:197-203, und fr eine (zusammenhngende) deutsche bersetzung dieser Texte cf. FEHR 1997:296ss.,329ss.

    70 Cf. hierzu DE MAURO 1968:291, 319.71 Cf. STREITBERG 1966:107, DE MAURO 1968:319, 322ss., MOUNIN 1968:16, SCHEERER 1980:6.72 Cf. hierzu unten. Nach LINDA 2001:167 und JGER 2010:73 hat Saussure aber auch 1907/08 ber

    allgemeine Sprachwissenschaft gelesen (die Namen der Hrer sind bekannt, cf. LINDA 2001:175).

    1. Einleitung 23

  • bereichwar zu diesemZeitpunkt fr Saussure allerdings keineswegs neu; nach seinen eigenenAussagen in Gesprchen mit Albert Riedlinger und Lopold Gautier hat er sich mit diesenFragen v.a. vor 1900 auseinandergesetzt73.

    Als weitere wichtige Ereignisse in diesem letzten Lebensabschnitt mssen drei Ehrungenerwhnt werden. Am 14. Juli 1908 wurde ihm aus Anla seines (lngst verflossenen)50. Geburtstags eine Festschrift bereicht74, die u.a. Beitrge von Ch. Bally, M. Niedermann,A. Meilllet, J. Wackernagel, A. Sechehaye, A. Ernout, R. Thurneysen, M. Grammont,E. Schwyzer, J. Vendrys usw. enthielt und von der hohen Wertschtzung Saussures inden verschiedensten sprachwissenschaftlichen Unterdisziplinen zeugt75. 1909 wird Saus-sure zum Mitglied der Dnischen Akademie der Wissenschaften ernannt (DE MAURO1968:325), und am 16. Dezember 1910 schlielich erfolgt seine Wahl zum korrespondie-renden Mitglied der Acadmie des Inscriptions et Belles-Lettres, eine Ehrung, ber die er sichzwar gefreut zu haben scheint, die ihn aber wegen der damit verbundenen Formalitten auchverunsicherte und beunruhigte, wie ein Brief an Max von Berchem bezeugt76.

    Schon ab 1880/81 hatte sich Saussures Publikationsrhythmus deutlich verlangsamt, undv.a. legte er keine greren Arbeiten mehr vor. In Genf kommt dann sein Publikationsdrangfast ganz zum Erliegen und er liefert fast nur noch Beitrge zu Festschriften und Kongressen,bei denen er glaubt, jemandemgegenber eine Bringschuld zu haben77. Sonst scheint er sich wie bereits in Paris vorwiegend auf die Lehre konzentriert zu haben. Neben dem Sanskrit,das er jedes Jahr anbietet, ist das von ihm abgedeckte Programm von einer geradezuerdrckenden Flle und Breite und reicht hin bis zur historischen Grammatik des Deutschenund Englischen, der Sprachgeographie, der Phonologie des Gegenwartsfranzsischen und derfranzsischen Verslehre78.

    Es kann jedoch nicht bersehenwerden, da Saussures Interessenbereich sich nicht auf dieLinguistik beschrnkt, ja er ihrer vielleicht zu einem gewissen Grade sogar etwas berdrssiggeworden ist und (in fr die Indogermanisten der Zeit typischer Manier) dazu neigt, in denliterarischen bzw. mythologischen Bereich auszuweichen79. Diese latente Disposition ist u.U.dadurch aktiviert worden, da er im Sommersemester den Germanisten mile Redardvertreten mute und dies mit einer Veranstaltung ber die Nibelungen tat80. Neben denNibelungen hat er sich auch intensiver mit dem Tristan, mit Theseus und mit Orion befat,und dies hat letztlich auch zu (unpublizierten) theoretischen Reflexionen ber die mythi-schen und legendren Gegebenheiten und Mechanismen im Rahmen einer allgemeinenSemiologie gefhrt81.

    Und da Saussure aufgrund seiner Lehrstuhlbeschreibung verpflichtet war, jedes Jahr eine ent-sprechende Veranstaltung anzubieten, vermutet LINDA 2001:173, da es auch 1909/10 und 1911/12einen Cours de linguistique gnrale gegeben hat. Fr diese Annahme gibt es aber keine Beweise oderZeugnisse.

