Philosophische Anthropologie Themen und...

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Philosophische Anthropologie Themen und Positionen Band 4 Konkurrenz der Paradigmata Zum Entstehungskontext der philosophischen Anthropologie Zweiter Teilband Hg. von Guillaume Plas und Gérard Raulet unter Mitarbeit von Manfred Gangl Verlag T. Bautz GmbH

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  • Philosophische AnthropologieThemen und Positionen

    Band 4Konkurrenz der ParadigmataZum Entstehungskontextder philosophischen Anthropologie

    Zweiter Teilband

    Hg. von Guillaume Plas und Gérard Rauletunter Mitarbeit von Manfred Gangl

    Verlag T. Bautz GmbHISBN 978-3-88309-672-8

    Ihre Entstehung verdankt die Philosophische Antropologie ihrer Fähigkeit, zwischen Natur- und Geisteswissenschaften eine Brücke zu schlagen.Indem sie sich seit den zwanziger Jahren als Disziplin und als Denkansatz behauptet, gewinnt sie eine besondere Bedeutung für die Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts. Als neue Denkrichtung stellt sie einen Ausbruch aus den philosophischen Alternativen der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts dar: dem naturwissenschaftlichen Para-digma, dem Neukantianismus, der sich etablierenden kritischen Soziologie der Frank-furter Schule, der Lebensphilosophie und der mit ihr verbundenen Kulturkritik. Zugleich tritt sie in Konkurrenz zur »phänomenologischen Revolution« (Husserl), zur Existenz-philosophie (Heidegger) und zur philosophischen Hermeneutik (Gadamer).Der vorliegende Band dokumentiert umfassend, wie sich diese Konkurrenz der Denk-ansätze im Prisma der Selbstbehauptung der Philosophischen Anthropologie wider-spiegelt.

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    Guillaume Plas ist Wissenschaftlicher Assistent am Département d´Allemand der Uni-versité d´Amiens.Gérard Raulet lehrt als ordentlicher Professor für deutsche Ideengeschichte an der Universität Paris-Sorbonne (Paris IV).Manfred Gangl ist Maître de Conférences am Département d´Allemand der Université d´Angers und Leiter der Groupe de recherche sur la culture de Weimar an der Maison des Sciences de l´Homme,Paris.

  • Konkurrenz der Paradigmata. Erster Band

  • Philosophische Anthropologie Themen und Positionen

    Herausgegeben von

    Joachim Fischer (Dresden) Ada Neschke (Lausanne) Gérard Raulet (Paris) Hans Rainer Sepp (Praha)

    Editionsbeirat

    Heike Delitz (Dresden) Cathrin Nielsen (Frankfurt am Main / Praha)

    Guillaume Plas (Paris)

    Band 4.1

  • Konkurrenz der Paradigmata

    Zum Entstehungskontext der philosophischen Anthropologie

    Erster Band

    Herausgegeben von Guillaume Plas und Gérard Raulet

    unter Mitarbeit von

    Manfred Gangl

    Verlag Traugott Bautz GmbH

  • Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation

    in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind abrufbar über

    http://dnb.ddb.de

    Ariane Kiatibian (Groupe de recherche sur la culture de Weimar,

    Maison des Sciences de l’Homme, Paris) erstellte das Layout des vorliegenden Bandes

    Verlag Traugott Bautz GmbH D-99734 Nordhausen 2011

    Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier Alle Rechte vorbehalten

    Printed in Germany

    ISBN 978-3-88309-670-4

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    Inhalt

    Band 1

    Guillaume Plas und Gérard RauletEinleitung 7

    Joachim FischerPhilosophische AnthropologieKontrast zu anderen Denkansätzen 33

    Wolfhart HenckmannPhänomenologie und Anthropologie 63

    Michael GroßheimHeidegger und philosophische AnthropologieEin Überblick 93

    Kai HauckeDas Sein und der MenschÜberlegungen zu einer Anthropologie Heideggers 109

    Hans Rainer SeppErlebnis und Handlung versus Reflexion Grundannahmen der Anthropologie in Arnold Gehlens ‚absoluter Phänomenologie‘ 155

    Hans Rainer SeppKultur und DifferenzDie kulturkritischen Konzepte von Eugen Fink und Jan Patočka 171

    Guillaume PlasPhilosophische Anthropologie zwischen Phänomenologie und LebensphilosophieDas Beispiel der Anthropologie von Hermann Schmitz 207

    Gérard RauletEin fruchtbares MissverständnisZur Geschichte der Bergson-Rezeption in Deutschland 231

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    Inhalt

    Heike DelitzLebensphilosophie und Philosophische AnthropologieHenri Bergson und Helmuth Plessner 279

    Band 2

    Franck DelannoyÜber Dilthey hinausGadamers indirekter Bezug zur philosophischen Anthropologie 311

    Franck DelannoyDie Rehabilitierung der Endlichkeit als Grundlage der Gadamerschen Kulturkritik 331

    Wolfgang BialasAnthropologie als Kulturphilosophie der symbolischen Formen: Ernst Cassirer 373

    Heike DelitzZur Differenz des Denkansatzes von Cassirer und Plessner 427

    Gerald HartungIm Gesichtskreis des LebensNicolai Hartmanns naturphilosophischer Ansatz einer philosophischen Anthropologie 451

    Guillaume PlasPhilosophische Anthropologie als Anti-SoziologieErich Rothackers früher Entwurf einer Kulturanthropologie im theoretischen Feld der Weimarer Republik 471

    Gérard RauletKritische Theorie und EthnologieDie „kulturelle Anthropologie“ der Dialektik der Aufklärung 495

    Karl-Siegbert RehbergPhilosophische Anthropologie als Grundlagenwissenschaft, Faszinosum oder reflexive Grenzbestimmung für die Soziologie? 523

    Autoren 549

  • Guillaume Plas und Gérard Raulet

    Einleitung

    Der Durchbruch der „philosophischen Anthropologie“ um 1925 in Deutschland hat in der Ideen- und Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts eine eigen artige Rolle gespielt. Max Schelers „anthropologische Wende“ in den 20er Jahren ist kein isoliertes Phänomen gewesen. Man hat es viel eher mit einem Wuchern des anthropologischen Diskurses zu tun, das in verschiedenen Disziplinen und von verschiedenen Denkschulen aufge-griffen wurde. 1925 kam Rudolf Bultmann zur Feststellung, dass die Erkenntnis von Gott die nähere Erkenntnis des Menschen zur Voraus-setzung hat, so dass mit ihm die Anthropologie ihren Einzug in die Theologie feiert: Denn „[w]enn gefragt wird, wie ein Reden von Gott möglich sein kann, so muß geantwortet werden: nur als ein Reden von uns“.1 1928 erschien die Theoretische Biologie Jakob von Uexkülls in einer gänzlich neu bearbeiteten Ausgabe, die (neben seinem anderen Haupt-werk Umwelt und Innenwelt der Tiere) zur streng naturwissen schaft lichen bzw. biologischen Untermauerung der philosophisch-anthropo logischen Wende einen wesent lichen Beitrag leistete. Ein Jahr zuvor hatte Heidegger Sein und Zeit ver öffent licht, das, wie Plessner es im Rückblick erklärte, alle anderen anthropologischen Schriften in den Schatten stellte; ein Jahr später legte Erich Jaensch die Ergebnisse der anthropologischen Untersuchungen seines Marburger Kreises in der Form seiner Grundformen menschlichen Seins vor, die bereits im Untertitel den Anspruch erhoben, „Biologie und Medizin, Kulturphilosophie und Pädagogik“ gleichermaßen zu

    1 Bultmann 1925, 33.

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  • berücksichtigen.2 Sucht man nach Erklärungen für dieses plötzliche und allerorts feststellbare Neuaufkommen anthropologischen Denkens, so spielt sicherlich das omnipräsent empfundene Gefühl einer Krise eine entscheidende Rolle. Bei Scheler, bei dem französischen Beobachter der Weimarer Gesellschaft Pierre Viénot sowie einige Jahre später bei Cassirer gilt als ein Hauptkennzeichen dieser Krise die Tatsache, dass sie, als Krise des Historismus entstanden, nun alle Gebiete des Lebens infiziert und sich zu „einer Krise des Menschen“3 entwickelt hat. Wenn sich aus dieser diskursiven Vielfalt ein engerer Kern um Scheler und Plessner rasch herausbildete, so wurde in den Rezen sionen und Diskussionen der Zeit diesen Denkern noch ein größerer Kreis aus unterschiedlichen Autoren zur Seite gestellt – allen voran Heidegger.4 Insofern war die philosophische Anthropologie im modernen Sinne, als spezifisch deut sche Erscheinung, aus der sich nur allmählich und in mancher Hinsicht erst a posteriori die engere philo sophisch-anthropologische „Denk-‚Schule‘“ (K.-S. Rehberg) heraus kristallisierte, das Ergebnis einer durchaus pluralen Genese.5

    In vielerlei Hinsicht erscheint diese neue Denkrichtung als Alter native, wenn nicht gar als Ausweg aus den philosophischen Alternativen, welche die ersten zwei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts beherrscht haben – gleich-sam als Schiedsrichter und Erbe des naturwissen schaft lichen Paradigmas, der Lebens philosophie, der Kulturkritik und der phäno menologischen Revolution. Das verleiht ihr eine besondere Bedeutung in der Ideenge-schichte des 20. Jahr hunderts. Zugleich tritt sie in Konkurrenz mit der

    2 Jaensch 1929. Jaenschs spätere antisemitische Theorie des Gegentypus (vgl. Der Gegen-typus: psycho logisch-anthro pologische Grundlagen deutscher Kulturphilosophie, ausgehend von dem, was wir überwinden wollen, Leipzig, Barth 1938) verdeckt die Tatsache, dass sein Marburger Kreis in den 1920er Jahren als Zentrum für anthropologische Forschung durchaus ernst genommen wurde.

