Platon und Aristoteles als Wegbereiter der praktischen ... · Differenzen zwischen Platon und...

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Armin Müller Platon und Aristoteles als Wegbereiter der praktischen Philosophie Mit einem Ausblick auf die Aktualität der beiden Klassiker als Zeugen im hermeneutischen Verfahren zur Beglaubigung moderner Rechtsstaatlichkeit ALBER PHILOSOPHIE B

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Armin Muumlller

Platon undAristoteles alsWegbereiterder praktischenPhilosophieMit einem Ausblick auf dieAktualitaumlt der beiden Klassikerals Zeugen im hermeneutischenVerfahren zur Beglaubigungmoderner Rechtsstaatlichkeit

ALBER PHILOSOPHIE B

Armin Muumlller

Platon und Aristotelesals Wegbereiter derpraktischen Philosophie

VERLAG KARL ALBER A

Dieses Buch stellt sich die Aufgabe Wege und Umwege nachzuzeich-nen die die philosophia practica universalis ndash Ethik Politik Oumlko-nomik ndash seit ihren Anfaumlngen bis in unsere Tage zuruumlckgelegt hatDieses Programm setzt eine Kontinuitaumlt voraus die schon alleindurch das nie obsolete Telos der praktischen Philosophie naumlmlichdas gelungene Leben (bene beateque vivere) hinreichend gesichertist Dasselbe Ziel kann gleichwohl aber auch Ursache eines diskon-tinuierlichen Verlaufs sein sofern praktische Philosophie wenn sieglaubhaft sein will ihre Argumente stets anlassbezogen im Blick aufsich aumlndernde aumluszligere Umstaumlnde vortragen muss So verkuumlrzten dieStoiker in Abkehr von Platon und Aristoteles die praktische Philoso-phie notgedrungen auf die Ethik weil Misstrauen der jeweils Situa-tionsmaumlchtigen die Philosophie zur Sezession genoumltigt hatte Da-gegen war die unverkuumlrzte Wiederkehr der praktischen Philosophiemitsamt ihremmethodischen Ruumlstzeug geradezu ein Gebot der Stun-de als in den Tagen der Franzoumlsischen Revolution sowie in den Jahrennach dem Zweiten Weltkrieg die Herstellung der Rechtsstaatlichkeitzum essentiellen Thema wurde Tragende Saumlulen der philosophischenBegleitung dieses weltgeschichtlichen Geschehens wurden Ethik undPolitik und ganz besonders die Oumlkonomik als Ethik mit anderen Mit-teln Die praktische Philosophie ergruumlndet die Bedeutung dessen wasist in hermeneutischer Selbstvergewisserung aus ihrer eigenen Ge-schichte

Die Referenzautoren Sokrates Platon Aristoteles Zenon ChrysippCicero Th Hobbes I Kant G W F Hegel J Ritter G BienH Luumlbbe O Marquard

Der Autor

Armin Muumlller Jahrgang 1936 war nach der Promotion bei JoachimRitter (1967) Lehrer am Gymnasium Paulinum zu Muumlnster Zugleichwar er Lehrbeauftragter an der Universitaumlt Muumlnster und zwar zu-naumlchst am Philosophischen Seminar bis 1992 und seit 2001 am Insti-tut fuumlr Klassische Philologie Seit 1982 betreut er AschendorffsSammlung Lateinischer und Griechischer Klassiker als Herausgeber

Armin Muumlller

Platon und Aristotelesals Wegbereiterder praktischenPhilosophieMit einem Ausblick auf dieAktualitaumlt der beiden Klassiker alsZeugen im hermeneutischenVerfahren zur Beglaubigungmoderner Rechtsstaatlichkeit

Verlag Karl Alber FreiburgMuumlnchen

Originalausgabe

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Printed in Germany

ISBN (Buch) 978-3-495-48886-7ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-81349-2

Vorwort

Was Sokrates durch seine Gespraumlche auf dem Markt vorgelebt hattenahmen Platon und Aristoteles in ihren Schulen kongenial auf als siedas menschliche Handeln in der Polis in den Mittelpunkt ihrer Auf-merksamkeit ruumlckten und auf diese Weise zu Gruumlndungsvaumltern derpraktischen Philosophie wurden Das wissenschaftstheoretische Er-gebnis ihrer Arbeit ist die Konstituierung der philosophia practicauniversalis deren drei Disziplinen Ethik Politik und Oumlkonomik un-ter verschiedenen Aspekten das Ziel des bene beateque vivere verfol-gen Diese Trias verkoumlrpert ein Leitbild das wenn auch auf unver-meidlichen Umwegen bis in unsere Tage wirksam geblieben ist

Ihre vitale Kontinuitaumlt verdankt dieses System der praktischenPhilosophie demUmstand dass neben Gemeinsamkeiten seiner aumlltes-ten Verfechter auch der Streit an seiner Wiege stand Platon argu-mentierte aus raquoreiner Vernunftlaquo ohne den Phaumlnomenen eigene Ver-nuumlnftigkeit zuzugestehen Aristoteles argumentierte hermeneutischindem er pruumlfte welche Vernunftgruumlnde in dem was ist oder ge-schieht schon enthalten sind Die Auseinandersetzungen als Folgedieser Differenz konnten der Qualitaumlt des Ergebnisses nur foumlrderlichsein Andererseits schloss der fundamentale Unterschied im metho-dischen Vorgehen der beiden Gruumlndungsvaumlter Gemeinsamkeiten inden politischen Praumlferenzen keineswegs aus Beide hegten eine Aver-sion gegen Athens demokratisches Lager beide sympathisierten mitPhilipp vonMakedonien Beide wurden schlieszliglich aber auch gemein-sam von den alten Stoikern fuumlr laumlngere Zeit in den Hintergrund ge-draumlngt als es nach dem Sturz des Demetrios Phalereus im Interessedes Burgfriedens ratsam schien dass die Philosophie bis auf weiteresden Staat verschonte also auf dessen ndash sei es kritische oder sei esermunternde ndash Beeinflussung verzichtete Implizit hielten die sto-ischen Nachfolger Platon und Aristoteles vor ihre einst in Akademieund Lykeion vorgetragene praktische Philosophie sei keine Antwort

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mehr auf die Problemlage der im Zeichen des Hellenismus gewandel-ten Polis

Waumlhrend nun das Setzen der alten Stoiker auf innere Auto-nomie ndash Ausdruck einer mehr oder weniger erzwungenen Sezessionaus der Polis ndash ebendeshalb historisch zu erklaumlren ist sind Platon undAristoteles von Zweifeln an der Allgemeinheit der Grundsaumltze ihrerpraktischen Philosophie laumlngst freigesprochen Dank dieser spaumltes-tens seit Cicero erwirkten Rehabilitation sind Platon und Aristotelesganz im Sinne ihrer urspruumlnglichen Intentionen bis in die moderneWelt einflussreich geblieben und konnten etwa Hegels philosophi-scher Begleitung der Konstituierung des modernen Rechtsstaats in-spirierend zur Seite stehen ndash gleichsam zur Selbstvergewisserung dereinen Sattelzeit durch eine andere Hegels Vorgehen sollte sich erneutbei gleichzeitigem Ruumlckgriff auf Platon und Aristoteles wiederholenals im Zuge der geistigen Gruumlndung der Bundesrepublik nach demZweiten Weltkrieg bewusst wurde dass eine Wiederaufnahme deszwischenzeitlich verworfenen Hegelschen Plaumldoyers fuumlr den Rechts-staat ein Gebot der Stunde sei Die faumlllige Vergegenwaumlrtigung Hegelsuumlbernahm initiierend Joachim Ritter und ausweitend lenkten spaumlterseine Schuumller aus dem raquoCollegium Philosophicumlaquo den Blick auf dieunvermeidlichen von Ethik Politik und Oumlkonomik zu beantworten-den Anschlussprobleme Im Zuge der Anknuumlpfung an die Traditionder praktischen Philosophie durch J Ritter erfuhren Platon und Aris-toteles unter Vermittlung Hegels erneut in einem essenziellen Ver-fahren ihre ehrenvolle Einberufung in den Zeugenstand Wenn nundieses Buch sich anschickt die Grundzuumlge dieses modernen Prozessessamt seiner auf Platon und Aristoteles zuruumlckgehenden Vorgeschich-te nachzuzeichnen so muss es sich bei einer in mehr als zweitausendJahren angehaumluften Stofffuumllle zwangslaumlufig auf die Hervorhebungdes Wesentlichen beschraumlnken Indes tut das damit eingestandeneUumlberspringen des weniger Wesentlichen der Intention keinen Ab-bruch zur Selbstvergewisserung der praktischen Philosophie bei-zutragen durch Ruumlckbesinnung auf ihren systematischen Ursprungder mit der Einsicht in die Zusammengehoumlrigkeit von Ethik Politikund Oumlkonomik zusammenfaumlllt

Ein Buch wird in der Regel nicht ohne konsultierende Gespraumlchemit befreundeten Experten geschrieben Das ist auch in diesem Fallgeschehen Fuumlr ihre Bereitschaft sich jederzeit auf die Eroumlrterungaufkommender Probleme einzulassen oder Bedenken zu zerstreuendankt der Autor herzlich den Professoren Dr Guumlnther Bien Dr Rai-

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Vorwort

ner Henke und Dr Dr Karl Homann Zusaumltzlichen Dank schuldet derAutor Professor Henke der freundlicherweise das Korrekturlesen desManuskripts auf sich genommen hat

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Vorwort

Inhalt

Vorwort 5

Einleitung ndash zur Erlaumluterung der These 11

Hermeneutikgeleitete Chronik der Wege und Umwege derphilosophia practica universalis von den Anfaumlngen bis in dieGegenwart 19Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie 21Schluumlsse aus dem politischen Scheitern der Platonschuumller 35Die Vorarbeiten des Aristoteles fuumlr die Politik 54Die philosophischen Pflichten des Tages gegenuumlber dengriechischen Staumldten 62Die ideale Stadt des Aristoteles 72Das Ende der Freundschaft zwischen Alexander und Aristoteles 84Die Bedeutung der elf Wenden in der Athenaion Politeia ndashquid facti 100Die Legitimitaumlt der attischen Demokratie ndash quid iuris 107Das Ungluumlcksjahr 322 117Antipatros und Phokion ndash oder die zwoumllfte Wende (322) 121Kassandros und Polyperchon ndash oder die dreizehnte Wende(319) 125Demetrios Phalereus ndash oder die vierzehnte Wende (317) 128Die Sezession der Philosophie nach dem Sturz des DemetriosPhalereus (307) 146Demetrios Poliorketes und der Herrscherkult ndash oder diefuumlnfzehnte Wende (307) 163

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Die Tyrannei des Lachares ndash oder die sechzehnte Wende(um 300) 171Die Ruumlckkehr des Demetrios Poliorketes ndashoder die siebzehnte Wende (295) 174Der Siegeszug des Herrscherkults 187Die stoische Goumltterlehre als Antwort auf den Herrscherkult 193Lactantius uumlber die heidnische Entlastung der Goumltter 208Die wiederhergestellte Autoritaumlt Homers 214Platon und Chrysipp im Streit uumlber Homers theologia 227Die tragische Katharsis und die stoische Lehre von denAffekten 239Theodizee und Geschichtsphilosophie 258Die quaestio finita als Pruumlfstein originalitaumltsgerechterRezeption 276Hegels Ruumlckgriff auf die Lehre vom sittlichen Staat bei Platonund den Tragikern 282Aristoteles als Zeuge der praktischen Philosophie Hegels 288Joachim Ritters Erneuerung der Hegelschen Platon- undAristotelesrezeption 314Politik und Ethik als Bauglieder der philosophia practicauniversalis im Blickpunkt der Ritterschen MitteGuumlnther Bien Hermann Luumlbbe Odo Marquard 328Die Oumlkonomik oder der von der Ritterschen Mitte gesetzteSchlussstein der philosophia practica universalisKarl Homann 343

