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Tief verwurzelt Friedrich Bohl Lebensportrait zum 60. Geburtstag

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Tief verwurzelt

Friedrich Bohl

Lebensportrait zum 60. Geburtstag

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Tief verwurzelt

Friedrich Bohl

Lebensportrait zum 60. Geburtstag

erstellt nach dem persönlichen Interview am 3. März 2004 von Martha Schmidt

© Martha Schmidt

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Tief verwurzelt

PrologVita

I7:4 – Einstieg in die Politik

IIPolitik und Beruf

IIIPartei und Politik: Heimat und Abschied

IVFamilienleben

VWiedervereinigung: Traum und Wirklichkeit

VIPolitikverständnis

VIIBodenhaftung

EpilogHutzelige Bäume

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Prolog

Vita

Am 5. März 1945 wurde Friedrich Bohl in Rosdorf geboren, kriegsbedingt ging seine Mutter – der Vater

war als Soldat im Krieg – zur Entbindung aus Göttingenin diese etwa zehn Kilometer entfernte Gemeinde. Etwa 50 Jahre später tritt bei einer CDU-Veranstaltung derVersammlungsleiter auf und sagt: „Bevor Sie jetzt dasWort bekommen, lieber Herr Bohl, möchte ich Ihnen eineFrau vorstellen, die Sie länger kennt als Ihre Mutter.“Drei Sekunden habe Friedrich Bohl nachdenken müssen,dann sei ihm klar gewesen, dass dies nur die Hebammesein könne. Etwa 75 Jahre war die Dame inzwischen alt.„So gehöre ich zu den wenigen, die ihre Hebamme späternoch einmal gesehen haben“, meint er.

Die ersten fünf Jahre seines Lebens hat Friedrich Bohl inGöttingen gelebt, dort hat er auch den Kindergartenbesucht. 1950 ist die Familie nach Rauschenberg gezo-gen, einem fünfzehn- bis achtzehnhundert Einwohnergroßen Städtchen in der Nähe von Kirchhain im Land-kreis Marburg. Der Vater hatte, als er aus dem Kriegzurückgekommen war, sein Studium beendet, die Refe-rendarzeit absolviert und dann als Landwirtschaftslehrerin Kirchhain eine Anstellung bekommen. In Rauschen-berg besuchte Friedrich Bohl von 1951 bis 1955 dieGrundschule, „Volksschule“ hieß das damals noch. Groß

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waren die Klassen und der Lehrer unterrichtete immerzwei Jahrgangsstufen parallel. Dann zog die Familienach Kirchhain um und Friedrich Bohl besuchte im nahe-gelegenen Marburg die Martin-Luther-Schule, denndamals gab es in Kirchhain noch kein Gymnasium. NeunJahre fuhr er immer die 16 Kilometer lange Strecke mitdem Zug. Nach dem Abitur 1964 studierte Friedrich Bohlin Marburg Jura, 1969 machte er dort sein erstes juristi-sches Staatsexamen, begann die Referendarzeit und warparallel dazu Assistent am Institut für Handels- undWirtschaftsrecht der Philipps-Universität in Marburg,machte 1972 sein zweites Examen und ließ sich dann alsAnwalt nieder – und zwar in Kirchhain, wo er 1976 auchNotar wurde.

Bis 1991 war er, wenn auch später wegen seiner Tätigkeitals Abgeordneter nur noch reduziert, als Anwalt undNotar tätig. Und bis 1998, auch wenn er als Ministernicht mehr praktizieren durfte, behielt er seine Urkundeals Anwalt und Notar. 1998 ist er als Generalbevoll-mächtigter in die Deutsche Vermögensberatung AG ein-getreten und seit 1. Januar 2003 Mitglied des Vorstandes.

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I

7:4 - Einstieg in die Politik

Beeindruckt hat Friedrich Bohl als kleiner Junge dieFußballweltmeisterschaft 1954. Da war er in einem

Saal in Rauschenberg mit vielleicht 200 Leuten, dieFernsehen guckten. „Und dann gewann Deutschland 3 : 2!“ Die Nationalhymne wurde gespielt und dann standen die Leute alle auf. „Das war für mich schon malungewöhnlich.“ In dem Saal sangen auch welche dieNationalhymne mit. „Und was mich sehr beeindruckthatte: dass Männer weinten. Das hatte ich da zum erstenMal gesehen.“ Die Mutter habe das so erklärt, dass sichdie Männer eben einfach gefreut hätten. „Erst später habeich realisiert, dass es halt doch für viele das Gefühl war‚Wir sind wieder etwas'.“ Das hat ihn als Kind langebeschäftigt: dass Männer bei einer solchen Sache weinen.Das Ereignis bleibt ihm in lebendiger Erinnerung undfünfzig Jahre später lässt es sich Friedrich Bohl nichtnehmen, Ottmar Walter, einen der Fußballhelden des„Wunders von Bern“, zu dessen 80. Geburtstag zu besu-chen und persönlich zu gratulieren.

Der Ungarnaufstand war das erste politische Welter-eignis, das ihn sehr bewegt hat. Als 1957 die Panzerdurch Budapest rollten, schaute er sich das, da seineFamilie noch kein Fernsehgerät hatte, bei einem Klassen-kameraden an. Aufgewühlt hatte ihn dieser Umbruch im

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Ostblock. „Das hat mich als Kind unheimlich fasziniert.Und dann natürlich der Mauerbau am 13. August 1961.“

Die Weltereignisse schlugen sich in den politischenDiskussionen in der Schule nieder. „Wir hatten eine sehrpolitische Klasse", erinnert sich Friedrich Bohl, der in derOberstufe Klassensprecher war. Als er auf der vierzig-jährigen Abiturfeier war, traf er einige politisch aktiveKlassenkameraden wieder. Einer ist in der SPD, ein anderer in der FDP. Die politische Auseinandersetzungfand damals in der Schule statt, nicht im Familienkreis.„Der Vater war im Krieg gewesen, und die Mutter warBDM-Mädel. Die Eltern waren zwar nicht unpolitisch,aber sie waren bedient von dem Zinnober. Denen war der Boden unter den Füßen weggezogen und die wollten mit politischem Engagement nichts mehr zu tun haben“,beschreibt Friedrich Bohl die parteipolitische Abstinenzzu Hause.