    3 Heinemann 1929, 6.4 Vgl. etwa Seifert 1934-1935.5 Diesen in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre erfolgten Doppeldurchbruch zu einer

    neuen Disziplin und zu einem neuen Denkansatz machen wir – hierin Joachim Fischer folgend – durch den typographischen Unterschied zwischen der philosophischen Anthro-pologie (als Bezeichnung für die Disziplin) und der Philosophischen Anthropologie (als Bezeichnung für das Paradigma) deutlich. Dies ermöglicht zugleich, die philo sophische Anthropologie als Disziplin neben anderen klassischen Disziplinen der Philosophie zu beschreiben (Erkenntnistheorie, Ethik, Ästhetik, Metaphysik) und die Philosophische Anthropologie als spezifische Theoriebildung mit anderen Denkansätzen des 20. Jahr-hunderts zu konfrontieren. Der vorliegende Band verfolgt diesen doppelten Anspruch.

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    Guillaume Plas und Gérard Raulet

  • Phänomenologie (wiewohl sie enge Beziehungen zu ihr pflegt), mit der neuen Existenzphilosophie (Heidegger), ja auch mit der philosophischen Hermeneutik (Gadamer).

    Weder in Frankreich noch im englischen Sprachraum ist eine ähnli-che Konstellation zu beobachten. Die angelsächsische cultural anthropo-logy fragte nicht nach „dem“ Menschen, sondern betonte die kulturelle und ethnologische Verschiedenheit der Menschen und etablierte sich eher als Völkerkunde denn als Pendant zur deutschen Variante der Kul-turanthropologie. Von ihrer Position der Ablehnung jeglicher anthro-pologischer Verallge meinerung aus kritisierte sie vielmehr – wenn sie es überhaupt wahrnahm – das vermeintlich verabso lutisie rende und ahistori-sche anthropolo gische Denken deutscher Prove nienz: ein etwas paradoxer Fall kulturellen Transfers, speiste sich doch die Ehrfurcht anglo-amerika-nischer Anthropologen vor der Individualität jedes „Volkes“ maßgeblich aus dem deutschen Historismus, den ihre Gründerfigur Franz Boas zur Zeit seines Studiums in Deutschland aus allererster Nähe miterlebt hatte, um ihn dann gegen eine andere deutsche Tradition zu wenden. Auch die franzö sische Ethnologie und Soziologie folgte eher diesem angelsächsi-schen Modell und nahm kaum Notiz von der Entwicklung einer deutschen philosophisch-anthropologischen Tradition. Diese Beobachtung wirft die Frage nach den spezifisch deutschen Motiven auf, die diese Konstella-tion bewirkt haben, d. h. auch nach den philosophischen Denkmodellen, denen diese „reaktive Wissen schaft“ (Habermas) ihren Stoff entnehmen konnte. In welchem Verhält nis stehen die Ansätze der Phäno menologie, der Existenz philosophie und der philo sophischen Anthropo logie zueinan-der? Was bedeutet ihre gleichzeitige Selbst behauptung um 1925?

    Fasst man die Ausgangslage ins Auge, dann sieht es so aus, als ob die vier Hauptströmungen, die in eine produktive Wechselwirkung geraten: der Neukan tianismus, die Phänomenologie, die Existenzphilosophie und die philosophische Anthropologie, sich – wenn auch nicht aus denselben Gründen – denselben Gegner ausgedacht hätten, nämlich die Lebensphilo-sophie in ihren verschie denen Varianten. Diese wird allem Anschein nach umso dezidierter verworfen, als sie um 1913-14 in der Gestalt Bergsons enthusiastisch rezipiert worden war.6 Im Laufe der Jahre wohnt man einer

    6 Wiewohl sie in eine noch nicht abgeschlossene Phase des Forschungsprojektes gehören und deshalb auch einem weiteren Band der Reihe vorenthalten sind, können besondere

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    Einleitung

  • zunehmenden Entfremdung und Distanzierung bei, die sich sowohl in Husserls Anspruch ausdrückt, das Erbe Bergsons konsequent fortzuset-zen, als auch in Max Schelers rein strategischem Bezug auf Bergson, in dem er einen Verbündeten für seinen Feldzug gegen „den Pragmatismus“ sieht, und in der Fußnote von Sein und Zeit, die mit Diltheys Erbe abrechnet.7

    Dass aber die „Lebensphilosophie“, abgesehen von ihrem kultur-kritischen Potential, das bei allen hier behandelten Autoren seine (in bestimmten Fällen zeitlich begrenzten8) Spuren hinterlassen hat, ein un umgängliches Moment gewesen ist bei der Überwindung des Marbur-ger Neukantianismus, zeigen die Beispiele von Ernst Cassirer und Hans Georg Gadamer. Einerseits zeigt sich die philosophische Herme neutik Gadamers gegenüber Dilthey weniger hart als gegen über Heidegger, ande-rerseits zögert Cassirer nicht, sich für eine Erkenntnislehre einzusetzen, die den Ansatz des teleologischen Urteils auch in den Naturwissenschaf-ten mit berück sichtigt.

    Seinerseits bezieht sich Max Scheler auf das Lebensparadigma in einer Weise, die auch sein Verhältnis zur Phänomenologie kennzeichnen wird: Er absorbiert sie und verleibt sie in sein Projekt ein. Diese Beobachtung lässt einen Zweifel aufkommen: ob man nämlich Scheler gleichsam zum Maßstab einer Reflexion über den Streit der Paradigmata machen kann und darf. Scheler hat zwar für den Philosophiehistoriker den großen Vorteil, dass er umfassend zu allen zeitgenössischen Ansätzen Stellung genommen hat und dass er versucht hat, ihre Relation zur philosophischen Anthropo-logie genauer zu bestimmen. Aber dieser Vorteil hat auch seine Kehrseite.

    Er hat zur Folge – um zunächst dieses Kapitel zu schließen –, dass er die Lebensphilosophie nicht eigentlich verabschiedet. Nur weigert sich Scheler, aus dem „Leben“ einen neuen metaphysischen Totalitäts gedanken

    historische Aspekte der Theoriebildung nicht außer Acht gelassen werden. In erster Linie die Bergson-Rezeption, die für die Entstehung der philosophischen Anthro po-logie entscheidend gewesen ist. Sie wird im Rahmen dieses Bandes weniger unter dem Gesichtspunkt einer genealogischen Ergründung der Verwurzelung der philo so phischen Anthropologie in etablierten Denkströmungen behandelt, als vielmehr unter dem Aspekt der Diskursstrategien, deren sich die philosophische Anthropologie bedient hat, um sich selbst zu behaupten. Aus dem Beitrag von Raulet geht hervor, dass der Bezug Schelers auf Bergson durch und durch strategisch war und dass dieser strate gische Bezug einer unter vielen ist, wie der Überblick über die Rezeptionsgeschichte zeigt.

