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1 Philosophie der Religion Einführung Die Philosophie der Religion untersucht die Entstehung, die Aufgaben, die Funktionen und die Begründung von Religionen. Hierbei stützt sie sich auf die Ergebnisse der Religionswissenschaft, die sich die Untersuchung einzelner Religionen zum Ziel gesetzt hat. Die Philosophie der Religion versucht darüber hinaus Ergebnisse zu verallgemeinern und auf einer höheren Abstraktionsebene zu grundsätzlichen Einsichten zu gelangen. Hierzu gehören z.B. Die Begriffsbestimmung Eine Klassifikation Eine Erklärung und eine Rechtfertigung für die Existenz von Religionen Das Verständnis für die zeitliche Entwicklung von Religion in Abhängigkeit des gesellschaftlichen und kulturellen Umfelds Der Wahrheitsanspruch einzelner Religionen im Angesicht sich widersprechender Aussagen 1 Die Religion als Weltanschauung Religion ist eine Weltanschauung mit ganz bestimmten Vorstellungen und Eigenschaften. Wie alle Weltanschauungen enthält Religion eine umfassende Einstellung zur Welt als Ganzer. Religion lässt sich in allen Kulturen, zu allen Zeiten und an allen Orten finden. Sie zeigt eine beeindruckende Vielfalt an Inhalten und Formen. Eine Religion umfasst: Ontologie Die Ontologie beschreibt, woraus die Gesamtwirklichkeit besteht und welche Kräfte ihre Entwicklung bestimmen. Im Vergleich zu säkularen Weltanschauungen wie z.B. dem Kommunismus oder dem Naturalismus gehen wohl nahezu alle Religionen davon aus, dass es neben, in oder hinter der beobachtbaren, realen Welt eine andere Welt gibt. Erkenntnistheorie Die Erkenntnistheorie gibt an, auf welche Weise Wissen über die Welt und insbesondere über die Stellung des Menschen in der Welt gewonnen werden kann. Um dieses Wissen zu gewinnen hält die Religion die rationale

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Philosophie der Religion Einführung

Die Philosophie der Religion untersucht die Entstehung, die Aufgaben, die Funktionen und die Begründung von Religionen. Hierbei stützt sie sich auf die Ergebnisse der Religionswissenschaft, die sich die Untersuchung einzelner Religionen zum Ziel gesetzt hat. Die Philosophie der Religion versucht darüber hinaus Ergebnisse zu verallgemeinern und auf einer höheren Abstraktionsebene zu grundsätzlichen Einsichten zu gelangen. Hierzu gehören z.B. • Die Begriffsbestimmung • Eine Klassifikation • Eine Erklärung und eine Rechtfertigung für die Existenz von Religionen • Das Verständnis für die zeitliche Entwicklung von Religion in

Abhängigkeit des gesellschaftlichen und kulturellen Umfelds • Der Wahrheitsanspruch einzelner Religionen im Angesicht sich

widersprechender Aussagen

1 Die Religion als Weltanschauung Religion ist eine Weltanschauung mit ganz bestimmten Vorstellungen und Eigenschaften. Wie alle Weltanschauungen enthält Religion eine umfassende Einstellung zur Welt als Ganzer. Religion lässt sich in allen Kulturen, zu allen Zeiten und an allen Orten finden. Sie zeigt eine beeindruckende Vielfalt an Inhalten und Formen. Eine Religion umfasst: • Ontologie

Die Ontologie beschreibt, woraus die Gesamtwirklichkeit besteht und welche Kräfte ihre Entwicklung bestimmen. Im Vergleich zu säkularen Weltanschauungen wie z.B. dem Kommunismus oder dem Naturalismus gehen wohl nahezu alle Religionen davon aus, dass es neben, in oder hinter der beobachtbaren, realen Welt eine andere Welt gibt.

• Erkenntnistheorie Die Erkenntnistheorie gibt an, auf welche Weise Wissen über die Welt und insbesondere über die Stellung des Menschen in der Welt gewonnen werden kann. Um dieses Wissen zu gewinnen hält die Religion die rationale

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Vorgehensweise in der Regel entweder für unangemessen oder zumindest nicht ausreichend. Der Zugang zur Transzendenz basiert auf Offenbarung oder wird durch einen eigenen Typ religiöser Erfahrung vermittelt.

• Anthropologie Die Anthropologie sagt etwas aus über die Herkunft, das Wesen und die Bestimmung des Menschen. Das menschliche Leben hat ein Ziel und einen Sinn. Hiermit wird eine verbindliche Ethik verknüpft. In den höher entwickelten Religionen kommt die Vorstellung hinzu, dass der Mensch erlösungsbedürftig ist.

• Ritus Der Ritus umfasst die sozialen Formen, die die Anhänger einer Religion entwickelt haben, um in der Gemeinschaft ihre Überzeugung zum Ausdruck zu bringen. Hierzu gehören z.B. Gottesdienste, Wallfahrten, Segnungen oder Opfer aber auch Feste und Feiern im Lebensablauf wie z.B. Taufen, Initiationen, Hochzeiten, Bestattungen usw.

• Soziale Organisationen und Institutionen Religionen haben in der Regel eine feste soziale Struktur. Sie kennen Organisationen und Institutionen mit Regeln und Ordnungen, die unterschiedlich ausgeprägt hierarchisch aufgebaut sind. Hierzu gehören z.B. Kirchen, Mönchsorden, Priesterkasten aber auch Gottesdienstordnungen usw.

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2 Die Funktionen der Religion

Religionen erfüllen im persönlichen und im sozialen Bereich bestimmte Funktionen und Aufgaben. Der Erfolg, die Akzeptanz und die Verbreitung einer Religion hängt weniger von ihrem Wahrheitsgehalt ab als vielmehr von dem Grad, in dem eine Religion die in einer bestimmten Situation erforderlichen Anforderungen und Bedürfnisse zu befriedigen vermag. Hierzu gehören unter anderem: • Welterklärung Der Mensch wird zunächst in eine Umwelt hineingeboren, die ihm fremd, unbekannt und unheimlich ist. Die Religion vermittelt Wissen und erklärt Zusammenhänge. Jede Religion enthält z.B. Mythen über die Entstehung der Welt, über die Erschaffung des Menschen, über die Entstehung des Bösen oder über das Zustandekommen von Naturereignissen. • Sinnvermittlung Religionen bieten eine Anthropologie, die dem Menschen einen Platz in der Ordnung der Dinge zuweist und ihm damit den Sinn seines Daseins zeigt. Der Mensch kennt seine Bestimmung durch die Einsicht in sein Verhältnis zu sich selbst, zu den anderen Menschen, zur Welt und insbesondere zur Transzendenz. Dadurch gewinnt er Sicherheit, Hoffnung und Zuversicht. Die Religionen haben eine Antwort auf die in jedem Menschen kreatürlich angelegte Existenzangst und die Angst vor dem Tod. • Normenbegründung Religionen machen verbindliche Verhaltensvorschriften und setzen Normen und Gebote fest. Fast alle Religionen verlangen z.B. Nächstenliebe und Mitleid oder Regeln für sozialkonformes Verhalten wie z.B. das Tötungsverbot oder die Unverletzlichkeit der ehelichen Gemeinschaft. Die religiös fundierte Ethik besitzt eine feste Letztbegründung. Auf diese Weise wird ein hilfloser Relativismus vermieden und Sicherheit und Klarheit im Verhalten und im Selbstverständnis gewonnen. • Hilfe in Notlagen Der Mensch empfindet die Umwelt oftmals als feindlich und bedrohlich. Er fühlt sich den Anforderungen, die im Alltagsleben zu bewältigen sind, nicht gewachsen und sucht Hilfe von außerhalb. Er bittet um Heilung einer Krankheit, um Regen, um den glücklichen Ausgang einer Unternehmung, um den Erhalt einer persönlichen Beziehung oder um den Sieg in einer kriegerischen Auseinandersetzung. Die Religionen haben diesem Bedürfnis nach Hilfe immer wieder entsprochen, indem sie insbesondere in den

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volksnahen Ausprägungen Schutzheilige, Fürbittegebete oder entsprechende Rituale zugelassen haben. • Soziales Gemeinschaftsgefühl Der Mensch ist nicht nur Individuum sondern auch Gemeinschaftswesen. Er benötigt die Zugehörigkeit zu einer Gruppe. Diese Zugehörigkeit und das damit verbundene Gemeinschaftsgefühl sind umso ausgeprägter und geben umso festeren Halt, je weiter und je tiefer die weltanschauliche Übereinstimmung reicht. Religiös orientierte Gemeinschaften vermitteln ihren Angehörigkeiten in der Regel ein umfassendes Zugehörigkeitsgefühl, das die Angst vor der Isolation und dem Alleinsein nicht aufkommen lässt, Hilfe von Mensch zu Mensch in Notlagen zusichert und eine Identitätskrise vermeidet.