„Politisch war ich natürlich sehr früh interessiert undaktiv." Der politische Diskussionseifer in der Schule mündete in parteipolitisches Engagement. Bereits 1963,noch während der Schulzeit, trat Friedrich Bohl in dieJunge Union und in die CDU ein. Sein erstes Amt hatte er mit 17 Jahren: Am 1. März 1963 wurde er in einerKampfabstimmung zum Vorsitzenden der Jungen UnionKirchhain gewählt. „Mit 7 : 4 habe ich gesiegt.“ Das warsein erster politischer Sieg, deshalb weiß er das nochgenau.

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Seine Sozialisation als Politiker sei weniger mit sozialenFragen verknüpft gewesen, sondern eher mit nationalenund geopolitischen und mit deutschlandpolitischenThemen. Und das brachte ihn – zunächst unbewusst undnicht sehr ausgeprägt – zu Adenauer und zur CDU.

Adenauer und die Deutschlandpolitik, die Weltpolitik, die er bei Adenauer gut aufgehoben fand, das hatte ihninteressiert, das fand er richtig: Damit konnte er sichidentifizieren. „Und deshalb habe ich da halt mitge-macht.“ Er habe damals nicht das Parteiprogramm derCDU studiert und mit dem der SPD verglichen, sonderndas war eine „Bauchentscheidung."

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II

Politik und Beruf

Friedrich Bohls politische Karriere begann 1970 alshessischer Landtagsabgeordneter. Mit Alfred Dregger

an der Spitze hatte die CDU in Hessen extrem viel dazugewonnen, von 26 auf 39 Prozent. Dadurch kamFriedrich Bohl „wider Erwarten“ in den Landtag.

Es sei nicht sein Verdienst gewesen, betont er. Zu der Zeitwar er noch Referendar. Er führte parallel zur politischenKarriere seine Ausbildung zu Ende. 1974 wurde er justiz-politischer Sprecher der CDU-Fraktion und bald Vorsit-zender des Rechtsausschusses des Landtages. Dann wurdeer 1978 stellvertretender Fraktionsvorsitzender seinerPartei im Landtag und wechselte 1980 in den Bundestag,dem er bis 2002 angehörte. Während dieser Zeit war erunter anderem Obmann im Rechtsausschuss und Bericht-erstatter im Flick-Untersuchungsausschuss. Im Bundestagwar er 1984 zweiter und 1989 erster parlamentarischerGeschäftsführer der CDU/CSU-Fraktion.

1991 wurde Friedrich Bohl Bundesminister für besondereAufgaben und Chef des Bundeskanzleramtes. Bis 1998leitete er das Bundeskanzleramt, von Mai bis Oktober1998 war er zusätzlich noch Chef des Bundespresseamtesder Bundesregierung unter Helmut Kohl.

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Die politische und die berufliche Karriere waren anfangsvermischt: Referendar und Landtagsabgeordneter, Anwaltund Bundestagsabgeordneter. Er habe keine präziseKarriereplanung gehabt, erläutert Friedrich Bohl, wenn erauch nicht planlos war. Wenn er irgendwo war, wollte erimmer noch einen Schritt weiter. Er sei aber nie auf einbestimmtes Ziel fixiert gewesen. 1980 habe er sich sehrschwer damit getan, in den Bundestag nach Berlin zugehen. Aber die Kandidatensuche im Wahlkreis fiel aufihn – und so machte er es eben. Als er im Flick-Unter-suchungsausschuss war, habe dies sicher auch Aufmerk-samkeit auf ihn gelenkt nach dem Motto: „Der macht dasja ganz ordentlich, den kann man vielleicht noch einmalmit einer anderen Aufgabe betrauen.“ Und dann seien esauch die glücklichen Umstände gewesen, die ihn weiter-gebracht hätten.

So war es 1984, als er Rudolf Seiters als Parlamenta-rischen Geschäftsführer beerbte. Alfred Dregger, mit demer durch die parteipolitische Arbeit in Hessen verbundenwar, war damals Fraktionsvorsitzender der CDU/CSU imBundestag, und als Wolfgang Schäuble Minister undRudolf Seiters Erster Parlamentarischer Geschäftsführerder CDU/CSU-Fraktion wurde, machte Alfred Dregger ihnzum Nachfolger von Seiters. Die Kombination von per-sönlicher Tüchtigkeit und glücklichen Umständen siehtFriedrich Bohl als Wegbereiter seiner Karriere. DenSpruch „Glück hat auf Dauer nur der Tüchtige“ zitiert erin diesem Zusammenhang.

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In seiner Verantwortung als Erster ParlamentarischerGeschäftsführer der CDU/CSU-Fraktion und dann alsBundesminister für besondere Aufgaben gestaltete er denProzess der Wiedervereinigung mit. Das waren für ihn die interessantesten Aufgaben seiner politischenLaufbahn.