Verwendete Sigla 371

Literaturverzeichnis 372

Index nominum et rerum 383

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Inhalt

Einleitung ndash zur Erlaumluterung der These

Platons Akademie und das Lykeion des Aristoteles lagen zwar vor denMauern aber deshalb war die Stadt der Schule keineswegs gleichguumll-tig im Gegenteil die Stadt erfreute sich jederzeit intensiver Auf-merksamkeit durch die Schule Vorgegeben war diese Haltung durchden gemeinsamen Ahnherren Sokrates raquoden Landschaft und Baumlumewenig lehrten wohl aber die Menschen in der Stadtlaquo1 Buumlndig be-staumltigt das auf seine Weise Cicero Socrates autem primus philoso-phiam devocavit e caelo et in urbibus conlocavit2 Noch im Gefaumlngnisunterstreicht Sokrates er koumlnne unmoumlglich ohne Einverstaumlndnis derAthener fliehen wo er doch so bewusst und ausdruumlcklich sein ganzesLeben in ihrer Stadt verbracht habe dass er sie auszliger zu Feldzuumlgennur ein einziges Mal mit einer Festgesandtschaft zu den IsthmischenSpielen verlassen habe3 Sokrates war uumlberzeugt ein gelungenes Le-ben habe er nur als Buumlrger der Stadt Athen fuumlhren koumlnnen und mitdieser Bindung an die Polis identifizierten sich Platon und Aristotelesnicht minder

Das Verhaumlltnis von Schule und Stadt war laumlnger als ein halbesJahrhundert gepraumlgt von einer auf Unabhaumlngigkeit beider Seiten be-ruhenden Auseinandersetzung die im Jahre 322 zu Ende ging alswenige Wochen vor dem Tod des Aristoteles Athen mit der Nieder-lage im Lamischen Krieg unwiederbringlich die politische Autonomieeinbuumlszligte Wer nun die Philosophie der Epoche bis zu diesem Wende-jahr betrachtet dem werden unvermeidlich die nicht zu leugnendenDifferenzen zwischen Platon und Aristoteles ins Auge fallen Werjedoch Platon und Aristoteles zusammen gegen die spaumlter von derStoa gepraumlgte Epoche abhebt wird ihnen ebenso unvermeidlich alsganz wesentliches gemeinsames Merkmal den Umstand zuordnen

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1 Platon Phaidros 230 D2 Cicero Tusculanae disputationes 5 103 Platon Kriton 52 B

dass im Mittelpunkt ihrer philosophischen Aufmerksamkeit nicht dieSchule selbst sondern die politischeWelt auszligerhalb der Schule standIhre theoretische Arbeit endete nicht esoterisch mit Saumltzen zur inne-ren Sittlichkeit der Schule vielmehr uumlberschritt sie diese Schrankeund widmete sich eingehend den sittlichen Normen der Stadt ohneuumlbrigens daruumlber die Ordnung des fuumlr diese Normen keineswegsgleichguumlltigen Makrokosmos zu vernachlaumlssigen Ihre Politik ist in-stitutionelle Ethik und umgekehrt setzt ihre Ethik auf einen Staatder die Buumlrger tugendhaft macht

Bei weiter ausholendem Hinsehen erweist sich die vielbeschwo-rene Kritik des Aristoteles an Platon eher als dessen staumlndiges Be-muumlhen das gemeinsame Ziel den sittlichen Staat vor selbstverschul-detem Scheitern zu retten Aristoteles war nicht Gegner Platonssondern dessen dankbarer Erbe der der geistigen Hinterlassenschaftseines Lehrers das Uumlberleben zu sichern suchte In dieser Absicht aumln-derte er das methodische Vorgehen von Grund auf Er schrieb denBuumlrgern nicht mehr vor wie sie sein sollten sondern registrierte her-meneutisch wie sie sind um zu ergruumlnden was in diesem Ist-Bestandan vernuumlnftiger Vorleistung als dasWesentliche immer schon enthal-ten ist Als Hermeneutik lehrt praktische Philosophie dass die unsitt-liche Stadt sich nicht im Widerspruch zu einer aumluszligeren Instanz son-dern zu ihr selbst befindet Folgerichtig sah Aristoteles das Idealzieldes Philosophen auch nicht im Amt des Herrschers der aufgrundabsolutenWissens die Lebensordnung diktiert Vielmehr war er uumlber-zeugt sein Amt angemessen auszuuumlben wenn er darauf setzte zuwerben zu beraten und mit Argumenten zu uumlberzeugen und daseben nicht als philosophischer Herrscher sondern als Lehrer seinerSchuumller als Berater Philipps II als Prinzenerzieher Alexanders alsErmunterer der Buumlrger im Einklang mit Sitte Recht und Anstandihr Gluumlck zu suchen Aristoteles sah bessere Chancen fuumlr die plato-nische Substanz wenn er diese auf der institutionellen Basis der vitacontemplativa als bestimmter Lebensform neben und nicht uumlber dervita activa zu wahren suchte um die aktiv Taumltigen aus der damitimmer noch bestehenden Distanz vermoumlge hermeneutischen Vor-gehens daruumlber aufzuklaumlren dass die ethische Lebensfuumlhrung gelingtwenn sie im Einklang mit den bestehenden Sitten erfolgt

In der Politik des Aristoteles ist somit Platons Vernunftstaatdurchaus praumlsent allerdings eben nicht in Gestalt radikaler System-kritik sondern unter dem Oberbegriff einer raquoPolitielaquo den er in auf-klaumlrender und beratender Absicht ins Spiel bringt Im Blick auf aktu-

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Einleitung ndash zur Erlaumluterung der These

elle Probleme der Polis versteht Aristoteles die Politie zunaumlchst alsVerfassung die die Ursachen der oft blutigen Dauerkonflikte zwi-schen Oligarchen und Demokraten aufzuheben verspricht daruumlberhinaus entwickelt Aristoteles eine an Platons Idealstaat erinnerndezweite Version von Politie und zwar im Blick auf die Planungen Phi-lipps II mit einem panhellenischen Heer die Aumlgaumlis in ein makedo-nisches Meer zu verwandeln und die Jonier in Kleinasien von derPerserherrschaft zu befreien Die erstere Politie der Buumlcher IV bis VIbesteht in einem auf Aussoumlhnung der Konfliktparteien zielenden Ver-fassungsentwurf und entsprach somit der zum Schlagwort erhobenenWunschvorstellung der Zeit naumlmlich der inneren Eintracht (ὁμό-νοια) Die andere Politie in Buch VII enthielt die Grundlegung derLebensordnung griechischer Groszligbuumlrger die sich im befreiten Jonienansiedeln sollten Auch diese Verfassung kam zumindest indirekteiner Wunschvorstellung der Zeit entgegen naumlmlich dem Wunschnach gemeinsamem Frieden (κοινὴ εἰρήνη) der griechischen Staumldteuntereinander denn ehemalige Feinde koumlnnten umso leichter Friedenschlieszligen und Freunde werden wenn sie sich als Eroberer zum Kampfgegen einen gemeinsamen Gegner verbuumlnden Vorrangig angespro-chen sollten sich allerdings Groszligbuumlrger fuumlhlen die mit ihrem Lebenin den demokratischen Staumldten Griechenlands unzufrieden warenund einer auf oligarchischen Idealen gegruumlndeten Polis den Vorzuggaben

Obwohl Aristoteles dank seiner hermeneutischen Vorgehens-weise keineswegs an den Adressaten vorbeiredete sollte sich schonbald abzeichnen dass aus je verschiedenen Gruumlnden sowohl die prag-matische als auch die ideale Politie abgewiesen wurden Aristoteleswar daruumlber nicht entmutigt sondern verfolgte seinen hermeneuti-schen Ansatz nur noch strikter in dem was ist das Wesentliche zubegreifen Das was ist also das politisch Dominierende war nun un-bestritten die demokratische Verfassung der Athener denen dieSchule ndash und das durchaus auch den Tatsachen zuwider ndash die Ver-nachlaumlssigung ihrer eigenen Gesetze gleichsam als Erbuumlbel immerwieder vorgehalten hatte Die raquoVerfassung der Athenerlaquo (Ἀθηναίωνπολιτεία oder kurz AP) nimmt und sei es unausgesprochen dieeinst auch von Aristoteles selbst mitgetragene Kritik der Schule zu-ruumlck und bedeutet dieser implizit dass sie sich selbst um Glaub-wuumlrdigkeit und Uumlberzeugungskraft bringt wenn sie offen am Tageliegende Sachverhalte systematisch in Abrede stellt Die AP ist dieAnerkennung der Tatsache dass den Athener Demokraten im vierten

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Einleitung ndash zur Erlaumluterung der These

Jahrhundert die Vollendung eines widerspruchsfrei verfassten Geset-zesstaates gelungen ist der im Uumlbrigen nicht von einem kuumlnstlichgesetzten Nullpunkt ausgegangen ist sondern hermeneutisch rekon-struierbar sich in organischem Wachstum seit Ion und Theseus in elfWenden entwickelt hat Der Ton der AP liegt nicht darauf dass kom-promissbereite Philosophie die Welt vor der ihr sonst eigenen Radi-kalitaumlt verschonen will sondern auf der im theoretischen Zusehengewonnenen Einsicht dass die Stadt gerade das philosophische Ur-anliegen der Gesetzestreue immer schon als legitimierendes Prinzipihres Handelns befolgt hat Die hermeneutische Zirkelstruktur be-steht also darin dass die Philosophie der Stadt dies als das an ihrWesentliche erklaumlrt was sie selbst hervorgebracht hat

Der Einfluss der Akademie und des Lykeion endete aber keines-wegs abrupt mit dem Jahre 322 als die Athener ihre Souveraumlnitaumlteinbuumlszligten und damit die unumgehbare Voraussetzung einer auf Sitt-lichkeit bestehenden politischen Theorie Dank makedonischer Un-terstuumltzung erzielten die Schulen durch Phokion und Demetrios Pha-lereus in den folgenden Jahren sogar weitaus mehr politischeWirkung als die beiden Gruumlnder zu ihren Lebzeiten Ebendiesem Er-folg hatten indes im Jahre 307 die Schulen den entscheidenden Ruumlck-schlag zu verdanken als der aus ihren Reihen hervorgegangeneDemetrios Phalereus nach zehnjaumlhriger Herrschaft aus der Stadt ver-trieben wurde Rigide Entmuumlndigung der Buumlrger bei eigenem Nar-zissmus samt Selbstbereicherung brachten nicht nur Demetrios selbstum jeden Kredit sondern auch die Philosophie der Akademie und desLykeion nach deren Vorgaben er als ihr Angehoumlriger in Athen regierthatte Die empoumlrten Demokraten reagierten mit der Androhung derTodesstrafe und Verbannung der Philosophen und unter Philoso-phen verstanden sie unterschiedslos alle Platoniker und AristotelikerMit dieser harschen Reaktion laumluteten die Athener zugleich die Ge-burtsstunde der Stoiker ein die gleichsam in ihrer Gruumlndungsurkun-de festschrieben dass ihre Ethik die Sittlichkeit der Schule und nichtdie Sittlichkeit der Stadt zum Gegenstand habe Die Stoiker erkann-ten dass sie die Philosophie unter Wahrung ihrer Autonomie nurfortfuumlhren konnten wenn sie der Stadt versicherten dass sie andersals Platon und Aristoteles ihre Gesetzgebung ausschlieszliglich fuumlr ihreSchule als geschlossene secta erlieszligen Die erklaumlrtermaszligen der Poliszugewandte Philosophie die Platon und Aristoteles gemeinsam ver-treten hatten war ihnen nunmehr gemeinsam zum Verhaumlngnis ge-worden