    73 Cf. GODEL 1969:29ss., DE MAURO 1968:322.74 Cf. MEILLET 1951:179, DE MAURO 1968:325, MOUNIN 1968:16 und v.a. LOUCA 1974/75:17, 29.75 Cf. Mlanges linguistiques offerts M. Ferdinand de Saussure, Paris 1908 (Collection linguistique publie

    par la SLP, t. 11). Fr eine Besprechung von MAURICE GRAMMONT cf. RLaR 55 (1912):38789.76 Cf. LOUCA 1974/75:32s., ferner DE MAURO 1968:325.77 Cf. DE MAURO 1968:313-15, MOUNIN 1968:17-19, KOERNER 1973:30.78 Cf. hierfr v.a. GODEL 1969:24ss. Ferner DE MAURO 1968:310s., KOERNER 1973:30s., SCHEERER

    1980:5s.79 Cf. DE MAURO 1968314s., MOUNIN 1968:18, KOERNER 1973:31.80 Cf. GODEL 1969:25. Diese Aufgabe hat dann wohl zu einem Vortrag vor der Socit dhistoire et

    darchologie in Genf am15. 12. 1904 gefhrt: Les Burgonds et la langue burgonde en pays romand;cf. GODEL 1969:25s., KOERNER 1972:56 (Nr. 102),

    81 Cf. hierzu AVALLE 1972a:163-79, 1972b, 1973:59-128; MARINETTI/MELI 1986; WUNDERLI 1981:37ss.

    24 1. Einleitung

  • Eine gewisse Nhe zur Legendenthematik hat auch Saussures Beschftigung mit dem(altlateinischen) saturnischen Vers, dessen Geheimnisse er zu lften versucht. Und von hierwar es dann nur noch ein kleiner Schritt zu der fast obsessionellen Suche nach Anagrammen(Hypogrammen, Paragrammen . . .) in der lateinischen, mittel- und neulateinischen Dichtungvon Ennius bis Giovanni Pascoli82. Auch diese Forschungsanstze und -interessen sind zuSaussures Lebzeiten unpubliziert geblieben (ebensowie die Reflexionen zu den Legenden undzur allgemeinen Sprachwissenschaft); erst postum sind sie bekannt geworden, der Coursanfangs, der Rest erst in der zweiten Hlfte des 20. Jahrhunderts.

    1.6. Im Sommersemester 1912 erkrankt Ferdiand de Saussure so schwer, da er seineLehrveranstatlungen abbrechen mu. Er beantragt eine Beurlaubung krankheitshalber, dieihm auch gewhrt wird, nachdem der Dekan sich berzeugt hat, da seine stimmlichenProbleme eine Fortfhrung des Unterrichts verunmglichen (MEJA 2008:26). Saussure ziehtsich auf den Familienbesitz der Faesch inVufflens zurck, ist aber immer noch voller Projekte:Er plant, das Frhjahr 1913 in Sdfrankreich zu verbringen, und er beginnt (evtl. unter demEinflu seines Bruders Lopold) Chinesisch zu lernen. Sein Zustand verschlechtert sich imLaufe des Winters aber zusehends; er stirbt, fr sein Umfeld vllig unerwartet, am Abend des22. Februar 1913 (DE MAURO 1968:325).

    Die Grnde fr seinen frhen Tod (er ist gerade einmal 55 Jahre alt) sind bis heuteungeklrt und werden es vielleicht auch fr immer bleiben wenn stimmt, was er in einemspten Brief an seine Frau Marie schreibt: nmlich da die rzte nichts Abnormales bei ihmfeststellen knnen (MEJA 2008:26).

    Sicher ist, da er einer maladie longue et pnible erliegt (MEJA 2008:25). Alles weitereum seinen Tod sind (z.T. bsartige) Gerchte, wie sie in einem solchen Fall geradezu pilzartigaus dem Boden schieen. Die verbreitetsten sind83:

    Saussure wre an einer Leberzirrhose gestorben, die auf einen bermigen Alkohol-genu seit seiner Jugend zurckgehen soll; in spteren Jahren sei er ein notorischerTrinker gewesen, der z.T. sogar seine Bcher verscherbelt habe, um sich Alkohol zubeschaffen. Dies ist alles nicht bewiesen und pat auch nicht zu den krperlichenVerfallserscheinungen, die ihm Nahestehende beschreiben; berdies sind seine geisti-gen Fhigkeiten in keiner Weise beeintrchtigt.

    Saussure soll einer syphilitischen Erkrankung erlegen sein, die er sich bei Bordell-besuchen in Marseille oder Paris, evtl. auch in Genf zugezogen htte. Da Bordell-besuche in besseren Kreisen damals nichts Ungewhnliches waren, ist unbestritten; aberes gibt keine Zeugnisse, da Ferdinand den Umgang mit Dirnen prakiziert habe, undebensowenig lt sich ihm eheliche Untreue nachweisen.