„Und dann sind wir im September 1998 abgewählt wor-den.“ Damit war er aus dem politischen Amt, blieb abernoch vier Jahre Bundestagsabgeordneter. Gleichzeitigwar er bereits bei der Deutschen VermögensverwaltungAG in Frankfurt am Main Generalbevollmächtigter. Damerkte er, dass eine gewisse Arbeitsüberlastung eintrat.Und als er das Angebot bekam, bei der Deutschen Ver-mögensverwaltung in den Vorstand zu gehen, war ihmklar, dass er sich entscheiden musste zwischen der politischen Aufgabe in Berlin und der beruflichen Ver-pflichtung in Frankfurt. „Da habe ich entschieden: 32 Jahre in der Politik sind genug, und jetzt machst dunoch einmal etwas anderes richtig.“

In seinen früheren Beruf stieg er nicht mehr ein. SeineTätigkeit als Anwalt und Notar hatte er mit der Über-nahme des Ministeramts 1991 ruhen lassen müssen, sowar er aus seinem Metier herausgekommen. 2002 ver-abschiedete er sich von seinem Beruf als Anwalt undNotar und von der hauptamtlichen Politik. Jetzt reizteihn das Neue in einem anderen Feld, die Aufgabe in

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einem privatwirtschaftlichen Unternehmen. „Und jetztbin ich hier und fühle mich sehr wohl. Ich habe es bishernoch keine Minute bereut.“

Die Entscheidung, aus der Politik auszusteigen, hattenichts damit zu tun, dass sich Friedrich Bohl nun etwasmehr Ruhe und Genießen gönnen wollte, sondern erhatte gemerkt, „dass ich nicht zwei Herren dienen kann:Frankfurt und Berlin ging nicht zusammen.“ Bei derDeutschen Vermögensberatung AG ist er unter anderemfür die Öffentlichkeitsarbeit zuständig und als es beispielsweise mal einen Artikel im Spiegel gegen dasUnternehmen gab, „da muss ich einfach da sein, da kannich nicht in Berlin sein.“ Oder wenn eine Klage oder einWiderruf bearbeitet werden müsse, könne er auch nichtsagen „Das machen wir in drei Tagen, wenn ich ausBerlin zurück bin.“ Das ginge zwar mal eine gewisse Zeit,aber auf Dauer müsse man einfach präsent sein.Außerdem sei es auch eine gewisse Überlastung gewesen.Die Tage, die er nicht in Frankfurt gewesen sei, habe ernachholen müssen – und zwar am Wochenende.

Die neue Aufgabe habe einige Parallelen zu der politi-schen Tätigkeit, aber sie gleiche auch sehr seiner früherenArbeit als Anwalt: einen Sachverhalt ganz konkret lösen.Zum Beispiel die Entscheidung, ob als neues Produkt A,B oder C aufgenommen werde, ob das neue Schulungs-zentrum für sieben oder doch für acht Millionen gebautwerden könne, und so weiter. In der Politik ginge es mehr

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um einen globalen Sachverhalt. Deshalb habe er imWahlkreis immer sehr gerne Sprechstunden gemacht,weil es da um ganz konkrete Anliegen der Leute gegan-gen sei. Da habe er immer die lebensnahe Ausgestaltungvon Politik gemerkt. Diese Ausrichtung auf die konkreteAuswirkung hatte ihn auch seinerzeit bei seiner Arbeitals Obmann im Rechtsausschuss sehr interessiert.

Ähnlich wie in der Politik müsse man auch im Unter-nehmen mit Menschen umgehen, man müsse Menschenführen, man müsse Organisationstalent haben, Kompro-misse eingehen, Vorbild sein an Leistung – „Man kannnicht erwarten, dass die Mitarbeiter viel arbeiten, wennman selber es nicht tut. Sie müssen sich jeden Tag dieVorbildeigenschaft neu erwerben.“

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III

Partei und Politik: Heimat und Abschied

In der Jungen Union wurde Friedrich Bohl nach seinemparteipolitischen Debüt 1963 als Ortsvorsitzender von

Kirchhain 1964 Kreisvorsitzender von Marburg und 1969 Bezirksvorsitzender von Mittelhessen. 1970 sei erkläglich gescheitert. Da wollte er Landesvorsitzender derJungen Union werden. „Da bin ich versenkt worden!“Rückblickend erzählt er das lachend, als habe er damalsein wichtiges Fußballspiel verloren. „Irgendwann“ war erstellvertretender Kreisvorsitzender der CDU, 1977 dann,als Walter Wallmann in Frankfurt Oberbürgermeistergeworden war, wurde er Kreisvorsitzender der CDU vonMarburg-Biedenkopf. Bis 2002 hatte er dieses Amt inne.

„Du bindest dich auf Leben, wenn du in einer Partei bist.“Und für Friedrich Bohl ist die Zugehörigkeit zu einerPartei eine Verbindung für das Leben. Die Partei ist soetwas wie eine große Familie, ein großer Freundeskreis.Die Thesen „Politik verdirbt den Charakter“ und „In derPolitik hat man keine Freunde“ kann er nicht bestätigen.In der Politik werde man sicher weniger illusionär. Aberdas sieht er als eine Entwicklung, die im Laufe derLebensentwicklung auch in anderen Berufen eintrete. Sosei es auch in der Ehe. Mit 20 meine man, die Liebe heilealles. Und mit 50 ... In Marburg sage man ja: „Die Liebe

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geht, der Hektar bleibt.“ Das sei zwar nicht unbedingtsein Lebensmotto, aber dies zeige, dass die Erkenntnisvon der Desillusionierung und die Hinwendung zumLebensnotwendigen und Machbaren nicht nur im Feldeder Politik anzutreffen sei. Die Mitgliedschaft in derPartei habe ihm viel gegeben. Aber es sei wie überall,auch jetzt bei ihm in der Firma, mit manchen sei mannäher und mit anderen tue man sich etwas schwerer.Aber er unterstreicht es ganz entschieden: Dass man inder Politik keine Freunde hat und dass Politik denCharakter verdirbt: Das kann er wirklich nicht bestätigen.Über die Parteigrenzen hinweg hat er gute Bekannte,Persönlichkeiten, mit denen er „gut kann“. Aber bis aufwenige Ausnahmen hat er Freundschaften eher imRahmen von Parteiangehörigen.