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Einleitung ndash zur Erlaumluterung der These

Unter dem Druck der politischen Umstaumlnde beschlossen dieStoiker ihre Sezession und erklaumlrten die Beschaumlftigung mit der Polisals einst zentrales Thema der Philosophie fuumlr nichtig Daruumlber hinausdistanzierten sie sich ebenfalls noch in manch anderem Punkt vonPlaton und Aristoteles wenn sie etwa im Felde der theologia und derAffektlehre Theoreme vortrugen die erst angesichts der Lage seit 307auf die Tagesordnung gerieten So antworteten sie auf den Herrscher-kult der implizit die unsterblichen Goumltter zu zweitrangigen Groumlszligenherabstufte mit der providentia-Lehre um zu demonstrieren wessenFuumlrsorge in Wahrheit die Menschheit ihr Uumlberleben zu verdankenhabe Da aber die Goumltter bei rehabilitierender Bestaumltigung ihrer ndashden kultisch verehrten Diadochen uumlberlegenen ndash Allmacht zwingendauch fuumlr alle Uumlbel in derWelt verantwortlich waren musste Chrysippden Streit zwischen Homer und Platon ob die Goumltter fuumlr alles odernur fuumlr das Gute zustaumlndig seien erneut austragen Es war also letzt-lich das aumluszligere Phaumlnomen des Herrscherkultes der diesen Streit un-ter den Gelehrten ausloumlste Aumlhnlich lagen die Dinge beim Problemder Affekte Der dank der politischen Ereignisse des Jahres 307 er-zwungene Ruumlckzug der Philosophie auf sich selbst war nur unter derBedingung entschieden abschirmender Selbstbehauptung nach auszligenertraumlglich Dieselbe Bedingung der Autonomie musste aber auch nachinnen erfuumlllt sein und zwar gegen ein ganzes Buumlndel von denkbarenAffekten die bei Verzicht auf ihre Einhegung die muumlhsam nach au-szligen behauptete Souveraumlnitaumlt wieder untergraben haumltten Folgerichtigwar die Affektlosigkeit (ἀπάθεια) das zentrale Thema der stoischenEthik ndash mit dem Ziel der Wahrung der inneren Autonomie Die Stoi-ker konnten daher nicht das Risiko eingehen die Behandlung derAffekte wie Aristoteles wollte eher beilaumlufig den Nachwirkungender von der tragischen Dichtung ausgeloumlsten Katharsis zu uumlberlassenStattdessen mussten die Stoiker darauf bedacht sein eine spezielleTherapie fuumlr den Fall zu entwickeln dass wie zu befuumlrchten denAffekten katechismuswidrig hier und da eben doch ein Ausbruch ge-lingen sollte

Obwohl die Stoiker als die neuen Meinungsfuumlhrer Platon undAristoteles fuumlr Jahrhunderte in den Hintergrund zu draumlngen ver-mochten mussten sie am Ende doch erleben dass die beiden Arche-geten im Status von unangefochtenen Klassikern ihre Renaissanceerlebten Zwar sicherten die Stoiker durch ihren weisen Ruumlckzug derphilosophia perennis die Kontinuitaumlt duumlrften aber am Ende aus dem-selben Grund dem sie ihr Entstehen verdankten wieder von Platon

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Einleitung ndash zur Erlaumluterung der These

und Aristoteles in den Schatten gestellt worden sein Denn Lehrerwie Schuumller verstanden anders als die Stoiker unter Schule stets eineInstanz der systematischen Beschaumlftigung gerade auch mit der Au-szligenwelt Dieser erweiterte Argumentbereich konnte dem Kreis umPlaton und Aristoteles schlieszliglich nicht mehr schaden als es keinedirekt angesprochenen Zeitgenossen mehr gab die sich durch ihreLehren und das Handeln ihrer Schuumller provoziert fuumlhlten Von sol-chen Gefuumlhlen unberuumlhrt suchen hingegen spaumltere Generationen beiPlaton und Aristoteles gerade wegen ihres umfassenden Blickfeldesnach Belehrung und gegebenenfalls Bestaumltigung eigener Theorienund das sowohl im Grundsaumltzlichen als auch in Einzelfragen

Platons Philosophie nahm ihren Ausgang von der ganz be-stimmten Frage der Apologie wie Sokrates der gerechteste BuumlrgerAthens gegen die Asebieklage des Anytos Meletos und Lykon zuverteidigen sei In den Kategorien der Theorie der Rhetorik haumltte die-se Frage als eine quaestio finita gegolten die im Verfolg eine Fuumlllevon sich anschlieszligenden quaestiones infinitae ausloumlsen sollte wienaumlmlich ein gerechter Staat moumlglich sei der vom Geist seiner gerech-ten Buumlrger gepraumlgt waumlre Mit dem daraus erwachsenen Fundus vonFragen und erteilten Antworten haben Platon und entsprechend Aris-toteles der Nachwelt einen geistigen Reichtum hinterlassen dem sieschlieszliglich ndash nach zwischenzeitlicher Suspendierung ndash ihre Anerken-nung als unumstrittene Klassiker bis in unsere Tage zu verdankenhaben Angesichts solcher Hinterlassenschaft darf sich die Philo-sophie mit gutem Gewissen als Vergegenwaumlrtigung ihrer eigenen Ge-schichte definieren Vergegenwaumlrtigung wiederum ist im weitestenSinne das Gemeinschaftswerk der subtilitas intellegendi und der sub-tilitas applicandi und das so bestimmte Vorgehen ist auch dieVoraussetzung fuumlr die Zeugenrolle die Platon und Aristoteles beider philosophischen Begleitung der Preuszligischen Reformen durchG W F Hegel und erneut bei der geistigen Gruumlndung der Bundes-republik nach dem ZweitenWeltkrieg durch Joachim Ritter und seineSchuumller spielten Dass Platon und Aristoteles fuumlr den buumlrgerlichenRechtsstaat in den Zeugenstand traten setzt den hermeneutischenPhilosophiebegriff voraus demgemaumlszlig die Philosophie auf der Praumlsenzihrer eigenen Geschichte beruht Damit ist zugleich die Frage nachden Aussichten einer umfassenden Erneuerung der praktischen Phi-losophie gestellt der sich so lautet unsere These Joachim Ritter undseine Schuumller widmeten indem sie dem Primat der praktischen Ver-nunft die Ehre erweisend die klassischen Disziplinen der philosophia

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Einleitung ndash zur Erlaumluterung der These

practica universalis ndash Ethik Politik Oumlkonomik ndash schrittweise auf-nahmen und in ein systematisches Verhaumlltnis zur modernen Weltsetzten

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Einleitung ndash zur Erlaumluterung der These

Hermeneutikgeleitete Chronikder Wege und Umwege derphilosophia practica universalisvon den Anfaumlngen bis in die Gegenwart

Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

Vom Ende her gesehen koumlnnte leicht der Eindruck entstehen Platon(42827ndash34847) habe sich von vornherein als Lebenswerk die Gruumln-dung einer philosophischen Schule zum Ziel gesetzt in deren Mittel-punkt die Ausbildung einer systematischen politischen Theoriestehen sollte Dieser Eindruck taumluscht indes Wie Platon selbst imVII Brief (324 Bndash326 D) seinen Werdegang darstellt hatte er ur-spruumlnglich gar nicht die Absicht eine Schule zu gruumlnden die sichphilosophisch mit dem Staat befasste Stattdessen draumlngte er zunaumlchstauf eigenes politisches Handeln als er in der Herrschaft der DreiszligigTyrannen (40403) eine Chance sah einen Staat zu errichten der freiwar von den Schwaumlchen der Demokratie Enttaumluscht musste er aberbald erkennen dass die fruumlheren Verhaumlltnisse in der Demokratie ver-glichen mit der Gegenwart unter den Dreiszligig Gold (sic) waren Fol-gerichtig wandte er sich von den Dreiszligig ab und war nach deren Sturzwiederum bereit zu politisch aktiver Taumltigkeit wurde aber erneut ent-taumluscht ndash durch das Todesurteil gegen Sokrates den Mangel an poli-tischen Freunden die grassierende Geringachtung der Gesetze unddie Inthronisierung der Lust (ἡδονή) als Maszlig der Dinge Erst darauf-hin widmete sich Platon der theoretischen Beschaumlftigung mit demwahren Staat nicht ohne fuumlr erneute praktische Taumltigkeit in der Poli-tik bessere Zeiten abzuwarten die dann eintraumlten wenn wahrhaftePhilosophen die Herrschaft im Staat uumlbernaumlhmen und nicht die durchdas Los ins Amt befoumlrderte Inkompetenz Seine Philosophie war alsoOpposition auszligerhalb der politischen Buumlhne gedacht als ungewollteZwischenphase die erst endete wenn die Staumldte nach philosophi-schen Grundsaumltzen verfasst waumlren Die Gruumlndung der Schule erfolgtealso eher aus Verlegenheit sie war nicht die erfolgreiche Ausfuumlhrungeiner urspruumlnglichen Absicht

Mit seinem Bericht im VII Brief laumlsst Platon also durchblickendass er gleichsam widerWillen die Akademie als Schule gruumlndete undderen erstes Schulhaupt wurde Die Schule galt Platon als Surrogateiner Polis der vollendeten Sittlichkeit Folgerichtig war das Leit-thema der Schule die Lehre vom wahren Staat der das bloszlige Surrogatwieder uumlberfluumlssig machen sollte Platon verschweigt auch nicht vonwelchem Standpunkt aus er die Grundzuumlge des idealen Staates ent-wickelte Waumlhrend er die Schwaumlchen der Demokratie eher in derenStrukturen suchte ortete er die Schwaumlchen der Oligarchie im persoumln-lichen Versagen insbesondere der Dreiszligig Tyrannen Demgemaumlszlig plauml-

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dierte er fuumlr eine zu wahrer Aristokratie veredelte Oligarchie die vonindividuellen und strukturellen Defiziten frei war Diese dem Best-moumlglichen verpflichtete Parteinahme erfuumlllte zugleich die Anforde-rungen einer auf Widerspruchsfreiheit bedachten Theorie sofernPlaton alle seine politischen Vorstellungen auf Vernunftbegriffe zu-ruumlckfuumlhrte und nie vergaszlig sie geltend zu machen wo immer ihreBeachtung zwingend geboten war Mag es Platon auch nicht gelungensein in Athen einen Wiedergaumlnger des Sokrates als philosophischenHerrscher zu bestallen und auf diese Weise sein praktisches Ziel zuerreichen so bleibt doch als Ergebnis seiner Anstrengungen zumin-dest als Fortschritt im Bewusstsein dies bestehen dass von nun anpolitische Vorgaumlnge unvermeidlich von der Aufmerksamkeit einerauszligerhalb der politischen Buumlhne angesiedelten Vernunftkritik beglei-tet wurden Insofern blieb Platons mutiger Schritt eine politischeEntitaumlt systematisch in Zweifel zu ziehen und sie auch noch miteinem Gegenmodell zu konfrontieren nicht ohne kuumlnftige Folgen

