Pilze als Heilpflanzen in Vergangenheit, Gegenwart und ...
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P i l z e a l s H e i l p f l a n z e n i n V e r g a n g e n h e i t , G e g e n w a r t u n d
Z u k u n f t 1 )
H. P. MOLITORIS, Regensburg 2 )
Erwähnt man heute Pilze in medizinischem Zusammenhang, so denkt man meist entweder an Produzenten von Antibiotika, wie z. B. den imperfekten Pilz Penicillfum, oder an Giftpilze, wie den Grünen Knollenblätterpilz, Amanita phalloides. - Wir wollen uns jedoch hier mit der zwar verhältnismäßig kleinen aber wichtigen Gruppe der Großpilze oder Makromyceten beschäftigen, zu denen sowohl Schlauchpilze (Askomyceten) als auch Ständerpilze (Basidiomyceten) gehören. Von diesen sollen diejenigen behandelt werden, die als Heilpflanzen Bedeutung hatten, noch haben oder vielleicht bekommen werden. Dabei verzichten wir wegen der Fülle des Materials bewußt auf die große Gruppe der Antibiotika-bildenden niederen Pilze und auf die vielfach als Heilmittel eingesetzten Flechten, die eine Symbiose von Pilzen mit Algen darstellen.
I- Pilze: Definition und Erforschung
Stellen wir uns zunächst die Frage, was für Lebewesen die Pilze sind, die uns ja, bewußt oder unbewußt, in vielen Bereichen unseres täglichen Lebens begegnen, sei es als Schad- oder als Nutzorganismen. Pilze sind kernhaltige (eukaryontische) Organismen, deren Organisation von einfachen, undifferenzierten, mikroskopisch kleinen Einzellern bis zu großen, hoch differenzierten Gebilden mit weitverzweigtem Myzel und Fruchtkörpern aus Flechtgewebe (Plekten-chym) reicht. In ihrer Lebensweise nehmen sie eine Zwischenstellung zwischen dem Pflanzen- und Tierreich ein, insbesondere da sie keine photosynthetischen Pigmente besitzen und daher zur Energiegewinnung auf den Abbau organischen Materials tierischer °der pflanzlicher Herkunft angewiesen sind. Sie leben entweder symbiontisch mit ander n Lebewesen, zum Beispiel mit Algen in Form der Flechten oder mit Baumwurzeln als Mykorrhiza, oder parasitisch auf lebenden Wirten (Pflanze oder Tier), oder auch sapro-Phytisch auf totem, organischem Material. Ihre Lebenszyklen sind sehr vielgestaltig und teilweise recht kompliziert. Dies und einige der oben angeführten Eigenschaften führten dazu, daß einerseits genaue Kenntnisse über Pilze erst in jüngerer Zeit durch die Entwicklung entsprechender mikroskopischer und biochemischer Methoden gewonnen wurden, andererseits waren dies aber die Gründe, weshalb Pilze seit alters das Interesse der Menschen in besonderem Maße erregten,
2 Auazug aus einem Vortrag an der Versuchsanstalt für ^teanbau der Undwirtschaftskammer Rheinland. Krefeld. ^Prof. Dr. H. P. Molftoris, Botanisches Institut der Universi-^Kegensburg.
und zwar nicht nur, weil sie als Speise- oder Giftpilze gleichermaßen geschätzt bzw. gefürchtet waren, sondern auch aus vielen anderen Gründen:
So beschäftigten Pilze die Phantasie unserer Vorfahren — wegen ihrer Herkunft, da sie nicht aus
sichtbaren Samen entstanden, — wegen ihres schnellen Wuchses, sie
schießen wie die Pilze aus dem Boden ...", zum Beispiel die Stinkmorchel, Phallus impudicus, deren Länge innerhalb von 2 bis 3 Stunden um 15 bis 20 cm zunehmen kann,
— wegen ihrer schnellen Vergänglichkeit, — wegen der Kraft ihres wachsenden
Fruchtkörpers, die selbst Steinplatten hochheben kann,
— wegen der Größe des Fruchtkörpers, die bei einigen Pilzen, zum Beispiel dem Riesenbovist, Calvatia gigantea, bis zu 150 cm Durchmesser erreichen kann,
— wegen ihres Geruches („Stinkmorchel!"), — wegen ihrer auffallenden Farbe, wie bei
Leccinum aurantiacum, der „Rotkappe", — wegen ihres Farbwechsels, nach dem der
Hexen-Röhrling, Boletus lurldus, im Volksmund auch „Farbverkehrer" genannt wird,
— oder sogar wegen ihres Leuchtens im Dunkeln, das bei Armlllaria mellea, dem Hallimasch, beobachtet werden kann.
Lang war jedoch der Weg von den verschwommenen, mythischen Vorstellungen unserer Vorfahren bis zu unseren heutigen Kenntnissen über die Pilze, ein Weg, von dem ich einige Stationen aufzeigen möchte. Zu den frühesten erhaltenen Pilzdarstellungen gehören das Fresko eines Giftpilzes aus einem ägyptischen Grab um 1450 v. Chr. sowie die mittelamerikanischen „Pilz-Steine" in Menschengestalt aus dem 1. vorchristlichen Jahrtausend [9]. Im 5. Jahrhundert v. Chr. werden Pilze mehrfach bei den griechischen Schriftstellern und Naturwissenschaftlern Euripides und Hippokrates erwähnt, u. a. auch als Heilmittel. Bei den Römern waren Pilze sowohl als Leckerbissen bekannt wie auch als Giftpilze „beliebt". Ein Wandfresko in der 79 n. Chr. vom Vesuv verschütteten Stadt Pompeji zeigt mit großer Wahrscheinlichkeit Lactarlus deliciosus, unseren Blutreizker [1, 14]. Im ersten nachchristlichen Jahrhundert tragen Plinius und Dioscorides das Wissen ihrer Zeit in ihren Schriften zusammen. Diese werden jedoch in der Folgezeit meist immer nur abgeschrieben oder zitiert, und bis ins hohe Mittelalter erweiterte sich der Kenntnisstand über Pilze
nur geringfügig. So wird zum Beispiel immer wieder die Ansicht Plinius* wiedergegeben, Pilze seien giftig, wenn sie am Aufenthaltsort giftiger Reptilien vorkämen, oder Pilze seien Nachkommen von Hexen und entstünden aus Blitz und Donner. Als Beispiel ist in Abb. 1 eine Seite aus dem berühmten „Kreuterbuch" des Hieronymus Bock (1577) wiedergegeben, einem der sogenannten „Väter der Botanik", der aber bereits neben der Wiedergabe von Beschreibungen des Plinius und des Dioscorides auch schon eigene Beobachtungen verwertete und durch eine Reihe von Holzschnitten ergänzte [5]. H. Bock beschrieb die Pilze folgendermaßen: „Alle Schwemme seind weder Kreutter noch wurtzelen, weder blumen noch samen, sonder eyttel oberflüssige feuchtigkeyt der Erden, der Bäume, der faulen höltzer und anderer faulen dingen. Von solcher feuchtigkeit wachsen alle Tubera und Fungi. Das kan man daran warnemen, alle obgeschribene Schwemme, sonderlich die so inn den Kuchen gebraucht werden, wachsen am mey-sten wann es Dondern und regnen will, sagt Aquinas Poeta. Darumb die alten sonderlich acht darauff gehapt, und gemeint das die Tubera (dieweil sie von keinem same auffkom-men) mit dem Himmel etwz Vereinigung haben. Auff dise weiß redet auch Porphyrius, und spricht, der Götter Kinder heißen Fungi und Tubera, darumb das sie ohn samen und nicht wie andere Leut geboren werden." Erst M. Malphighi beschreibt in seiner „Ana-tome plantarum" (1675) die „Samen" der Pilze, und P. A. Micheli - in seiner „Nova plantarum genera" (1729) - erkennt die Bedeutung und weist die Funktion dieser Strukturen experimentell nach, die wir heute Sporen nennen. Mit C. v. Linnee, C. H. Persoon und E. Fries beginnt dann im 16. Jahrhundert die moderne Taxonomie und Systematik der Pilze, gefolgt von den physiologischen und biochemischen Untersuchungen der Gegenwart.