• Gestaltung des Lebensraumes Eine Religion bietet in der Regel auch eine als sinnvoll erlebte Struktur und Ordnung des alltäglichen Lebens. Hierzu gehören unter anderem religiöse und familiäre Feste wie z.B. Taufe, Hochzeit oder Beerdigung. Nahezu jede Religion hat sich der wichtigen und entscheidenden Ereignisse des persönlichen Lebens in einer Weise angenommen, die nicht nur den kognitiven Bereich umfasst sondern den ganzen Menschen mit seinem Einstellungen und Empfindungen ernst nimmt. Hierzu ersinnt eine Religion Mythen, Legenden und Geschichten, in denen sich vorbildgebend oder ermahnend allgemeine, immer wiederkehrende Lebenssituationen finden, an denen sich die Gläubigen orientieren können. Auf diese Weise entstehen Sicherheit und Vergewisserung, die dem Einzelnen inneren Halt geben und eine eigene Identität ermöglichen.

• Rechtfertigung von Macht-, Ordnungs- und Herrschaftsverhältnissen Religion hat im Lauf der Geschichte immer wieder dazu gedient, Macht-, Ordnungs- und Herrschaftsverhältnisse zu legitimieren. So haben sich z.B. die Pharaonen in Ägypten oder die Kaiser in Rom selbst göttlichen Status zuerkannt. In Europa empfanden die Kaiser lange Zeit ihre Macht als von Gott übertragen. Das Gottesgnadentum gab dieser Vorstellung Ausdruck. In ähnlicher Weise begründen z.B. auch die oberen Kasten im Hinduismus ihre überlegene Stellung mit religiösen Überzeugungen.

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3 Die Möglichkeiten der Klassifikation Die Vergleichende Religionswissenschaft hat eine phantastische Vielfalt an Religionen mit sehr unterschiedlichen Ausprägungen zur Kenntnis gebracht und damit unser Wissen in bisher nie da gewesener Weise erweitert und bereichert. Wir besitzen Kenntnis über eine nahezu unüberschaubare Vielfalt an unterschiedlichen religiösen Erscheinungsformen. Um diese Vielzahl zu ordnen und um sie verstehbar zu machen, muss ein Begriffsraster entworfen werden, in das sich die Religionen einordnen lassen. Es wäre die Aufgabe der Philosophie der Religion ein derartiges Ordnungsschema zu entwickeln, das Erklärungsfähigkeit besitzt.

Möglich wäre eine Einteilung nach den Vorstellungen, die eine Religion vom Transzendenten oder Göttlichen entwickelt hat. Hier sind drei Kategorien denkbar: • Das Göttliche lebt in der Welt Das Göttliche oder die Götter leben in dieser Welt und teilen sich diese Welt mit den Menschen. Die Götter begegnen den Menschen auf persönlicher Ebene und haben Umgang mit ihnen. Unter Umständen wetteifern und konkurrieren sie sogar miteinander. Oftmals nehmen die Götter sogar Liebesbeziehungen zu Menschen auf. Auf jeden Fall sind die Götter nicht transzendent. Sie verschwinden nicht hinter der Welt sondern bewegen sich in ihr. Die griechischen Götter um Zeus oder die germanischen Götter um Wotan könnten in diese Kategorie gehören. • Das Göttliche existiert neben der Welt Zwischen Gott und der Welt mit ihren Menschen gibt es eine unüberbrückbare Kluft. Es gibt ein „Jenseits dieser Welt“, das als die göttliche Sphäre gesehen wird. Gott hat die Welt geschaffen und steht daher außer oder neben ihr. Beispiele sind die drei Hochreligionen Judentum, Christentum und Islam. • Das Göttliche ist eins mit der Welt. Gott und die Welt sind nicht unterschieden. Alle Formen eines derartigen Pantheismus weisen der Welt selbst göttliche Eigenschaften zu. Die Welt ist bildlich gesprochen wie der Körper Gottes, durch den Gott existiert und sich manifestiert. Beispiele sind der Pantheismus Spinozas oder das System des Advaita-Vedanta des hinduistischen Denkers Shankara (788-820). Für Shankara ist das allgemeine, ungeteilte Sein oder Brahman die einzige wahre Wirklichkeit und die Einzelseele oder Atman ist mit ihr eins und identisch. Der Pantheismus hat sich wegen seiner hohen geistigen Anforderungen und wegen seiner Lebensferne nirgends als Volksreligion durchsetzen können. Er ist wenig geeignet, die Funktionen zu erfüllen, die man mit einer Religion verbindet.

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4 Die Dynamik der Religion

Eine Religion ist nichts Statisches. Sie entwickelt und verändert sich im Laufe der Zeit wie alle anderen menschlichen, kulturellen Äußerungen. Sowohl der religiöse Inhalt mit Metaphysik, Erkenntnistheorie, Anthropologie, Ritus und sozialer Ordnung wie auch die Funktionen, die eine Religion erfüllt, zeigen eine ausgeprägte Dynamik. Einflüsse, die für diese Dynamik verantwortlich sind, kommen aus der Philosophie und den Naturwissenschaften, aber auch aus der vorherrschenden gesellschaftlichen Situation, den sozialpsychologischen Gegebenheiten oder den individual-persönlichen Bedürfnissen. So ist es z.B. ganz offensichtlich, welchen tiefgreifenden Einfluss die Erkenntnisse der Naturwissenschaften im 20. Jahrhundert auf die Religion gehabt haben. Evolutionstheorie oder Astronomie haben dazu geführt, dass die christliche Religion ihre Glaubensinhalte modifizieren und anpassen musste. In gleicher Weise hat die Religion auch immer wieder die Einsichten der Philosophie berücksichtigt. So haben z.B. die Existenzialphilosophie oder die moderne Erkenntnistheorie weitreichende Veränderungen mitverursacht. Zugleich wirken jedoch auch die sozialpsychologischen und individualpsychologischen Anforderungen auf die Entwicklung einer Religion ein. So ist z.B. das Entstehen von Sekten oder die Wirkmächtigkeit des Fundamentalismus innerhalb der Religionen nicht zu verstehen, wenn man übersieht, welchen Einfluss die Religion bei der Ausbildung einer nationalen und kulturellen Identität hat. Es ist kurzsichtig, eine Religion als statisch anzusehen und sie in ein festes, unveränderliches Konzept pressen zu wollen. Daran würde sie ersticken. Die Schwierigkeit besteht vielmehr in der Frage, in wie weit sich eine Religion anpassen muss oder kann ohne ihre Substanz zu verlieren und hohl und aussagelos zu werden oder in wie weit es einer Religion ihrerseits gelingt, den Zeitgeist und damit die Weltanschauung und die gesellschaftliche Ordnung zu beeinflussen und zu prägen. Die Abhängigkeiten, die die Dynamik und die Weiterentwicklung einer Religion bestimmen, sind wechselseitig und bilden ein enges Kausalgeflecht, in dem alles mit allem in irgendeiner Weise verbunden ist und alles auf alles zurückwirkt. Es ist zugegebener Maßen schwierig wenn nicht unmöglich, dieses Kausalgeflecht rational zu durchdringen und aufzulösen. Nur eine ganzheitliche Methodologie, die keinen Aspekt außer Acht lässt, wird hier eine sachliche und rationale Betrachtungs- und Erklärungsweise entwickeln können. Hierzu muss man eine Religion als in einen größeren Zusammenhang eingebetteten Organismus sehen.