    Nach einem weiteren Gercht wre Saussure an einem Kehlkopfkrebs gestorben. Diespat vielleicht noch am Besten zu den beschriebenen Symptomen, v.a. zu seinenstimmlichen Problemen und dem rapiden kperlichen Verfall. Zudem ist bekannt, da erZeit seines Lebens ein starker Raucher war und auch seit frher Jugend immerwieder anErkrankungen der Atemwege litt. Seine Rede soll berdies immer wieder durch einleichtes Hsteln unterbrochen gewesen sein. Und man knnte als weiteres Indizhinzufgen, da auch seine beiden Shne spter an Krebs gestorben sind. Aber auchin diesem Fall fehlen irgendwelche schlssigen Beweise. Und wenn die Todesursache

    82 Cf. nebenDEMAURO 1968:315s., KOERNER 1973:31, SCHEERER 1980:6 v.a. STAROBINSKI 1971,WUNDERLI1972 und 2004:174-85, BRAVO 2011.

    83 Cf. fr das Folgende v.a. MEJA 2008:25ss.

    1. Einleitung 25

  • tatschlich ein Krebsleiden war, warum sollte die Familie dann den Schleier desSchweigens darber ziehen?

    Nach einer letzten Hypothese soll Ferdinand de Saussure an einer schweren und uerstschmerzhaften Arteriosklerose gestorben sein. Aber wenn dem so wre, warum kommtdenn sein Tod so unerwartet? Und auch in diesem Fall scheint ein Verschleierungsmotivnicht gegeben zu sein.

    Auchwenn eine Krebserkrankung noch amwahrscheinlichsten ist, mu festgehalten werden,da die Frage nach dem Grund fr Ferdinands frhen Tod weiterhin unbeantwortet bleibt.Auch der vageHinweis bei JGER 2010:74, Claude de Saussure habe ihmnoch einen anderenGrund genannt, bringt uns nicht weiter. Saussure ist am Ende seines Lebens so etwas wie diegraue Eminenz der Indogermanistik, hochgeschtzt und verehrt in der scientific community;von seinen brigen Interessenbereichen dagegen (Legenden, Anagramme, allgemeineSprachwissenschaft) wissen nur einige wenige Eingeweihte.

    2. Der CLG und seine Quellen

    2.0. Als Ferdinand de Saussure am22. Februar 1913 starb, hatte er nichts publiziert, wasmanals spezifischen Beitrag zur Allgemeinen Sprachwissenschaft bezeichnen knnte84. Sicherwerden in seinen Schriften da und dort Fragen angesprochen, die Berhrungspunkte mit derlinguistique gnrale darstellen, aber von der jeweiligen Leitthematik sind alle seine zuLebzeiten verffentlichten Arbeiten der Indogermanistik zuzurechnen: das Mmoire, dieDissertation, die zusammen mit den beiden Monographien spter im Recueil vereintenAufstze85. Man kann auch nicht behaupten, die Allgemeine Sprachwissenschaft sei ein vonSaussure bevorzugtes Reflexionsgebiet gewesen, mit dem er sich whrend seines ganzenLebens auseinandergesetzt htte (ohne aber etwas zu verffentlichen), ganz im Gegenteil.Wie Rudolf Engler zu Recht unterstreicht, wird in Saussures berhmtem Brief an AntoineMeillet vom 4. Januar 1894 sogar so etwas wie eine Abneigung gegen die AllgemeineSprachwissenschaft deutlich86:

    . . . je suis bien dgot de tout cela87, et de la difficult quil y a en gnral crireseulement dix lignes ayant le sens commun en matire de faits de langage . . . Cest endernire analyse seulement le ct pittoresque dune langue, celui qui fait quelle diffre detoutes les autres comme appartenant un certain peuple ayant certaines origines, cest cect presque ethnographique qui conserve pour moi un intrt: et prcisment, je nai plusle plaisir de pouvoirme livrer cette tude sans arrire-pense et de jouir du fait particuliertenant un milieu particulier.

    Sans , cette ineptie de la terminologie courante, la ncessit de la rformer, etde montrer pour cela quelle espce dobjet est la langue en gnral, vient gter mon plaisirhistorique, quoique je naie pas de plus cher vu que de ne pas avoir moccuper de lalangue en gnral.