    7 Heidegger 1927, § 10, Fn 1.8 So bei Heidegger.

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    Guillaume Plas und Gérard Raulet

  • zu machen. Paradoxerweise ist aber auch der „Geist“, der es dem Menschen ermöglicht, eine „weltexzen trische“ Position einzu nehmen, kein eigentlich selbständiges, geschweige denn allmächtiges Vermögen: Der Geist ist „in seiner ‚reinen‘ Form ursprünglich schlechthin ohne alle ‚Macht‘, ‚Kraft‘, ‚Tätigkeit‘“.9 Diese paradoxe Behauptung gründet sich auf das Hauptcharakteristikum des mensch lichen Geistes, sich nicht „ekstatisch“ der Welt hinzugeben, sondern dem ekstatischen Lebensdrang bzw. „Gefühlsdrang“ zu widerstehen und mithin die Welt immer im Zustand des „Widerstandes“ zu erleben, sich von der sich ihm aufdrängenden Reali-tät der Welt geistig ständig herauszulösen bzw. herauslösen zu können.10 Nebenbei bemerkt: Die strenge phänomeno logische Reduktion Husserls wird somit zu einer anthropologischen Grundbestimmung des Menschseins (und zugleich zu einer ethischen). Der Drang ist der Zugang zum Wirklichen, aber der Geist kann ihn gleichsam „inaktualisieren“ – dann erhebt er sich zur reinen Schau des Wesensbereichs. Auf die Frage nun: „Entspringt durch diese Askese, Ver drängung, Sublimierung erst der Geist, oder erhält er durch sie nur seine Energie?“11 antwortet Scheler eindeutig, dass das „Nein“ zur bloßen Wirklichkeit „keineswegs das Sein des Geistes [ist], sondern nur gleichsam seine Belieferung mit Energie“.12 Insofern gibt es zweifelsohne bei Scheler selbst eine Lebens philosophie, wie sehr er sich auch gegen die Lebensphilosophien des „vierten Typus“ von Anthro pologie wehrt: „Der Geist ideiert das Leben –, den Geist aber [...] in Tätigkeit zu setzen und zu verwirklichen vermag das Leben allein.“13 Die reale Macht und Wirkungskraft liegt bei den niederen Seinsschichten, bei den anorganischen Energien und bei dem vitalen Drang, den Trieben, Leiden-schaften, Interessen. Scheler definiert den Geist als „passives Vermögen“ im Gegensatz zum Drang.14 Als Attribute des „ens a se“, des Seins, sind aber Drang und Geist aufeinander angewiesen: „Der Geist und das Leben

    9 Scheler, Stellung, GW IX, 45. Die Werke Max Schelers werden zitiert nach den Gesam-melten Werken, München / Bern, Francke 1954 ff., ab 1986: Bonn, Bouvier (bis zu ihrem Tod 1969 hrsg. von Maria Scheler, seither von Manfred S. Frings). Das Kürzel Stellung verweist auf Die Stellung des Menschen im Kosmos.

    10 Vgl. Scheler, GW XII, 212 f.11 Scheler, Stellung, GW IX, 56 f.12 Ebd.13 Ebd. 81.14 Scheler, GW XI, 189.

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    Einleitung

  • sind wie der Blinde und der Lahme – zwei Prinzipien, von denen keines dem anderen geopfert werden darf.“15 Geist und Leben, heißt es in Die Stellung des Menschen im Kosmos, „sind aufeinander hingeordnet – es ist ein Grundirrtum, sie in eine ursprüngliche Feind schaft, in einen ursprüng lichen Kampfzustand zu bringen“.16 Das wendet sich insbeson dere gegen Klages17, der, wie Scheler meint, das Verhältnis zwischen Geist und Leben ganz falsch bestimmt hat: Der Geist kann schon deshalb nicht der „Widersacher des Lebens“ sein, weil er auf dessen Energie angewiesen ist. Im Menschen nimmt der Prozess ihrer Vermittlung eine paradoxe Form an: Insofern als der Drang die wirkende Kraft ist, muss der Geist ihn in seinen Dienst stellen. Das leistet er durch Sublimierung18, indem er sein auf natürliche Bedürfnisse gerichtetes Interesse zu einem uneigennützigen Interesse am ihm begegnenden Seienden macht – an dessen „So-Sein“. Nur durch den Prozess der Sublimierung kann der Geist einmal Macht gewinnen. Dies führt zu einer Umkehrung: „Die höheren Seins- und Wertkategorien sind von Hause aus die schwächeren [...]. ‚Mächtig ist ursprünglich das Niedrige, ohnmächtig das Höchste‘. Jede höhere Seinsform ist im Verhält nis zu der niedrigeren relativ kraftlos – und sie verwirklicht sich nicht durch ihre eigenen Kräfte, sondern durch die Kräfte der niedrigeren.“19 Vom „Wollen“ des Menschen zu sprechen „bedeutet immer nur, dass der Geist als solcher den Triebmächten Ideen vorhält, und das Wollen den Triebimpulsen – die schon vorhanden sein müssen – solche Vorstellun gen zuwendet oder entzieht, die die Verwirklichung dieser Ideen kon kre tisieren können“; das „Wollen“ ist also nur „Leitung“ oder „Lenkung“.20 In partiellem Einver-ständ nis mit Freud vertritt Scheler die Ansicht, dass die „Macht“ bzw. die Ohnmacht des Geistes sich darauf beschränkt, die Energie zu hemmen oder zu enthemmen. Es handelt sich also nicht um den „direkten Kampf“ eines „reinen Willens“ gegen die Triebmächte; der Mensch überwindet seine als verderblich erkannten Neigungen durch den Einsatz der Energie für wertvolle Aufgaben.21 Immer, wenn er vom „geistigen Willen“ spricht,

    15 Scheler, GW XII, 57.16 Scheler, GW IX, 67.17 Vgl. Scheler, Stellung, GW IX, 65-67.18 Vgl. Scheler, GW IX, 33.19 Ebd. 51 f.20 Ebd. 54.21 Ebd.

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    Guillaume Plas und Gérard Raulet

  • setzt Scheler das Wort „Wille“ in Anführungs zeichen, denn „eigentlichen Willen“ gibt es nur in den unteren Schichten. Auf die Mechanismen der Triebverdrängung geht er aber nicht weiter ein; der „Geist“ bleibt für ihn ein (wenn auch nicht vitales) „Urphänomen“, wiewohl es vom Drang nicht zu lösen ist.

    Diese Theorie, die man als Theorie des schwachen Geistes bezeich nen könnte, wird von Scheler den beiden in der bisherigen Geistes geschichte vorherrschenden Auffassungen entgegen gesetzt: der „klassi schen Theo-rie“ vom Menschen, die auf die Griechen zurückgeht und „dem Geiste selbst nicht nur eine eigentümliche Wesenheit und Auto nomie, sondern auch Kraft und Tätigkeit (nou====j poietiko/j), ja das Höchstmaß von Macht und Kraft zu[spricht]“, und der „negativen Theorie“, die den umgekehrten Standpunkt vertritt, nämlich dass der Geist, oder „zum mindesten alle ‚kul-turerzeugenden‘ Tätigkeiten des Men schen, alle logischen, moralischen, ästhetisch-schauenden und künstlerisch-bildenden Akte“ in einer Nega-tion ihren Ursprung nehmen.22 Gerade deswegen gerät er in Widerspruch mit der Phäno meno logie: Die „Reduktion“ versteht er nämlich nicht nur als eine Technik der (methodischen) Entwirklichung der Welt, sondern als eine Entwirk lichung des Selbst, aus der der Geist als „echte Wesenstatsa-che“ gleich sam aufersteht und die insofern eine Wesens ontologie begrün-det. Einmal besitzt der Mensch, als das Wesen, das sich von der Außenwelt sozusagen ablösen kann, sie in Distanz halten kann, insofern Selbstbe-wusstsein. Damit hängt zusammen, dass er, wie Scheler mit Nietzsche sagt, das Tier ist, das versprechen kann. Er ist darüber hinaus sogar fähig, sich von seinem eigenen Dasein zu distanzieren – etwa sich „das Leben nehmen“ oder (zunächst einmal) gegenüber sich selbst wie gegenüber den anderen Humor und Ironie haben. Grundsätzlicher ist er als das Wesen, das der Distanzierung fähig ist, auch imstande, zwischen faktischem Dasein und essenziellem Sosein zu unterscheiden. Zwar gehören existentia und essentia stets zusammen und es geht Scheler auch nicht darum, den „Universa-lienstreit“ wieder zu beleben und zu fragen, ob die Essenz der Existenz vorangeht oder ihr folgt. Es geht nur um den Umstand, dass der Mensch, und er allein, die Fähigkeit besitzt, diesen Zusammenhang zugleich zu erfassen und zu zerlegen – dass er der „phänomenologischen Reduktion“ fähig ist. Darin besteht die vornehm liche Leistung des „Geistes“: „Diese 22 Ebd. 45 f.