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Man könnte es z.B. als lohnende Aufgabe empfinden, die Entwicklung des frühen Christentums mit der historisch-kritischen Methode zu analysieren, um die verschiedenen Einflussgrößen und ihre wechselseitigen Verflechtungen zu bestimmen. Was war die gesellschaftliche und weltanschauliche Situation in der Spätantike, die dazu geführt hat, dass sich das Christentum schließlich nach hartnäckigen Auseinandersetzungen gegen den Mithras- und den Isiskult, gegen die Gnosis oder gegen philosophisch orientierte Weltanschauungen wie den Stoizismus durchsetzen konnte? Welche gesellschaftlichen Schichten waren für die christliche Botschaft vorrangig empfänglich? Woher kommt ein Weltgefühl, das Jenseits-orientiert vorrangig Erlösung aus dieser Welt sucht und warum konnte der christliche Glauben diesem Bedürfnis besser entsprechen als andere Religionen? Wie hat sich der christliche Glaube angepasst und wie hat er Überzeugungen anderer Weltanschauungen aufgenommen, um im Wettbewerb der Religionen überzeugend zu sein? Welche Bedeutung kommt dem Sachverhalt zu, dass das Christentum plötzlich unter Konstantin zur Staatsreligion wird und damit ausgehend von einer verfolgten Kirche mit Märtyrern plötzlich die Funktion der Machtlegitimierung übernehmen muss? Wie hat aber auch in umgekehrter Weise die christliche Religion in einem Rückkopplungsprozess Einfluss auf die geistige Einstellung der Zeit, auf die Sozialstruktur und die Machtverhältnisse genommen? Eine Methodologie, mit der man sachlich und objektiv die Entwicklung des Christentums untersuchen kann, sollte auch Antworten auf die Frage geben können, welche äußeren Umständen allen anderen Religionen ihre Kraft verliehen haben bzw. noch verleihen und welcher geistige Nährboden zur Entfaltung erforderlich war. So kann man sich z.B. dafür interessieren, welche kulturellen, sozialpsychologischen, wirtschaftlichen oder politischen Faktoren dazu beigetragen haben, dass der Buddhismus in der späten Tang Zeit ab 750 n.Chr. in China einen unerwarteten und erstaunlichen Zulauf erfahren hat. Das ist insofern erklärungsbedürftig, als die althergebrachten und tief verwurzelten chinesischen Überzeugungen, wie z.B. der Familiensinn, der Ahnenkult, die Aufforderung zur fruchtbaren Fortpflanzung der Familie und die gesellschaftlichen Forderungen des Konfuzianismus in deutlichem Gegensatz zu den Vorstellungen des Buddhismus stehen, der eine Loslösung des Menschen von Familie und Welt in einem kontemplativen, untätigen Mönches- und Eremitendasein verlangt. Es müssen tiefgreifende, schwerwiegende Erschütterungen gewesen sein, die das bestehende Gefüge des chinesischen Lebens in Wanken gebracht haben und unter deren Druck viele Menschen nach einer neuen, sinngebenden Weltanschauung gesucht haben, die Halt und Sicherheit zu geben versprach.

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Einzelne Antworten zu diesen Fragen liegen zweifelsohne vor. Was jedoch zu fehlen scheint, ist eine ganzheitliche Betrachtungsweise, die den gesamten Zusammenhang ins Blickfeld rückt und das gesamte Wirkungs- und Abhängigkeitsgeflecht aufzulösen versucht. Diese Aufgabe ist sicherlich nur mit einem interfakultativen Ansatz zu lösen, der die Fachgrenzen überwindet und die Einzelergebnisse zu einem Gesamtbild zusammenzufügen in der Lage ist. Übergeordnete Aufgaben dieser Art scheinen die wirklich interessanten und erregenden zu sein, viel interessanter und erregender als Detaileinsichten auf einer unteren Abstraktionsebene. Es sei allerdings angemerkt, dass man diese Detaileinsichten nicht gering achten sollte, liefern sie doch das empirische Ausgangsmaterial für Hypothesen und Modelle auf einer höheren Abstraktionsebene, ohne die diese Hypothesen und Modelle nackte Spekulation und blinde Phantasiegebilde bleiben müssten. Es ist die Aufgabe der Philosophie der Religion Modelle auf hohem Abstraktionsniveau unter Beachtung der empirischen Sachverhalte zu erarbeiten ohne sich ins Detail abdrängen zu lassen. Bei diesen Überlegungen werden auch Erkenntnisse aus der Struktur und der Dynamik anderer Religionen mit eingehen müssen. Das folgt aus der Tatsache, dass alle Religionen trotz individueller Verschiedenheit auch sehr viele gemeinsame Merkmale haben, die sie vergleichbar machen. Hier berühren sich die Philosophie der Religion und die Vergleichende Religionswissenschaft. Die bisherigen Überlegungen machen deutlich, dass auch die Religionen der Gegenwart nichts Statisches sind sondern das Potenzial der Weiterentwicklung in sich tragen. Sie können sich einmal in autoritär fundamentalistische Richtungen bewegen oder zum Anderen auch tolerante und humanistische Formen annehmen. Welchen Weg sie einschlagen, hängt nicht nur von innerreligiösen Faktoren ab.

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5 Die Religion als Projektion Die Religionen der Welt sind vielfältig und zeigen sehr unterschiedliche Ausprägungen. Insbesondere fällt auf, dass sich die Religionen in ihren weltanschaulichen Aussagen nicht entsprechen und zu widersprüchlichen Ergebnissen kommen, die nicht miteinander vereinbar sind. Siehe hierzu [ 2 ]. Das führt zu der Frage, wie es dazu kommen konnte. Falls den Religionen etwas Reales, Erfahr- oder Erkennbares zugrunde liegen würde, könnte man erwarten, dass die Aussagen der Religionen sehr viel näher beieinander liegen. 5.1 Der Mensch schuf sich Gott zum Bilde Man kann den Versuch unternehmen, etwas tatsächlich allen Religionen Gemeinsames aufzudecken. Die Vorstellungen des Numinosen gemäß Otto (1869 1937) als mysterium tremendum et fascinans oder die Vorstellung des Urgrundes alles Seins gemäß Tillich (1886-1965) als Beispiele für diese Bemühungen sind allerdings allzu unverbindlich und inhaltslos, als dass sich darauf Religion gründen ließe. (Siehe hierzu [ 10 ] und [ 11 ]). Ludwig Feuerbach (1804 1872) formuliert das erste Mal mit aller Deutlichkeit, dass die dogmatischen Aussagen der Religion sich nicht auf einen realen Sachverhalt beziehen sondern Projektionen menschlicher Wünsche und Ideale darstellen. Der berühmte und provozierende Satz „Der Mensch schuf sich Gott zum Bilde“ bringt das sehr prägnant zum Ausdruck. Religion enthält demnach keine Sachverhaltsbeschreibung von etwas, das ist. Religion ist vielmehr Kulturleistung in dem Sinne, dass sie für die in Kapitel 2 genannten Funktionen dogmatische Aussagen, ethische Forderungen und gesellschaftliche Organisationsformen entwickelt, die diesen Funktionen entsprechen. Die grundsätzliche Verschiedenheit der Religionen fände damit eine einfache Erklärung. Verschiedene Kulturen haben ausgehend von ihrem jeweiligen Entwicklungsstand auf unterschiedliche Anforderungen mit unterschiedlichen Ausprägungen reagiert. Bei der Ausgestaltung ihrer Anliegen haben sie dabei ganz selbstverständlich auf die Vorstellungen und Bilder zurückgegriffen, die ihnen zur Verfügung standen und die ihrem Selbstverständnis entsprachen. Sicherlich gilt die Einsicht von Peter de Vries, die er in seinem Buch Slouching towards Kalamazoo erwähnt: „Das, woran die Menschen glauben, zeigt uns, wie viel sie zu ertragen haben.“