    84 Fr die Grnde von Saussures Publikationsabstinenz cf. FEHR 1997:39ss. und unten.85 Cf. SAUSSURE 1879, SAUSSURE 1881, BALLY/GAUTIER 1922. Cf. hierzu auch ENGLER 1967:14s. und ENGLER

    1968:IX.86 Cf. ENGLER 1959:120, FEHR 1997:17. Zu Saussures Vorliebe fr die historischen, pittoresken,

    ethnographischen Aspekte der Sprache cf. auch JGER 2010:92s.87 D.h. von der Intonationsproblematik im Litauischen.

    26 1. Einleitung

  • Cela finira malgrmoi par un livre o, sans enthousiasme, jexpliquerai pourquoi il ny apas un seul terme employ en linguistique auquel jaccorde un sens quelconque. Et ce nestquaprs cela, je lavoue, que je pourrai reprendre mon travail au point o je lavais laiss.(GODEL 1969:31 = BENVENISTE 1964:95)88

    Deutlicher kann man wohl nicht ausdrcken, was Saussure wirklich interessiert und was frihn letztlich nur lstige Propdeutika sind. Mit diesen Fragen scheint er sich vor allem vor1900 beschftigt zu haben, was er auch in zwei Gesprchen mit Riedlinger (1909) undGautier (1911) selbst besttigt89; spter traten dann (neben dem Sanskrit und der Indogerma-nistik im allgemeinen) fr ihn andere Themen in den Vordergrund: die germanischeMythologie, die germanischen Sprachen, das Chinesische . . .berdies darf nicht vergessenwerden, da fr Saussure nach 1881 die Lehre vor der Forschung absolute Prioritt hatte90.

    Dies fhrte dazu, da bei Saussures Tod nur einige wenige Eingeweihte Kenntnis vonseinen Ideen bezglich der Allgemeinen Sprachwissenschaft hatten (ENGLER 1968:IX) unddies trotz der drei Genfer Vorlesungen zum Thema; aber die Hrerzahlen waren auch nichtsonderlich beeindruckend: 5 oder 6 im Jahr 1907, 11 oder 12 im 2. Cours (1908/09) und 12im 3. Cours (191011)91. Unter diesen Studenten gab es allerdings einige besondersinteressierte und engagierte wie Albert Riedlinger, Lopold Gautier, mile Constantin usw.,und diese versuchten Saussure dazu zu bewegen, seine Gedanken zur Allgemeinen Sprach-wissenschaft zu publizieren. Obwohl Saussure 1894 an eine solche Publikation gedachthatte92, lehnte er dies in seinem Gesprch mit Riedlinger 1909 ausdrcklich ab:

    Lintroduction que M. de Saussure a faite jusquici dans son cours de linguistique gnralenest quune causerie. Si le cours avait suivi, elle aurait d tre tout autre. M. de Saussuretraitera cette anne les langues indo-europennes et les problmes quelles posent. Ce seraune prparation pour un cours philosophique de linguistique. M. de Saussure ne se refusepas catgoriquement lessayer dans deux ans; ce sera aux lves, je pense, ly dcider.Quant un livre sur ce sujet, on ne peut y songer: il doit, dit M. de Saussure, donner lapense dfinitive de son auteur. (GODEL 1969:30)93

    Es besteht kein Zweifel daran, da Saussure seine berlegungen zur Allgemeinen Sprach-wissenschaft 1909 noch fr unausgereift hielt, und hnlich uert er sich zwei Jahre spter ineinem Gesprch mit Gautier:

    (Je lui avais demand sil avait rdig ses ides sur ces sujets.) Oui, jai des notes mais perduesdans des monceaux, aussi ne saurais-je les retrouver. (Javais insinu quil devrait faireparatre quelque chose sur ces sujets.) Ce serait absurde de recommencer de longuesrecherches pour la publication, quand jai l (il fait un geste) tant et tant de travauximpublis. (GODEL 1969:30)

    Angesichts solcher Aussagen mu man sich schon fragen, wo Bally und Sechehaye den Mutzur Publikation des CLG hernahmen94.

    88 Fr in diesem Zusammenhang und zu diesem Zeitpunkt entstandene Notizen fr ein Buch ber dieAllgemeine Sprachwissenschaft cf. auch SAUSSURE 2002:197203.