II. Pilze als Heilmittel in der Vergangenheit
Parallel mit dem zunehmenden Interesse an Pilzen als Nahrung, Gift, Schadorganismus oder wissenschaftlichem Versuchsobjekt ging auch ihre Verwendung als Heilmittel. Neben der Erwähnung in frühen chinesischen und indischen Schriften wurden Pilze im europäischen Bereich schon im 5. vorchristlichen Jahrhundert als Heilmittel geschätzt und bereits damals mit eigenen Namen belegt [12,14J. Eine Auswahl von Heilpilzen der Vergangenheit ist in Tabelle 1 mit ihren verschiedenen Namen und der Be-
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Abb. 1: Mittelalterliche Definition von Pilzen. Seite 332 aus dem „Kreutterbuch" des Hieronymus Bock. Straßburg, 1577.
Abb. 2: „Äußerliche" Verwendung von Pilzen als Heilmittel im Mittelalter. H. Bock, „Kreutterbuch". Straßburg. 1577. S. 333.
Zeichnung der Droge, beziehungsweise ihres Wirkstoffes, aufgeführt. - Wie aus dieser Übersicht hervorgeht, waren mindestens die vier zuerst genannten Pilze bereits bei den Griechen und Römern mit eigenen Namen bekannt [14]. Die wichtigsten Pilze sollen im folgenden kurz besprochen werden.
Der Zunderschwamm, Fomes fomentarlus, der als Parasit auf Laubbäumen mehrjährige große Fruchtkörper bildet und in ganz Europa vorkommt, wurde schon sehr frühzeitig zum Stillen von Blut („fungus chirurgorum") und zum Ausbrennen von Wunden verwandt. H. Bock berichtet darüber in seinem „Kreutterbuch" (vgl. Abb. 2): „Eusserlich. Die Schwemme werden nicht sehr am leib außwendig genützt, außgenommen die Holunderschwemm, die haben das geschrey das sie allerley hitz und geschwulst sollen löschen unnd nider trucken, zuvor inn Rosen wasser oder Wein geweycht und obergelegt." Auch die Verwendung zahlreicher Stäub-lings-Arten von Calvatia und Lycoperdon, die zu den Bauchpilzen gehören und ebenfalls weit verbreitet auf Wiesen vorkommen, geht bis in die Antike zurück. Sie wurden ähnlich wie Fomes fomentarlus eingesetzt und in den mittelalterlichen Apotheken als „fungus chirurgorum" geführt. Ihre Anwendung wurde bei H. Bock folgendermaßen beschrieben (Abb. 2): „Der dürre rund Bubenfist mit seinem mael unnd staub, dienet wol den fliessenden alten schaden, die werden darvon trucken, und schicken sich zur heylung." Laricifomes officinalls, der Lärchensch warn m, ein mehrjähriger, auf Lärchen parasitierender Pilz, war unter dem Namen „fungus laricis" wohl der am häufigsten und am vielseitigsten eingesetzte Heilpilz der Vergangenheit. H. Bock schrieb dazu (vgl. Abb. 3): „Innerlich.
Das Edel, weiß, leicht und mirbe gewächß Agaricum, ist beinahe zu allen innerliche gli-dern, so von böser feuchtigkeit belade seind nützlich und heylsam, mag auch eine jeden menschen, nach seiner stercke, alter un vermögen, wenig oder viel gereicht werden, inn Wein, inn Honig wasser, oder sonst, wie nachvolget, nach dem der presten ist, und der mensch erleiden kan .... Solche artzney füret auß im stulgang die urs-ach von welcher die faulen Febres auff kommen .... Dise Pillule bekommen vast wol den bleych-farbigen Weybern, unnd denen ihr blum verstanden ist. Auch allen Podagrischen und glidersüchtigen menschen. Weitter dienen gemelte Pillule, oder das Agaricum für sich selbst zu allen Würmen, und was der mensch für unrhat gessen oder getruncken hat, dar-zu ist nutz unnd gut das eintzig gewächß Agaricum "
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Tabelle 1 ftfokromyceten «I« Heilpflanzen In der Vergangenheit
Wissenschaftlicher und deutscher Name Volkstümlicher Name Droge (Wirkstoff)
1 Fomes fomentarius (L. ex Fr.) Kickx Echter Zunderschwamm
Blut-, Wund-, Feuerschwamm Fungus chirurgorum
2 Calvatia gigantea (Batsch) Lloyd Riesenbovist
Bubenfist, Crepidum lupi = Wolfsfurtz = Wolfsfurtz
Fungus chirurgorum
3 Laricifomes officinalis (Vill. ex Fr.) Kotl. & Pouz. Lärchenschwamm
Apotheker-. Purgierschwamm Fungus laricis (Agaricin)
4 Amanita muscaria (L. ex Fr.) Hooker Fliegenpilz
Giftblaume Agaricus muscarius (Muscarin u. a.)