Einstweilen blieb aber Platons politische FundamentaloppositionSache der Schule deren Eigengesetzlichkeit sich auf die inhaltlicheWeiterarbeit spuumlrbar auswirken sollte Zur (nachsokratischen)Grund-ausstattung der Schule gehoumlrte die Schriftlichkeit die Platon in nichtgeringe Verlegenheit brachte weil er auf unmittelbare Praumlsenz derVernunft setzte und nicht auf eine mittelbare die sich auch nochdurch Ablage ins Buumlcherregal unschaumldlich machen lieszlig1 Zudemzeichnete sich uumlber das politische Kerninteresse hinaus eine durchschultypisches Weiterfragen ausgeloumlste Verfaumlcherung ab die Platonnoch identitaumltsphilosophisch aufzufangen vermochte die aber auflange Sicht jenseits der Politik zur Etablierung von Einzeldisziplinenwie Ontologie Kosmologie Mathematik und Erkenntnistheorie fuumlhr-te Den Sophisten ging es aumlhnlich wie Sokrates von Protagoras er-faumlhrt Nur bei ihm selbst erfuumlhren die Schuumller das Noumltige uumlber ihrKerngeschaumlft das Haus gut zu verwalten und sich auf der Agoraacute zubewaumlhren waumlhrend sie bei anderen Sophisten wie Hippias von Elisverdorben wuumlrden weil diese sie mit Unnuumltzem wie Arithmetik As-tronomie Geometrie und Dichtung traktierten2 So weitete also auchdie Schule Platons allmaumlhlich ihren Themenkreis immer weiter aus

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Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

1 Auf dieses Merkmal der Schule ist G Bien naumlher eingegangen Das Theorie-Praxis-Problem und die politische Philosophie bei Platon und Aristoteles in Phil Jb 76(196869) 264ndash314 hier S 307ndash3132 Platon Protagoras 318 Dndash319 A

je mehr ihre Vorlaumlufigkeit die mit einem politischen Erfolg der Fun-damentalopposition ihr Ende finden sollte in Vergessenheit gerietAristoteles sollte an seinem Lehrer in der Sache manche Kritik uumlbenaber die Regeln der Institution Schule ihre Hinwendung zur Schrift-lichkeit und ihre Etablierung von Einzeldisziplinen (Pragmatien) ver-standen sich fuumlr ihn schon von selbst

Aristoteles (384ndash322) hatte als Siebzehnjaumlhriger seine makedo-nische Heimat verlassen um sich im Jahre 36766 der Akademie an-zuschlieszligen Da war Platon schon uumlber fuumlnfzig Jahre alt und hatteseine philosophische Arbeit dogmatisch abgeschlossen Da er in die-sen Tagen kurz vor seiner zweiten Reise nach Syrakus stand hat ervielleicht erst nach seiner Ruumlckkehr erkannt wer von nun an seinbegabtester Schuumller war Als Aristoteles einmal bei einer Vorlesungfehlte rief Platon verzweifelt aus raquoDer Geist ist nicht zugegenstumpf ist da die Houmlrerschaftlaquo ndash im Original ein ausgefeilter jambi-scher Trimeter ὁ νοῦς ἄπεσ|τιν κωφὸν τἀκ|ροατήριον3 Aristote-les wird sich dieses Lob seines Lehrers gewiss bei vielen Gelegenhei-ten verdient haben nicht zuletzt aber dank der Art wie er sich beiPlatons beruumlhmter Altersvorlesung raquoUumlber das Gutelaquo4 bewaumlhrte Alsdieser das Gute kosmologisch im zahlhaft bestimmten Einen verorte-te blieben die Houmlrer einer nach dem anderen enttaumluscht der Vor-lesung fern weil sie Ausfuumlhrungen uumlber seelische koumlrperliche undaumluszligere Guumlter im gemeinen Verstande erwartet hatten Auf diese Re-aktion der Houmlrer hatte Platon nur gewartet er wollte wissen wer mitseinem Vorstellungshorizont uumlber den der Menge hinausging undsich damit als genuiner Philosoph erwies Tatsaumlchlich harrten nurwenige Houmlrer bis zum Ende aus und empfingen den Ritterschlageines wahren Philosophen darunter natuumlrlich Aristoteles Dieser er-klaumlrte allerdings spaumlter er werde sich an das allgemein Anerkanntehalten statt aus dem Satz dass das Eine ein Gut sei herzuleiten dassdie Gerechtigkeit ein Gut sei5

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Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

3 Zitiert nach V Rose Aristotelis qui ferebantur librorum fragmenta collegit V RLeipzig 18701886 repr Stuttgart 1967 S 4284 Das Vorlesungsmanuskript ist im Original nicht erhalten Die zahlreichen Para-phrasen bei anderen Autoren hat W D Ross Aristotelis Fragmenta Oxford 1935S 111ndash120 gesammelt5 Aristoteles Eudemische Ethik 1218 a 15ndash22 Der Aristotelesschuumller Aristoxenosbestaumltigte diese Reaktion seines Lehrers in seinen ἁρμονικὰ στοιχεῖα (ed P Mar-quard Die harmonischen Fragmente des Aristoxenos Berlin 1868 S 30) und fuumlgtehinzu es empfehle sich zu Beginn einer Vorlesung sein Thema genau anzukuumlndigen

Im Uumlbrigen sparte auch Aristoteles nicht mit Lob auf seinenLehrer Im Rahmen seiner Inschrift auf einem Altar der Freundschaftden Eudemos von Kypros von einer Reise nach Athen zuruumlckgekehrtgestiftet hatte ruumlhmt Aristoteles Platon als Mann den schlechteMenschen nicht einmal loben duumlrften und als Mann der als Ersterunter den Menschen durch eigene Lebensfuumlhrung und vorgetrageneGruumlnde demonstriert habe dass der gute Mann ebendeshalb auch dergluumlckliche Mann ist Zwar taucht im uumlberlieferten Text der Distichenweder der Name Platons noch der des Eudemos auf Olympiodor ver-sichert aber Aristoteles habe in seiner Widmung an den Stifter Eude-mos ebendieses Lob auf Platon ausgesprochen6 Bei welchem Lehrerhaumltte Aristoteles auch besser lernen koumlnnen wie man wesentlicheaber oft uumlbersehene Fragen stellt wie man fuumlr andere uumlberraschendauf Zusammenhaumlnge und Widerspruumlche aufmerksam macht wieman auf den ersten Blick unerkannte Implikationen und Konsequen-zen herausarbeitet wie man unzureichend Bewiesenes als solchesidentifiziert wie man einmal erzielte Uumlbereinkuumlnfte stets im Ge-daumlchtnis praumlsent haumllt wie man seine Argumente durch Ruumlckfuumlhrungauf Gruumlnde und Ursachen als anerkannte Berufungsinstanzen uumlber-zeugend vortraumlgt

Zur gegenseitigen Wertschaumltzung aufgrund ihrer intellektuellenVorzuumlge gesellte sich die politische Uumlbereinstimmung beider Philoso-phen die neben der Sympathie fuumlr Makedonien die entschieden ab-lehnende Haltung gegenuumlber der attischen Demokratie betraf FuumlrPlaton fiel die Suche nach der gerechten Polis als dem hiesigen Kor-relat des absolut Guten mit entschiedener Demokratiekritik zusam-men Seine politische Leitidee bildete die Gerechtigkeit als Einheit derKardinaltugenden mit dem Ziel der Baumlndigung des sinnlichen Inte-resses (ἡδονήvoluptas) waumlhrend in seinen Augen die demokrati-schen Leitideen der Gleichheit und Freiheit lediglich auf eine Beschouml-nigung der voluptas als des wahren Bestimmungsgrundes der Mengehinausliefen Diesen von voluptas durchdrungenen Staat sah Platonals derart heillos verfahren an dass er anknuumlpfende Schritt-fuumlr-Schritt Reformen gar nicht erst in Betracht zog Stattdessen setzte

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Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

und wenn man Paradoxes vortragen wolle dies auch unmissverstaumlndlich zu sagen Sobliebe den Houmlrern die Enttaumluschung erspart wenn sie in Erwartung einer Belehrunguumlber Guumlter wie Reichtum Gesundheit Gluumlck am Ende lediglich die blasse Auskunfterhielten das Gute sei Eines6 Olympiodoros in Platonis Gorgiam XLI 10 ad p 515 C

Platons politische Opposition mit anderen Mitteln7 auf eine vomNullpunkt aus fehlerfrei in Gedanken durchkonstruierte Polis in derdie schon seit Kleisthenes bestehende Einheitlichkeit und Geschlos-senheit des Gemeinwesens gewahrt blieben aber konkrete demokra-tische Komponenten wie Rat und Volksversammlung Geschwore-nengericht und Flotte Panathenaumlen Dionysien und Eleusinien nichteinmal dem Namen nach vorkamen Bei dieser Konstellation gerietenSchule und Polis zwangslaumlufig in ein Verhaumlltnis sich gegenseitigenIgnorierens Die Schule fuumlhrte ihre Debatten als private Institutionohne Beruumlcksichtigung der Vorgaumlnge auf der Agoraacute und die Agoraacutemuumlhte sich mit den ihr eigenen Mitteln um eine Konsolidierung derdemokratischen Institutionen ohne die Einwaumlnde der Schule zurKenntnis zu nehmen Nun mag Platon einen offenbar unpolitischenweil von den Realitaumlten abgehobenen Ausgangspunkt gewaumlhlt unddamit seiner Weiterarbeit wie spaumlter die hermeneutisch argumentie-rende Kritik des Aristoteles zeigen sollte einen schlechten Dienst er-wiesen haben aber ihn leitete ohne jeden Zweifel ein handfestes Mo-tiv und eine daraus abgeleitete allgemeine bis in unsere Tage zubeherzigende Grundeinsicht

Platons Schluumlsselerlebnis war das Todesurteil gegen Sokratesdas eine Mehrheit unter fuumlnfhundert Geschworenen faumlllte obwohlsich Sokrates in allen Anklagepunkten ganz offenkundig als nichtschuldig erwiesen hatte Moumlglich wurde diese Gerichtsentscheidungweil es den Anklaumlgern wie routinierten Demagogen gelang mit ihrenUnwahrheiten eine ignorante Menge auf ihre Seite zu ziehen In derTat hatten sie wie Sokrates gleich im zweiten Satz der Apologie aus-ruft nicht ein einzigen wahren Satz vorgetragen (ἀληθές γε hellip οὐ-δὲν εἰρήκασιν) Der offenbar unausrottbaren Moumlglichkeit dass De-magogen gerade mit der Unwahrheit Mehrheiten fuumlr sich gewinnenkoumlnnen galt zeitlebens Platons kritische Aufmerksamkeit Tatort wa-ren nicht nur die Geschworenengerichte sondern nicht minder dieVolksversammlung in der interessierte Redner Mehrheitsbeschluumlsse(ψηφίσματα) herbeifuumlhrten mit denen sie bestehende Gesetze un-terliefen8 Auch fuumlr dieses Fehlverhalten gab es eine Schluumlsselszeneals naumlmlich im Zuge des Arginusenprozesses ein Mann aus der auf-gehetzten Menge rief es sei eine Ungeheuerlichkeit wenn man denDemos nicht tun lasse was er wolle und gleich darauf durchgesetzt

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Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

7 Platon VII Brief 325 Endash326 A8 Ebd 325 DndashE

wurde dass die angeklagten Seeoffiziere en bloc verurteilt wurdenund nicht wie es das Gesetz verlangte jeder einzeln Der Einzigeder sich diesem rechtswidrigen Beschluss widersetzte war Sokrates9