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    Einleitung

  • Fähigkeit der Trennung von Wesen und Dasein macht das Grundmerkmal des menschlichen Geistes aus, das alle anderen Merk male erst fundiert.“23

    Deshalb ist der Geist, wie Hans-Joachim Schoeps triftig formuliert, „eine im Zentrum des Menschtums angelegte Seinsmöglichkeit, ein mit dem Menschen mitgegebenes Stück Metaphysik“.24 Es gehört zum Wesen des Menschen, schreibt Scheler am Schluss der Stellung des Menschen, ja es „ist der Akt der Menschwerdung selbst“, dass er sich aus der ganzen Natur herausstellen und diese zu seinem „Gegenstand“ machen kann.25 Die Kehrseite ist freilich, dass, hat er das einmal gemacht, er sich „erschau-ernd umwenden und fragen [muß]: ‚Wo stehe ich denn selbst? Was ist denn mein Standort?‘ Er kann nicht eigentlich mehr sagen: ‚Ich bin ein Teil der Welt, bin von ihr umschlossen.‘ [...] So schaut er gleichsam bei dieser Umwendung hinein ins Nichts: er entdeckt in diesem Blicke gleichsam die Möglichkeit des ‚absoluten Nichts‘ – und dies treibt ihn weiter zu der Frage: ‚Warum ist überhaupt eine Welt, warum und wieso bin ‚ich‘ überhaupt?‘“26 Auf diese metaphysischen Fragen kann er auf zweierlei Art antworten: Er kann „sich darüber verwundern (qauma/zein) und seinen erkennen den Geist in Bewegung setzen, das Absolute zu erfassen und sich in es einzuglie-dern – das ist der Ursprung der Metaphysik jeder Art [...]. Er [kann] aber auch aus dem unbezwinglichen Drang nach Bergung – nicht nur seines Einzel-Seins, sondern zuvörderst seiner ganzen Gruppe – auf Grund und mit Hilfe des ungeheuren Phantasieüberschusses, der von vornherein im Gegensatz zum Tiere in ihm angelegt ist, diese Seinssphäre mit beliebigen Gestalten bevölkern, um sich in deren Macht durch Kult und Ritus hin-einzubergen“ – das ist die Antwort der Religion.27 In ethischer Hinsicht verwirft der späte Scheler dezidiert die religiöse Antwort: Metaphysik, wie er sie versteht, ist „keine Versicherungsanstalt für schwache, stützungs-bedürftige Menschen. Sie setzt bereits einen kräftigen, hochgemuten Sinn im Menschen voraus [...]. Wir setzen an die Stelle jener halb kindlich, halb schwächlich distanzierenden Beziehung des Menschen zur Gottheit, wie sie in den objektivierenden und darum ausweichenden Beziehungen der

    23 Ebd. 52.24 Schoeps 1975, 192.25 Scheler, Stellung, GW IX, 67 f.26 Ebd. 68.27 Ebd. 69.

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    Guillaume Plas und Gérard Raulet

  • Kontem plation, der Anbetung, des Bittgebetes gegeben sind, den elemen-taren Akt des persönlichen Einsatzes des Menschen für die Gottheit, die Selbstidentifizierung mit ihrer geisti gen Akt richtung in jedem Sinne“.28 Mit Scheler gelangen wir auf das Gebiet der Metaphysik – und bestenfalls einer „postmetaphysischen Ethik“, die er zu formulieren sich tatsächlich bemüht hat. Wenn aber die Konkretisierung des phänomenologischen Projekts diese Wege einschlägt, dann muss man sich sicher fragen, ob sie den Intentionen Husserls noch entsprach.

    Bekannt ist, dass Husserl die philosophische Anthropologie für philo-sophisch naiv hielt. Aber es gibt ja sehr verschiedene Weisen, „Phänome-nologie“ zu betreiben, wie Wolfhart Henckmann in seinem Beitrag daran erinnert: Hartmann versteht diese gleichsam als Propädeutik und schreibt ihr die Aufgabe vor, „die Untersuchung bis an den Punkt zu führen, an dem [...] die konstruktive Aufgabe der dann nicht mehr ‚nur‘ phänome-nologisch verfahrenden Ontologie beginnt.“ Husserl will sie als Methode verstanden wissen, wogegen sich Scheler vehement erhebt. Inwiefern hat die metaphysische „Metanthropologie“, wie Scheler sie genannt hat, eine tragfähige Alternative zur Phäno menologie als strenger Wissenschaft, wie sie Husserl geltend machte, dargestellt, und das heißt, inwiefern hat sie es wirklich geschafft, aus der Anthropologie die philosophische Grundwis-senschaft zu machen? Max Scheler beanspruchte, diese Frage zu beantwor-ten, indem er die Phänomenologie in den philosophisch-anthropologischen Entwurf derart einver leibte, dass sie sich einander wechselseitig fundieren durch – wie Henckmann es formelhaft resümiert – „eine Konkretisierung des phäno meno logischen Verfahrens in der Ausarbeitung der verschiede-nen Pro blem bereiche der Anthropologie“.

    Während Heidegger sich kritisch zur anthropologischen „Mode“ äußerte und sie als „Vorgang des bloßen Aufhörens und des Aussetzens aller Philosophie“29 ablehnte, monierte u. a. Plessner die „Unmöglichkeit einer freischwebenden Existenzdimension“.30 Durch ihren Anspruch, die Kluft zwischen der Philosophie und den empirischen Einzel wissenschaften zu überbrücken, gehört die philosophische Anthropo logie zu einem allge meinen Trend, dessen gemeinsamer Nenner darin besteht, nach der

    28 Ebd. 71.29 Heidegger 1977, 99.30 Plessner 1928, XIV.

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    Einleitung

  • transzendentalen Wende Husserls (die Scheler bekanntlich nicht mit voll-zog) die Phänomenologie gleichsam rückzukonkretisieren. Nicht nur zeugt die Lebenswelt als Konzept der späten Phänomenologie Husserls von der allgemeinen Tendenz, die Endlichkeit und Faktizität in ihrer Kon-kretheit zu betrachten, sondern auch die Reflexionen des frühen Kracauer und des jungen Adorno nehmen in diesem Trend ihren Ursprung. Doch anstatt den Weg der philosophischen Anthropologie einzu schlagen, hat die Kritische Theorie eine andere theoretische Option gewählt und schon in den dreißiger Jahren zum Anthropo logieverdacht aufgerufen.31 Die Kon-kurrenz der Ansätze um 1925 erweckt deshalb den Eindruck, dass man es gleichsam mit einer Stunde der Entscheidung zu tun hat, und wirft wiede-rum die Frage auf, inwiefern die Antwort der „philoso phischen Anthropo-logie“ einer deutschen Tradition verhaftet blieb.

    Es ist nicht zu leugnen, dass es Gehlen gewesen ist, der in der Öffentlichkeit als Hauptvertreter der neuen Philosophischen Anthropo-logie angesehen wurde, und dass man ihm das Verdienst zuerkennen muss, die Auffassung des Menschen als Mängelwesen weiter entwickelt zu haben in Richtung auf eine Institutionen lehre. Allerdings vermisst man bei Gehlen die (zweifelsohne äußerst schwierige) Reflexion über den Standort der Anthro pologie als philosophischer Grundlagen disziplin, die gerade das Besondere von Schelers Entwicklung vom Neukantianismus über die Phänomenologie zur „Metanthro pologie“ ausmacht. Auch gegen-über Plessners Vorhaben einer naturphilo sophischen bzw. philo sophisch-anthro pologi schen Grundlegung der Geisteswissen schaften bleibt er im Rückstand.32

    Gehlen ist vielmehr ausdrücklich darum bemüht, diesen schweren Bal last loszuwerden. In seinem Aufsatz „Philosophische Anthropologie“ teilt er die Entwürfe der philosophischen Anthropologie in zwei große Grup pen ein, „nämlich in solche mit metaphysischen Einschüssen, seien diese in letzter Hinsicht theologischer Herkunft, oder seien sie durch Überanstrengung besonderer Begriffe entstanden; und in andere

    31 Die Konfrontation der philosophischen Anthropologie mit der Kritischen Theorie wird erst im noch unveröffentlichten 2. Band der Reihe, über Philosophische Anthropologie und Politik, ausgeführt (vgl. darin Raulet: „Jenseits des Anthropologieverdachts. Das kritische Potential der Philosophischen Anthropologie“).

    32 Vgl. ebd. 26 ff.

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    Guillaume Plas und Gérard Raulet

  • Entwürfe, die wenigstens der erklärten Absicht nach sich allein im empirischen Bereich bewegen sollen“.33 Das erste Satzglied ist ganz offen-sichtlich auf Scheler gemünzt, der von einer „theomorphen“ Auffassung zu einer phänome nologischen „Wesenseidetik“ über wechselte; das zweite mag sich auf Plessner bzw. auf Gehlen selbst beziehen, der als Biologe von Haus aus die philosophische Anthropologie nicht – oder nicht nur – von der Philoso phie her konstruierte, sondern auf der Basis der bio logischen Erkennt nisse seiner Zeit argumen tierte. In seinem „Rück blick auf die Anthropologie Schelers“ spricht Gehlen das strenge Urteil aus, dass es Scheler nicht gelang, „zwischen der rationalistischen Quasi-Metaphysik Nikolai Hartmanns und dem dann breit einsetzenden Strom der Schluß-Säkularisierung christlicher Residuen, die als ‚Existenz-philosophie‘ sich darstellte, einen eindeutigen Platz zu behaupten. Dies lag nicht so sehr an seinen mehrfach wechselnden Stand punkten, als an seinen etwas wolkigen Absolutismen, bei denen die ‚Wesens schau‘, der er treu anhing, eine bedeutende Rolle spielte“. Die metaphysischen Thesen Schelers seien, so Gehlen weiter, nicht eigentlich „bedeutsam“, „sie sind sogar ausge sprochen konventionell. Übrigens glauben wir, daß Scheler das selbst merkte und in seiner letzten Frankfurter Zeit auf dem Wege war, die Metaphysik überhaupt als eine vertretbare Position preiszugeben“. Für Gehlen ist die Frage „Was ist denn eigentlich ‚der Schmerz selbst‘?“34 „nicht beantwortbar, keine ‚Ideierung‘ trägt so weit“.35