5 Hirneola auricula Judae Berk. Judasohr
Oge-Schwümmli Fungus sambucinus
6 Boletus satanas Lenz Satanspilz
Kuh-Fotzn, Blutpilz (Pulvinsr.- Deriv.)
7 Elaphomyces cervinus (Pers.) Schlecht Hirsch-Trüffel
Hirsch-Brunst Fungus cervinus
8 Phallus impudicus L. ex Pers. Stinkmorchel
Gichtmorchel, Gichtschwamm (Signaturlehre)
9 Trametes suaveolens (Fr.) Fr. AnJs-Tramete
Weidenschwamm Fungus Salicis
10 Cordyceps militaris (L. ex St. Amans) Link Puppen-Kernkeule
China: „Pfl. im Sommer und Wurm im Winter"
(Cordycepin)
11 Claviceps purpurea (Fr.) Tulasne Toll-, Hunger-, Kriebel-, Gift-, Seeale cornutum Mutterkornpilz Schwarzkorn, Kindesmord (Mutterkornalkaloide)
12 Psilocybe mexicana Heim Mexikanischer Zauberpilz
Mexico: Teonanakatl (Göttlicher Pilz)
(Psilocin, Psilocybin)
13 Ustilago maydis (DC) Corda Maisbeulenbrand
(Ustilagln, Carnitin)
Griech. Name Lateinischer Name (Plinius)
1 Hippokrates Aridus fomes fungorum „mykes"
2 Theophrast Pezicae „pezis"
3 Dioscorides Agaricum „agarikon"
4 Boleti veneni diluto rubore, rancido aspectu, livido intus colore. rimosa Stria, pallido per ambitum labro.
Amanita muscaria, ein weitverbreiteter My-korrhizapilz der Waldbäume, ist als Fliegenpilz wohl einer der bekanntesten und schönsten Pilze überhaupt. Seine Anwendung als Heilpilz in der Vergangenheit reichte von Geschwüren bis Tuberkulose („Auszehrung"), v on epileptischen Zuständen bis zu klimakterischen Beschwerden. Wegen seiner halluzi-nogenen Eigenschaften wurde (und wird) er °ei vielen Völkern in Nordeuropa und Sibirien bei rituellen Handlungen verwendet, z - B. bei den Kamtschadalen und Burjäten [9, 15]. Er war so wertvoll und beliebt, daß seine •Kl Urin wieder ausgeschiedenen Wirkstoffe uber mehrere Personen weitergegeben wurden. Nach R. G. Wasson [16] müssen wir in Lesern Pilz auch das berühmte „Sorna" der indischen Veden sehen. Ein diesem Pilz ähnelndes, großes, baumartig verzweigtes Gewächs ist in einem Fresko der mittelalterlichen Kapelle von Plaincourault in Frankreich (1291) dargestellt, wovon eine kultische Bedeutung dieses Pilzes abgeleitet wird; von anderer Seite wird jedoch darauf hingewiesen, daß es sich hierbei lediglich um den p ' lzbaum der byzantinischen und römischen K u n s t handeln könne [16]. ^'erdings dürfte J . M. Allegro in seinem ^Uch „Der Geheimkult des heiligen Pilzes" Molden, 1971) bei der kultischen Bewertung v ° n Pilzen viel zu weit gegangen sein, wenn
er die christlichen Religionen auf einen Rauschgiftkult mit Pilzen zurückführen will.
Hirneola auricula Judae, ein auf alten Holunderstämmen häufiger Pilz, der wegen seiner Form „Judasohr" genannt wird, ist der „fungus sambucinus" der alten Arzneibücher. Er wurde besonders bei Entzündungen, so der Augen, eingesetzt, was auch der volkstümliche deutsche Name „Oge-Schwümmli" andeutet.
Der wegen seines Geruchs und seines Aussehens „Stinkmorchel" genannte Bauchpilz Phallus impudicus, dessen eiförmiges Jugendstadium auch als „Hexenei" bekannt ist, wurde früher häufig gegen Gicht verschrieben, was in dem Namen „Gichtmorchel" noch zum Ausdruck kommt. Außerdem wurde der Pilz auch - wohl wegen seiner Gestalt (lateinischer Name!) - nach der Signaturlehre als Aphrodisiakum genommen.
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Abb. 3: „Innerliche" Verwendung von Pilzen als Heilmittelim Mittelalter. H. Bock, „Kreutterbuch", Strasburg, 1577. S. 333.
Während die bisher genannten Pilze alle den Ständerpilzen, den Basidiomyceten angehören, sind Cordyceps militaris, die Puppen-Kernkeule und die nahe verwandte Art C. sinensis, Askomyceten. Diese Pilze parasitieren auf Insekten, deren Panzer sie völlig mit ihrem Myzel erfüllen, bis schließlich die Fruchtkörper nach außen durchbrechen. Schon vor Tausenden von Jahren erlangten sie in China als Heil- und Stärkungsmittel Berühmtheit, und zwar unter einem Namen, der übersetzt lauten würde: „Pflanze im Sommer und Wurm im Winter" [1,4,10,13].
Bereits die Heilige Hildegard von Bingen (1180), Äbtissin eines Benediktinerinnenklosters und erste Naturforscherin deutscher Sprache, kannte die Heilwirkung von Pilzen. So beschrieb sie in ihrem Werk „Physica" auch Elaphomyces cervinus, die Hirsch-Trüffel, einen Askomyceten, der in Mittel-und Osteuropa mit den Wurzeln von Nadelbäumen Mykorrhizen bildet, und sie wies auf die Wirkung dieses Pilzes als Aphrodisiakum hin, die A. Lonicer 1577 in seinem Kräuterbuch mit den Worten beschreibt:
„ ... das ist Hirtzschwamm soll in den Wäldern auf den Samen des Hirschen wachsen und eine Natur haben, die eheliche Werke und Wollust reizen ..." (zitiert nach [4]).
Mit dem nächsten Pilz, Claviceps purpurea, dem Mutterkornpilz, ebenfalls einem Askomyceten, haben wir unter den Makromyceten wohl den bedeutendsten Heil- und Giftpilz der Geschichte vor uns, weshalb auf ihn auch genauer eingegangen werden soll. Dieser Pilz hat einen recht komplizierten Entwicklungsgang. Er parasitiert auf verschiedenen Gräsern, vorzugsweise Roggen, unter Bildung einer Konidienform und später von harten, dunklen Dauermyzelien, den Sklero-tien, aus denen nach Überwinterung die Fruchtkörper hervorgehen. Erwähnt wurde dieser Pilz im deutschen Schrifttum erstmals im Kräuterbuch des A. Lonicer als „Kornzapfen", wurde von J . Tha-lius 1588 noch als abnormes Roggenkorn angesehen, 1591 von C. Bauhin als eigene Pflanze, „Seeale luxurium", betrachtet und 1658 von J . Bauhin erstmals abgebildet. 1764 bewies O. F. Münchhausen die bereits früher vermutete pilzliche Herkunft der schwarzen „Körner". 1853 schlieSlich wies C. Tulasne nach, daß die drei unter den Namen Sphacelia segetum (= Konidiensta-dium, „Honigtau"), Seeale cornutum (= Dauerform, Sklerotium, „Mutterkorn") und Claviceps purpurea (Pilz mit den aus den Sklerotien entstehenden Fruchtkörpern) bekannten Pilzformen nur verschiedene Entwicklungsstadien ein und desselben Pilzes sind.
