Platon, Ion oder Über die Ilias - Vandenhoeck & Ruprecht...PLATON Werke ÜbersetzungundKommentar...

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Ernst Heitsch (Übers. u. Komm.): Ion oder Über die Ilias

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PLATONWerke

Übersetzung und Kommentar

Im Auftrag der Akademie der Wissenschaftenund der Literatur zu Mainz herausgegeben vonErnst Heitsch, Carl Werner Müller und Kurt Sier

VII 3Ion oder Über die Ilias

Vandenhoeck & Ruprecht

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PLATONIon oder Über die Ilias

Übersetzung und Kommentar

von

Ernst Heitsch

Mit einem Beitrag von ###

Vandenhoeck & Ruprecht

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Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

Kommentar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25Datierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27Erläuterungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35530a – 530b4 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35530b5 – 530d8 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36530d9 – 532c4 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37532c5 – 533c8 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39533c9 – 535c8 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41535d1 – 536e2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43536e3 – 538b6 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45538b7 – 539d4 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47539d5 – 540d5 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48540d6 – 541c6 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50541c7 – 542b . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51

Appendizes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55I Analysen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55

1) Die Erzählstruktur im Ion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 552) Die logische Argumentationsstruktur im Ion . . . . . . . . . . . . 55

II Ion aus Ephesos als Bester der Rhapsoden . . . . . . . . . . . . . . . . . 56

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61

Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65

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Vorwort

Im Jahr 1986 hat die Akademie der Wissenschaften und der Literatur zuMainz die Reihe ‚Platon. Übersetzung und Kommentar‘ unter die vonihr betreuten Projekte aufgenommen. Als erster Band erschien 1993 derPhaidros. Inzwischen liegen 17 Bände vor, einer von ihnen, die Nomoi,in drei Teilbänden. Von zwei Bänden war eine zweite Auflage erforder-lich. Vier Bände sind im Augenblick im Druck oder das Manuskriptsteht kurz vor dem Abschluß.Wie bei einem längerfristigen Projekt nicht zu vermeiden, haben nicht

alle seinerzeit gewonnenen Autoren ihre Zusage einhalten können. Derin meinen Augen bedauerlichste Fall ist Günther Patzig, mit dem ichmich 1985 in der Planungsphase beraten konnte und der dann selbst denSophistes übernommen hatte. Noch vor zehn Jahren sah er in seiner Zu-sage das letzte Buch, das er zu schreiben gedächte. Es sollte anderskommen.Der hier vorgelegte Ion ist der vierte Band, den ich in dieser Reihe be-

arbeitet habe. Das war natürlich niemals beabsichtigt. Übernehmenwollte ich lediglich den Phaidros. Für Apologie, Größeren Hippias undIon hatten sich zwei Kollegen offensichtlich zu viel vorgenommen; soglaubte ich, wenn auch ungern, einspringen zu müssen.Der Ion ist ein besonders kurzer Dialog, und auf den ersten Blick

scheint er auch nur wenige erklärungsbedürftige Eigenheiten aufzuwei-sen. Das ändert sich allerdings spätestens, sobald man zur Kenntnisnimmt, daß der jugendliche Platon hier eine Seite des historischen Sok-rates darstellen will, die wenig oder nichts zu tun hat mit jenem Sokra-tes, der überzeugt ist, im Auftrag des Gottes von Delphi sich um seineMitbürger kümmern zu müssen. Diesen Mann darzustellen, übernimmtPlaton erst nach dessen Verurteilung und Hinrichtung; insofern beginnt399 für den Schriftsteller eine neue Epoche, deren erstes Produkt ver-mutlich der Laches ist. Vorher, als Sokrates noch lebte, war Platon, wieauch andere aus der jugendlichen Intelligenz Athens, fasziniert von je-nem Mann, der in Wortgefechten (um hier diesen Ausdruck Platons zu

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benutzen) mit wechselnden Partnern ständig triumphiert. Eben das dar-zustellen, hat er – nicht nur nach meinem Urteil, sondern auch nach demdes Nestors unserer Philologie, Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff –in den Dialogen Ion und Kleinerem Hippias versucht.