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So ist es leicht erklärlich, dass sich z.B. der Götterhimmel der eher kriegerisch orientierten Kelten und Germanen von den religiösen Vorstellungen eines vom Elend und Unglück dieser Welt überwältigten Buddhisten unterscheidet. Man kann sogar versucht sein, von der Religion auf die gemeinsamen Eigenschaften der Gläubigen, auf die psychologische Situation und auf die Sozialstruktur einer Gesellschaft zurückzuschließen. Die Lebenskraft und die Überzeugungsfähigkeit einer Religion hängt daher davon ab, in wie weit sie die Anforderungen, die an sie gestellt werden, tatsächlich zu erfüllen imstande ist. Hierbei ist zu beachten, dass eine Religion nicht im luftleeren Raum operiert. Sie steht nicht allein, sondern ist in eine geschichtliche Situation eingebunden und muss mit ihren Aussagen z.B. auf die bestehenden gesellschaftlichen Strukturen, auf den Stand der Philosophie und die Erkenntnisse der Naturwissenschaft Rücksicht nehmen. 5. 2 Autoritäre und humanistische Religionen Unterschiedliche Religionen haben ihrem Gott bzw. ihren Göttern jeweils unterschiedliche Eigenschaften zugeordnet. Es ist müßig darüber zu streiten, welche Vorstellung die richtigere ist und eher der Realität entspricht. Vielmehr muss herausgearbeitet werden, welcher Lebenssinn und welche Weltdeutung von einer Religion gegeben werden, die sich dann in einem Gottessymbol äußern. Mit Fromm kann man autoritäre und humanistische Religionen unterscheiden [ 13 ] . Eine humanistische Religion wird die im Menschen angelegten Entwicklungsmöglichkeiten fördern, zu einem angemessenen Selbstbewusstsein und einer positiv verstandenen Identität führen, das Verantwortungsbewusstsein und die Mitmenschlichkeit in den Vordergrund stellen sowie für die Wahrheit und die Aufrichtigkeit eintreten. Eine autoritäre Religion wird im Gegensatz dazu den Menschen in Abhängigkeit und Unmündigkeit belassen, ihn auf seine Niedrigkeit und Verderbtheit aufmerksam machen, die Lebensfreude einschränken und die Schönheit der Erde bezweifeln. Die Erde wird als ein Jammertal bezeichnet, das von elenden und erlösungsbedürftigen Wesen bewohnt wird und das man so schnell wie möglich um eines besseren Jenseits willen verlassen soll.

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Ist die reale Welt feindlich, zerstörerisch und gefährlich und kann sie nur durch Rituale, vielleicht sogar durch Menschenopfer, in Grenzen gehalten werden? Ist der Mensch von Grund aus verderbt und böse? Sind es autoritäre, inhumane, die Würde des Menschen beeinträchtigende Vorstellungen, die sich in einem strengen, strafenden Vatergott äußern, der seine Kinder nur mit der Zuchtrute unter Kontrolle halten kann? Ist es die Angst, die als dominierend empfunden wird? Oder liegen der Religion und damit dem Gottessymbol Vorstellungen von Mitverantwortung für den Nächsten zugrunde, die den Menschen mit seiner Würde und seinen Fähigkeiten ernst nehmen, aber auch gleichzeitig seine Gefährdung kennen? Ist die Welt sinnreich geordnet und bewunderungswürdig? Ist sie es wert, gepflegt und bewahrt zu werden? Lebt die religiöse Überzeugung aus einem Grund- und Urvertrauen heraus? Sind Freude und Dankbarkeit die vorherrschende Empfindung? Nun ist eine Religion niemals ein statischer Block. Fromm weist darauf hin, dass sich in vielen Religionen beide Formen finden, sowohl die autoritäre als auch die humanistische. Sie können parallel laufen oder in Konkurrenz zueinander treten. So sagt z.B. Jesaja im Alten Testament (Jes 1, 4-5) Wehe dem sündigen Volk, dem Volk mit Schuld beladen, dem boshaften Geschlecht, den verderbten Kindern, die den Herrn verlassen, den Heiligen Israels lästern, die abgefallen sind. Wohin soll man euch noch schlagen, die ihr doch weiter im Abfall verharrt? Gott ist der strenge Vater, der droht und straft. Ein weiteres Beispiel für eine antihumanistische Einstellung findet man in der Theologie Calvins (zitiert nach [13]): Denn ich nenne es nicht Demut, wenn wir meinen, uns bliebe noch etwas übrig… Wir können aber nicht die rechte Meinung von uns haben, ohne das alles zerschmettert wird, was uns rühmenswert erscheint…Die hier geforderte Demut ist die ungeheuchelte Demut unseres Herzens, das vor dem ernsten Empfinden seines Elends und seiner Armut erschrocken ist. Denn so ist sie einheitlich in Gottes Wort beschrieben. Der Mensch ist aus eigener Kraft ein Nichts. Alles Bemühen zu Selbstwertgefühl und Selbstachtung zu kommen, ist Anmaßung, Hybris und damit Sünde.

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Ein ganz anderer Geist spricht aus dem berühmten Psalm 23 (Ps 23 1-3) Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet meine Seele zum frischen Wasser. Er erquicket meine Seele. Er führet mich auch rechter Straße Um eines Namen willen. Hier steht nicht die Strafe sondern die Fürsorge im Vordergrund. Es geht darum, den Menschen zu fördern, zu seinem Wohlergehen beizutragen und ihn zu dem werden zu lassen, was in ihm angelegt ist. Auch in Bezug auf das Selbstwertgefühl findet man eine Einstellung, die im Vergleich zu Calvin ganz anders geartet ist. Es gibt eine Stelle, in der Kung-Tse, in latinisierter Form Konfuzius, über die Sittlichkeit spricht (zitiert nach [14]): Dsi Schang fragte den Meister Kung nach dem Wesen der Sittlichkeit. Meister Kung sprach: „Würde, Weitherzigkeit, Wahrhaftigkeit, Eifer und Güte.“ Hier wird ein Ideal vorgestellt, das die Tugenden als erstrebenswert ansieht, denen ein humanistisches Menschenbild zugrunde liegt. Religionskritiker sollten sorgfältiger unterscheiden, ob sie gegen die Religion im Allgemeinen kämpfen oder ab sie nur deren autoritäre Fromm im Auge haben. Fromm schreibt dazu: Die Frage lautet nicht: „Ob Religion oder nicht?“ sondern „Welche Art von Religion?“ Fördert sie die Entwicklung des Menschen, die Entfaltung seiner spezifisch menschlichen Kräfte oder lähmt sie diese Kräfte? [ 13 ]

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6 Die Wahrheit religiöser Aussagen

In Abschnitt 2 wurden die Funktionen von Religion dargestellt. Alle diese Funktionen sind von vergleichbarer Bedeutung. Für viele Religionen steht jedoch die Welterklärung im Vordergrund. Die anderen Funktionen sind oftmals davon abhängig. Wie für jede Weltanschauung so besteht auch für eine Religion die Notwendigkeit, für die Aussagen, die sich auf die Welterklärung beziehen, anzugeben, wie sie ihren Wahrheitsanspruch begründen will. Das ist umso dringlicher, als in einer zusammenwachsenden Welt die unterschiedlichen Religionen sehr viel enger in Berührung kommen als in früheren Zeiten, sich die Gehalte und Aussagen viel einfacher vergleichen lassen und sich daher die Frage nach der Wahrheit deutlicher stellt. Für die Rechtfertigung religiöser Aussagen in Bezug auf die Welterklärung kommen im Wesentlichen drei Möglichkeiten in Betracht: • Offenbarung • Rationales Denken • Inneres religiöses Erleben 6.1 Offenbarung Offenbarungswissen ist ein Wissen, dass uns von außerhalb mitgeteilt wird. In diesen Bereich gehören z.B. göttliche Eingebungen oder Sachverhaltsbeschreibungen über die Menschen und die Welt, wie sie in heiligen Schriften übermittelt werden. Religiös orientierte Weltanschauungen stützen sich bevorzugt auf diesen Erkenntnisweg. Sehr häufig werden diese Offenbarungen weit in die Vergangenheit zurückverlegt. Die entsprechenden Glaubensinhalte werden dann durch die Tradition weitergegeben und erhalten durch ihr Alter vertiefte Glaubwürdigkeit. Für einen Außenstehenden ist Offenbarungswissen nicht vertrauenswürdig. Zum einen ist es nicht überprüfbar. Zum anderen widersprechen sich die Aussagen verschiedener Religionen ohne dass es eine Möglichkeit gäbe, den Wahrheitsgehalt der sich widersprechenden Aussagen objektiv zu bestimmen.