Die Sklerotien dieses Pilzes enthalten eine Reihe hochtoxischer Alkaloide, die beim Vermählen ungereinigten, Mutterkornhaltigen Roggens mit dem Mehl in das Brot kommen und zu den verheerendsten epidemiear
tigen Vergiftungen der Geschichte führten, die nach dem englischen Ausdruck für Mutterkorn, „Ergot of rye", „Ergotismus" genannt wurden.
Zwei Formen des Ergotismus werden beobachtet: 1. Ergotismus gangränosus: Parästhesien
(Kribbeln, daher auch „Kribbelkrankheit") in den Gliedern, Taubheitsgefühl, brennende, unerträgliche Schmerzen (daher die Bezeichnung „heiliges Feuer, ignis sacer"), oft feuchtes, dann trockenes Gangrän, Abfallen der Gliedmaßen, oft der Tod.
2. Ergotismus convulsivus: Allgemeine Beschwerden (Übelkeit, Kopfschmerzen, Schwindel), Durst, Heißhunger, Krämpfe, Halluzinationen, Dauerkontraktionen von Gliedmaßen, oft Verblödung und oft der Tod.
Da Claviceps purpurea besonders auf Roggen vorkommt, der vorwiegend in Mitteleuropa angebaut wurde, traten die Krankheitserscheinungen auch hier, besonders in Frankreich, am häufigsten auf. Geschichtlich belegte Epidemien, denen teilweise Zigtausen-de zum Opfer fielen, waren 857 n. Chr. in Xanten, 945 in Paris und in der Folgezeit immer häufiger, so daß 1073 ein eigener Orden, der St. Antoniter-Orden, gegründet wurde, der sich ausschließlich mit der Pflege der Opfer dieser Krankheit befaßte, wovon schließlich auch die Krankheit selbst den Namen „St. Antonius-Feuer" erhielt. Auch in die darstellende Kunst des Mittelalters fand der Ergotismus Eingang, wie das Bild „Die Versuchung des Heiligen Antonius" aus dem Isenheimer Altar M. Grünewalds oder einige der Werke von H. Bosch beweisen [3]. Obwohl es Hinweise gibt, daß bereits der Perser Muwaffak um 900 n. Chr. (zitiert nach [15]) die Giftnatur des Mutterkorns kannte, wies erst 1670 der französische Landarzt Thuillier auf Seeale cornutum als die Ursache des Ergotismus hin und stellte dazu Versuche an; diese Beobachtungen fanden schließlich in Werken wie C. N. Langens' „Beschreibung der Kornzapfen ..." (1717) ihren Niederschlag. Erst durch Tulasnes Arbeiten und die späteren chemischen Untersuchungen wurden allerdings die Zusammenhängevöllig geklärt. Daß selbst heute noch rückständige landwirtschaftliche Methoden und Unachtsamkeit zu schweren Ergotismus-Epidemien führen können, zeigt der Fall von Pont St. Esprit in Frankreich im Jahre 1951, der mehrere Todesopfer forderte. Die „kleinen, schwarzen Körner" (Sklerotien) des Mutterkornpilzes haben jedoch nicht nur schädliche Wirkungen. Sehr früh bereits wurden in ihnen Heilkräfte erkannt, eine eindrucksvolle Bestätigung des Ausspruches
des großen mittelalterlichen Arztes und Naturforschers Paracelsus, der sagte: „Nichts ist Gift, allein die Dosis macht, daß ein Ding kein Gift se i " (zitiert nach [17]). Nach verschiedenen Quellen soll Mutterkorn als Heilmittel bereits bei den alten Chinesen und in Griechenland (Hippokrates) bekannt gewesen sein. Im Mittelalter wurde es von „Hexen" und von „weißen Frauen" als Ab-ortivum benutzt. Im deutschen Schrifftum wurde es erstmals von P. A. Matthiolus 1565, A. Lonicer, 1582, und J . Thalius, 1588, erwähnt, und zwar zur Anregung der Wehen und als Mittel gegen Blutungen. Ende des 17. Jahrhunderts wurde es von R. J . Camerarius in die Gynäkologie eingeführt, von dem holländischen Geburtshelfer Ruthlaub 1747 systematisch angewendet und fand schließlich durch die Empfehlung des amerikanischen Arztes J . Stearns („pulvis parturiens") 1820 Eingang in die Pharmakopö der USA und 1836 auch in die Englands. Wie ein Blick auf die Tab. 1 zeigt, sind die volkstümlichen Namen des Mutterkornpilzes und seiner Sklerotien ein besonders gutes Beispiel für Erscheinungsbild, Wirkung und Anwendung eines Pilzes. In ähnlicher Weise wie Claviceps purpurea wurde und wird teilweise auch heute noch, besonders in Amerika, Ustilago maydis in der Heilkunde eingesetzt, ein Basidiomycet, der auf Mais parasitiert (Maisbeulenbrand). Bei der Beschreibung des Ergotismus convulsivus wurde bereits von der Wirkung der Mutterkornalkaloide auf das Nervensystem gesprochen, die bis zu Halluzinationen führen kann. Verantwortlich dafür sind die im Mutterkorn enthaltenen Lysergsäure-Deriva-te(Abb. 4). In diesem Zusammenhang sind wegen ihrer halluzinogenen Wirkungen Mitglieder zweier Pilzgattungen, Panaeolus und Psllocybe, zu erwähnen, die vor allem in Mittel-Amerika vorkommen. Psllocybe mexicana ist der bekannte mexikanische Zauberpilz, der Teon-anäcatl, der „göttliche Pi lz" der Indianer. Er wurde schon sehr früh und bis in die heutige Zeit zu rituellen Handlungen und in der Volksmedizin benutzt, was durch die bereits erwähnten 3000 Jahre alten guatemaltekischen Pilz-Steine belegt ist [9,16].