* * *

Meine Übersetzung will korrekt und trotzdem lesbar und verständlichsein. Auch deshalb habe ich unter dem Text gelegentlich kurze Erläute-rungen gegeben, auf die der antike Leser nicht angewiesen war. Die Zei-lenzählung am Rande der Übersetzung und im Kommentar ist die, nachder heute üblicherweise zitiert wird; sie orientiert sich am griechischenText und kann daher den Zeilen einer Übersetzung nicht genau entspre-chen. Als griechischer Text dient im wesentlichen die Ausgabe von I.Burnet (Oxford 1903).Der Kommentar wendet sich auch an Leser ohne Kenntnis des Grie-

chischen, kann aber gelegentlich auf Erörterungen griechischer Wörterund Formulierungen nicht verzichten. Er soll den Text dem heutigen Le-ser erschließen, philologische, historische und thematische Erläuterun-gen geben und die Argumentationsweise und die Gedankenführung ver-ständlich machen. Vielleicht gelingt es, dem heute Interessierten zu zei-gen, durch welche Diskussionsart und Argumentationstricks es seiner-zeit Sokrates gelungen ist, den jugendlichen Platon in seinen Bann zuziehen.

Regensburg, im Mai 2016 E. H.

8 Vorwort

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ÜBERSETZUNG

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Personen: Sokrates, Ion aus Ephesos

Sokrates: Sei gegrüßt, Ion. Von wo kommst du zu uns denn diesmal? Et-wa von zu Haus aus Ephesos? – Ion: Keineswegs, Sokrates, sondernvon Epidauros von den Asklepien. – S: Veranstalten die Epidaurier demGott zu Ehren etwa auch Wettkämpfe der Rhapsoden? – I: Genau, sowie auch in den anderen Künsten. – S: Und wie war es? Hast du für unsmitgekämpft? Und hast du Erfolg gehabt? – I: Den ersten Preis habenwir gewonnen, Sokrates. – S: Das klingt gut. Sorg also dafür, daß wirauch bei den Panathenäen siegen. – I: Das wird gelingen, wenn Gottwill. –

S: Schon oft, Ion, habe ich euch Rhapsoden wegen eures Gewerbes be-neidet. Denn daß es zu eurem Gewerbe gehört, immer ordentlich aufzu-treten und einen möglichst schönen Eindruck zu machen, daß ihr aberauch die Aufgabe habt, euch mit vielen trefflichen Dichtern zu befassenund natürlich besonders mit Homer, dem besten und göttlichsten unterden Poeten, und nicht nur sich die Worte einzuprägen, sondern auch sei-ne Gedanken zu verstehen, das ist beneidenswert. Denn niemals dürftees einen Rhapsoden gebe, der das vom Dichter Gesagte nicht verstünde.Der Rhapsode nämlich soll Interpret der Gedanken des Dichters sein fürdie Zuhörer. Und dies richtig zu tun, ohne zu verstehen, was der Dichtersagt, ist unmöglich. Dies alles aber ist beneidenswert. –

I: Recht hast du, Sokrates. Mir jedenfalls hat dies die eigentliche Mühebereitet in meiner Kunst, und ich denke unter den Menschen am schöns-ten über Homer zu reden, sodaß weder Metrodor aus Lampsakos nochStesimbrotos aus Thasos noch Glaukon noch irgendein anderer derer,die je gelebt haben, so viele schöne Gedanken über Homer hat äußernkönnen wie ich. – S:Wohl gesprochen, Ion, denn offenbar wirst du nichtzögern, mir einen Beweis zu liefern. – I: Und in der Tat lohnt es sich,Sokrates, zu hören, wie ich Homer verherrlicht habe. Und so glaube ich,es zu verdienen, von den Homeriden mit einem goldenen Kranz be-kränzt zu werden. –