Dass dieser Staat ausgerechnet seinen gerechtesten Buumlrger zumTode verurteilt hatte hat Platon nie verziehen Da indes die aus-schlaggebende Mehrheit der Geschworenen ihr Urteil wohl kaumfuumlr ungerecht hielt sah Platon sich verpflichtet allen ebenso gesinn-ten Athenern vorzutragen was an und fuumlr sich Gerechtigkeit wirklichist und zwar in der Politeia aus dem Munde eben des Sokrates Danun der Staat fuumlr die Gerechtigkeit der groumlszligere und besser sichtbareBewaumlhrungsort ist als der Einzelne schlug Sokrates vor den Begriffvon Gerechtigkeit zunaumlchst im Blick auf den Staat zu entwickeln (Po-liteia 368 E 472 B) Die Frage nach der Gerechtigkeit konkretisiertesich auf diese Weise zur Frage nach dem gerechten Staat Folgerichtigsetzte Platon im Geist des Sokrates der attischen Demokratie mitihrem falschen Machtwillen einen auf reiner Vernunft beruhendenIdealstaat entgegen von dessen Vorzuumlgen er vielleicht schon dienaumlchste Generation der Athener zu uumlberzeugen hoffte10 anderenfallskoumlnne man nur noch auf einen Gluumlcksschlag von auszligen (τύχη) set-zen oder dass sich dank goumlttlicher Fuumlgung ein Staatenlenker mit derPhilosophie befasse11 Die Befuumlrchtung der Philosoph koumlnne in seinereigenen Stadt wenn uumlberhaupt dann nur dank goumlttlicher Fuumlgung po-litisch taumltig werden (Politeia 592 A) wollte Platon allerdings fuumlr sichnicht als Entschuldigung gelten lassen im Gegenteil Platon ver-sicherte er sei eigens nach Syrakus gereist damit man ihm nicht vor-halten koumlnne er sei nur im Felde der Theorie stark ziehe sich aberzuruumlck wenn es an die praktische Ausfuumlhrung gehe (VII Brief328 C) Vielmehr war fuumlr ihn der gerechte Staat Inhalt philosophi-scher Reflexion mit dem Ziel seiner Verwirklichung

Im idealen Staat darf die Entscheidungsbefugnis nur bei Buumlrgernliegen die allein durch philosophisch uumlberpruumlfte Qualifikation undnicht durch Loswahl in ihr Amt gelangt sind Nur wer die Houmlhle derdie Menge auszeichnenden Kurzsichtigkeit verlassen und dank uumlber-legener Vernuumlnftigkeit die Idee des Guten geschaut hat vermag pri-vat wie oumlffentlich vernuumlnftig zu handeln12 eben seitdem er sich von

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Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

9 Xenophon Hellenika 1 7 12ndash16 Vgl unten Anm 38 S 137 und Anm 17 S 14810 Platon Politeia 315 CndashD11 Platon VII Brief 326 A12 Platon Politeia 517 C

der Aussageabsicht der drei beruumlhmten Gleichnisse hat uumlberzeugenlassen dass naumlmlich das Gerechte das Gute ist und nicht das sinnlicheInteresse der auf den Schein fixierten Menge13 Entsprechend heiszligt esin Platons 8 Brief (355 A) Fuumlr besonnene Menschen ist Gott das Ge-setz fuumlr die unvernuumlnftigen ist es die Lust Das Gute hat also densel-ben Stellenwert wie Gott und bildet wie dieser insofern den Welt-grund als es weil jenseits (ἐπέκεινα) des daseienden Universumsangesiedelt im Rang noch uumlber dieses hinausragt und sich heilsambewaumlhrt indem es dank seinem Sproumlssling dem Sonnenlicht Orien-tierung durch Sichtbarkeit der Dinge sowie Leben Wachstum undGedeihen moumlglich macht14 Die Ausrichtung amGuten als Weltgrunderhebt das Gerechte zur unbedingten Handlungsnorm fordert abernicht nur sondern gewaumlhrt in einem damit den Buumlrgern auch wahr-haft praktischen Nutzen naumlmlich das Leben im sittlichen Gesetzes-staat ndash die Frucht eben der Herrschaft der Gerechtigkeit15 Damit istdie Frage zu deren Beantwortung Sokrates die drei beruumlhmtenGleichnisse vortrug naumlmlich ob Lust oder das Gerechte das wahreGut ist beantwortet und die implizit gegebene Antwort die auf derUnterscheidung der vier Erkenntnisstufen im Liniengleichnis beruhtbesagt dass die beschraumlnkten intellektuellen Moumlglichkeiten der Men-ge zu dieser Einsicht nicht ausreichen diese also fuumlglich zu entmuumln-digen ist schon um den Demagogen ein leichtglaumlubiges Publikum zuentziehen

Der Form nach stand bei aller Reserve Platon durchaus in derSchuld der Demokraten Sie waren es die unter Kleisthenes den atti-schen Staat als rational verwalteten Einheitsstaat geschaffen hattender nicht mehr nach Staumlmmen Sippen und oumlrtlich bedingten Loyali-taumlten fragmentiert war Unter Phylen verstand Kleisthenes nichtmehr den Oberbegriff vertikal strukturierter Personenverbaumlnde son-dern horizontal strukturierter einheitlich verwalteter Bezirke nachdem Territorialprinzip Das Volk der Athener (ὁ τῶν Ἀθηναίων δῆ-μος) trat an die Stelle der Klientel wie in Rom der populus Romanusan die Stelle der gentes Platon musste also das Prinzip staatlicherEinheit selbst nicht mehr erfinden wohl aber dem Inhalt nach fuumlr alleZukunft beschlieszligen dass nicht nur dieser sondern jeder Staat sei-nem Wesen gemaumlszlig in der Pflicht sei sich als raquoWirklichkeit der sitt-

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Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

13 Ebd 505 B14 Ebd 509 AndashB15 Ebd 505 A

lichen Ideelaquo (Hegel) zu bewaumlhren Uumlber diesen Beschluss hinausdachte Platon noch einen Schritt weiter denn es konnte nicht ge-nuumlgen einen Staat philosophischer Sittlichkeit lediglich zu gruumlndener musste auch erhalten werden ndash durch ein Kollegium integrer Ge-setzeshuumlter die das muumlhsam Erreichte unveraumlndert zu bewahren hat-ten16 Diese Position waumlre etwa im Arginusenprozess unbesetzt ge-wesen haumltte Sokrates sie nicht eingenommen und auf Einhaltungder Gesetze bestanden

Ebenso wie die vorgegebene Staatlichkeit hat auch das mit dieserverbundene demokratische System der Rechtspflege das das archai-sche Selbsthilfeprinzip abloumlste Eingang in Platons Philosophie gefun-den Die archaische Selbsthilfe bestand darin dass die durch einenUumlbergriff beleidigte Sippe der Sippe des Taumlters die Fehde ankuumlndigte(πρόρρησις) deren Beendigung durch Abschluss eines Suumlhnevertra-ges (αἴδεσις) erfolgte Dass bei dieser Form der Konfliktbeilegungdurch Aussoumlhnung die staumlrkere Sippe in der Regel ihre Loumlsungsvor-stellungen durchsetzte liegt auf der Hand Der Schritt fuumlr Schritterfolgte Gerichtszwang durch den der Staat erst allmaumlhlich das Mo-nopol der Rechtspflege uumlbernahm hatte zum Ziel dass anstelle zufaumll-liger Machtverhaumlltnisse die Systematik von Recht und Gesetz imStreit der Parteien entscheidet17 Diesen Sinn der nacharchaischenRechtsprechung hat Ovid mit dem Hexameter zusammengefasstinde datae leges ne firmior omnia posset (Fasten 3 279) Im Gor-gias-Dialog haumllt nun Platon der Rhetorik vor sie sei der methodischeVersuch gerade diese Errungenschaft der Rechtsprechung ruumlckgaumln-gig zu machen Kallikles ein Anhaumlnger des Rhetoriklehrers Gorgiasspricht unverhohlen aus dass Herakles voumlllig im Recht war Geryonesseine Rinder die er weder gekauft noch zum Geschenk erhalten hatteohne Bedenken zu stehlen da das von Natur Gerechte darin bestehedass alles Eigentum der Schwaumlcheren in Wahrheit dem Staumlrkeren ge-houmlre18 Sokrates haumllt Kallikles entgegen dass wahre Uumlberlegenheitnicht im Mehr-haben-Wollen sondern im Sittlich-besser-Sein be-stehe und beruft sich damit ebenso wie die Rechtsprechung auf ein

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Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

16 Platon Politeia 484 B Nomoi 752 DndashE 754 Dndash755 C 770 AndashD 847 AndashD 959 Dndash961 CIm Abschnitt zu raquoDemetrios Phalereus ndash oder die vierzehnte Wendelaquo wird diese pla-tonische Vorgabe noch eine wesentliche Rolle spielen17 Zu diesen nicht leicht zu rekonstruierenden Prozessen sei auf die im Literaturver-zeichnis genannten Aufsaumltze von E Ruschenbusch verwiesen18 Platon Gorgias 484 BndashC

systematisches Kriterium um die individuelle Machtperspektive inSchranken zu weisen Dass Sokrates bei seinem Gespraumlchspartnermit dieser Argumentation nicht durchdringt ist allein der Borniert-heit des Kallikles zuzuschreiben

Es ist nicht zu leugnen dass Platon ebenso wie der Oligarch Kal-likles den Besseren das Wort redete aber unter den Besseren wirklichBessere verstand die den Staat als sublimierte Oligarchie tragen soll-ten Von dieser Staatslehre gilt es also zu uumlberzeugen und das ver-suchte Platon auch ganz im Sinne des Sokrates zunaumlchst durch sach-liche Gespraumlchsfuumlhrung oder Dialektik (διαλέγεσθαι) die mitkurzen Saumltzen Rechenschaft fordert und gewaumlhrt Sokrates mochtekeine langen Reden die geeignet sind das Ausgangsthema nach eini-ger Zeit aus den Augen zu verlieren19 Auch mochte es Sokrates garnicht wenn Unterredner sich streitsuumlchtig (ἐρίζειν) an Worten fest-bissen statt am intendierten Inhalt20 Das richtet sich gegen Protago-ras der als Erfinder der Eristik Wortklauberei betrieb statt sich aufdie Bedeutung des Sachverhalts zu konzentrieren21 Insgesamt ist diesokratische Version von Dialektik ein Gegenentwurf zur raquosogenann-ten Kunst der Rhetoriklaquo22 die lediglich den Uumlberredungserfolg zumZiel hat und nicht etwa wohlbegruumlndete Wahrheiten herausarbeitenwill Nun musste Platon etwa im Gespraumlch mit Kallikles im Gorgiasoder mit Thrasymachos im ersten Buch der Politeia erkennen dassgerade seine Sachlichkeit bei Boumlswilligen auf taube Ohren stoumlszligt Erentwickelte daher noch in der Politeia einen uumlber Sokrates hinaus-gehenden Begriff von Dialektik die nicht diskutiert sondern dekre-tiert nachdem diese durch reines auf das Gespraumlch mit sich selbstkonzentriertes Durchdenken des Wesentlichen frei von sinnlichenEindruumlcken zum Ziel der Erkenntnis des Guten gelangt ist (532 AndashB) Weil somit Dialektik zustaumlndig wird fuumlr die Vergegenwaumlrtigungdes Guten in der politischen Welt darf auch nur der ausgewieseneDialektiker Staatenlenker werden (534 CndashD) der auf seinen Einsich-ten beharrt auch wenn ihm seine Mitbuumlrger die Zustimmung ver-weigern Gegen vordergruumlndige Rechthaberei von wem immer sieausgeht verteidigt Platon das Prinzip vernuumlnftiger Argumentationgegen die Kraumlfte ihrer Blockierung