III. Pilze als Heilmittel in der Gegenwart
Mit der Besprechung von Claviceps, Ustilago, Panaeolus und Psllocybe sind wir bei Pilzen angelangt, deren Anwendung in Heilkunde und Volksmedizin bis in die heutige Zeit reicht. In Tab. 2 sind dazu Heilpilze und ihr wirksames Prinzip zusammengestellt, soweit sie auch heute noch in den verschiedenen Bereichen der Heilkunde, Schulmedizin, Volksmedizin und Homöopathie mehr oder weniger in verschiedenen Anwendungsbereichen eingesetzt werden.
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Abb. 4: Strukturformeln halluzinogener Substanzen aus Pilzen.
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a) LSD (Lysergsäure-Diäthylamid), ein synthetisches Derivat der Lysergsäure, einem Alkaloid des Mutterkornpilzes Claviceps purpurea.
b) Psilocin und c) Psilocybin aus Arten der Gattung Psllocybe und Panaeolus.
Die Pilze in der oberen Hälfte der Tabelle werden alle - angedeutet durch (x) - nur noch selten oder nur in entlegenen Gebieten verwendet, besonders in Volksmedizin und Homöopathie.
So wird auch heute noch Amanita muscaria, der Fliegenpilz, bei einer ganzen Reihe verschiedenster Beschwerden eingenommen.
- Ahnliches, mit teilweise identischem Anwendungsgebiet, gilt für den Grünen Knollenblätterpilz, Amanita phalloides, der allerdings wegen seiner außerordentlichen Giftigkeit nur mit äußerster Vorsicht eingesetzt wird. Er enthält 2 Typen von Toxinen: (i) die rasch wirkenden Phallatoxine, die das endoplasmatische Retikulum der Leberzellen angreifen und (ii) die langsam, aber nachhaltiger wirkenden Amanitine, die die Zellkerne der Leberzellen schädigen und die Proteinsynthese hemmen. Der Pilz wird gelegentlich noch als Droge in homöopathischen Dosen bei Störungen des Zentralnervensystems, in der Gynäkologie und bei anderen Krankheiten, wie Epilepsie, verwandt. - In der Substanz Antamanid enthält der Pilz gleichzeitig einen weiteren interessanten Stoff, der der
Tabelle 2 Makromyceten als Hellpflanzen In der Gegenwart
Giftwirkung der Amanita-Toxine entgegenwirkt. Das Gegengift muß jedoch, und das ist die therapeutische Schwierigkeit, gleichzeitig mit dem Gift selbst eingenommen werden, um wirksam zu sein.
Die in der unteren Hälfte der Tabelle 2 aufgeführten Pilze werden auch heute noch häufiger angewendet. So der Lärchenschwamm Laricüomes officinalis gegen Asthma und Nachtschweiß, als Abführmittel und als Bitterstoff in Magenbittern. Das wirksame Prinzip ist Agaricin. Auch Fomes cinnamomeus soll noch häufiger genommen werden. Die wichtigste Heilpflanze unter diesen Pilzen ist jedoch nach wie vor der Mutterkorn-Pilz Claviceps purpurea [4, 6, ß, 10,15]. Dafür sind seine inzwischen gereinigten, chemisch analysierten und auch medizinisch gut untersuchten Alkaloide verantwortlich, die in Tab. 3 zusammengestellt sind. Sie bilden 4 Gruppen:
(1) die wasserlösliche Ergometrin-Gruppe (2) die wasserunlösliche Ergotamin-Gruppe (3) die wasserunlösliche Ergotoxin-Gruppe (4) die Clavin-Gruppe.
Die Wirkstoffe kommen jeweils in einer links-drehenden, pharmakologisch aktiven (-in)-Form und in einer rechts-drehenden, pharmakologisch inaktiven (-inin)-Form vor, wobei die wasserlöslichen Alkaloide der Ergometrin-Gruppe rasch aber kurzzeitig wirken, die wasserunlöslichen Alkaloide der anderen beiden Gruppen langsam, dafür aber anhaltender. Der Nachteil der ursprünglich benutzten Droge, also des gesamten Sklerotiums bzw. seiner Präparationen, lag einmal in der nach Herkunft (Getreideart, Herkunftsland) unterschiedlichen quantitativen und qualitativen Zusammensetzung und zweitens in dem verhältnismäßig raschen Wirkungsabfall (ca. 1 Jahr). - Heute werden daher die Alkaloide aus dem Mutterkorn extrahiert und als reine (und stabile) Substanzen zur Herstellung von Medikamenten definierter quantitativer und qualitativer Zusammensetzung und Wirkung verwendet. Dazu wird das Mutterkorn nicht mehr wie früher aus dem normalen Getreide ausgelesen, sondern der Pilz wird entweder (1) in parasitischer Kultur nach Beimpfung
gesunden Roggens im Großen angebaut und geerntet oder
o heute Pilz / Wirkungsgruppe Wirksames Prinzip Anwendungsbereich Pilz / Wirkungsgruppe Wirksames Prinzip
SM VM HO Anwendungsbereich Pilz / Wirkungsgruppe
SM VM HO
Amanita muscaria (L. ex Fr.) Hooker Muscaridin u. a. X (x) (x)
Ödeme, Diureticum, Halluzinogen Störg. d. ZNS, Gynäkol., Rheuma u. a.
Amanita phalloides (Vaill. ex Fr.) Secr. Amanitine, Phalloidine Antamanid
X
(x) (x) Störg. d. ZNS. Gynäkol., Epilepsie.
Gegengift gegen Amanita-Toxine Calvatia gigantea (Batsch.) Lloyd X
(x) (x) Anämie. Hautkrkh., Gynäkol., Katarrh
äußere Blutungen Elaphomyces cervinus (Pers.) Schlecht X (x) Aphrodisiakum (bes. Vieh) Fomes fomentarius (L. ex Fr.) Kickx X (x) äuB. Blutg., Blasenkrkh., Gynäkol. Hirneola auricula Judae Berk. X (x) als schleim. Aufguß bei Entzündungen Inonotus obliquus (Pers. per Fr.) Pilät X (x) Ost-Europa, gegen Krebs Phallus impudicus L. ex Pers. X
(x) (x) Gicht
Aphrodisiakum (Vieh)
Laricifomes officinalis (VIII. ex Fr.) Kotl. & Pouz. Agaricin X X X Asthma, Nachtschweiß, Abführmittel,
Fomes cinnamomeus Trog. Magenbitter
Fomes cinnamomeus Trog. Fomitin X X Blasen- und Darmleiden, Hämorrhoiden Claviceps purpurea (Fr.) Tulasne Mutterkorn-Alkaloide
(heute meist reine Subst.) X
X X Abort ivum
Gynäkolog., (Wehenmittel, Uterusblutg.) Kreislauf, Migräne u. a.