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S: Und ich werde mir noch Zeit nehmen, dich zu hören. Jetzt aber beant-worte mir nur so viel: Bist du nur für Homer zuständig oder auch fürHesiod und Archilochos? – I: Mitnichten, sondern nur für Homer. Dasscheint mir nämlich genug zu sein. – S: Gibt es etwas, worüber Homerund Hesiod dasselbe sagen? – I: Ich glaube schon und zwar eine Men-ge. – S: Würdest du nun über das, was Homer hierüber sagt, schönereAusführungen machen als über das, was Hesiod sagt? – I: Jedenfallsdort, Sokrates, wo sie dasselbe sagen, würde ich in gleicher Weise spre-chen. – S: Wie aber steht es um das, worüber sie nicht dasselbe sagen?Zum Beispiel spricht sowohl Homer als auch Hesiod über Mantik. – I:Durchaus. – S:Wie also steht es hier? Was diese beiden Dichter sowohlin gleicher Weise wie auch unterschiedlich über die Seherkunst sagen,würdest du das schöner erläutern als einer der guten Seher? – I: Einerder Seher. – S: Wärest du aber ein Seher, würdest du dann, wenn dudenn das in gleicher Weise Gesagte erläutern könntest, auch das unter-schiedlich Gesagte erläutern können? – I: Offensichtlich. –

S:Warum nun bist du für Homer kompetent, für Hesiod aber nicht, undauch nicht für die anderen Poeten? Oder spricht Homer über andere Din-ge als alle anderen Poeten? Hat er nicht im wesentlichen vom Krieg ge-handelt und vom Verkehr der Menschen untereinander, der guten undder schlechten und der Laien und der Spezialisten, und von Göttern, wiesie miteinander und mit den Menschen umgehen, und von den Vorgän-gen am Himmel und in der Unterwelt, und die Entstehungen der Götterund der Heroen? Ist es nicht das, worüber Homer gedichtet hat? – I: Duhast recht, Sokrates. – S: Und was ist mit den anderen Dichtern? Spre-chen sie nicht über dieselben Dinge? – I: Sicher, Sokrates, aber sie ha-ben nicht in derselben Weise gedichtet wie Homer. – S: Wie denn?Schlechter? – I: Bei weitem. – S: Homer aber besser? – I: Besser natür-lich, bei Zeus. –

S:Wenn nun, Ion, geliebtes Haupt, unter vielen, die über Zahlen disku-tieren, einer sich besonders gut äußert, da wird doch jemand den, dersich so äußert, als solchen erkennen? – I: Ja. – S: Doch wohl derselbe,der auch die erkennt, die sich schlecht äußern, oder ein anderer? – I: Of-fenbar derselbe. – S: Nämlich der, der die Zahlenlehre beherrscht. – I:Ja. – S: Und weiter. Wenn unter vielen, die darüber sprechen, was ge-sunde Nahrung ist, einer sich besonders gut äußert, wird dann ein ande-rer den, der sich so äußert, als solchen erkennen, ein anderer aber den,der sich schlechter äußert, oder derselbe? – I: Offensichtlich derselbe. –

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S: Wer ist das? Wie ist sein Name? – I: Arzt. – S: Fassen wir also zu-sammen: Wenn viele über dasselbe Thema sprechen, wird immer einund derselbe erkennen, wer gut spricht und wer schlecht.. Oder andersgesagt, wenn er nicht den erkennt, der schlecht spricht, dann offenbarauch nicht den, der gut spricht, sofern es um dasselbe Thema geht. – I:So ist es. – S: Derselbe also erweist sich in beiden Fällen als zuständig. –I: Ja. – S: Nun sagst du, Homer und die anderen Dichter, zu denen auchHesiod und Archilochos gehören, sprechen über dieselben Dinge, dochnicht in gleicher Weise, sondern der eine gut, die anderen schlechter. –I: Und zu recht behaupte ich das. – S: Nun, wenn du den, der gut spricht,erkennst, solltest du auch die schlechter Sprechenden erkennen, daß sieschlechter sprechen. – I: Es scheint jedenfalls so. – S: Also, mein Bes-ter, wenn wir behaupten, Ion sei in gleicher Weise für Homer und für dieanderen Poeten zuständig, werden wir nichts Falsches behaupten, da erja selbst einräumt, daß ein und derselbe ein kompetenter Kritiker allersei, die über dieselben Dinge reden, die Dichter aber fast alle über das-selbe sprechen. –