    Ebenso entschieden hält Gehlens anthropologisches Konzept den Einfluss der Lebensphilosophie auf Distanz. Wenn Gadamer der Institu-tionenlehre vorwirft, ausschließlich auf Sparsamkeit und Ent lastung zu setzen, dann stimmt dieser Vorwurf mit den Zugeständnissen überein, die er an die philosophische Anthropologie macht und die umgekehrt deren Würdigung der schöpferischen Kraft des „Mängel wesens“ Mensch billigen. Dass aber Gehlens Konzept nicht von vorn herein so trocken war, beweist seine Auseinandersetzung mit der Phänomenologie in seiner Habilitati-onsschrift von 1931, die H. R. Sepp deshalb hier in den Mittelpunkt stellt. Auch Gehlen setzt sich dort gegen den vermeint lichen Cartesianismus der Husserlschen Theorie für eine Konkretisierung der Phäno menologie ein,

    33 Artikel in Meyers Enzyklopädisches Lexikon 1971, 312.34 Scheler, Stellung, GW IX, 40.35 Gehlen 1975, 184-186.

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    Einleitung

  • die die erforderliche Verwurzelung im Empirischen als eine Verwurzelung in der „Erlebnis realität“ einer „Situation“ versteht. Unter „Reali tät“ ver-steht Gehlen sogar „letzten Endes die Qualität einer leidenschaftlichen Situation“. Auch das Verhältnis des Selbst zum Anderen und des Ichs zum Du erweist sich hier konkreter und der Lebensphilosophie näher als das kommuni kative Konzept der philosophischen Hermeneutik: nämlich als eine „gegenseitige realisierende, schöpferische Funktion“, und das heißt gleichsam als ein fusionelles Verhältnis.

    Aus alledem scheint hervorzugehen, dass der Kern des Problems in dem schwierigen Verhältnis zwischen der Lebensphilosophie und der Phänome no logie besteht. Wenn dem so ist, dann erscheint die philoso-phische Anthro po logie nicht mehr eigentlich als das Wahrheits moment der damaligen Debatten, sondern viel eher als ein Störfaktor, der sie mit einer dritten Perspektive, und einem dritten Weg, allerdings keinem Aus-weg überlagert. Ob es ihr überhaupt gelungen ist, sich nicht nur als drit-ten Weg anerkennen zu lassen, geschweige denn das viel anspruchsvollere Programm zu erfüllen, das Max Scheler ihr mit seiner „Metanthropologie“ vorschrieb, ist eine Frage, die nicht nur ihre Bedeutung in der Umbruchs-phase der Episteme um 1925, sondern auch ihre Fähigkeit betrifft, ein für die Zukunft tragfähiges philosophisches Konzept darzustellen.

    Zu den Aufsätzen

    Für einen groben Überblick ließen sich die Beiträge in fünf große – aller-dings nicht hermetisch voneinander abgetrennte und deshalb auch nicht nummerierte – Kapitel bzw. Themenkomplexe gliedern.

    Eingeleitet wird der erste Band durch Joachim Fischers vergleichende Analyse „Philosophische Anthropologie – Kontrast zu anderen Denk-ansätzen“. Fischer geht von der Feststellung aus, dass die Philosophische Anthropologie gleichsam als ein blinder Fleck der Philosophiegeschichte im 20. Jahrhundert fungiert, wird sie doch nur von den wenigsten Überblicks-darstellungen gewürdigt. Allerdings bleibt angesichts der – vorwie gend aus Gründen der Konkurrenz – verhinderten Schulbildung erst einmal festzulegen, ob überhaupt von Schule im strengen Sinne gesprochen wer-den darf. Leitfigur dieser Beweisführung bildet Plessners Kategorie der exzentrischen Positionalität. Anhand dieser Kategorie beleuchtet sodann

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    Guillaume Plas und Gérard Raulet

  • Fischer die Eigenart des Paradigmas kontrastiv zu anderen zeitgenössi-schen Theorierichtungen – sei es Neo positivismus bzw. sprach analytische Philosophie, Existenz philo sophie, Naturalismus bzw. Darwinismus, Kri-tische Theorie bzw. Neomarxismus, Diltheyschule bzw. Philosophische Hermeneutik und Politische Philosophie (der sog. „völkisch-politische Realismus“). Damit tritt die Kontur der Philosophischen Anthropologie schärfer als bisher hervor – zugleich ordnet sich durch die Hinzunahme der Philosophischen Anthropologie das Feld der Theorie richtungen im 20. Jahrhundert noch einmal neu.

    Die Thematik der Auseinandersetzung zwischen philosophischer Anthro pologie und Phäno menologie eröffnet Wolfhart Henckmanns Auf-satz „Phänomenologie und Anthropologie“, der sie aber nicht unter dem üblichen negativen Vorzeichen einer Konfron tation, sondern geleitet von der These einer gegenseitigen Bereicherung untersucht. Beide Denkschulen verbindet zunächst – sofern man bereit ist, gleich Scheler, die transzenden-tale Perspek tive Husserls aufzulockern – eine anthropologische Reflexion über menschliche Potentia le: Beiden ist die Aufweisung der Struktur menschlichen Weltbezugs gemein, sei es in der Form des Erkennens, oder in der des Wollens oder Fühlens. Demgemäß kann man im Falle Schelers von einer „phänomenologisch fundierten Anthro pologie“ sprechen – die gleicher maßen ein erstes Beispiel für die Konkretisierung der Phänome-nologie liefert – und umgekehrt in seiner Anthropologie eine Beleuch-tung und Hervorhebung phänomenologischen Erkennens erblicken: so in seiner „Typologie des menschlichen Selbst bewusstseins“, deren Nähe zur „Wesensgrammatik“ Husserls unmittelbar ein leuchtet. Allerdings ist die Frage gerecht fertigt, inwiefern diese Verschränkung von philosophi-scher Anthropologie und Phäno menologie zu einer „Wesens ontologie des Menschen“ nicht zugleich den an beide Denkschulen oft gerichteten Vor-wurf der Vernach lässigung des Historischen verhärtet. Unge achtet dieser Schwierigkeit (der Scheler auch in anderen Werken zumindest im Ansatz entgegengekommen ist) hat Scheler in seinen letzten Arbeiten in die eher spekulative Richtung einer „Metanthropologie“ als Korrelationstheorie zwischen Mikro- und Makro kosmos geforscht. Dabei fungiert Phänome-nologie als meta physisches Sprungbrett zur Theogonie.

    In seinem Überblick über „Heidegger und die philosophische Anthro-pologie“ wertet Michael Großheim alle Äußerungen Heideggers über

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    Einleitung

  • diese Denkrichtung aus und kommt zu einer nuan cierten Darstellung die-ser Aus einandersetzung, die das ganze Werk des Philo sophen durchzieht. Prägt die Ablehnung der Idee einer „philosophischen Anthropologie“ überhaupt das ganze Denken Heideggers – zunächst anhand der lebens-philosophisch inspirier ten Kate gorie der Jemeinigkeit, später anhand der-jenigen des Daseins, das einzig und allein durch seinen Bezug zum Sein definiert werden soll – so darf diese Konstanz die Tatsache nicht über-decken, dass sie von einem ständigen, durchaus offenen Dialog mit den Werken ihrer Hauptvertreter begleitet wird. Allerdings zeigt die Unter-suchung der weniger bekannten Stellungnahmen Schelers, Plessners und Gehlens zu Heidegger, wie sehr die Distanz eine wechselseitige war. Wäh-rend dieser stets bemüht war, neben den Überein stimmungen im Detail die Überlegenheit seines Modells zu betonen, kritisierten jene stets den konkurrie renden Ansatz aus einer jeweils besonderen Perspektive: als Subjektivismus bei Scheler; als abstrakte, die Vielfalt konkreter Formen menschlicher Existenz vernachlässigende Anthro pologie bei Plessner; als schlicht unseriöse (allerdings nicht wertlose) Philosophie bei Gehlen.