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Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

19 Platon Protagoras 336 AndashC Gorgias 474 B20 Platon Politeia 454 A21 Diogenes Laertios 9 5222 Platon Gorgias 448 D

Page 2: Platon und Aristoteles als Wegbereiter der praktischen ... · Differenzen zwischen Platon und Aristoteles ins Auge fallen. Wer jedoch Platon und Aristoteles zusammen gegen die später

Armin Muumlller

Platon und Aristotelesals Wegbereiter derpraktischen Philosophie

VERLAG KARL ALBER A

Dieses Buch stellt sich die Aufgabe Wege und Umwege nachzuzeich-nen die die philosophia practica universalis ndash Ethik Politik Oumlko-nomik ndash seit ihren Anfaumlngen bis in unsere Tage zuruumlckgelegt hatDieses Programm setzt eine Kontinuitaumlt voraus die schon alleindurch das nie obsolete Telos der praktischen Philosophie naumlmlichdas gelungene Leben (bene beateque vivere) hinreichend gesichertist Dasselbe Ziel kann gleichwohl aber auch Ursache eines diskon-tinuierlichen Verlaufs sein sofern praktische Philosophie wenn sieglaubhaft sein will ihre Argumente stets anlassbezogen im Blick aufsich aumlndernde aumluszligere Umstaumlnde vortragen muss So verkuumlrzten dieStoiker in Abkehr von Platon und Aristoteles die praktische Philoso-phie notgedrungen auf die Ethik weil Misstrauen der jeweils Situa-tionsmaumlchtigen die Philosophie zur Sezession genoumltigt hatte Da-gegen war die unverkuumlrzte Wiederkehr der praktischen Philosophiemitsamt ihremmethodischen Ruumlstzeug geradezu ein Gebot der Stun-de als in den Tagen der Franzoumlsischen Revolution sowie in den Jahrennach dem Zweiten Weltkrieg die Herstellung der Rechtsstaatlichkeitzum essentiellen Thema wurde Tragende Saumlulen der philosophischenBegleitung dieses weltgeschichtlichen Geschehens wurden Ethik undPolitik und ganz besonders die Oumlkonomik als Ethik mit anderen Mit-teln Die praktische Philosophie ergruumlndet die Bedeutung dessen wasist in hermeneutischer Selbstvergewisserung aus ihrer eigenen Ge-schichte

Die Referenzautoren Sokrates Platon Aristoteles Zenon ChrysippCicero Th Hobbes I Kant G W F Hegel J Ritter G BienH Luumlbbe O Marquard

Der Autor

Armin Muumlller Jahrgang 1936 war nach der Promotion bei JoachimRitter (1967) Lehrer am Gymnasium Paulinum zu Muumlnster Zugleichwar er Lehrbeauftragter an der Universitaumlt Muumlnster und zwar zu-naumlchst am Philosophischen Seminar bis 1992 und seit 2001 am Insti-tut fuumlr Klassische Philologie Seit 1982 betreut er AschendorffsSammlung Lateinischer und Griechischer Klassiker als Herausgeber

Armin Muumlller

Platon und Aristotelesals Wegbereiterder praktischenPhilosophieMit einem Ausblick auf dieAktualitaumlt der beiden Klassiker alsZeugen im hermeneutischenVerfahren zur Beglaubigungmoderner Rechtsstaatlichkeit

Verlag Karl Alber FreiburgMuumlnchen

Originalausgabe

copy VERLAG KARL ALBERin der Verlag Herder GmbH Freiburg Muumlnchen 2017Alle Rechte vorbehaltenwwwverlag-alberde

Satz und PDF-E-Book SatzWeise GmbH TrierDruck und Bindung CPI books GmbH Leck

Printed in Germany

ISBN (Buch) 978-3-495-48886-7ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-81349-2

Vorwort

Was Sokrates durch seine Gespraumlche auf dem Markt vorgelebt hattenahmen Platon und Aristoteles in ihren Schulen kongenial auf als siedas menschliche Handeln in der Polis in den Mittelpunkt ihrer Auf-merksamkeit ruumlckten und auf diese Weise zu Gruumlndungsvaumltern derpraktischen Philosophie wurden Das wissenschaftstheoretische Er-gebnis ihrer Arbeit ist die Konstituierung der philosophia practicauniversalis deren drei Disziplinen Ethik Politik und Oumlkonomik un-ter verschiedenen Aspekten das Ziel des bene beateque vivere verfol-gen Diese Trias verkoumlrpert ein Leitbild das wenn auch auf unver-meidlichen Umwegen bis in unsere Tage wirksam geblieben ist

Ihre vitale Kontinuitaumlt verdankt dieses System der praktischenPhilosophie demUmstand dass neben Gemeinsamkeiten seiner aumlltes-ten Verfechter auch der Streit an seiner Wiege stand Platon argu-mentierte aus raquoreiner Vernunftlaquo ohne den Phaumlnomenen eigene Ver-nuumlnftigkeit zuzugestehen Aristoteles argumentierte hermeneutischindem er pruumlfte welche Vernunftgruumlnde in dem was ist oder ge-schieht schon enthalten sind Die Auseinandersetzungen als Folgedieser Differenz konnten der Qualitaumlt des Ergebnisses nur foumlrderlichsein Andererseits schloss der fundamentale Unterschied im metho-dischen Vorgehen der beiden Gruumlndungsvaumlter Gemeinsamkeiten inden politischen Praumlferenzen keineswegs aus Beide hegten eine Aver-sion gegen Athens demokratisches Lager beide sympathisierten mitPhilipp vonMakedonien Beide wurden schlieszliglich aber auch gemein-sam von den alten Stoikern fuumlr laumlngere Zeit in den Hintergrund ge-draumlngt als es nach dem Sturz des Demetrios Phalereus im Interessedes Burgfriedens ratsam schien dass die Philosophie bis auf weiteresden Staat verschonte also auf dessen ndash sei es kritische oder sei esermunternde ndash Beeinflussung verzichtete Implizit hielten die sto-ischen Nachfolger Platon und Aristoteles vor ihre einst in Akademieund Lykeion vorgetragene praktische Philosophie sei keine Antwort

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mehr auf die Problemlage der im Zeichen des Hellenismus gewandel-ten Polis

Waumlhrend nun das Setzen der alten Stoiker auf innere Auto-nomie ndash Ausdruck einer mehr oder weniger erzwungenen Sezessionaus der Polis ndash ebendeshalb historisch zu erklaumlren ist sind Platon undAristoteles von Zweifeln an der Allgemeinheit der Grundsaumltze ihrerpraktischen Philosophie laumlngst freigesprochen Dank dieser spaumltes-tens seit Cicero erwirkten Rehabilitation sind Platon und Aristotelesganz im Sinne ihrer urspruumlnglichen Intentionen bis in die moderneWelt einflussreich geblieben und konnten etwa Hegels philosophi-scher Begleitung der Konstituierung des modernen Rechtsstaats in-spirierend zur Seite stehen ndash gleichsam zur Selbstvergewisserung dereinen Sattelzeit durch eine andere Hegels Vorgehen sollte sich erneutbei gleichzeitigem Ruumlckgriff auf Platon und Aristoteles wiederholenals im Zuge der geistigen Gruumlndung der Bundesrepublik nach demZweiten Weltkrieg bewusst wurde dass eine Wiederaufnahme deszwischenzeitlich verworfenen Hegelschen Plaumldoyers fuumlr den Rechts-staat ein Gebot der Stunde sei Die faumlllige Vergegenwaumlrtigung Hegelsuumlbernahm initiierend Joachim Ritter und ausweitend lenkten spaumlterseine Schuumller aus dem raquoCollegium Philosophicumlaquo den Blick auf dieunvermeidlichen von Ethik Politik und Oumlkonomik zu beantworten-den Anschlussprobleme Im Zuge der Anknuumlpfung an die Traditionder praktischen Philosophie durch J Ritter erfuhren Platon und Aris-toteles unter Vermittlung Hegels erneut in einem essenziellen Ver-fahren ihre ehrenvolle Einberufung in den Zeugenstand Wenn nundieses Buch sich anschickt die Grundzuumlge dieses modernen Prozessessamt seiner auf Platon und Aristoteles zuruumlckgehenden Vorgeschich-te nachzuzeichnen so muss es sich bei einer in mehr als zweitausendJahren angehaumluften Stofffuumllle zwangslaumlufig auf die Hervorhebungdes Wesentlichen beschraumlnken Indes tut das damit eingestandeneUumlberspringen des weniger Wesentlichen der Intention keinen Ab-bruch zur Selbstvergewisserung der praktischen Philosophie bei-zutragen durch Ruumlckbesinnung auf ihren systematischen Ursprungder mit der Einsicht in die Zusammengehoumlrigkeit von Ethik Politikund Oumlkonomik zusammenfaumlllt

Ein Buch wird in der Regel nicht ohne konsultierende Gespraumlchemit befreundeten Experten geschrieben Das ist auch in diesem Fallgeschehen Fuumlr ihre Bereitschaft sich jederzeit auf die Eroumlrterungaufkommender Probleme einzulassen oder Bedenken zu zerstreuendankt der Autor herzlich den Professoren Dr Guumlnther Bien Dr Rai-

6

Vorwort

ner Henke und Dr Dr Karl Homann Zusaumltzlichen Dank schuldet derAutor Professor Henke der freundlicherweise das Korrekturlesen desManuskripts auf sich genommen hat

7

Vorwort

Inhalt

Vorwort 5

Einleitung ndash zur Erlaumluterung der These 11

Hermeneutikgeleitete Chronik der Wege und Umwege derphilosophia practica universalis von den Anfaumlngen bis in dieGegenwart 19Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie 21Schluumlsse aus dem politischen Scheitern der Platonschuumller 35Die Vorarbeiten des Aristoteles fuumlr die Politik 54Die philosophischen Pflichten des Tages gegenuumlber dengriechischen Staumldten 62Die ideale Stadt des Aristoteles 72Das Ende der Freundschaft zwischen Alexander und Aristoteles 84Die Bedeutung der elf Wenden in der Athenaion Politeia ndashquid facti 100Die Legitimitaumlt der attischen Demokratie ndash quid iuris 107Das Ungluumlcksjahr 322 117Antipatros und Phokion ndash oder die zwoumllfte Wende (322) 121Kassandros und Polyperchon ndash oder die dreizehnte Wende(319) 125Demetrios Phalereus ndash oder die vierzehnte Wende (317) 128Die Sezession der Philosophie nach dem Sturz des DemetriosPhalereus (307) 146Demetrios Poliorketes und der Herrscherkult ndash oder diefuumlnfzehnte Wende (307) 163