Ptilocybe mexicana Heim Lysergsr.- Derivate, LSD (x) Neurolog., exp. u. therap. Psychiatr.
Ptilocybe mexicana Heim Psilocin, Psilocybin X X Mittel-Amerika als Halluzinogen
Ustilago maydis (DC) Corda (x) Neurolog., exp. u. therap. Psychiatr.
Ustilago maydis (DC) Corda Ustilagin, Carnitin X X Gynäkologie, ähnl. Mutterkorn
(X) n*Jr (noch) selten eingesetzt. ° M * Schulmedizin, VM - Volksmedizin, HO - Homöopathie
Tabelle 3 Die wichtigsten Mutterfcomalkalolde
Gruppe Typ des Lysergsr.-Derivats
wasserlöslich
Wirkung Alkaloid Drehung pharmakolog. Aktivität
ERGOMETRIN- Alkanolamid - + schnell, kurzdauernd, Uterus-Wirkung (ocytocische W.)
Vergiftung: Ergotismus
Ergometrin (- Ergobasin, - Ergonovin)
Ergometrinin
- . links
+, rechts
+
ERGOTAMIN- Peptld-Alkaloide langsam, langdauernd, Uterus-Wirkung, (adreno8ympathicolytischt zentral-sedativ)
Ergotamin Ergotaminin
Ergosin Ergosinin
- , links +, rechts
- , links +, rechts
+
+
ERGOTOXIN- Peptid-Alkaloide langsam, langdauernd, Uterus-Wirkung, (adreno8ympathicolytisch, zentral-sedativ)
Ergocristin Ergocristinin
Ergokryptin Ergokryptinin
Ergocornin Ergocorninin
- , links +, rechts
- . links +, rechts
- , links +, rechts
+
+
+
CLAVIN- Mindestens 12 weite wildwachsender Grä
re Mutterkorn ser, in kleiner
alkaloide (ebenfalls verwandt mit Lysergsäure) wurden isoliert, vor allem aus dem Mutterkorn Mengen auch aus dem Roggen-Mutterkorn.
(2) in saprophytischer Kultur, zum Beispiel in Flüssigkeitskultur unter definierten Bedingungen, angezogen: dies dürfte die Methode der Zukunft sein.
Die unter Verwendung der reinen Mutterkorn-AI kaloide hergestellten Medikamente wie Bellaravil, Bellergal, Ergotren, Qynergen und Neo-Qynergen haben heute einen weiten Anwendungsbereich in der Gynäkologie (Anregung der Wehentätigkeit, Stillung nachgeburtlicher Blutungen), bei Kreislaufstörungen, Migräne u. a. In ähnlicher Weise, wenn auch in wesentlich geringerem Umfang, wird noch Ustilago maydis mit seinen Inhaltsstoffen Ustilagin und Carnitin in der Homöopathie verwendet. Bei den ersten drei Gruppen der Mutterkorn-Alkaloide handelt es sich um Derivate der Lysergsäure (Abb. 4). Das als „LSD" bekannt, ja berüchtigt gewordene Halluzinogen Ly-sergsäure-Diäthylamid ist heute das am stärksten wirkende psychotrope Pharmakon („psychomimetische Droge"), das auch in der Rauschgift-Szene („acid") eine Rolle spielt. Da es schizophrenieartige Zustände erzeugen kann, lag es nahe, es bei der Erforschung und Behandlung von Geisteskrankheiten einzusetzen. So wurde auch in Deutschland bereits in den 60er Jahren LSD mit Erfolg sowohl in der experimentellen Neurologie wie auch therapeutisch in der Psychiatrie angewandt [11]. Dabei konnte eine überraschend hohe Erfolgsquote bei der Behandlung schwerer Neurosen, die der konservativen Psychoanalyse und Behandlung nicht zugängig waren, verzeichnet werden. Weiterhin wurden günstige Wirkungen auf die schwerwiegenden sozialen Störungen frühgeschädigter autistischer Kinder beobachtet, die sonst therapeutisch aussichtslose Fälle sind [11]. - Derartige Therapien
wurden dann in den USA auch bei Alkoholismus, Drogenabhängigkeit, der Linderung von Schmerzzuständen u. a. versucht.
Das Auftreten von Chromosomenbrüchen in den Zellen von derartig behandelten Patienten scheint jedoch einer der Gründe dafür zu sein, daß in den letzten Jahren zumindest der therapeutische Einsatz der Droge beim Menschen praktisch aufgehört hat. 3) Wie aus den Strukturformeln der in den Mutterkorn-AI kaloiden enthaltenen Lysergsäure, des abgeleiteten LSD und der bereits erwähnten halluzinogenen Drogen Psilocin und Psilocybin zu ersehen ist (Abb. 4) weisen diese Substanzen übereinstimmend einen Tryptamin-Rest auf. Daher erklärt sich auch die ähnliche Wirkung, aus der die ähnlichen Einsatzmöglichkeiten in der Heilkunde resultieren.
Wenn wir noch einmal die Tabelle der heute als Heilmittel eingesetzten Groß-Pilze überblicken (Tab. 2), so fällt auf, daß diese alle auch bereits schon früher verwendet wurden. Allerdings wird heute der gesamte Pilz als Droge oder als ungereinigter Extrakt nur noch selten oder nur in entlegenen Gebieten in der Volksmedizin und in der Homöopathie verwendet. Bei den Pilzen, die heute noch eine Rolle als Heilmittel spielen, werden die wirksamen Substanzen vielmehr isoliert und gereinigt, so daß sie von der pharmazeutischen Industrie zur Herstellung von Medikamenten definierter Zusammensetzung und damit auch definierter Wirksamkeit eingesetzt werden können. Darüber hinaus bietet heute die synthetische Darstellung derartiger Substanzen weitere Möglichkeiten.
3h)) Persönlich« Mitteilung. Prof. Dr. Q. Späterer, Regensburg.