I:Was in aller Welt also ist die Ursache, Sokrates, daß ich, wenn jemandüber irgendeinen anderen Dichter spricht, dann weder aufmerksam zu-höre noch etwas Beachtenswertes beisteuern kann, sondern geradezueinschlafe, sobald aber jemand Homer erwähnt, daß ich dann sofortwach bin und aufmerksam und reichlich Worte habe? –

S: Das ist nicht schwer zu erraten, mein Freund, sondern für jeden istklar, daß mit Sachverstand und Wissen über Homer zu reden du außer-stande bist. Denn wärst du mit Sachverstand dazu imstande, dann könn-test du auch über alle anderen Dichter sprechen. Denn die Dichtkunst istja wohl ein Ganzes. Oder nicht? – I: Ja. – S:Wenn also jemand auch ei-ne beliebige andere Fertigkeit, die ein Ganzes ist, sich aneignet, dannwird dieselbe Betrachtung gelten.1 Wie ich das meine, möchtest du dasvon mir hören, Ion? – I: Ja, bei Zeus, mein Sokrates, das möchte ich.Höre ich euch Gelehrten doch gerne zu. –

S: Ich wollte, du hättest recht, Ion. Doch Gelehrte seid ja wohl ihr, dieRhapsoden und Schauspieler, und die, deren Dichtungen ihr vortragt,ich aber sage nichts anderes als das, was vor aller Augen liegt, wie es ei-nem Laien zukommt. Denn auch das, was ich dich eben fragte, schau,

1 532d2: In den mss. folgt hier περὶ ἁπασῶν τῶν τεχνῶν, das Diller m.E. zurecht tilgt.

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wie simpel und laienhaft und jedermann verständlich das ist, was ich sa-ge, es sei dieselbe Betrachtungsweise, wenn man eine Kunst als Ganzesnehme. Denn laß es uns theoretisch erfassen: Gibt es so etwas wie Kunstder Malerei als Ganzes? – I: Ja. – S: Also gibt es und hat es gegeben vie-le Maler, tüchtige und schlechte? – I: Gewiß. – S: Sahst du nun schoneinmal jemanden, der imstande ist, an Polygnot, dem Sohn des Aglao-phon, zu zeigen, was er gut gemalt hat und was nicht, an anderen Malernaber nicht? Und wenn jemand die Werke der anderen Maler vorführt,dann schläft er ein, versteht nichts und weiß nichts beizutragen, wenn eraber über Polygnot oder einen beliebigen anderen Maler, nur über ihnals einzelnen, seine Meinung äußern soll, ist er wach, aufmerksam undhat genug zu sagen? – I: Nein, bei Zeus, wahrlich nicht. – S: Und ferner:In der Bildhauerei, hast du schon einmal jemanden erlebt, der einzigund allein über Daidalos, den Sohn des Metion, oder Epeios, den Sohndes Panopeus, oder Theodoros aus Samos oder sonst einen Bildhauerausführen kann, was er gut geschaffen hat, vor den Werken der anderenBildhauer aber in Verlegenheit gerät, einschläft und nichts zu sagenhat? – I: Nein, bei Zeus, auch dem bin ich nicht begegnet. – S: Und, wieich jedenfalls glaube, auch beim Flöten- und Kitharaspiel, beim Gesangzur Kithara oder beim epischen Vortrag hast du niemals einen Mann er-lebt, der zwar imstande ist, sich über Olympos zu äußern oder Thamyrisoder Orpheus oder Phemios, den Rhapsoden aus Ithaka, aber über Ionaus Ephesos verlegen ist und nichts beizutragen weiß zu dem, was er gutvorträgt und was nicht. – I: Ich kann dir hier nicht widersprechen, Sok-rates. Doch darin bin ich mir ganz sicher, daß ich über Homer amschönsten rede unter den Menschen und über ihn was zu sagen habe unddaß alle anderen von mir meinen, ich spräche vortrefflich, über die ande-ren Dichter aber nicht. Und sieh also zu, was es damit ist. –