    89 Cf. GODEL 1969:30s., WUNDERLI 1972:73. Ferner ENGLER 1959:120, DE MAURO 1972:353.90 Cf. GODEL 1969:24, MEJA 2008:236ss., 241s.91 Cf. GODEL 1958/59:16, KOERNER 1973:221 N14.92 Cf. oben den Brief an Meillet.93 Cf. auch ENGLER 1968:IX, DE MAURO 1972:7, FEHR 1997:34ss., 39ss., JGER 2010:164ss.94 Die beiden oben angefhrten Textstellen zeigenmit aller Deutlichkeit, da KAUD 2006:3 falsch liegt,

    wenn sie den 3. Cours als endgltige Vorlesung und als Saussures letztes Wort betrachtet.

    1. Einleitung 27

  • 2.1. Nach Saussures Tod beschlossen Charles Bally (18651947) und Albert Sechehaye(18701946), Saussures berlegungen zur Allgemeinen Sprachwissenschaft einembreiterenlinguistisch interessierten Publikum zugnglich zu machen. Sie waren beide 1913 bereitsgestandene Forscher, die auf eine Reihe eigener Publikationen zurckblicken konnten95, u.a.Bally auf seinen Prcis de stylistique (1905), den Trait de stylistique franaise (1909) und die1. Auflage von Le langage et la vie (1913), Sechehaye auf das bedeutende (und allgemeinverkannte) Programme et mthodes de la linguistique thorique (1908). Beide hatten Saussuresdrei Vorlesungen zur Allgemeinen Sprachwissenschaft nicht selbst gehrt, waren aber mitseinen Ideen aufgrund intensiver Kontakte und zahlreicher Gesprche durchaus vertraut.

    Die beiden hatten gehofft, in Saussures nachgelassenen Papierenwesentliche Entwrfe zurAllgemeinen Sprachwissenschaft zu finden. Die ihnen von Marie de Saussure zur Verfgunggestellten Dokumente waren aber in jeder Hinsicht enttuschend, enthielten sie doch nureinige wenige Bruchstcke und Fragmente96. Auch Notizen zu den drei Vorlesungen (1907,1908/09, 1910/11) fehlten fast vollstndig, denn Saussure hatte die Gewohnheit, seineBrouillons nach getaner Arbeit mehr oder weniger regelmssig zu vernichten97.

    Bally und Sechehaye muten deshalb einen anderen Weg suchen und entschlossen sich,ihre Darstellung von Saussures Sicht der Allgemeinen Sprachwissenschaft aufgrund derStudentenskripte zu den drei Vorlesungen zu erarbeiten98. Dies mag auf den ersten Blick alsein problematischer Weg erscheinen, denn Vorlesungsmitschriften von Studenten sind in derRegel recht unzuverlssige Quellen dies wei jeder, der seine eigenen Skripte einmalsorgfltig berprft hat. Im Falle von Saussures Cours de linguistique gnrale erweisen sichderartige Vorbehalte aber als weitgehend unbegrndet. Saussure hatte das Glck, unterseinen Hrern mehrere sehr gute, ja sogar einige herausragende Studenten zu haben(Riedlinger, Gautier, Dgallier, dann aber v.a. Constantin), die uerst extensiv undzuverlssig mitprotokollierten. Einer von ihnen (Caille) hielt den 1. Cours sogar in einemStenogramm fest. Zudem standen zu jeder Vorlesungmehrere Skripte zur Verfgung, diemanmiteinander abgleichen und so viele Ungenauigkeiten und Fehler neutralisieren konnte.

    Damit sind aber bei weitem noch nicht alle Schwierigkeiten eliminiert. Eine der gra-vierendsten ist die Tatsache, da die drei Vorlesungen inhaltlich sehr unterschiedlichangelegt sind und berdies drei verschiedene Entwicklungsstufen von Saussures ber-legungen reprsentieren99. Im 1. Cours (1907) befat sich Saussure zuerst einmal mit derLautphysiologie (phonologie), um sich dann den diachronischen Fragestellungen zuzuwen-den: Lautwandel und analogischer Wandel, Beziehung zwischen den vom Sprecher synchro-nisch wahrgenommenen Einheiten und den Wurzeln, Suffixen und andern Einheiten derhistorischen Grammatik, der Volksetymologie und den Rekonstruktionsproblemen. Der 2.Cours (1908/09) dagegen ist ganz anders angelegt: Saussure geht gleich zu Beginn daszentrale Problem der Beziehung zwischen Zeichentheorie und Sprachtheorie an und gibt eineReihe von grundlegenden Definitionen: System, Einheit, Identitt, sprachlicher Wert. Ausdiesen Vorgaben leitet er dann die Existenz von zwei verschiedenen Arten von Linguistik ab,der synchronischen und der diachronischen, deren Hauptprobleme anschlieend skizziertwerden. Damit liefert er seine erste berblicksdarstellung der Allgemeinen Sprachwissen-