Es war Friedrich Bohls Wunsch, sich 2002 aus dem aktiven Parteibetrieb zurückzuziehen, und das ist mitnoch nicht einmal 60 Jahren relativ jung. „Ich habe daeinen Schnitt gemacht. Und das hat sich ausgezahlt. Esist ein ganz anderer Abgang, wenn die anderen sagen‚Warum gehst du schon?' als wenn es heißt ‚Ist der immernoch da!'“. So hat er sich im Zenit aus der parteipoli-tischen Karriere zurückgezogen.

Er führt noch ein weiteres Argument für seinen Ausstiegaus der hauptberuflichen Politik an: „Wenn man malganz oben war – ich war zwar nicht Bundeskanzler, aberfast darunter – und viel bewirkt hat, kennt man den

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ganzen Laden. Wenn Sie dann in der Opposition sind,dann wissen Sie ja schon genau, wie die Chose läuft.Wenn Sie zum Beispiel eine Anfrage stellen, dann kennenSie ja schon den Beamten, der die Anfrage beantwortet.Sie wissen auch, wie der denkt, Sie wissen auch schon,wie die Antwort aussehen wird, weil der ja im Sinne dieser Regierung antworten muss.“ Dass er diesen ganzenApparat schon kennt, findet er für sich frustrierend.Würde man als Dreißigjähriger dahin kommen, wollenach vorne – dann sei das okay, aber als Fünfundfünf-zigjähriger ... „Dafür“, hat er gedacht, „ist mein Feuerjetzt weg. Jetzt zündest du dich noch einmal an undgehst hierhin in das Unternehmen.“ Und als ihm Dr. Reinfried Pohl, der Inhaber und Mehrheitseigener der Deutschen Vermögensberatung AG, das Angebotgemacht hat – Pohl kommt auch aus Marburg – hatFriedrich Bohl zugegriffen.

Jetzt hat er keine Vorstandsämter der Partei mehr inne, er ist aber Ehrenkreisvorsitzender der CDU Marburg-Biedenkopf – „Die stellen mich dann ins Schaufenster,wenn irgendeine Veranstaltung ist.“ –, Delegierter zumLandesparteitag und zum Bundesparteitag, und er ist imÄltestenrat der Konrad-Adenauer-Stiftung. Solche ehren-amtlichen Funktionen in der zweiten Reihe übernimmt ernun. „Mein höchstes Amt ist jetzt, wenn Sie so wollen,Delegierter zum Bundesparteitag. – Ist ja auch was, so istes ja auch nicht." Für die Konrad-Adenauer-Stiftung tritter gelegentlich als Referent oder als Berater auf wie für

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die Schwesterpartei in Mexiko, der es 2000 nach 70Jahren gelungen war, die Partei der institutionellenRevolution zu besiegen. Der neue Präsident Fox undseine Partei „waren natürlich völlig unbeleckt, wieRegieren geht." Da hat dann Friedrich Bohl eine Wocheim Auftrag der Konrad-Adenauer-Stiftung beraten.

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IV

Familienleben

1968 hat Friedrich Bohl geheiratet. Seine Frau kam aus Marburg und sie bekamen bald zwei Kinder, Silke

und Christian. Diese erste Ehe sei „ein bisschen schief gelaufen“, der Bruch kam 1974/75. 1975 wurde die Ehegeschieden, Friedrich Bohl bekam das Sorgerecht für dieKinder und lebte mit ihnen in seinem Haushalt.

In der Zeit nach der Scheidung 1975 brachte FriedrichBohl seine politische Aufgabe als Landtagsabgeordneterund seine Arbeit als Rechtsanwalt mit seiner Aufgabe als Vater von zwei Kindern im Altern von drei und fünfJahren in Einklang. Über die Landwirtschaftsschule, ander sein Vater tätig war, hatte er eine ausgebildeteHauswirtschafterin gefunden und eingestellt. Außerdemsei die Arbeit im Wiesbadener Landtag damals noch„ziviler“ gewesen, meint er. Die Sitzungswochen wareneinmal in vier Wochen, und dann war man dreimalnachts nicht da. So konnte er mehr oder weniger geregeltseinem Job nachgehen. Natürlich habe er als einzigerErziehender morgens und abends ein bisschen mehr fürdie Kinder da sein müssen. Aber wenn er abends um18.00 Uhr nach Hause kam, „reichte es aus“. Morgens hater die Kinder meistens zum Kindergarten gebracht. „Es isterstaunlich, was der Mensch alles kann, wenn er muss“,meint er rückblickend auf diesen Lebensabschnitt. Von

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der psychischen Anspannung her war diese Lebensphasefür ihn die anstrengendste.