    Komplementär zur philologisch orientierten Arbeit Großheims arbeitet Kai Haucke in seiner Analyse über „Das Sein und der Mensch. Überlegungen zu einer Anthropologie Heideggers“ aus dem nicht-anthro-pologischen Denken Heideggers dessen implizite, latente Anthro pologie her-aus. Obwohl in Sein und Zeit dem Sein der Vorrang gegenüber dem Dasein gegeben wird, bleibt jede Bestimmung des Seins nur durch einen Umweg über das Dasein möglich. Die Anthropologie, die somit das Hauptwerk von 1927 gleichsam als Mittel zum Zweck beinhaltet, ist dennoch nur eine negative: zunächst weil die Jemeinigkeit, die jedes Dasein kennzeichnet, jeder Bestimmung der allgemeinen Gattung „Mensch“ Lüge straft, dann aber auch, weil in dem Bestimmungs verhältnis von Dasein und Sein die Unbestimmtheit des Seins sich notwendigerweise auf das Dasein aus-wirkt. Doch Haucke hält an der Positivität dieser negativen Bestim mung fest: Sie bedeutet nach ihm keine Verwerfung anthro pologischen Fragens, sondern definiert gerade in ihrer Unbestimmtheit das menschliche Dasein, und lässt es zugleich offen. Nach der Kehre bleibt das Koordi natensystem anthropo logischer Reflexion identisch. Dasein führt zum Sein – doch auf anderem Wege: Nun liegt die Verbindung darin, dass ausgezeichnete „Daseine“ – die Dichter und Denker – in einer noch zu umreißenden

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    Guillaume Plas und Gérard Raulet

  • Sprache das „Seyn“ aussprechen. Mit dieser These rückt Heidegger in die Nähe der lebensphilosophischen Versuche um eine Sprache, die sprechend die Sackgassen der Diskursivität dennoch vermeiden würde – man denke beispielsweise an die „evozie renden“ Aussagen Georg Mischs.36 Haucke fasst somit die durchaus vorhandene Anthropologie Heideggers als eine ästhetisch vermittelte Anthropologie auf, und zeigt, dass die Reflexion über die Möglichkeit einer Umgehung des Anthropologie verdachts sein ganzes Werk begleitet.

    Den Ansatz Henckmanns fortführend geht Hans Rainer Sepp in seinem Aufsatz „Erlebnis und Handlung versus Reflexion. Grundannahmen der Anthropologie in Arnold Gehlens ‚absoluter Phänomenologie‘“ der Frage der Kompatibilität von Philosophischer Anthropologie und Phänomenologie nach anhand der bisher wenig untersuchten Habilitationsschrift von Gehlen Wirklicher und unwirk licher Geist. Sepp beleuchtet zunächst anhand der Werke von Husserl und Heidegger die Gemeinsamkeiten dieser zwei Traditionen, um daraus die Möglichkeit ihrer Verschränkung sichtbar werden zu lassen. Beide teilen den Duktus der Überwindung (bzw. „Verwindung“) metaphysischer Konstrukte sowie den Willen, zum unmittelbar Gegebenen zurückzukehren. In einer für die ganze phänome nologische Bewegung charakteristischen Geste begreift Gehlen allerdings seine „absolute Phänomenologie“ sowohl im Anschluss an als auch in Ablehnung von Husserls Denken. Wie bei Scheler dient ihm die Anthropologie dazu, die „weltlose“ Phänomenologie Husserls zu konkre tisieren. „Wie wird Realität erfahren?“, lautet die Grundfrage der Gehlenschen Abhand lung. Im Unterschied zu Husserl und Heidegger sieht Gehlen die Antwort in der Erfahrung des absolut Fremden, Sinnlosen und nicht zu Bewältigenden gegeben, wobei gerade aus dieser Erfahrung – gleichsam als deren sublimierte Folge – der Erkenntnistrieb entspringt. Entfaltet wird hiermit in diesem frühen Text Gehlens eine genuin philosophisch-anthropologische Denkfigur avant la lettre, indem aus einem materiellen, anthropologischen Befund heraus Geistiges erklärt wird. Doch auch Phänomenologisches wird hier fortgeführt: Diese Theorie der Wahrnehmung nimmt innerhalb einer Theorie des Selbst Platz, die dieses nur in der Wahrnehmung des und in Verbindung mit dem Anderen

    36 Dessen Verwertung wäre für die hier angestrebte Konfrontation der konkur rierenden Ansätze ausführlicher zu unternehmen. Vgl. insb. Misch 1930.

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    Einleitung

  • wirklich zur Geltung bringt. Allerdings teilt sie auch in mancher Hinsicht die Mängel vieler Subjekttheorien phänomeno logischer Observanz: denn im Aufgeben des Selbst, das in diesem Denken des Anderen erfolgt, wird gerade auch die Alterität preisgegeben.

    Diese Thematik der begrifflichen Erreichbarkeit von Welt setzt Hans Rainer Sepp in seiner Studie über „Kultur und Differenz. Die kulturkri-tischen Konzepte von Eugen Fink und Jan Patočka“ fort, gibt ihr aber zugleich eine gesellschafts theoretische Ausrichtung. Sepp stellt zunächst fest, dass wie im Falle Gehlens auch bei Fink und Patočka Anthropolo-gie und Phänomenologie durchaus verknüpft werden. Im Zentrum der Untersuchung steht aber die Frage nach dem Impakt der anthropologi-schen Entwürfe auf die Deutung gesellschaftlicher Phänomene. Auffallend ist die Nähe dieser Anthropologien zum Denkansatz der „Philosophi-schen Anthropologie“: Auch hier wird der Mensch vorrangig unter den Stichworten der Differenz, der Offenheit und der Grenze, somit auch der Trans zendenz gedacht. Dabei bleibt die Figur Heideggers stets im Hin-tergrund präsent, da sie das (freilich zum Teil durchaus kritisch behan-delte) Modell für ein Denken der Differenz bildet. Am unmittelbarsten führt Patočkas Denken in die Gesellschaftsanalyse, indem es auf radikale Weise zeigt, wie sehr jene definito rische Offenheit des Menschen zu dem vom Humanismus gepriesenen „Leben im Gleichgewicht“ im Widerspruch steht. Wenn vorschnelle Lektüren Finks Ansatz in den Ruf einer unkriti-schen Technikbejahung brachten, so geht es letztendlich beiden Denkern darum, ein erkenntnistheoretisches Modell zu entwickeln, das zugleich das Andere als Mensch und als Welt auf gerechtere, nicht reduktionistische Weise zur Erscheinung zu bringen vermag – hierfür zeigt sich freilich das Levinas’sche Denken demjenigen Heideggers überlegen. Von dieser Fest-stellung ausgehend zeigt Sepp schließlich, wie die von Fink und Patočka entwickelten Modelle zu einer erst noch zu entfaltenden Anthropologie hinleiten, die als Phänomenologie der Grenzleiblichkeit zu realisieren wäre.

    Den Kontext der philosophischen Anthropologie breit auffassend nimmt schließlich Guillaume Plas in seiner Untersuchung über „Philoso-phische Anthropologie zwischen Phänomenologie und Lebens philosophie. Das Beispiel der Anthropologie von Hermann Schmitz“ das Werk des Kieler Philosophen zum Anlass, um die Frage der Kombi nierbarkeit von

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  • Lebensphilosophie und Phänomenologie neu aufzurollen. Schon werk-geschichtlich ist in Schmitz’ Denken dessen doppelte Herkunft sinn fällig, wurde er doch akademisch von Erich Rothacker ausgebildet, während er bereits in seinen ersten Publi kationen auf – verglichen mit seinen späteren Werken – erstaunlich orthodoxe Weise der Husserlschen Phäno meno-logie nachhing. Insofern bildet Schmitz eine späte Manifesta tion des schon früh erschienenen Modells einer Verschränkung phänomenolo-gischen und lebensphilo sophischen Gedan kenguts – nach Scheler, Heidegger oder Plessner. Das Werk von Schmitz, und insbesondere seine anthro pologische Theorie, laden deshalb dazu ein, den möglichen Arten der Koexistenz dieser beiden Denkschulen nachzugehen, die philo-so phie historisch eher gegeneinander konkurrier ten (man denke etwa, neben der Kontroverse zwischen Husserl und Dilthey über das Wesen der Philosophie, an die scharfen Angriffe Klages’ auf Husserl). Plas differenziert zwischen drei Modi solcher Zusammenführung bei Schmitz: In dem Denkmodell einer gleichsam passiven Transzendentalität gebärt die Verbindung beider Traditionen eine geradezu paradoxe Begriff lichkeit; in der Wiederaufnahme des Heideggerschen Begriffs des Entwurfs innerhalb einer Theorie des Subjekts, die dessen brüchigen, heteronomen Charakter hervorhebt, kommt die Evakuierung phänomeno logischen Inhaltes zugunsten lebensphilosophischer Thesen zum Vor schein; schließlich bildet die Ablösung ursprünglich phänomenologischer Thesen durch der Lebensphilo sophie nahe Positionen das dritte Modell der Koexistenz beider Denkrichtungen, das sich in der Berücksichtigung der Historizität des Menschen und seiner Darstellungen manifestiert. Diese drei Modelle, die alle eine gewisse Oberhand der Lebensphilosophie über die Phäno-menologie im Werk Schmitz’ bezeugen, lassen am Ende die in der Forschung schon an einigen Stellen anzutreffende Frage erneut aufkommen, inwiefern die „Neue Phänome nologie“ überhaupt noch als eine Phänomenologie im eigentlichen Sinne zu begreifen ist.