    95 Cf. DE MAURO 1972:8, KOERNER 1973:214 und v.a. ENGLER 1987:141.96 Diese sind dann als Fasc. 4 in die kritische Ausgabe eingegangen (ENGLER 1974; cf. auch DE MAURO

    1972:V, 7).97 Cf. DE MAURO 1972:8, KOERNER 1973:215.98 Cf. GODEL 1969:15-17, 132, ENGLER 1968:IX, DE MAURO 1972:V, 8, KOERNER 1973:214, FEHR 1997:27ss.99 Fr das Folgende cf. v. a. DE MAURO 1972:353s., KOERNER 1973:215, JGER 2010:166ss.; sehr

    ausfhrlich GODEL 1969:53-92 und MEJA 1998:4ss., 29ss.

    28 1. Einleitung

  • schaft100. Der Rest der zweiten Vorlesung liefert dann einen berblick ber die Indogerma-nistik, der als Basis fr philosophische Reflexionen ber die Linguistik dienen soll. Der3. Cours (1910/11) versucht schlielich das induktive Vorgehen in der ersten Vorlesung mitdem deduktiven Ansatz der zweiten zu verbinden. Saussure befat sich zuerst mit les languesqua Gegenstand der diachronischen Linguistik und der externen Sprachwissenschaft: his-torische Aspekte, Sprachgeographie, das Verhltnis zwischen Schrift und Lautung, dieGliederung der Sprachfamilien usw. werden behandelt. Anschlieend wendet er sichdann la langue, den allgemeinen Sprachprinzipien und der synchronischen Linguistik, zu.Zu der einleitend ins Auge gefaten Behandlung der exercice de la facult du langage chez lesindividus, d.h. der linguistique de la parole, ist es leider nicht mehr gekommen.

    Fr ihr Publikationsprojekt standen Bally und Sechehaye die folgenden Studentenskriptezur Verfgung101:

    1. Cours (I, 1907): Albert RiedlingerLouis Caille (Stenogramm mit Randnotizen)

    2. Cours (II, 1908/09): Albert RiedlingerLopold GautierFranois Bouchardy102

    3. Cours (III, 1910/11): Georges DgallierFrancis JosephMme Albert Sechehaye

    berdies soll Riedlinger bei seiner Kollation von Cours II auch noch ein Skript von PaulRegard benutzt haben, das inzwischen aber verschollen ist und so von Engler nicht in diekritische Ausgabe integriert werden konnte103.

    Diese Studentenskripte wurden dann punktuell noch durch andere Quellen (autographeNotizen und weitere Studentenskripte) ergnzt oder korrigiert; die wichtigsten von ihnensind die folgenden:

    die notes personnelles bzw. indites (in der kritischen Ausgabe N Phonologie undN 124)104;

    Morphologie (1909/10; Albert Riedlinger); Phontique (1909/10; Albert Riedlinger); tymologie grecque et latine (1910/11; Louis Brtsch)105; die Stenogramme Charles Ballys von drei Vortrgen aus dem Jahr 1897 zur Silben-

    theorie106; die Protokolle eines Gesprches mit Albert Riedlinger (1909) und von vier Unterhal-

    tungen mit Lopold Gautier (1910/11)107.

    100 Diese Darstellung ist von Robert Godel in kohrenter Form aufgrund der Studentenskripte publiziertworden (cf. GODEL 1957a).

    101 Cf. hierzu GODEL 1969:15ss., ENGLER 1959:122, ENGLER 1968:XIs.102 Nach DE MAURO 1972:8 N6 htten die Herausgeber das Skript von Bouchardy nicht benutzt. Eine

    Besttigung dieser Aussage haben wir nicht gefunden.103 Cf. hierzu GODEL 1969:130, DE MAURO 1972:8; cf. auch REGARD 1919 (Introduction).104 Cf. GODEL 1954:49-61, GODEL 1960:5-11, GODEL 1969:12-15, 36-53, ENGLER 1968:XII, FEHR 1997:37,

    JGER 2010:169.105 Cf. GODEL 1969:17, ENGLER 1968:XI, DE MAURO 1972:8 und N7.106 Cf. GODEL 1969:95.107 Cf. GODEL 1969:17, 29s.

    1. Einleitung 29