9

Die Tyrannei des Lachares ndash oder die sechzehnte Wende(um 300) 171Die Ruumlckkehr des Demetrios Poliorketes ndashoder die siebzehnte Wende (295) 174Der Siegeszug des Herrscherkults 187Die stoische Goumltterlehre als Antwort auf den Herrscherkult 193Lactantius uumlber die heidnische Entlastung der Goumltter 208Die wiederhergestellte Autoritaumlt Homers 214Platon und Chrysipp im Streit uumlber Homers theologia 227Die tragische Katharsis und die stoische Lehre von denAffekten 239Theodizee und Geschichtsphilosophie 258Die quaestio finita als Pruumlfstein originalitaumltsgerechterRezeption 276Hegels Ruumlckgriff auf die Lehre vom sittlichen Staat bei Platonund den Tragikern 282Aristoteles als Zeuge der praktischen Philosophie Hegels 288Joachim Ritters Erneuerung der Hegelschen Platon- undAristotelesrezeption 314Politik und Ethik als Bauglieder der philosophia practicauniversalis im Blickpunkt der Ritterschen MitteGuumlnther Bien Hermann Luumlbbe Odo Marquard 328Die Oumlkonomik oder der von der Ritterschen Mitte gesetzteSchlussstein der philosophia practica universalisKarl Homann 343

Verwendete Sigla 371

Literaturverzeichnis 372

Index nominum et rerum 383

10

Inhalt

Einleitung ndash zur Erlaumluterung der These

Platons Akademie und das Lykeion des Aristoteles lagen zwar vor denMauern aber deshalb war die Stadt der Schule keineswegs gleichguumll-tig im Gegenteil die Stadt erfreute sich jederzeit intensiver Auf-merksamkeit durch die Schule Vorgegeben war diese Haltung durchden gemeinsamen Ahnherren Sokrates raquoden Landschaft und Baumlumewenig lehrten wohl aber die Menschen in der Stadtlaquo1 Buumlndig be-staumltigt das auf seine Weise Cicero Socrates autem primus philoso-phiam devocavit e caelo et in urbibus conlocavit2 Noch im Gefaumlngnisunterstreicht Sokrates er koumlnne unmoumlglich ohne Einverstaumlndnis derAthener fliehen wo er doch so bewusst und ausdruumlcklich sein ganzesLeben in ihrer Stadt verbracht habe dass er sie auszliger zu Feldzuumlgennur ein einziges Mal mit einer Festgesandtschaft zu den IsthmischenSpielen verlassen habe3 Sokrates war uumlberzeugt ein gelungenes Le-ben habe er nur als Buumlrger der Stadt Athen fuumlhren koumlnnen und mitdieser Bindung an die Polis identifizierten sich Platon und Aristotelesnicht minder

Das Verhaumlltnis von Schule und Stadt war laumlnger als ein halbesJahrhundert gepraumlgt von einer auf Unabhaumlngigkeit beider Seiten be-ruhenden Auseinandersetzung die im Jahre 322 zu Ende ging alswenige Wochen vor dem Tod des Aristoteles Athen mit der Nieder-lage im Lamischen Krieg unwiederbringlich die politische Autonomieeinbuumlszligte Wer nun die Philosophie der Epoche bis zu diesem Wende-jahr betrachtet dem werden unvermeidlich die nicht zu leugnendenDifferenzen zwischen Platon und Aristoteles ins Auge fallen Werjedoch Platon und Aristoteles zusammen gegen die spaumlter von derStoa gepraumlgte Epoche abhebt wird ihnen ebenso unvermeidlich alsganz wesentliches gemeinsames Merkmal den Umstand zuordnen

11

1 Platon Phaidros 230 D2 Cicero Tusculanae disputationes 5 103 Platon Kriton 52 B

dass im Mittelpunkt ihrer philosophischen Aufmerksamkeit nicht dieSchule selbst sondern die politischeWelt auszligerhalb der Schule standIhre theoretische Arbeit endete nicht esoterisch mit Saumltzen zur inne-ren Sittlichkeit der Schule vielmehr uumlberschritt sie diese Schrankeund widmete sich eingehend den sittlichen Normen der Stadt ohneuumlbrigens daruumlber die Ordnung des fuumlr diese Normen keineswegsgleichguumlltigen Makrokosmos zu vernachlaumlssigen Ihre Politik ist in-stitutionelle Ethik und umgekehrt setzt ihre Ethik auf einen Staatder die Buumlrger tugendhaft macht

Bei weiter ausholendem Hinsehen erweist sich die vielbeschwo-rene Kritik des Aristoteles an Platon eher als dessen staumlndiges Be-muumlhen das gemeinsame Ziel den sittlichen Staat vor selbstverschul-detem Scheitern zu retten Aristoteles war nicht Gegner Platonssondern dessen dankbarer Erbe der der geistigen Hinterlassenschaftseines Lehrers das Uumlberleben zu sichern suchte In dieser Absicht aumln-derte er das methodische Vorgehen von Grund auf Er schrieb denBuumlrgern nicht mehr vor wie sie sein sollten sondern registrierte her-meneutisch wie sie sind um zu ergruumlnden was in diesem Ist-Bestandan vernuumlnftiger Vorleistung als dasWesentliche immer schon enthal-ten ist Als Hermeneutik lehrt praktische Philosophie dass die unsitt-liche Stadt sich nicht im Widerspruch zu einer aumluszligeren Instanz son-dern zu ihr selbst befindet Folgerichtig sah Aristoteles das Idealzieldes Philosophen auch nicht im Amt des Herrschers der aufgrundabsolutenWissens die Lebensordnung diktiert Vielmehr war er uumlber-zeugt sein Amt angemessen auszuuumlben wenn er darauf setzte zuwerben zu beraten und mit Argumenten zu uumlberzeugen und daseben nicht als philosophischer Herrscher sondern als Lehrer seinerSchuumller als Berater Philipps II als Prinzenerzieher Alexanders alsErmunterer der Buumlrger im Einklang mit Sitte Recht und Anstandihr Gluumlck zu suchen Aristoteles sah bessere Chancen fuumlr die plato-nische Substanz wenn er diese auf der institutionellen Basis der vitacontemplativa als bestimmter Lebensform neben und nicht uumlber dervita activa zu wahren suchte um die aktiv Taumltigen aus der damitimmer noch bestehenden Distanz vermoumlge hermeneutischen Vor-gehens daruumlber aufzuklaumlren dass die ethische Lebensfuumlhrung gelingtwenn sie im Einklang mit den bestehenden Sitten erfolgt

In der Politik des Aristoteles ist somit Platons Vernunftstaatdurchaus praumlsent allerdings eben nicht in Gestalt radikaler System-kritik sondern unter dem Oberbegriff einer raquoPolitielaquo den er in auf-klaumlrender und beratender Absicht ins Spiel bringt Im Blick auf aktu-

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Einleitung ndash zur Erlaumluterung der These

elle Probleme der Polis versteht Aristoteles die Politie zunaumlchst alsVerfassung die die Ursachen der oft blutigen Dauerkonflikte zwi-schen Oligarchen und Demokraten aufzuheben verspricht daruumlberhinaus entwickelt Aristoteles eine an Platons Idealstaat erinnerndezweite Version von Politie und zwar im Blick auf die Planungen Phi-lipps II mit einem panhellenischen Heer die Aumlgaumlis in ein makedo-nisches Meer zu verwandeln und die Jonier in Kleinasien von derPerserherrschaft zu befreien Die erstere Politie der Buumlcher IV bis VIbesteht in einem auf Aussoumlhnung der Konfliktparteien zielenden Ver-fassungsentwurf und entsprach somit der zum Schlagwort erhobenenWunschvorstellung der Zeit naumlmlich der inneren Eintracht (ὁμό-νοια) Die andere Politie in Buch VII enthielt die Grundlegung derLebensordnung griechischer Groszligbuumlrger die sich im befreiten Jonienansiedeln sollten Auch diese Verfassung kam zumindest indirekteiner Wunschvorstellung der Zeit entgegen naumlmlich dem Wunschnach gemeinsamem Frieden (κοινὴ εἰρήνη) der griechischen Staumldteuntereinander denn ehemalige Feinde koumlnnten umso leichter Friedenschlieszligen und Freunde werden wenn sie sich als Eroberer zum Kampfgegen einen gemeinsamen Gegner verbuumlnden Vorrangig angespro-chen sollten sich allerdings Groszligbuumlrger fuumlhlen die mit ihrem Lebenin den demokratischen Staumldten Griechenlands unzufrieden warenund einer auf oligarchischen Idealen gegruumlndeten Polis den Vorzuggaben

Obwohl Aristoteles dank seiner hermeneutischen Vorgehens-weise keineswegs an den Adressaten vorbeiredete sollte sich schonbald abzeichnen dass aus je verschiedenen Gruumlnden sowohl die prag-matische als auch die ideale Politie abgewiesen wurden Aristoteleswar daruumlber nicht entmutigt sondern verfolgte seinen hermeneuti-schen Ansatz nur noch strikter in dem was ist das Wesentliche zubegreifen Das was ist also das politisch Dominierende war nun un-bestritten die demokratische Verfassung der Athener denen dieSchule ndash und das durchaus auch den Tatsachen zuwider ndash die Ver-nachlaumlssigung ihrer eigenen Gesetze gleichsam als Erbuumlbel immerwieder vorgehalten hatte Die raquoVerfassung der Athenerlaquo (Ἀθηναίωνπολιτεία oder kurz AP) nimmt und sei es unausgesprochen dieeinst auch von Aristoteles selbst mitgetragene Kritik der Schule zu-ruumlck und bedeutet dieser implizit dass sie sich selbst um Glaub-wuumlrdigkeit und Uumlberzeugungskraft bringt wenn sie offen am Tageliegende Sachverhalte systematisch in Abrede stellt Die AP ist dieAnerkennung der Tatsache dass den Athener Demokraten im vierten

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Einleitung ndash zur Erlaumluterung der These

Jahrhundert die Vollendung eines widerspruchsfrei verfassten Geset-zesstaates gelungen ist der im Uumlbrigen nicht von einem kuumlnstlichgesetzten Nullpunkt ausgegangen ist sondern hermeneutisch rekon-struierbar sich in organischem Wachstum seit Ion und Theseus in elfWenden entwickelt hat Der Ton der AP liegt nicht darauf dass kom-promissbereite Philosophie die Welt vor der ihr sonst eigenen Radi-kalitaumlt verschonen will sondern auf der im theoretischen Zusehengewonnenen Einsicht dass die Stadt gerade das philosophische Ur-anliegen der Gesetzestreue immer schon als legitimierendes Prinzipihres Handelns befolgt hat Die hermeneutische Zirkelstruktur be-steht also darin dass die Philosophie der Stadt dies als das an ihrWesentliche erklaumlrt was sie selbst hervorgebracht hat

Der Einfluss der Akademie und des Lykeion endete aber keines-wegs abrupt mit dem Jahre 322 als die Athener ihre Souveraumlnitaumlteinbuumlszligten und damit die unumgehbare Voraussetzung einer auf Sitt-lichkeit bestehenden politischen Theorie Dank makedonischer Un-terstuumltzung erzielten die Schulen durch Phokion und Demetrios Pha-lereus in den folgenden Jahren sogar weitaus mehr politischeWirkung als die beiden Gruumlnder zu ihren Lebzeiten Ebendiesem Er-folg hatten indes im Jahre 307 die Schulen den entscheidenden Ruumlck-schlag zu verdanken als der aus ihren Reihen hervorgegangeneDemetrios Phalereus nach zehnjaumlhriger Herrschaft aus der Stadt ver-trieben wurde Rigide Entmuumlndigung der Buumlrger bei eigenem Nar-zissmus samt Selbstbereicherung brachten nicht nur Demetrios selbstum jeden Kredit sondern auch die Philosophie der Akademie und desLykeion nach deren Vorgaben er als ihr Angehoumlriger in Athen regierthatte Die empoumlrten Demokraten reagierten mit der Androhung derTodesstrafe und Verbannung der Philosophen und unter Philoso-phen verstanden sie unterschiedslos alle Platoniker und AristotelikerMit dieser harschen Reaktion laumluteten die Athener zugleich die Ge-burtsstunde der Stoiker ein die gleichsam in ihrer Gruumlndungsurkun-de festschrieben dass ihre Ethik die Sittlichkeit der Schule und nichtdie Sittlichkeit der Stadt zum Gegenstand habe Die Stoiker erkann-ten dass sie die Philosophie unter Wahrung ihrer Autonomie nurfortfuumlhren konnten wenn sie der Stadt versicherten dass sie andersals Platon und Aristoteles ihre Gesetzgebung ausschlieszliglich fuumlr ihreSchule als geschlossene secta erlieszligen Die erklaumlrtermaszligen der Poliszugewandte Philosophie die Platon und Aristoteles gemeinsam ver-treten hatten war ihnen nunmehr gemeinsam zum Verhaumlngnis ge-worden