S: Das tue ich, Ion, und mache mich daran, dir zu zeigen, was ich davonhalte. Diese deine Eigenheit besteht darin, daß du keine eigentlicheTechnik besitzt, über Homer gut zu reden, wie ich schon einmal sagte,sondern eine göttliche Kraft, die dich antreibt, wie in dem Stein, den Eu-ripides den magnesischen genannt hat, die meisten aber den heraklei-schen nennen. Denn auch dieser Stein bewegt nicht nur selbst die eiser-nen Ringe, sondern verleiht auch den Ringen eine Kraft, daß sie ihrer-seits dasselbe tun können was der Stein tut, nämlich andere Ringe bewe-gen, sodaß gelegentlich eine ganz lange Kette eiserner Ring aneinanderhängt. Für sie alle aber hängt die Kraft an diesem Stein. So schafft auchdie Muse selbst von Gott Begeisterte, dadurch aber, daß durch diese Be-

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geisterten andere geisterfüllt werden, entsteht aus ihnen eine Kette.Denn alle Dichter der Epen, soweit sie vortrefflich sind, tragen alle dieseschönen Dichtungen nicht aufgrund einer Kunstfertigkeit vor, sondernweil sie gotterfüllt sind und besessen; und ebenso die guten lyrischenDichter, wie die Korybanten nicht in vernünftigem Zustand tanzen, soschaffen auch die lyrischen Dichter diese ihre schönen Lieder nicht invernünftigem Zustand, sondern wenn sie der Musik verfallen und demRhythmus, sind sie in bakchantischer Verzückung, und besessen, wieBakchen aus den Flüssen Honig und Milch schöpfen, wenn sie besessen,doch nicht bei Verstand sind, so schafft auch die Seele der lyrischenDichter das, was sie selbst erzählen. Denn die Poeten erzählen uns doch,daß sie aus honigströmenden Quellen von gewissen Gärten und Tälernder Musen ihre Lieder ernten und uns bringen, wie die Bienen, auchselbst hin und herfliegend. Und es ist wahr, was sie erzählen. Denn einleichtes Ding ist der Dichter und beflügelt und heilig und nicht vorherimstande zu dichten, als bis er gotterfüllt ist und bewußtlos und der Ver-stand ihn verlassen hat; solange er aber diesen Besitz (den Verstand sc.)festhält, ist kein Mensch fähig zu dichten und weiszusagen. Weil sie alsoohne Kunstverstand dichten und viel Schönes über die Dinge vortragen,wie du über Homer, sondern dank göttlicher Begabung, ist jeder nur dasimstande poetisch zu gestalten, wozu ihn die Muse getrieben hat: der ei-ne Dithyramben, der andere Lobgesänge, der Tanzlieder, der Epen, derJamben, in Bezug auf anderes aber ist jeder untüchtig. Denn nicht dankKunstverstand sprechen sie, sondern dank göttlicher Begabung. Dennwenn sie in einem einzigen Fall dank Kunstverstand schön zu reden ver-stünden, dann würden sie es auch in allen anderen Fällen. Aus diesenGründen gilt, daß der Gott ihnen den Verstand genommen hat und sieals Diener benutzt und Wahrsager und göttliche Seher, damit wir, dieHörer, wissen, daß nicht sie es sind, die diese so erfreulichen Dinge vor-tragen, sie, die keinen Verstand haben, sondern der Gott selbst es ist, derspricht, durch sie aber zu uns redet. Der beste Beweis aber für diese Er-klärung ist Tynnichos aus Chalkis, der keine andere Dichtung je verfaßthat, derer man sich erinnern möchte, wohl aber den Paian, den alle sin-gen, wohl das schönste aller Lieder, geradezu, wie er selbst ihn nennt,„ein Fund der Muse“.2 An ihm nämlich scheint mir der Gott, damit wirnicht zweifeln, uns vor allem gezeigt zu haben, daß diese schönen Dich-

2 Dieser berühmte Paian ist nicht erhalten. PMG 707. Aischylos soll die Aufforderung, einenPaian zu verfassen, abgelehnt haben mit dem Hinweis darauf, daß der Paian des Tynnichos nichtzu übertreffen sei. Aischylos TrGF 3 Testim. 114 (Radt).

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