1976 lernte er seine zweite Frau kennen, und sie heirate-ten noch im selben Jahr. Seine Frau gab ihren Beruf aufund übernahm die Familienarbeit. Die beiden Kinder ausFriedrich Bohls erster Ehe nahmen sie in die neue Familieauf und bekamen zusammen zwei weitere Kinder, wiedereinen Jungen und ein Mädchen, Rainer und Juliane. Diedrei älteren Kinder sind inzwischen verheiratet und dieälteste Tochter hat vier Söhne und damit Friedrich Bohlum vier Enkel reicher gemacht. Juliane, seine jüngsteTochter, ist noch nicht verheiratet, sie hat eine Lehre als Werbekauffrau in Wetzlar gemacht und studiert nunin Gießen Betriebswirtschaft. Dass keines von seinenKindern die politische Laufbahn eingeschlagen hat, führter nicht auf eine Rebellion gegen den Vater zurück, sondern eher darauf, dass sie an seinem Beispiel gesehenhätten, dass das politische Engagement auch seineSchattenseiten habe.

Sehr froh ist Friedrich Bohl darüber, dass die Kinder ausseiner ersten und zweiten Ehe „wie Pech und Schwefel“zusammenhängen. Auch bei Familienfeiern sind im Prin-zip immer alle da. „Das ist ganz prima. Wir telefonierenviel miteinander. Es gibt keinen Streit unter denGeschwistern.“ Das sei aber nicht sein Verdienst, sonderndas seiner Frau, er rechnet es ihr hoch an, „dass sie dashingekriegt hat.“

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Seine zweite Frau hatte vor der Ehe beim SuhrkampVerlag im Auslandsvertrieb gearbeitet. Mit der Heiratentschied sie sich für Friedrich Bohl, die beiden Kinderaus seiner erster Ehe und die Übernahme der Erziehungs-und Hausarbeit. Seine Frau, konstatiert er, habe sichmehr angepasst als er und die Familienarbeit über-nommen. „Da bin ich sehr dankbar für“, bekennt er.

Jetzt, da die Kinder größer sind, hat seine Frau ihrBetätigungsfeld erweitert und ist in Behindertenein-richtungen in Marburg aktiv. Außerdem gönnen sichFriedrich Bohl und seine Frau schon einmal Ausflüge,zum Beispiel nach Istanbul. „Das können wir uns jetztauch finanziell leisten.“ Und im Rahmen seiner Arbeit istFriedrich Bohl auch viel unterwegs. Die Deutsche Unter-nehmensberatung AG hat 1700 Geschäftsstellen über dieBundesrepublik verteilt, und da sind oft Veranstaltungen,die er gemeinsam mit seiner Frau besucht. Da ist immermal eine Einweihung oder ein Jubiläum. Und vorher oder nachher gehen sie durch die Stadt, machen einenBummel oder was man sonst noch in dem Ort machenkann.

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V

Wiedervereinigung: Traum und Wirklichkeit

Politischer Gestaltungswille“, „politische Vision“ – dassind Vokabeln, mit denen Friedrich Bohl nicht

umgeht. Er macht die politische Arbeit. Was ihn aberwirklich fasziniert, war seine Aufgabe als Obmann derCDU/CSU im Ausschuss deutsche Einheit. Er war sehrdankbar, dass er diese Aufgabe auf Grund der damaligenKonstellation bekam. „Deutschlandpolitik hat mich immerunheimlich fasziniert“, bekennt er. Im Zuge der deutsch-deutschen Verhandlungen über die Wirtschafts- undWährungsunion und später über den Einigungsvertragwurde ein großer Ausschuss aus 32 Leuten gebildet,bestehend aus der Spitze der Fraktion und Fachleuten ausden Bereichen, die in dem Vertrag behandelt wurden. AlsObmann oblag ihm die Koordination dieser unterschied-lichen politischen Bereiche. „Da tagten wir auch mit derVolkskammer der DDR zusammen, die einen ähnlichenAusschuss gebildet hatte. Und es war unheimlich interes-sant, mit dazu beizutragen, dass die deutsche EinheitWirklichkeit wurde.“ Über das Wahlrecht und tausendDinge habe man sich verständigen müssen, Kompromissehabe man machen müssen. „Aber das war ohne Zweifelim parlamentarischen Bereich für mich die schönsteAufgabe. A: Weil man da etwas gestalten konnte. B: Weilman wusste, das ist etwas für die Einheit des Landes.“

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Ein bestimmtes Sachthema, das er leidenschaftlich ver-folgte, hatte Friedrich Bohl nicht. Es sei ihm nicht darumgegangen, beispielsweise die dynamische Rente in ganzDeutschland einzuführen. Er ging nicht mit der Vorgabein die Gespräche, dies oder jenes im Einigungsvertrag zuerreichen. „Das Ziel war, dass wir uns einigen.“ DieVerhandlungen hatten die Regierungen geführt, für dieBundesrepublik verhandelte Wolfgang Schäuble. Abermit dem Parlament musste immer die Rückkopplungstattfinden.

Für Friedrich Bohl verwirklichte sich mit der Wiederver-einigung ein lange gehegter Traum. Als er im November1988 mit seinem damals 16-jährigen Sohn Christian inOstberlin war und sie von „Unter den Linden“ auf dasBrandenburger Tor zugingen, sagte er ihm: „Und da werden wir eines Tages durchgehen!“ „Das wirst du abernicht mehr erleben, Papa", meinte Christian. „Aber wennich es nicht mehr erlebe, wirst du es erleben“, beharrteFriedrich Bohl. „Denn man kann eine Stadt und ein Landnicht auf Dauer so trennen.“ Dass die Überwindung derTrennung so bald Wirklichkeit werden sollte, das seidann doch sehr schnell gekommen.

Als die Wiedervereinigung greifbar wurde, habe es inner-halb der Union unterschiedliche Auffassungen über dasWie gegeben. Richard von Weizsäcker wollte beispiels-weise nicht die Anschlusslösung nach Artikel 23 Grund-gesetz, sondern eine neue Verfassung nach Artikel 146.