    Die Konfrontation der philosophischen Anthropologie mit der Lebensphilosophie fokussiert aus zwei verschiedenen Perspektiven auf die Bedeutung von Henri Bergsons Werk für das Denken von Scheler, Plessner und Gehlen. Gérard Raulet zeigt in seiner breit angelegten Studie „Ein fruchtbares Missverständnis. Zur Geschichte der Bergson-Rezeption in Deutschland“, wie die allgemeine Rezeption Bergsons in Deutsch land

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    Einleitung

  • stark von Missverständnissen geprägt wurde, ja, wie das Interesse an Bergson selbst auf Missver ständnissen beruhte. Während die erste, in Populärschriften erfolgende Welle der Rezeption ganz im Zeichen der Lebens philosophie steht, ist die später einsetzende akademische Rezep-tion zwiespältiger. Sowohl auf der Seite der Lebensphilosophen (Simmel) als auch auf der Seite der „Rationalisten“ (wenn man Husserl auf diese stereotypische Weise kennzeichnen darf, die im damaligen Kontext nicht harmlos war, da sie ihm sofort den Verdacht des Cartesianismus aufbür-dete) wird Bergsons Werk offensichtlich mit hohem Interesse gelesen. Doch ein Grundzug der bisherigen Rezeptionsgeschichte wirkt auch hier, und nicht zuletzt im Rückgriff der philosophischen Anthropologie auf Bergson, weiter: Sie dient zu einem nicht unwichtigen Teil der Heraus-arbeitung einer vermeintlichen „deutschen Art zu denken“, die das fremde Denksystem oft nur noch als Mittel zum Zweck verwendet. Auch Scheler verwendet Bergsons Werk zunächst als Maßstab, anhand dessen die Män-gel und die Aussichtslosigkeit des „Pragma tismus“ aufgezeigt werden; später wird es als erste Stufe zu einem Endziel präsentiert, das einzig die Phäno meno logie zu erreichen vermag. Demgemäß bildet die Auseinander-setzung von Husserl, Heidegger, Ingarden und Schütz mit dem französi-schen Denker einen Hauptteil der Untersuchung. Wenn in der Thematik der Zeit lichkeit oder in der sich auf das Bewusstsein und den Begriff der Intuition fokussierenden Methodologie die Ähnlichkeit zwischen beiden Traditionen auffällig wird, so verharren die Phänomenologen – Schütz aus-genommen – in einer Haltung der Überwindung, die das beredte Zeichen einer eher strategischen als objektiven Rezeption bildet.

    In ihrem Aufsatz „Lebensphilosophie und Philosophische Anthro-pologie: Henri Bergson und Helmuth Plessner“ widmet sich Heike Delitz einem Fallbeispiel dieser Rezeption Bergsons. Die Analyse von Gérard Raulet exemplarisch bestätigend zeigt Delitz, wie Plessners Hal-tung gegenüber Bergson durch seine sowohl theoretisch als auch poli-tisch motivierte Ablehnung geprägt wurde, wofür er allerdings über ihre zahlreichen Ähnlichkeiten hinwegsehen musste. Demgegenüber nimmt sie Gilles Deleuzes Bergson-Deutung zum Anlass, um gleichsam gegen Plessner diese Ähnlichkeiten herauszuarbeiten. Ausgangspunkt der Analyse bildet der Nachweis der tatsächlichen Vorhandenheit einer genuinen philoso phischen Anthropologie in Bergsons Werk. So sind die

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  • Werke beider Denker insofern vergleichbar, als anhand dieser die Frage nach dem Zusammen hang oder der Befruchtung der philosophischen Anthro pologie durch die Lebens philosophie exemplarisch geschildert werden kann. Plessner entwickelt eine Stufentheorie des Lebens, die sich an der Kategorie der Grenze orientiert; Raum, und nicht Zeit, ist in ihr maßgeblich. Bergsons eigene Differenztheorie des Lebens orientiert sich demgegenüber bekanntlich an der Zeit und der Dauer. Ungeachtet dieses Unterschieds im Detail stimmen Bergson und Plessner in vielem überein: Beide argumentieren anhand der Biologie; beide sehen in der Tatsache einer qualitativen Niveauerhöhung das Merkmal zur Differenzierung zwischen Pflanze, Tier und Mensch. Umgekehrt sind die Differenzen im Denkstil unüberhörbar. Während Plessner durch Begriffsschärfe besticht und eine durchgehende Analyse menschlicher Möglichkeiten anhand einiger weniger Kategorien durchführt, scheint Bergson vielmehr, hierin wahrlich Lebensphilo soph, in oft eher andeutenden Wendungen der Entwicklung und dem Werden den Vorrang zu geben.

    Eine Art Verschränkung und zugleich gegenseitige Bereicherung der zwei bislang ins Feld geführten Denktraditionen der Phänomenologie und der Lebensphilosophie stellt Gadamers durchaus selbstständiger Ansatz einer Neugründung der philosophischen Hermeneutik dar, der den dritten Themenkomplex bildet und auch den zweiten Band eröffnet. Mit der von ihm geleiteten mehrbändigen Neuen Anthropologie leistete Gadamer nach dem Zweiten Weltkrieg einen wesentlichen, wenn auch in mancher Hinsicht durchaus problematischen Beitrag zur Rezeption und Ver breitung der anthropologischen Denkschule. Doch nicht in dieser Funktion als Multiplikator, sondern anhand seines Werkes selbst untersucht Delannoy in seiner Studie „Über Dilthey hinaus: Gadamers indirekter Beitrag zur philosophischen Anthropologie“ seine Rolle in der Fortführung philosophisch-anthropo logischen Denkens. Ähnlich wie im Falle Heideggers wird das Anthropologische bei Gadamer nur über einen Umweg sichtbar, nämlich erst vermittelst der Einsicht, dass die Hermeneutik unvermeidlich mit einer Reflexion über das Subjekt der hermeneutischen Praxis einhergeht. Dabei wird die Bedeutung Diltheys für die Entwicklung der philosophischen Anthro pologie zu Recht aufgedeckt. Dessen zutiefst historisches Denken immunisiert Gadamer – wie zuvor auch Heidegger – von vornherein gegen jedwede Vernachlässigung des

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  • Geschicht lichen. Gadamers Verhältnis zu Dilthey verharrt dennoch keines wegs im Epigonalen, übernimmt er doch in vieler Hinsicht die Kritik, die Heidegger im Bereich der Geschichtlichkeit jenem gegenüber bereits erhoben hatte. Dem ungeachtet bringt diese lebensphilosophische Herkunft Gadamer in eine erstaunliche Nähe zu Plessner. Während Gehlens Sicht des Men schen ihm zu restriktiv erscheint, sieht er in Plessners Werk die Bestätigung, aus einer anderen Perspektive, von wichtigen lebensphilo-sophisch-phänomenologischen Thesen, allen voran derjenigen, wonach nur der Mensch Welt hat.

    Eine am Ende des vorangestellten Aufsatzes angeschnittene Thema-tik wieder aufgreifend widmet sich Delannoy in seinem zweiten Beitrag der „Rehabilitierung der Endlichkeit als Grundlage der Gadamerschen Kulturkritik“. Die indirekte Thematisierung des Menschen, die in der Hermeneutik erfolgt, erlaubt es durchaus, die Frage nach der Beziehung Gadamers zu Autoren der philosophischen Anthropologie zu stellen. Deren (scheinbar) end gültiger Setzung bestimmter Merkmale des Men-schen steht seine Betonung der End lichkeit der menschlichen Existenz diametral entgegen. Deshalb nimmt er auch gegenüber Scheler, Plessner und Gehlen eine eher kritische Position ein. Allerdings lässt die These der Sonderstellung des Menschen die Bedeutung Plessners für sein Denken erneut aufscheinen: In seiner Differenzierung von „Mitsamt“ als Koexis-tenzmodus des Tieres und „Miteinander“ als dem Modus, der dem Men-schen neben dem Mitsamt eigentümlich ist, sowie in der Verknüp fung von Leiblichkeit und Geistigkeit im vereinigenden Motiv der Lebendigkeit, wiederholt Gadamer bedeutende Einsichten Plessners. Delannoy wendet sich sodann der kulturkritischen Dimension von Gadamers Werk zu. Des-sen Aufwertung der Geschichtlichkeit des Menschen führt zu (zumindest impliziten) politischen Aussagen, die den Menschen dazu aufrufen, seiner Freiheit, und damit seiner Verantwortlich keit eingedenk zu sein – auch wenn die betont phänomenologisch-hermeneutische Einstellung sich jeg-lichem inner weltlichen Engagement verbietet. Wiederum ermöglicht es die anthro pologische Komponente seines Werkes, eine Kulturkritik zu entfal-ten, die die moderne Unfreiheit des Menschen an den zuvor festgelegten anthropologischen Strukturmerkmalen misst: Struktur merkmale, die den-noch nicht im engen, normativen Sinne aufzufassen sind, denn sie mahnen gerade in ihrer Offenheit gegen jede Dogmatisierung und Einschränkung

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  • menschlicher Möglichkeiten. Daraus entsteht eine Position, die derjenigen der Frankfurter Schule in einigen Punkten nicht unähnlich ist.