IV. Pilze als Heilmittel in der Zukunft
Welche Aussichten haben nun Makromyce-ten, auch künftig eine Rolle als Heilpflanzen in der Medizin zu spielen? Hier ist bereits abzusehen, daß der eben aufgezeigte Trend von der Droge, dem Gesamt-Pilz oder seinem Extrakt zur definierten, möglicherweise sogar synthetisch hergestellten reinen Substanz sich weiter verstärken wird. Die Antibiotika sind dafür das beste Beispiel. Die meisten der heute therapeutisch eingesetzten Antibiotika, wie Penicillin und ähnliche, stammen aus imperfekten Pilzen oder werden wie Streptomycin von Bakterien oder anderen Mikroorganismen gebildet. Dabei beträgt der Prozentsatz der tatsächlich therapeutisch eingesetzten Antibiotika nur etwa 4 % der insgesamt gefundenen und untersuchten Reinsubstanzen, ist also sehr gering. Gründe dafür sind u. a. Wirkungsspektrum, Stabilität, Toxizität, Preis und schließlich auch die Marktlage. Andererseits zwingt aber die zunehmende Resistenz vieler Krankheitserreger gegen die gebräuchlichen Antibiotika dazu, ständig weitere antibiotisch wirksame Stoffe zu suchen. Hier scheinen die Makromyceten, insbesondere die Basidiomyceten, gute Erfolgsaussichten zu haben, denn sie stellten auch bisher die Hauptmenge der als Heilmittel benutzten Großpilze; folgende Zahlen mögen dies belegen: Nach Berdy (zitiert in [2]), stammen von den 3222 im Jahre 1974 bekannten Antibiotika nur 140, d. h. also nur etwa 5 % von Basidiomyceten. Daß dies weniger auf die mangelnde Synthesefähigkeit dieser Pilz-Gruppe als vielmehr auf die noch ungenügende Untersuchungsbreite zurückzuführen ist, geht z. B. aus Arbeiten von Robbins und anderen hervor; diese Autoren (Literatur siehe [2]) stell-
ten fest, daß z. B. von 1000 Basidiomyceten-Stämmen 40 % (!) eine antibiotische Aktivität aufwiesen. Bezogen auf die insgesamt etwa 30 000 bis 40 000 Basidiomyceten-Arten wären dann die Aussichten, unter diesen auch solche mit therapeutisch verwendbaren Antibiotika zu finden, sicher nicht schlecht. - In Tab. 4 u. 5 sind verschiedene Makromyceten zusammengestellt, die aufgrund bereits vorliegender Kenntnisse von ihren antibiotischen Aktivitäten oder anderen Wirksamkeiten in der Zukunft für eine Anwendung in der Medizin in Frage kommen (Lit. s. bei [2, 4, 7, 10]).
1 Antibakteriell Stellvertretend für andere sei hier Hohen-buehelia atrocaerulea (syn. Pleurotus griseus) genannt. Die wirksame Substanz Pleurotin ist für die antibiotische Aktivität, die auch Gram-positive Mikroorganismen und Tuberkulose-Erreger einschließt, verantwortlich. - Der schon früher bei Magenerkrankungen eingesetzte Birkenporling, Piptoporus betuli-nus, erwies sich ebenfalls als antibiotisch aktiv.
2 Antimykotisch Einige Pilze, wie z. B. Sparassis crispa (Krause Glucke), ein ausgezeichneter Speisepilz, wirken vor allem gegen Pilze,
was für die Therapie besonders wertvoll sein könnte. Das aus diesem Pilz isolierte Sparassol (1923) war im übrigen das erste aus einem Basidiomyceten isolierte Antibiotikum.
3. Antibakteriell und antimykotisch In dieser Gruppe ist besonders Cyathus striatus interessant: der auch wegen seiner abenteuerlichen Form auffallende Gestreifte Tiegelteuerling ist nicht nur gegen Gram-positive und -negative Bakterien, sondern auch gegen Pilze wirksam.
4. Vielfach antibiotisch Clitopilus-Arten und Psathyrella, teilweise synonym mit Pleurotus, wirken nicht nur antibakteriell, sondern zusätzlich noch gegen Mycoplasmen, teilweise auch gegen Viren. Wirkstoff ist u. a. Pleu-romutilin, dessen Namen schon auf die Verwandtschaft dieser Pilze mit Pleurotus hinweist.
5. Cancerostatisch Neben Infektionskrankheiten aller Art, die wir heute langsam durch den Einsatz von Antibiotika und anderen Pharmaka zu beherrschen hoffen, ist die Bekämpfung des Krebses noch eines der großen ungelösten Probleme der Medizin. Auch hier
haben die jüngsten Untersuchungen Hinweise dafür erbracht, daß Makromyceten, darunter vor allem wieder Basidiomyceten, cancerostatisch wirksame Substanzen synthetisieren, die möglicherweise auch therapeutische Bedeutung erlangen können: Tab. 5.
Amanita phalloides, der schon verschiedentlich erwähnte hochgiftige Grüne Knollenblätterpilz enthält im Ananullin einen cancerostatischen Wirkstoff. - Auch die Stinkmorchel, Phallus impudicus, und die als Speisepilz geschätzte Wintertrüffel, Tuber brumale, erwiesen sich als cancerostatisch.
6. Antibiotisch und cancerostatisch Eine ganze Reihe von Pilzen wurden gefunden, die nicht nur cancerostatische, sondern auch verschiedene antibiotische Aktivitäten in sich vereinigen, so der weitverbreitete und als Speisepilz beliebte Wiesen-Champignon, Agaricus campe-stris, und andere Agaricus-Arten, ebenso verschiedene Arten der Bauchpilz-Gattungen Calvatia und Lycoperdon, die, wie oben berichtet, bereits in der mittelalterlichen Heilkunde große Bedeutung hatten.