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Entgegen den Stimmen, die meinten, „macht langsam“,„ist noch Zeit“, „keine Anschlusslösung“, sagte derBundeskanzler Helmut Kohl: „Wisst ihr, da bin ich ganzanderer Meinung. Das ist so, wie wenn ein Bauer dieHeuernte einfährt. Dann sieht er schon in der Ferne, dassein Gewitter aufzieht.“ – „Und so war das ja auch“, er-gänzt Friedrich Bohl, „in der Sowjetunion deutete sichdas ja an.“ – „Dann sagt der sich," so Helmut Kohl wei-ter: „Koste es, was es wolle: Rein mit dem Heu in dieScheune!“ Ob da vielleicht ein Rad zu Bruch gehe, oderob da ein Schnipsel Heu im Regen liegen bleibe, das seirelativ egal. Jetzt gelte: Alle Mann an Bord! Heu rein in die Scheune! „Wiedervereinigung – koste es, was eswolle. Über alles andere werden wir uns schon einigen,wenn wir in der Scheune drin sind. Wir sind ein Volk, ein Land. Und das wäre ja gelacht, wenn wir das nichthinkriegen“, so umschreibt Friedrich Bohl sinngemäß dieLosung Kohls. Der Kanzler habe in dieser Hinsicht Druckgemacht, um die Gunst der Stunde zu nutzen.

Als Friedrich Bohl 1990 am Tag der Wiedervereinigungauf der Treppe des Reichstages stand und um Mitternachtdie Flagge hochging und Hunderttausende das Deutsch-landlied sangen – das war ein ergreifender Moment. „Daswar ja nicht irgendwie martialisch, nationalistisch oderchauvinistisch, das war einfach Freude. Freude, dass mansich wiedersah, dass eine Vereinigung möglich war: der Familie, der Stadt, des Landes.“ Er verweist auf den10. November 1989: „Nach dem Fall der Mauer war ja

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eine Begeisterung, das kann man heute gar nicht mehr deutlich machen."

Bestimmt habe er da auch jemanden weinen sehen,erwachsene Männer wie beim Fußballspiel 1954. Aberdiesmal habe ihn das nicht so berührt und verwirrt, wiedamals als Neunjährigen, als es für ihn völlig ungewöhn-lich und unverständlich war. Jetzt habe er die Rührungverstehen und verarbeiten können. Und dann erinnertsich Friedrich Bohl plötzlich doch konkret an einenerwachsenen weinenden Mann: „Am 9. November hatder Mischnik geheult im Bundestag.“ An diesem Tag sei es so gewesen: Helmut Kohl war in Polen, und im Bundestag bekamen die Parlamentarier am Abend des 9. November 1989 die Mitteilung, dass die Mauergeöffnet ist. Das sei so um halb acht herum gewesen.Daraufhin wurde erst einmal der anstehende Tages-ordnungspunkt weiter verhandelt. Dann ist die Meldungbestätigt worden, und bis es alle realisiert hatten, sei es vielleicht halb neun gewesen. Die Sitzung sei unter-brochen worden und das Ereignis sei gewürdigt worden,so meint Friedrich Bohl sich zu erinnern, indem alleFraktionsvorsitzenden gesprochen hätten. Als Letzter, es war neun oder halb zehn, sprach Wolfgang Mischnik,der Vorsitzende der FDP-Fraktion. Er konnte sich amRednerpult kaum noch unter Kontrolle halten. „Der warja aus Dresden. Er musste am Rednerpult noch kämpfen,kam gerade noch mit seinen letzten Worten vom Pultweg und dann saß er – und dann heulte er aber.“ Und

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dann sei – das erste und das einzige Mal, dass das je passiert sei – der Bundestag aufgestanden und habe dieNationalhymne gesungen. Und davon gebe es noch nichteinmal eine Fernsehaufzeichnung, weil die Fernseh-kameras zu dem Zeitpunkt schon abgeschaltet gewesenseien. „Aber ich war selbst dabei. Auf einmal packte eswelche, und dann standen alle auf und sangen dieNationalhymne", erzählt Friedrich Bohl.

„Ich habe auch einmal große Probleme gehabt – ich habezwar nicht geweint – bei einem Parteitag in Thüringen.Da wurde der CDU-Kreisverband Eisenach 1990 neugegründet, und als Kreisvorsitzender von Marburg-Biedenkopf habe ich auf diesem Gründungsparteitaggesprochen, sozusagen als Gastredner. Da habe ich dieStory von meinem Sohn in Ostberlin erzählt, und ichmerkte, wie das denen unter die Haut ging, als icherzählte ‚Eines Tages gehen wir da durch.' Ich merkte dieRührung der Leute, und auf einmal konnte ich nichtmehr weitersprechen. Verdammt: Die Rührung kamzurück zu mir. Ich habe zwar nicht geheult, aber ichmusste schlucken. Und dann habe ich gesagt ‚Moment'.Ich habe bestimmt 20 Sekunden nichts gesagt, bis ichmeinen Kloß im Hals wieder unter Kontrolle hatte. Das istauch das erste und einzige Mal, dass mir das passiert ist.“

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VI

Politikverständnis

An seine erste Rede im Bundestag, 1980 oder 1981, erinnert sich Friedrich Bohl noch. Damals war