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6.2 Rationales Denken Immer wieder ist versucht worden, Glaubensinhalte rational zu rechtfertigen. Die Gottesbeweise in der abendländischen Philosophie sind ein Beispiel. Auch in der Gegenwart gibt es Bemühungen, die zeigen wollen, dass sich Glaubensinhalte rational rechtfertigen lassen. Angeblich stehen diese Aussagen nicht im Gegensatz zu den rational operierenden Wissenschaften, sondern werden von ihnen geradezu nahe gelegt. Beispiele unter vielen sind [5] oder [6]. Man kann der Überzeugung sein, dass sich Glaubensinhalte grundsätzlich und prinzipiell nicht rational rechtfertigen lassen. Rationales Denken vermag die Phänomene und Sachverhalte der realen Welt zu ordnen, zu klassifizieren, begrifflich zu fassen und mit Hilfe von Modellen zu erklären. Wichtig ist die Einsicht, dass dieses Vorgehen ausschließlich für innerweltliche Vorgänge gültig ist und nur hier erfolgreich angewandt werden kann. Es wird behauptet, dass Religion ihrer Natur nach jedoch transzendent sei und die Grenzen der unseren Sinnen zugänglichen Welt überschreitet. Eine Vorgehensweise, die sich in dieser Welt bewährt hat, muss nicht für einen jenseitigen Bereich gültig sein. 6.3 Inneres, religiöses Erleben In nahezu allen Religionen wird die Möglichkeit angedeutet, weder über die Vermittlung der Offenbarung und Tradition noch über rationale Überlegungen zu religiösen Einsichten zu kommen. Vielmehr wird beansprucht, dass es ein direktes unmittelbares und persönliches Erleben des Göttlichen oder Transzendenten gibt. Alle Mystiker aller Religionen geben hiervon Zeugnis. Der Rückzug in die Innerlichkeit ist immer dann zu beobachten, wenn die vorher beschriebenen beiden Erkenntnismöglichkeiten ihre Überzeugungskraft verloren haben. Ein Beispiel unter vielen ist Schleichermacher, der sich dem rationalen Zugriff der Aufklärung zu entziehen versucht, indem er sich auf die unmittelbare und nicht zu vermittelnde Gotteserfahrung beruft. In seiner Schrift Über die Religion, Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern [ 7 ] bestimmt Schleiermacher das Wesen der Religion als „Anschauung und Gefühl des Universums” und als „eine Art Unendliches im Endlichen”. Er bezeichnet die Religion als „Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit”, als Abhängigkeit des endlichen Selbst vom Unendlichen, das heißt, von Gott. Ein Charakteristikum aller mystischen Gottes- oder Jenseitserfahrung scheint zu sein, dass sich diese Erfahrungen sprachlich und begrifflich nicht fassen lassen und daher auch nicht direkt mitteilbar sind. Zur Mitteilung eignen sich höchstens Symbole, Metaphern oder Gleichnisse.

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Eine sehr gute Zusammenstellung von Beispielen für inneres, religiöses Erleben findet man in [ 2 ] im Kapitel 4 „What Sorts of Religious Experiences are there?“ . Auch im Falle des inneren religiösen Erlebens muss gefragt werden dürfen, wie zuverlässig dieses Erleben wirklich ist, in wie weit es sich verallgemeinern lässt und in wie weit es die Grundlage für eine Religion sein kann. Es erscheint in der Tat höchst zweifelhaft, oftmals auch gefährlich, sich auf eigene, nicht objektivierbare, interne Erfahrungen zu verlassen. Diese inneren Erfahrungen werden häufig dadurch gewonnen, dass sich die Betreffenden in einen äußergewöhnlichen Bewusstseinszustand versetzen, der rauschhafte, tranceähnliche Eigenschaften zeigt. Nahezu alle Religionen, die diese Möglichkeit der inneren, religiösen Erfahrung kennen, weisen Wege, wie dieser Zustand zu erreichen ist. Hierzu gehören z.B. Schlafentzug, rhythmische Musik und wildes Tanzen oder die Einnahme von halluzinogenen Substanzen. Die Psychopathologie hat gezeigt, dass sich durch widernatürliches Verhalten in der Tat anormale Bewusstseinszustände erzeugen lassen, die die Fähigkeit zu rationalem Denken ausschalten. In hohem Maße zweifelhaft bleibt, ob die Erlebnisse, die man in einem derartigen ekstatischen Zustand erfährt, wirklich eine Bewusstseinserweiterung bedeuten und dadurch der Zugang zu anderweitig nicht erreichbaren Einsichten vermittelt werden kann oder ob es sich nur um Wahnvorstellungen handelt.

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7 Verstehen und Erkennen Man kann fragen, in wie weit eine rationale Betrachtungsweise von Religion dem Erkenntnisgegenstand wirklich angemessen ist. Kann man wirklich über Religion in derselben Weise nachdenken und sprechen wie über Physik, Geologie, Biologie, Medizin oder Psychologie? Geht nicht dabei gerade das Eigentümliche und Besondere, das Religion vor anderen Wissensgebieten auszeichnet, verloren? Trifft man wirklich das Wesentliche, wenn man sich auf die Untersuchung der Funktionen, die eine Religion in einer kulturellen Umgebung zu erfüllen hat, beschränkt und wenn man sie ausschließlich als Projektion menschlicher Vorstellungen betrachtet? Bei diesen Überlegungen ist es sinnvoll, die Innen- von der Außensicht zu unterscheiden. Die Außensicht betrachtet die Religion tatsächlich wie eine menschliche Kulturleistung. Zwischen der Betrachtung, Bewertung und Beurteilung von Religion und vergleichbaren kultur-historischen Phänomenen besteht kein grundsätzlicher Unterschied. Man verwendet die bewährte, rationale Methodologie. Die Vergleichende Religionswissenschaft tut das mit Erfolg. Die Innensicht enthält dagegen die Einstellungen und Erfahrungen der Betroffenen. Der Anhänger einer Religion, ganz gleich um welche Religion es sich auch handeln mag, beansprucht eine tiefere Einsicht, die aus einer unmittelbaren Betroffenheit und aus einem umfassenderen Verstehen erwächst. Ganz persönliche religiöse Erfahrungen lassen sich angeblich nicht verallgemeinern, sie sind begrifflich nicht zu fassen und haben eine ganz eigene innere Dimension und Tiefe. Der rationalen Betrachtungsweise bleibt diese Dimension verschlossen. Sie vermag diese Tiefe nicht auszuloten und bleibt auf der Oberfläche hängen. Man kann das rationale Vorgehen, das der Außensicht verhaftet bleibt, mit dem Wort Erkennen beschreiben. Das ganz anders geartete Herangehen, das von der Innensicht ausgeht, heißt Verstehen. (Siehe hierzu [ 3 ] und [ 4 ] ) Man muss religiöse Erfahrungen selbst gemacht haben, um darüber reden zu können. Ein nicht-religiöser Mensch kann schwer verstehen, was Gotteserfahrung bedeuten kann. Für das Verstehen als Zugangsweg zu religiösen Einsichten werden unter Anderem die folgenden Vergleiche angeführt:

• Es ist nicht möglich, mit einem Farbenblinden über die Farbe rot zu diskutieren.

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• Jemand, der kein musikalisches Empfinden besitzt, wird nicht nachempfinden können was ein Musikstück wie beispielsweise Bachs Mathäus Passion vermitteln will.