    Der vierte Teil der Untersuchung wendet sich Autoren zu, die zwar dem konkurrierenden Ansatz des Neukantianismus zuzurechnen sind, die dessen enge, meist erkenntnistheoretische Grenzen aber im Zuge der anthropologischen Wende überschreiten. Deshalb lohnt der Vergleich zwi-schen diesen Autoren und Autoren der philosophischen Anthro pologie. Zunächst geht Wolfgang Bialas in seinem Aufsatz „Anthropologie als Kul-turphilosophie der symbolischen Formen: Ernst Cassirer“ der Frage nach, was die Philosophie der symbolischen Formen dem philosophisch-anthro-pologischen Denken als Mehr wert zu erbringen vermag. Ungleich der Ver-nachlässigung der Historizität seitens seiner Marburger Kollegen versteht Cassirer Anthropologie als Verbin dung von Biologie und Geschichte, und somit als Mittel, um zugleich einer normativen Festsetzung anthropologi-scher Merkmale wie einer rein kasuisti schen Definition des Menschlichen zu entgehen. Auch im Bereich der Kultur besticht Cassirers Suche nach einer nicht-normativen Position, die dennoch nicht ins Beliebig-Relativis-tische führt. Wichtiges argumentatives Werkzeug in der Errichtung dieser Zwischen positionen bildet dabei die Leibnizsche Figur der Monade. Sie ermöglicht es, in der Suche nach Vermitt lungen nicht einen seichten Kon-sens, sondern die Bewahrung der Spannungen zwischen den jeweiligen menschlichen oder symbolischen Eigentümlichkeiten zu erreichen, und fungiert demnach als Gegenmittel zu jeder Hierarchisierung.37 Das Modell der symbolischen Form dient aber auch in philosophisch-anthropologi-scher Hinsicht dazu, ein kontrastives Modell des Wesens des Menschen herzustellen: Nur er lebt in einer symbo lischen Welt kultureller Bedeu-tungen; nur er ist der – symbolisch vermittelten – Erinnerung fähig. Aller-dings wird diese Opposition durch die Einsicht relativiert (die Cassirer mit Plessner teilt), dass der Unterschied zwischen Mensch und Tier in einer Addition, nicht einer Opposition liegt: Der Mensch kann animalisch und menschlich handeln.

    In ihrer Untersuchung „Zur Differenz des Denkansatzes von Cassirer und Plessner“ setzt sodann Heike Delitz eine Intuition Bialas’ fort, indem sie das Werk Plessners als anthropologischen Bezugspunkt

    37 Vgl. hierzu das Cassirer-Buch von Gérard Raulet, auf welches W. Bialas sich bezieht: Raulet 2005.

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  • nimmt, um die Nähe und Ferne Cassirers zur philosophisch-anthropo-logischen Tradition zu bestimmen. Die Ähnlichkeit in der Thematik beider Autoren, so macht Delitz von vornherein klar, darf über die genauso deut-lich feststellbare Diskrepanz nicht hinweg täuschen. Wenn Cassirer den Plessnerschen Ansatz als ihm durchaus verwandt wahrnimmt, wenn beide Autoren zum Teil ähnliche Formeln und Bezugs autoren verwenden, so verstehen sie sich durchaus als Konkur renten. Stein des Anstoßes bildet für Plessner der idealistische Rest, den er an der Philosophie Cassirers ding-fest macht: So wirft er ihm in einer berühmt gewordenen Wendung vor, er wisse zwar, „dass der Mensch ein Lebewesen“ sei, mache „davon aber philosophisch keinen Gebrauch“. Der im Faktum der Geistigkeit liegende Kontrast zwischen Mensch und Tier müsse nicht nur betont, sondern auch begründet werden. Dies verfehle die idealistische Anthropologie Cassirers, sowohl in der Philosophie der symbolischen Formen als auch in dem späteren Essay on Man, während es Plessner gerade darum geht, einen sprunglosen Übergang vom Naturhaften zum Geistigen herzustellen und somit den Dualismus zu überwinden. Doch dass Cassirer im Gegensatz zur Vertikalität der Argumentation Plessners horizontal verfährt, liegt letzten Endes an seinem spezifischen Interesse: Die Betonung der Pluralität der symbo lischen Formen dient bei ihm nicht so sehr der Überwindung des dualistischen Cartesianismus als dem Hervorkehren, aus einer erneuerten neukantianischen Perspektive, der Vielfalt menschlichen Welt zugangs.

    Gerald Hartung untersucht in seinem Aufsatz „Im Gesichtskreis des Lebens. Nicolai Hartmanns naturphilo sophischer Ansatz einer philoso-phischen Anthropologie“ das Werk eines weiteren innerhalb des Themen-komplexes der philosophischen Anthropologie schwer verort baren Autors. Hartmanns thematisch äußerst vielfältiges Werk ist im Bereich der Anthro pologie vor allem für seine Begründung einer neuen Ontolo-gie, genauer gesagt einer neuen Ontologie des Organischen von Interesse. Um der Charybdis des Determinismus und der Scilla des Vitalismus glei-chermaßen zu entgehen, kehrt Hartmann – in einem ähnli chen Schritt übrigens wie zur selben Zeit Cassirer (vgl. dessen Aufsatz „Kant und die moderne Biologie“ von 1940/1941) – zur dritten Kantschen Kritik und zur Idee der Zweck mäßigkeit zurück. Hartmann fasst diese – Kants Intention allerdings etwas verein fachend – als ein rein regulatives Prinzip auf und sieht demnach in ihr das einzig relevante Modell, um die Funktionsweise

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  • des Organischen jenseits von Zwecktätigkeits vorstellungen zu deuten. Kulturphilosophisch läuft diese Einsicht auf eine Auf fassung der Welt als weder sinnvoll noch sinnwidrig, sondern als sinnindifferent hinaus. Damit ist aber noch keine Theorie des Menschen gegeben. Denn im Unterschied zur philosophischen Anthropologie, und vor allem zu Gehlen (dem er eine kritische Abhandlung widmete), versucht Hartmann gerade nicht, das spezifisch Menschliche aus dem allgemein Organischen herzuleiten. Sein mit Schichten operierendes Denkmodell – eine damals weit verbreitete Figur, man denke an Roman Ingarden, Erich Rothacker oder Carl Gustav Jung – versperrt ihm vielmehr den Blick für die genuine philosophisch-anthropologische Fragestellung. Denn er begnügt sich mit der Verbindung der verschiedenen Schichten statt über ihre Verschränkung zu reflektie-ren. Andererseits nähert sich Hartmann wiederum mit diesem Schichten-modell der Denkweise der Philosophischen Anthropologie, insofern als er auch von unten nach oben verfährt: Dadurch, dass die oberen Schich-ten der unteren bedürfen, die unteren aber der oberen nicht, wiederholt Hartmann – doch wohl auf zufällige Weise – das Plessnersche Modell der Fundierung des Geistigen durch das Organische.

    Den letzten Schwerpunkt der Kontrastierung und Messung der philo sophischen Anthro pologie gegenüber ihren theoriegeschichtlichen Konkurren ten bildet die Untersuchung ihrer Auseinandersetzung mit der Soziologie. Diese Problematik begleitet die Bewegung von ihrem Beginn an, wurde sie doch von einem Denker – Max Scheler – eingeleitet, der in beiden Disziplinen eine Gründerrolle einnahm. In seiner Studie über „Philosophische Anthropologie als Anti-Soziologie. Erich Rothackers früher Entwurf einer Kulturanthropologie im theoretischen Feld der Weimarer Republik“ nähert sich Guillaume Plas dieser Problematik aus einer intellektuellensoziologischen Perspektive. Er zeigt, wie Rothacker als Multi plikator der philosophischen Anthropologie im Kontext der Auseinan der setzung um die damals in der Entstehung begriffene Soziolo-gie das anthropologische Gedankengut verwendete, um den marxistischen Anklang dieser Disziplin zu verdrängen. Hierfür entfaltete Rothacker eine umfassende Strategie: Im Bereich der Theorie wurde dem vermeintlichen Deter minismus der Soziologie ein Theoriegebäude entgegen gesetzt, das dem Menschen in jeder Situation ein Moment der Freiheit gewährte. Im Bereich der Institutionen wurde diese Arbeit durch eine konsequente

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