Herbert Wehner Fraktionsvorsitzender der SPD. In dieserRede sprach Friedrich Bohl über Demonstrationsstraf-recht – es müsse alles schärfer werden und so weiter ...„Und dann ballerte Wehner irgendetwas dazwischen. Ichhabe es nicht ganz verstanden, weil er wie üblich ballerteund ich etwas aufgeregt war, und dann sagte ich zu ihm:‚Ich bedanke mich, Herr Abgeordneter Wehner, dass Siemich bei meiner Jungfernrede mit einem Zwischenrufbeehren.' Ich fand das sehr originell. Und dann ballerteder Wehner zurück: ‚Sie sehen auch aus wie eineJungfer!'“ Friedrich Bohl muss darüber jetzt lachen.Immerhin, meint er, sei er damals schon professionellgenug gewesen, um diese Replik in dem Moment als einegute Leistung von Wehner beurteilen zu können, nicht zu kontern und in seiner Rede fortzufahren. „Da mussman dann, wenn man merkt: ‚Jetzt ist dein Stoff zuEnde', auch den Mut haben einzusehen, dass diesesGefecht nicht zu gewinnen ist.“

Heute seien, meint er rückblickend, so derbe Wortge-fechte von politischen Urgesteinen wie Herbert Wehnerund Franz-Josef Strauß nicht mehr möglich. Politikernwerde diese Art Narrenfreiheit nicht mehr zugestanden.

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Etwa Wehners Verballhornung von Todenhöfers Namenzu „Hodentöter“ käme heute nicht durch das Raster der„political correctness“. Die Politiker müssten heute vielangepasster sein als vor 20, 30 Jahren, viel vorsichtiger.Strauß etwa habe einmal in einer Rede mindestens fünf-mal „Neger“ gesagt. Damals habe sich niemand darangestört. Heute würde er dafür Rassist gescholten werden.

„Die Debatten Anfang der 50er Jahre waren doch schonetwas anderes: Westbindung ja oder nein, Wiederbe-waffnung ja oder nein, soziale Marktwirtschaft ja odernein. Und dann waren auch die Menschen und dieAbgeordneten damals im Krieg gewesen, die hatten existentielle Herausforderungen schon erlebt. Es warenmehr Persönlichkeiten, die gereifter waren. Heute sind sieein Stück weit mehr Funktionäre. Heute beispielsweise –etwa im Rechtsausschuss – gewinnen sie Profil über drei,vier Gesetze, die sie ordentlich managen. Und dann gehtes irgendwie weiter.“ Heute sei der Staat zum großen Teilaufgebaut. Und die Gesetze – auch wenn es wichtigeGesetze gebe – seinen mehr Filigranarbeit. Die Gesetzes-arbeit habe sich auch durch die Einbettung in dieEuropäische Union geändert, der Handlungsspielraum sei eingeschränkt. Ein Politiker der zweiten Generationmüsse weitaus mehr als ein Politiker der erstenGeneration darauf achten, dass er in seinem Wahlkreisrichtig kommuniziere, die Medien im Wahlkreis seienauch anders geworden als vor 40 Jahren. „Also der Ab-geordnete heute hat's auch schwer. Ob er's schwerer

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hat – das muss man sehen. Dafür ist die Bezahlung bessergeworden.“

Sich selbst ordnet Friedrich Bohl dieser zweiten Genera-tion zu. Er hat 1970 angefangen und die erste Generationnoch erlebt. Der Prozess der zunehmenden Komplexitätder Gesetzesarbeit einerseits und die Einengung desHandlungsspielraumes durch die Abgabe von Kom-petenzen an Brüssel verschärfe und verstetige sichzunehmend, stellt er fest. Und die Präsenz der Medien seigewachsen. Mitte der 80er Jahren hat sich dieMedienlandschaft durch den Einzug der Privatsendergeändert und heute sind etwa 1.500 Journalisten bei derBundespressekonferenz akkreditiert „und jeder läuft miteinem Mikrofon herum.“ Die erste Generation derPolitiker, so Friedrich Bohl, könne man als „Vollblut-politiker" beschreiben, die zweite als „Politikmanager“.

Durch den Umstand, dass die Politiker der erstenGeneration im Krieg gewesen seien, seien sie sicherlichinnerlich viel unabhängiger gewesen. „Wer 1953 vomAdenauer gefragt worden wäre ‚Warum stimmst du dennso ab?', der hätte sich dagegen verwahrt: ‚Was fällt dirdenn ein? Ich bin ein freier Mann! Ich habe die und dieErfahrung in der Kriegszeit gemacht!'“ Die Politiker derzweiten Generation seien viel eher bereit, sich der Parteiunterzuordnen. „Wenn heute einer von Schröder gesagtbekomme – oder vorher unter der CDU-Regierung vonKohl –, man solle so oder so abstimmen, mache er das

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selbstverständlich, weil die Partei die Macht nicht verlie-ren und an der Regierung bleiben solle." Der Politikerheute fühle sich viel mehr als Rad im Getriebe, das müsseeben funktionieren, die Partei müsse sich durchsetzen.Den politischen Hintergrund und den politischen Willender ersten und zweiten Politikergeneration könne mannicht vergleichen. Die Situation heute sei eine ganzandere als beim Aufbau der Bundesrepublik. „Wir lebenheute eben in einer anderen Zeit und damit ändern sichauch die Politikstile“, stellt Friedrich Bohl fest. „Ob diesbesser oder schlechter ist, steht auf einem anderen Blatt.“

Die so genannte Politikverdrossenheit habe auch etwasdamit zu tun, dass es heute viel mehr um das Funktio-nieren, Erhalten, Instandhalten gehe. Aber, unterstreichtFriedrich Bohl, das sei doch überall so. Man brauche sichnur einen Sportverein anzuschauen. Ein autoritärerVereinsvorsitzender, der dies und jenes entscheide, undein Trainer, der Autorität habe, das sei heute nicht mehrdenkbar – ohne Wertung, ob dies besser oder schlechtersei. Ein Sportverein könne heute auch nicht einfach so einen Sportplatz bauen. „Früher hat man mal dieBundeswehr oder die Amerikaner organisiert, um denPlatz zu planieren, und das war es dann.“ Heute müsseman planen, Ausgleichsflächen schaffen und so weiterund so weiter. Und die Vereine haben ebenso wie dieParteien Nachwuchsprobleme, keiner will mehr auf eineHauptversammlung gehen und die Verantwortung alsVorsitzender übernehmen, allenfalls als Kassenwart.