Tabelle 4 Makromyceten als Hellpflanzen In der Zukunft
mögliche Verwendung wegen
Pilz / Wirkungsgruppe a> Wirksamkeit gegen Wirkstoff Pilz / Wirkungsgruppe £
heut
Bakterien PI Vi Mp
Qram Tb PI Vi Mp
a) antlbakterleil Albatrellus confluens (A. u. S. per Fr.) Kotl. u. P. X + Qrifolin Clitocybe-Arten X Diatretyne 2 Heterobasidion annosum (Fr.) Bref. X Fomannosin Hohenbuehelia atrocaerulea (Fr.) Sing. X + X Pleurotin Hypholoma fasciculare (Huds. ex Fr.) Kummer (x) Fasciculol D Lactarius deliciosus Fr. X X Lactaroviolin Lepista diemii Sing. X Diatretyne 2 Leucopaxillus-Arten X X Clitocybin A, B Marasmius graminum (Lib.) Berk. (x) 6-MethyM, 4-naphthochinon Oxyporus corticola (Fr.) Ryv. X X Nemotin, Nemotinsäure Perenniporia tenuis (Schw.) Ryv. X X Nemotin, Nemotinsäure Piptoporus betulinu8 (Bull, ex Fr.) Karsten X X Polyporensäure C Punctularia strigosozonata (Schw.) Talbot X Phlebiakauranol Sterum rameale (Pers.) Fr. X Complicatic acid
b) antimykotisch Qloeophyllum sepiarium (Wulf ex Fr.) Karsten X Oospolacton Sparassis crispa Wulf ex Fr. X Sparassol
O antlbakterleil und antimykotisch Cyathus helenae Brodle X X Cyathine Cyathus striatus (Huds. ex Pers.) Willd. ex Pers. X +,- X Striatin A, B, C Marasmiellus ramealis (Bull, ex Fr.) Sing. X X X 8-Hydroxy-3-methylisocumarin Strobilurus tenacellus (Pers. ex Fr.) Sing. X X Marasminsäure Xylobolus frustulatus (Pers. ex Fr.) Karsten X + X Frustulosinol
<*) antlbiot Clitopilus-Arten X + X Pleuromutilin Psathyrella subatrata (Batsch. ex Fr.) Gill. X + X X Pleuromutilin, Drosophilin A
bedingt wirksam; Tb - gegen Tuberkulose; Pi • Pilze; Vi = Viren; Mp = Mycoplasmen
nur noch selten eingesetzt; Ba = Bakterien; Pi - Pilze; Ca - Carcinom
Tabelle 5 Makromyceten als Hellpflanzen In der Zukunft
CD CD mögliche künftige Verwendung Pilz / Wirkungsgruppe H
C: c CD
wegen Wirksamkeit gegen Wirkstoff ~ a. Ba Pi Ca sonstige Wirksamkeit
a) canceroatatlach Amanita phalloides (Vaill. es Fr.) Secr. X (X) X Amanullin Amanita phalloides (Vaill. es Fr.) Secr. Amanitatoxin-Gegenmittel Antamanid Boletus edulis Bull es Fr. X ? Flammulina velutipes (Curt ex Fr.) Sing. X Flammulin Lentinus edodes (Berk.) Sing. X Lentinan Phallus impudicus L. ex Pers. X (X) X ? Tuber brumale Vitt. (x) X ?
b) antibiotisch und canceroetatlsch Agaricus campestris L. ex Fr. (x) (x) Agaridoxin Calvatia-Arten X (x) X X X Calvatic acid Coriolus consors (Berk.) Imaz. X X Coriolin, Diketo-C.B Lampteromyces japonicus (Kawamura) Sing. X X X Lampterol (llludin S) Lepista nebularis (Fr.) Harmaja X X Nebularin Lycoperdon-Arten X (x) X X X Calvatic acid Omphalotus illudens Bresinsky & Besl X X X llludin M,S Strobilurus tenacellus (Pers. ex Fr.) Sing. X X Strobilurin A,B
c) Psychopharmaka u. a. Coprinus atramentarius (Bull, ex Fr.) Fr. Antabus-ähnliche Wirkung Coprin Claviceps purpurea (Fr.) Tulasne X X Gynäkologie u. a. Mutterkorn-Alkaloide
exp. u. therap. Psychiatrie Lysergsr.-Deriv. (LSD) Psilocybe mexicana Heim exp. u. therap. Psychiatrie Psilocybin, Psilocin
7. Psychopharmaka u. a. Coprinus atramentarius, der im jungen Stadium sehr schmackhafte Falten-Tint-ling, ist insofern interessant, als er einen Wirkstoff, Coprin, enthält, der an sich harmlos ist. Wird jedoch nach der Pilzmahlzeit Alkohol getrunken, so treten Kopfschmerz, Übelkeit und Erbrechen auf. Diese Reaktion auf Alkohol-Genuß kann unter Umständen einige Tage anhalten. Der Pilz wurde wegen dieser Wirkung auch schon als „Anti-Alkoholiker-Pi lz" bezeichnet. Die Antabus-ähnliche Wirkung des Coprins kann möglicherweise zu einem Einsatz bei der Bekämpfung der „Zivilisations-Krankheit" Alkoholismus führen. Die Verwendung der Mutterkorn-Alkaloide aus Claviceps purpurea in verschiedenen Bereichen der Medizin, wie der Gynäkologie, bei Kreislaufstörungen, Migräne u. a., dürfte noch weiter ausgebaut werden, vor allem, wenn die Wirkstoffe durch saprophytische Kultur oder gar synthetisch gewonnen werden können. Hinzu kommt noch, daß laufend weitere Alkaloide im Roggen-Mutterkorn oder bei dem auf anderen Wirten parasitierenden Pilz gefunden werden, deren Erforschung und Einsatzmöglichkeiten bei weitem noch nicht abgeschlossen sind [6]. Auch die Einsatzmöglichkeiten der Psychopharmaka vom LSD- und Psilocybin-Typ werden weiter intensiv erforscht, um Zugang zu einer erfolgversprechenden
Therapie heute noch unheilbarer Nerven-und Geisteskrankheiten zu gewinnen.
In der zuletzt besprochenen Tabelle 5 fällt auf, daß von den kürzlich als cancerostatisch erkannten Pilzen eine ganze Reihe bereits früher gegen verschiedene Krankheiten eingesetzt wurde. Dies bestätigt ein weiteres Mal die gute Beobachtungsgabe unserer Vorfahren, die wir heute oft nur noch bei den Medizinmännern sogenannter „primitiver" Volksstämme antreten, die in der Kenntnis und Anwendung von Heilpflanzen unserer Schulmedizin häufig überlegen sind.
Fassen wir nun die Ergebnisse dieses letzten Abschnittes zusammen, so läßt sich aus den Daten ersehen, daß auch Großpilze als Heilmittel in der Medizin durchaus eine Zukunft haben, ja möglicherweise als Produzenten medizinisch wirksamer Stoffwechselprodukte unter definierten Bedingungen sogar größere Bedeutung als heute. Hier schließt sich nun der Kreis von der,,Dreckapotheke" des Mittelalters, einem absonderlichen Sammelsurium verschiedener, sicher auch pilzdurchsetzter Materialien, bis hin zur heutigen Untersuchung von Mikro- und Makro-Pilzen auf antibiotische und sonstige Wirksamkeiten, wobei in allen Fällen Pilze oder ihre Produkte als Heilmittel wirksam werden.
Danksagung
Für ihre Hilfe bei nomenklatorischen Fragen bin ich Herrn Prof. Dr. A. Bresinsky und Herrn Dr. I. Nuss sehr zu Dank verpflichtet.
Literatur-Auswahl [11 AINSWORTH, G. C 1976. Introduction to the history
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[2] ANKE, T. 1978. Antibiotika aus Basidiomyceten. Z. Mykol.44,131 -141.
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