• Ein gefühlskalter, empfindungsloser Mensch kann nicht beurteilen, was es bedeutet verliebt oder zornig zu sein.

• Ein Egoist wird empfindungslos gegenüber der Freude und inneren Zufriedenheit sein, die man empfindet, wenn man einem Mitmenschen selbstlos hat helfen können.

Diese Argumente deuten darauf hin, dass es nicht möglich ist, sich dem wahren Wesen von Religion nur über die Außensicht zu nähern. Nur der wirklich Gläubige weiß angeblich, was Religion ist und was Religion für den Einzelnen bedeuten kann. Aus diesem Grund ist eine rationale Betrachtungsweise von Religion, die notweniger Weise der Außensicht verhaftet bleiben muss, zum Scheitern verurteilt. Es muss daher untersucht werden, in wie weit der Anspruch wirklich gerechtfertigt ist, dass Verstehen mit Hilfe der Innensicht eine eigene Erkenntnisweise bedeutet, die andere und tiefere Einsichten vermittelt als Erkennen, das nur die Außensicht zur Kenntnis nehmen kann. Zunächst muss anerkannt werden, dass die Argumente, die für das Verstehen sprechen, durchaus zutreffend sind. Es ist jedoch zu prüfen, in wie weit sie tatsächlich eine rationale Betrachtung und Beurteilung von Religion unmöglich machen. Sicherlich sind Farbempfindungen, Gefühle und emotionale Erlebnisse zunächst nur subjektive, interne Wahrnehmungen. Niemand kann von außen nachvollziehen, was geschieht, wenn ein Mensch rot sieht, Freude empfindet oder sich durch Musik erhoben fühlt. Dennoch ist es möglich, auch über diese zunächst subjektiven, internen Zustände objektiv zu sprechen und rational darüber nachzudenken. Wir wissen in der Regel recht gut, was mit der Farbe rot gemeint ist, wie sich Gefühle wie Liebe oder Wut „anfühlen“ oder welche Empfindungen in uns wachgerufen werden, wenn wir Musik hören. So untersucht z.B. die Psychologie sehr sorgfältig, wie Gefühle entstehen, welche Wirkung sie haben und auf welche Weise sie unser Verhalten beeinflussen. Hier führt also sehr wohl sachliche, objektive und rationale Vorgehensweise zum Ziel. Die Psychologie entwickelt auf Grund von empirischen Beobachtungen Modelle und Theorien über Emotionen, die sich verifizieren lassen. Eine wichtige Voraussetzung für die rationale Betrachtungsweise von internen Zuständen ist der Sachverhalt, dass diese Zustände von einer größeren Zahl von Menschen geteilt werden. Diese Zustände müssen etwas sein, was allen

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Menschen mehr oder weniger gemeinsam ist. Nur wenn z.B. alle Menschen bei Bedrohung Angst empfinden, kann man über Angst reden, nur dann kann man das Wort „Angst“ sinnvoll verwenden und nur dann können andere nachvollziehen, was man meint, wenn man sagt, man habe Angst. So ist es unzweifelhaft richtig, dass ein Farbenblinder mit dem Begriff rot nichts anfangen kann. Er kann damit keine Vorstellung verbinden, weil dieser interne Zustand bei ihm nicht existent ist. Da jedoch die meisten Menschen nicht farbenblind sind und deswegen selbst wissen, welche Wahrnehmung sie intern feststellen, wenn sie einen roten Gegenstand sehen, kann man über die Farbe rot sachlich und rational reden. Religiöse Erlebnisse sollten daher durchaus sprachlich fassbar und rational erkennbar sein, unter der Voraussetzung, dass sie von der Mehrzahl der Menschen geteilt werden. Es ist nicht nachvollziehbar, warum sich ein religiöses, inneres Erlebnis von anderen internen Erlebnissen unterscheiden sollte. Hieraus ergibt sich, dass es möglich sein sollte, auch über religiöse Phänomene kompetent zu urteilen, auch wenn man die Überzeugungen einer Religion nicht teilt und man daher auf die Außensicht beschränkt bleibt.

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8 Glauben

Das Verhältnis zur Religion ist für den Gläubigen nie nur ein rationales Verhältnis, das sich auf objektiv feststellbare Welterkenntnis beschränkt. Religion umfasst immer eine vollständige Einstellung, die neben der Welterkenntnis auch Gefühle und Emotionen, Handlungsdispositionen, Werteordnungen und soziale Komponenten umfasst. (Zu Einstellungen siehe [ 4 ]). Wie in Abschnitt 2 gezeigt wurde, gehen die Funktionen immer über die ausschließliche Welterklärung hinaus. Von besonderer Bedeutung ist hierbei die Sinngebung. 8.1 Welterklärung und Sachaussagen So weit eine Religion Welterklärung bietet, werden Sachaussagen darüber gemacht, welche Tatsachen, Personen und Begebenheiten in dieser unserer Welt vorkommen oder vorgekommen sind. Fast alle Religionen beschreiben z.B. wie die Welt entstanden ist, warum es das Böse gibt, sowie auf welche Weise sich die Welt entwickelt und unter Umständen einem Endziel zustrebt. Jedes Glaubensbekenntnis einer Religion listet die Sachverhalte auf, die als wirklich und existierend angesehen werden. Nun ist es ganz offensichtlich so, dass die Religion die Funktion der Welterklärung an das rationale Denken und an die Wissenschaft verloren hat. Schritt für Schritt und immer wieder stellten sich die Erklärungsmodelle der verschiedenen Religionen als unrichtige Spekulation heraus. Bonhoeffer (1906-1945) hat das sehr scharf gesehen. Er stellt fest, dass rationale Welterkenntnis Gott immer weiter aus der Welt hinausdrängt, indem sie ihn als Erklärungsgrund überflüssig macht. Siehe hierzu [ 9 ]. Kritiker von Religion schließen aus dieser Tatsache, dass Religion insgesamt ausgedient hat, weil in einer aufgeklärten Gesellschaft die Funktion der Welterklärung an die Wissenschaft übergegangen ist. Diese Einstellung ist mit Sicherheit unrichtig, weil sie zu einseitig die Funktion der Religion auf die Welterklärung legt und übersieht, dass es eine Reihe sehr wichtiger, anderer Funktionen gibt, die der Religion bleiben und die vom rationalen Denken nicht übernommen werden können. 8.2 Sinngebung

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Nun ist der Mensch sicherlich nicht nur ein rationales Wesen. Sein Empfinden und auch seine Reaktionen der Außenwelt gegenüber werden nicht nur durch rationale Überlegungen beeinflusst. Der Mensch ist sich als einziges Lebewesen seiner selbst bewusst und weiß um die Endlichkeit seines Daseins auf der Erde. Das führt dazu, dass sich der Mensch immer auch über den Sinn seines Lebens Gedanken gemacht hat. Insbesondere hat ihn immer wieder die Frage beschäftigt, wie er in dieser Welt leben soll, um richtig zu leben und um dieses endliche Leben zu einem erfüllten Leben zu machen. Was muss man tun, damit man sagen kann, man habe nicht umsonst gelebt? Es handelt sich um eine ethische Einstellung zur Welt. Es ist eine grundsätzliche Einsicht, dass sich diese ethische Einstellung zur Welt nicht rational begründen lässt. Alle rationalen Begründungsversuche von Ethik müssen im Gegensatz zu Welterklärungsverfahren aus grundsätzlichen Überlegungen heraus scheitern. Die Welt ist gegeben. Der menschliche Verstand findet sie vor und kann versuchen, das Vorgegebene rational zu erklären. Der menschliche Verstand beschäftigt sich mit dem, was ist. Im Gegensatz dazu beziehen sich ethische Forderungen auf etwas, was sein soll. Das, was sein soll, kann aus dem, was ist, nicht gefolgert werden. Hieraus folgt, dass ethische Entscheidungen freie Entscheidungen sind, die unabhängig und losgelöst von jeglicher Welterklärung ihren Sinn und ihre Bedeutung haben. (Siehe hierzu [ 8 ]). So ist grundsätzlich eine Lebenseinstellung möglich, die durch Egoismus, Anspruchsdenken und individuelles Vergnügen geprägt wird. In gleicher Weise kann man jedoch auch ein Leben zu führen versuchen, in dem die Hinwendung zum anderen, die Fähigkeit um des Gemeinwohls willen auf persönliche Vorteile zu verzichten, die Rücksichtnahme und die Kooperationsbereitschaft Werte sind, die das Verhalten prägen und ein erfüllteres und reicheres Leben versprechen und damit zu einem tieferen Glück führen. Die Entscheidung, welcher Lebenseinstellung man folgen möchte, ist rational nicht begründbar. An dieser Stelle erhält die Religion ihren unanfechtbaren und unersetzlichen Platz. Sie vertritt ein ganz bestimmtes Ethos, dem sich alle ihre Angehörigen verpflichtet fühlen. Religion verzichtet damit auf Welterklärung, die sie im Vergleich zum rationalen Denken nicht leisten kann. Sie beschränkt sich auf die Ethik, wo sie unangefochten vom rationalen Denken das vermitteln kann, was ihre eigentliche Aufgabe ist. Glauben im religiösen Sinn heißt damit nicht Fürwahrhalten von Sachverhalten sondern vielmehr Einstehen für eine bestimmte Form der Lebensführung. Die christliche Religion steht für Nächstenliebe und Weltzugewandtheit.