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Die Politik sei eher zu einer Instandhaltungsarbeit geworden, zu einer Kärrnerarbeit. Das sei, vermutetFriedrich Bohl, auch ein Grund für den Erfolg vonBürgerinitiativen: Die haben ein konkretes Ziel vorAugen, das sie erreichen – oder vielleicht auch nicht. Und dann ist die Sache erledigt. In einer Partei sei aberständig etwas: Wahlen, dann muss plakatiert werden,Veranstaltungen, die müssen organisiert werden ... Zu 50 Prozent gewinnt man, zu 50 Prozent verliert man.

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VII

Bodenhaftung

Friedrich Bohl ist bodenständig. Er ist immer im KreisMarburg-Biedenkopf geblieben. Seine Verwandtschaft

väterlicherseits kommt seit Hunderten von Jahren auseinem Vorort von Marburg, aus Moischt. Der Großvaterhatte elf Geschwister, so dass er viele Verwandte imMarburger Land hat. Friedrich Bohl hat nur einen elfJahre jüngeren Bruder, der nicht politisch engagiert istund als Sportjournalist in Göttingen arbeitet. FriederichBohl war zwar nie darauf fixiert, unbedingt in Marburgzu bleiben, aber als Student hatte er zunächst wenig Geld und wohnte zu Hause, und dann hatte er in derUniversität Freunde gefunden, sich politisch im Studen-tenparlament engagiert und Erfolge gehabt. So habe er Land gewonnen, Freunde und Erfolge, und die Lustverloren, irgendwo anders hinzugehen.

Das Familienleben ist ein wichtiger Rückhalt fürFriedrich Bohl. Zu Familienfeiern trifft man sich immerwieder und man ist regelmäßig in Kontakt miteinander.Politiker- und Familienleben liefen bei Friedrich Bohlimmer im Gleis, ohne dass das eine das andere aus derBahn geworfen hätte. Und weil ihm das Familienlebenimmer sehr wichtig war, hat er sich immer bemüht darum und sich nie daraus zu Gunsten der Politikzurückgezogen.

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Rückblickend meint er zum Gelingen seines Lebens, dass er trotz aller Bemühungen auch ein bisschen Glückgebraucht habe. So sei er nur froh, dass seine Kindernicht in einem wichtigen Moment in eine Clique geratenseien, in der beispielsweise Drogen kursierten, woraufEltern manchmal keinen Einfluss hätten. Sich dasGelingen des Familienlebens und die Entwicklung derKinder als seinen eigenen Verdienst anzurechnen, „davonbin ich weit entfernt.“ Auch in der Politik seien es sowohleigene Tüchtigkeit wie auch ein Quäntchen Glück gewe-sen, was ihn vorangebracht habe.

Friederich Bohl fühlt sich sehr wohl in seinem Politiker-,Berufs- und Familienleben und hofft, dass er nicht einmal selbstgerecht wird. „Innerlich halbwegs mit sichim Reinen sein“ ist für ihn eine wesentliche Qualität, umpolitische Verantwortung zu übernehmen oder die Verantwortung für ein Unternehmen. Nur so könne man„Ruhe und Sicherheit" ausstrahlen und Urteile über andere Menschen und Sachverhalte fällen. Was fürFriedrich Bohl immer wichtig ist bei jeder seiner Rollen und Aufgaben – ob als Anwalt, als Familienvater,als Politiker, als Minister oder als Generalbevollmäch-tigter und Vorstandsmitglied –, ist die Erdung seinerArbeit im persönlichen Umfeld. Es ist immer dieVerbundenheit mit seiner Familie, die Verwurzelung inseinem Heimatort, die Ausgestaltung der Politik im konkreten Leben, der persönliche Kontakt zu denMenschen, was sein Engagement auszeichnet.

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Epilog

Hutzelige Bäume

Ob sein bisheriges Leben „rund gelaufen“ sei – daraufkann er kein klares „Ja“ geben. Doch direkt gegen

den Strich der persönlichen Entwicklung ist – bis auf dieScheidung – nichts gelaufen. Er habe keine falschenPrioritäten gesetzt und keine falschen Richtungsent-scheidungen getroffen. Dennoch gebe es Dinge, die seien nicht rund gelaufen, Situationen, die er gerneungeschehen machen würde. Aber, bemerkt er, geradediese Rückschläge hätten ihn vielleicht auch voran-gebracht, ohne sie wäre er vielleicht gar nicht so weitgekommen. Politische Niederlagen, die nicht existentiellwaren, hätten ihn gestählt.

Friedrich Bohl zitiert in dem Zusammenhang seine Groß-mutter: „Weißt du, es gibt schöne Bäume, und es gibthutzelige Bäume. Schöne Bäume sind in wunderbaremBoden, und die gedeihen und sind wunderschön an-zusehen. Und diese hutzeligen Bäume, die sehen ein bisschen komisch aus. Aber: Die sind auf steinigemBoden, die sind ganz tief in der Erde mit den Wurzeln.Und jetzt frage ich dich: Wenn ein Sturm kommt:Welcher fällt um?“

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© Martha Schmidt

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