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Weltzugewandtheit heißt, diese Welt als Werk Gottes anzuerkennen und sich für ihren Erhalt und ihre Pflege verantwortlich zu fühlen und sich dafür einzusetzen. Weltverneinung und Weltverachtung, wie sie sich in östlichen Religionen vorherrschen, sind in der christlichen Religion nur in Ausnahmefällen zu finden. Nächstenliebe bedeutet, dass man den Mitmenschen als Person anerkennt und sich seiner annimmt. In unvergleichlicher Weise wird diese Einstellung bei Mathäus in 25 Vers 34 – 40 beschrieben: „Da wird dann der König sagen zu denen zu seiner Rechten: Kommt her, ihr Gesegneten meines Vater, ererbet das Reich, das euch bereitet ist von Anbeginn der Welt! Denn ich bin hungrig gewesen und ihr habt mich gespeist. Ich bin durstig gewesen und ihr habt mich getränkt. Ich bin ein Gast gewesen und ihr habt mich beherbergt. Ich bin nackt gewesen und ihr habt mich bekleidet. Ich bin krank gewesen und ihr habt mich besucht. Ich bin gefangen gewesen und ihr seid zu mir gekommen. Da werden die Gerechten antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und haben dich gespeist? Oder durstig und dich getränkt? Wann haben wir dich als Gast gesehen und beherbergt? Oder nackt und haben dich gekleidet? Wann haben wir die krank oder gefangen gesehen und sind zu dir gekommen? Und der König wird antworten und zu ihnen sagen: Wahrlich ich sage euch: Was ihr getan habt einem unter diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan. Es gibt in allen Weltreligionen wenig Stellen, die so eindrucksvoll eine bestimmte Lebenseinstellung beschreiben. Man kann, wenn man will, dem Begriff des Reiches, das bereitet ist, eine durchaus weltliche Interpretation geben und das Reich mit einem erfüllten Leben im Diesseits gleichsetzen. Dem wird ein gelungenes und geglücktes Leben verheißen, der nicht nur sich und sein eigenes Wohlergehen im Auge hat sondern der sich auch brüderlich seiner Mitmenschen annimmt. Man sieht, dass in dieser Betrachtungsweise die Differenz zwischen einer Religion und einem säkularem Humanismus verschwimmt. 8.3 Das Gemeinschaftsgefühl Der Mensch ist von Natur aus ein geselliges Wesen. Das wird schon allein daraus ersichtlich, dass Alleinsein und Einsamkeit als höchst negativ empfunden

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werden. Alleinsein und Einsamkeit sind etwas, das jeder auf alle Fälle zu vermeiden sucht. Dazu kommt, dass die Zugehörigkeit zu einer Gruppe einen wesentlichen Anteil des Selbstverständnisses ausmacht und damit entscheidend zum persönlichen Selbstbewusstsein und zur individuellen Selbstsicherheit beiträgt. Die religiöse Gemeinschaft bietet dieses Zugehörigkeitsgefühl, das Bewusstsein, ein bedeutendes Teil des Ganzen zu sein und das Wissen, von den anderen nicht verlassen zu werden. Vereinsamung und soziale Isolation werden dadurch ausgeschlossen. Zahlreiche Riten und viele gemeinsame Veranstaltungen innerhalb einer religiös orientierten Gruppe zielen darauf ab, dieses Bedürfnis zu befriedigen. Eine religiöse Gruppe unterscheidet sich in der Regel von anderen Vereinigungen oder Verbänden durch die Weltanschauung, die alle Mitglieder gemeinsam haben und die oftmals mit einem hohen ethischen Anspruch verbunden ist. In nahezu allen entwickelten Religionen stehen die Nächstenliebe, das Mitleid, die Hilfsbereitschaft und die selbstlose Zuwendung zum Mitmenschen im Vordergrund. Damit heben sich die Mitglieder einer religiösen Gemeinschaft bewusst von Zweckverbänden ab, die entweder das unmittelbare Eigeninteresse oder die ausschließliche Selbstverwirklichung im Auge haben oder die sich auf einen oberflächlichen Hedonismus beschränken. Jesus sagt: „Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen.“ Damit soll nicht unbedingt gesagt werden, dass Jesus in persönlicher Weise oder in sonst einer Art direkt anwesend ist. Dieser Ausspruch kann vielmehr symbolisch zum Ausdruck bringen, dass bei einer solchen Begegnung ein Geist des Friedens, der Freude, der Mitmenschlichkeit, aber auch der Verantwortung und des Ernstes das Miteinander der Betroffenen prägt. 8.4 Gott Es ist äußerst schwierig, die Bedeutung des Begriffes „Gott“ zu bestimmen. Diese Aufgabe ist jedoch unabweisbar. Ein Glauben ohne eine an eindeutig definierten Begriffen orientierte Sprache verliert seine Aussagefähigkeit. Eine Religion, die sich ausschließlich auf innere, nicht sprachlich mitteilbare Erfahrungen verlässt, bleibt subjektiv und hat keine Möglichkeit, sich vor dunklem Aberglauben und phantastischen Vorstellungen zu schützen. Eine gewissenhafte Begriffsbestimmung ist daher unerlässlich, wenn man über Gott in irgend einer Weise sinnvoll reden will und wenn Gott nicht grundsätzlich jeglicher begrifflichen Bestimmung entzogen werden soll, so wie

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das z.B. mystisch spirituelle Ansätze oder die Überzeugungen einer mittelalterlichen oder modernen theologia negativa zu tun versuchen. Selbst die, die Gott für tot erklären, von einer Gottesfinsternis ausgehen oder raten so zu leben, wie wenn es Gott nicht gäbe, müssen sagen können, wer oder was denn tot sein soll, wer oder was sich in die Finsternis zurückgezogen hat und wer oder was uns aufruft so zu leben, als ob es das nicht gäbe. Wer oder was soll in der zwischenmenschlichen Kommunikation mit dem Wort „Gott“ bezeichnet werden? Gott ist z.B. Person mit Eigenschaften wie allmächtig, allwissend und allgerecht. Dieser Gott hat die Welt geschaffen, begleitet sie und führt sie einem Ende zu. Er ist seinen Menschenkindern wie ein Vater, an den man sich bittend wenden kann. Gott kann aber auch das in aller Tiefe Unendliche sein, dass allem zugrunde liegt. Er ist damit ein unpersönliches, pantheistisches Prinzip. Wenn Aussagen über Gott als über oder in der Welt stehend gemacht werden, sind diese Aussagen im Grunde Bestandteile einer religiösen Welterklärung. Es werden Sachverhalte behauptet und Existenzannahmen formuliert. Sobald eine religiöse Welterklärung für unmöglich gehalten wird und man daher auf sie verzichten sollte, fallen Bedeutungen weg, die mit dem Wort „Gott“ ein wie auch immer Seiendes bezeichnen wollen. Welche Bedeutung kann dem Wort „Gott“ in einer Religion zugeordnet werden, die das Schwergewicht nicht auf Welterklärung sondern auf Sinngebung legt? Man kann das Wort „Gott“ in einer gleichnishaften, metaphorischen Weise verstehen, die eine bestimmte Lebensform und Einstellung zur Welt bezeichnet. Gott ist also nichts, was in irgend einer Form real da ist, sondern Gott ist der Anzeiger, der auf einen Weg verweist, wie das Leben zu gestalten ist. Er wird zu dem, was als Lebenssinn erkannt und anerkannt worden ist. Er ist damit Manifestation und Ausdruck menschlicher Wünsche und Vorstellungen. Er wird damit tatsächlich Projektion, nun aber im positiven Sinn. Gott ist kein Sachverhalt sondern ein Symbol. Symbole haben ganz allgemein eine übertragene, metaphorische Bedeutung. In der Regel visualisieren oder personalisieren sie abstrakte Begriffe. So steht die Justitia mit den verbundenen Augen und der Waage für Gerechtigkeit. Niemand käme auf die Idee zu glauben, dass Justitia wirklich existiert und in den Ablauf der Welt eingreift. Auch den Teufel kann man als Symbol sehen. Hier konkretisieren und verdichten sich Erfahrungen des Bösen. Aufgeklärtes Denken wird auch dem Teufel keine Daseinsberechtigung in einer rationalen Welterklärung zubilligen wollen. Es gibt ihn nicht in dem Sinne, in dem es Steine, Pflanzen, Tiere und

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Menschen gibt. Der Teufel hat einen Status, der dem der Justitia ähnelt. Dennoch hat der Teufel als Symbol seine Berechtigung. Insbesondere hilft er all denen, die mit abstrakten Begriffen Schwierigkeiten haben, bei der Welterklärung und der Welterhellung. In diesem Sinne kann die Figur des Teufels durchaus beibehalten werden. Es ist nur darauf zu achten, dass der Symbolcharakter des Teufels nicht gänzlich verloren geht und das Symbol Teufel nicht mit Wirklichkeit verwechselt wird. Exorzismen, die einen realen Teufel annehmen, der physisch ausgetrieben werden kann, fallen in eine überwundene, mittelalterliche Denkweise zurück. Auch Gott ist ein Symbol, in dem sich Einstellungen und Lebensformen manifestieren. Sicherlich ist es nützlich, an der Personalisierung des Gottesbegriffs festzuhalten. Es wäre unmenschlich und lieblos, einem Gläubigen seine personale Gottesvorstellung austreiben zu wollen, auf die dieser seine Welterklärung, sein Selbstverständnis und seinen Lebenssinn gründet. Bedingung ist jedoch, dass diese Gottesvorstellung eine humane Einstellung als Grundlage hat. Tolerieren wir den Gott eines jeden, soweit dieser Gott ein Gott der Mitmenschlichkeit und der Liebe ist! Menschen lassen sich leichter und freudiger von personalen Vorstellungen als von abstrakten Begriffen begeistern, anregen und zum Guten hinleiten. An Gott glauben heißt demnach nicht, einen wie auch immer gearteten Sachverhalt für wahr halten. An Gott glauben heißt vielmehr, sich mit anderen zusammen einer bestimmten Lebensform und einer bestimmten Weltsicht zugehörig fühlen. Eine gute Religion ist eine Religion, die zu Mitmenschlichkeit und Verantwortung führt. In diesem Sinn verschwinden die dogmatischen Unterschiede der verschiedenen Religionen der Welt. Es macht keinen Sinn, danach zu fragen, welcher Ring aus Lessings Theaterstück Nathan der Weise der echte Ring ist. Das würde bedeuten, dass man wieder nach der Wahrheit von Sachverhalten fragt. Alle drei Ringe sind gleichberechtigt, solange sie in unterschiedlicher, äußerer Erscheinung als Symbol der gleichen Lebenseinstellung verstanden werden können. In diesem Sinne sind alle Religionen durch etwas verbunden, das Küng [ 12 ] das Weltethos genannt hat und das auf eine gerechte und lebenswerte Welt abzielt.

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Zusammenfassung Die Religionen haben die Aufgabe der Welterklärung an die rationale, wissenschaftliche Vorgehensweise verloren. Die rationale Vorgehensweise wiederum muss einsehen, dass sie Lebensentwürfe und ethische Zielvorstellungen nicht begründen kann. Sie kann keinen Lebenssinn vermitteln. Die Wahl eines Lebensentwurfes und die Festlegung auf ethische Zielvorstellungen beruhen auf einem freien Entschluss. Eine Religion, die sich in der gegenwärtigen Weltstunde und mit dem zur Zeit zur Verfügung stehenden Wissen rechtfertigen lässt, wird demnach kein Glaubensbekenntnis enthalten, das von ihren Gläubigen das Fürwahrhalten von Sachverhalten verlangt. Sie wird vielmehr ein Tätigkeitsbekenntnis anbieten, in dem die ethischen Zielvorstellungen niedergelegt sind, dem sich die Anhänger dieser Religion verpflichtet fühlen. Hierzu ist die Gemeinschaft mit den anderen eine notwendige, hilf- und segensreiche Bedingung, die auch in der Ausgestaltung des alltäglichen Lebens ihren Niederschlag findet. In ihren Mythen, Legenden, Geschichten, Bildern und Liedern veranschaulicht eine Religion das, was sie an Einsichten und Erfahrungen über die Jahrhunderte aufgesammelt hat. In dem, was eine Religion zur Welt und zum Menschen zu sagen hat, steckt ihr Wert und ihre Bedeutung. Diese Tradition sollte sorgfältig gepflegt werden. Man muss sie sich bewusst aber auch kritisch aneignen. Gott bezeichnet nichts Seiendes. Gott ist vielmehr das Symbol oder die Metapher für eine bestimmte Lebensform mit den damit verknüpften ethischen Verpflichtungen. Gott ist nicht tot. Gott lebt, solange Menschen sich nicht passiv treiben lassen, sondern in Gemeinschaft mit anderen aktiv Lebensentwürfe ersinnen und sie sich zusammen mit anderen in einer freien, rational nicht begründbaren Weise für einen dieser möglichen Lebensentwürfe entscheiden.

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Literatur

[ 1 ] Smart, N.; Worldviews, Crosscultural Explorations of Human Beliefs; Charles Scribner’s Sons, New York 1983 [ 2 ] Yandell, K.; Philosophy of Religion; Routledge, London and New York, 2002 [ 3 ] Dilthey, W.; Die Entstehung der Hermenautik, erschienen in: Gesammelte Schriften V; Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen 1900 [ 4 ] Schmidt, B.; Wirklichkeit, Erkenntnis, Sprache; http://www.or.uni-passau.de/1/homepages/schmidt/allg_pub/sprache/sprache.html [ 5 ] Peterson M., et al.; Reason and Religious Belief; Oxford University Press, Oxford 1998 [ 6 ] Davies P., God and the New Physics; Simon & Schuster, New York 1983 [ 7 ] Schleiermacher, F., Über die Religion, Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern; Uni-Taschenbücher 1655, Göttingen 1991 [ 8 ] Schmidt, B.; http://www.or.uni-passau.de /1/homepages/schmidt/allg_pub/sinn/sinn.html [ 9 ] Bonhoeffer, D.; Widerstand und Ergebung; Siebenstern Taschenbuch Verlag, München 1951

[ 10 ] Otto, R.; Das Heilige; Beck Verlag, München 1971 [ 11 ] Tillich, P.; Der Mut zum Sein; Steingrüben Verlag, Stuttgart 1954 [ 12 ] Küng, H.; Das Projekt Weltethos; Piper Verlag, München 2004 [ 13 ] Fromm, E.; Psychoanalyse und Religion; Deutscher Taschenbuchverlag, München, 2004

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[14] Jockel, R.; Die lebenden Religionen; Deutsche Buchgemeinschaft, Berlin, 1959