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Einleitung ndash zur Erlaumluterung der These

Unter dem Druck der politischen Umstaumlnde beschlossen dieStoiker ihre Sezession und erklaumlrten die Beschaumlftigung mit der Polisals einst zentrales Thema der Philosophie fuumlr nichtig Daruumlber hinausdistanzierten sie sich ebenfalls noch in manch anderem Punkt vonPlaton und Aristoteles wenn sie etwa im Felde der theologia und derAffektlehre Theoreme vortrugen die erst angesichts der Lage seit 307auf die Tagesordnung gerieten So antworteten sie auf den Herrscher-kult der implizit die unsterblichen Goumltter zu zweitrangigen Groumlszligenherabstufte mit der providentia-Lehre um zu demonstrieren wessenFuumlrsorge in Wahrheit die Menschheit ihr Uumlberleben zu verdankenhabe Da aber die Goumltter bei rehabilitierender Bestaumltigung ihrer ndashden kultisch verehrten Diadochen uumlberlegenen ndash Allmacht zwingendauch fuumlr alle Uumlbel in derWelt verantwortlich waren musste Chrysippden Streit zwischen Homer und Platon ob die Goumltter fuumlr alles odernur fuumlr das Gute zustaumlndig seien erneut austragen Es war also letzt-lich das aumluszligere Phaumlnomen des Herrscherkultes der diesen Streit un-ter den Gelehrten ausloumlste Aumlhnlich lagen die Dinge beim Problemder Affekte Der dank der politischen Ereignisse des Jahres 307 er-zwungene Ruumlckzug der Philosophie auf sich selbst war nur unter derBedingung entschieden abschirmender Selbstbehauptung nach auszligenertraumlglich Dieselbe Bedingung der Autonomie musste aber auch nachinnen erfuumlllt sein und zwar gegen ein ganzes Buumlndel von denkbarenAffekten die bei Verzicht auf ihre Einhegung die muumlhsam nach au-szligen behauptete Souveraumlnitaumlt wieder untergraben haumltten Folgerichtigwar die Affektlosigkeit (ἀπάθεια) das zentrale Thema der stoischenEthik ndash mit dem Ziel der Wahrung der inneren Autonomie Die Stoi-ker konnten daher nicht das Risiko eingehen die Behandlung derAffekte wie Aristoteles wollte eher beilaumlufig den Nachwirkungender von der tragischen Dichtung ausgeloumlsten Katharsis zu uumlberlassenStattdessen mussten die Stoiker darauf bedacht sein eine spezielleTherapie fuumlr den Fall zu entwickeln dass wie zu befuumlrchten denAffekten katechismuswidrig hier und da eben doch ein Ausbruch ge-lingen sollte

Obwohl die Stoiker als die neuen Meinungsfuumlhrer Platon undAristoteles fuumlr Jahrhunderte in den Hintergrund zu draumlngen ver-mochten mussten sie am Ende doch erleben dass die beiden Arche-geten im Status von unangefochtenen Klassikern ihre Renaissanceerlebten Zwar sicherten die Stoiker durch ihren weisen Ruumlckzug derphilosophia perennis die Kontinuitaumlt duumlrften aber am Ende aus dem-selben Grund dem sie ihr Entstehen verdankten wieder von Platon

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Einleitung ndash zur Erlaumluterung der These

und Aristoteles in den Schatten gestellt worden sein Denn Lehrerwie Schuumller verstanden anders als die Stoiker unter Schule stets eineInstanz der systematischen Beschaumlftigung gerade auch mit der Au-szligenwelt Dieser erweiterte Argumentbereich konnte dem Kreis umPlaton und Aristoteles schlieszliglich nicht mehr schaden als es keinedirekt angesprochenen Zeitgenossen mehr gab die sich durch ihreLehren und das Handeln ihrer Schuumller provoziert fuumlhlten Von sol-chen Gefuumlhlen unberuumlhrt suchen hingegen spaumltere Generationen beiPlaton und Aristoteles gerade wegen ihres umfassenden Blickfeldesnach Belehrung und gegebenenfalls Bestaumltigung eigener Theorienund das sowohl im Grundsaumltzlichen als auch in Einzelfragen

Platons Philosophie nahm ihren Ausgang von der ganz be-stimmten Frage der Apologie wie Sokrates der gerechteste BuumlrgerAthens gegen die Asebieklage des Anytos Meletos und Lykon zuverteidigen sei In den Kategorien der Theorie der Rhetorik haumltte die-se Frage als eine quaestio finita gegolten die im Verfolg eine Fuumlllevon sich anschlieszligenden quaestiones infinitae ausloumlsen sollte wienaumlmlich ein gerechter Staat moumlglich sei der vom Geist seiner gerech-ten Buumlrger gepraumlgt waumlre Mit dem daraus erwachsenen Fundus vonFragen und erteilten Antworten haben Platon und entsprechend Aris-toteles der Nachwelt einen geistigen Reichtum hinterlassen dem sieschlieszliglich ndash nach zwischenzeitlicher Suspendierung ndash ihre Anerken-nung als unumstrittene Klassiker bis in unsere Tage zu verdankenhaben Angesichts solcher Hinterlassenschaft darf sich die Philo-sophie mit gutem Gewissen als Vergegenwaumlrtigung ihrer eigenen Ge-schichte definieren Vergegenwaumlrtigung wiederum ist im weitestenSinne das Gemeinschaftswerk der subtilitas intellegendi und der sub-tilitas applicandi und das so bestimmte Vorgehen ist auch dieVoraussetzung fuumlr die Zeugenrolle die Platon und Aristoteles beider philosophischen Begleitung der Preuszligischen Reformen durchG W F Hegel und erneut bei der geistigen Gruumlndung der Bundes-republik nach dem ZweitenWeltkrieg durch Joachim Ritter und seineSchuumller spielten Dass Platon und Aristoteles fuumlr den buumlrgerlichenRechtsstaat in den Zeugenstand traten setzt den hermeneutischenPhilosophiebegriff voraus demgemaumlszlig die Philosophie auf der Praumlsenzihrer eigenen Geschichte beruht Damit ist zugleich die Frage nachden Aussichten einer umfassenden Erneuerung der praktischen Phi-losophie gestellt der sich so lautet unsere These Joachim Ritter undseine Schuumller widmeten indem sie dem Primat der praktischen Ver-nunft die Ehre erweisend die klassischen Disziplinen der philosophia

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Einleitung ndash zur Erlaumluterung der These

practica universalis ndash Ethik Politik Oumlkonomik ndash schrittweise auf-nahmen und in ein systematisches Verhaumlltnis zur modernen Weltsetzten

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Einleitung ndash zur Erlaumluterung der These

Hermeneutikgeleitete Chronikder Wege und Umwege derphilosophia practica universalisvon den Anfaumlngen bis in die Gegenwart

Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

Vom Ende her gesehen koumlnnte leicht der Eindruck entstehen Platon(42827ndash34847) habe sich von vornherein als Lebenswerk die Gruumln-dung einer philosophischen Schule zum Ziel gesetzt in deren Mittel-punkt die Ausbildung einer systematischen politischen Theoriestehen sollte Dieser Eindruck taumluscht indes Wie Platon selbst imVII Brief (324 Bndash326 D) seinen Werdegang darstellt hatte er ur-spruumlnglich gar nicht die Absicht eine Schule zu gruumlnden die sichphilosophisch mit dem Staat befasste Stattdessen draumlngte er zunaumlchstauf eigenes politisches Handeln als er in der Herrschaft der DreiszligigTyrannen (40403) eine Chance sah einen Staat zu errichten der freiwar von den Schwaumlchen der Demokratie Enttaumluscht musste er aberbald erkennen dass die fruumlheren Verhaumlltnisse in der Demokratie ver-glichen mit der Gegenwart unter den Dreiszligig Gold (sic) waren Fol-gerichtig wandte er sich von den Dreiszligig ab und war nach deren Sturzwiederum bereit zu politisch aktiver Taumltigkeit wurde aber erneut ent-taumluscht ndash durch das Todesurteil gegen Sokrates den Mangel an poli-tischen Freunden die grassierende Geringachtung der Gesetze unddie Inthronisierung der Lust (ἡδονή) als Maszlig der Dinge Erst darauf-hin widmete sich Platon der theoretischen Beschaumlftigung mit demwahren Staat nicht ohne fuumlr erneute praktische Taumltigkeit in der Poli-tik bessere Zeiten abzuwarten die dann eintraumlten wenn wahrhaftePhilosophen die Herrschaft im Staat uumlbernaumlhmen und nicht die durchdas Los ins Amt befoumlrderte Inkompetenz Seine Philosophie war alsoOpposition auszligerhalb der politischen Buumlhne gedacht als ungewollteZwischenphase die erst endete wenn die Staumldte nach philosophi-schen Grundsaumltzen verfasst waumlren Die Gruumlndung der Schule erfolgtealso eher aus Verlegenheit sie war nicht die erfolgreiche Ausfuumlhrungeiner urspruumlnglichen Absicht

Mit seinem Bericht im VII Brief laumlsst Platon also durchblickendass er gleichsam widerWillen die Akademie als Schule gruumlndete undderen erstes Schulhaupt wurde Die Schule galt Platon als Surrogateiner Polis der vollendeten Sittlichkeit Folgerichtig war das Leit-thema der Schule die Lehre vom wahren Staat der das bloszlige Surrogatwieder uumlberfluumlssig machen sollte Platon verschweigt auch nicht vonwelchem Standpunkt aus er die Grundzuumlge des idealen Staates ent-wickelte Waumlhrend er die Schwaumlchen der Demokratie eher in derenStrukturen suchte ortete er die Schwaumlchen der Oligarchie im persoumln-lichen Versagen insbesondere der Dreiszligig Tyrannen Demgemaumlszlig plauml-

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dierte er fuumlr eine zu wahrer Aristokratie veredelte Oligarchie die vonindividuellen und strukturellen Defiziten frei war Diese dem Best-moumlglichen verpflichtete Parteinahme erfuumlllte zugleich die Anforde-rungen einer auf Widerspruchsfreiheit bedachten Theorie sofernPlaton alle seine politischen Vorstellungen auf Vernunftbegriffe zu-ruumlckfuumlhrte und nie vergaszlig sie geltend zu machen wo immer ihreBeachtung zwingend geboten war Mag es Platon auch nicht gelungensein in Athen einen Wiedergaumlnger des Sokrates als philosophischenHerrscher zu bestallen und auf diese Weise sein praktisches Ziel zuerreichen so bleibt doch als Ergebnis seiner Anstrengungen zumin-dest als Fortschritt im Bewusstsein dies bestehen dass von nun anpolitische Vorgaumlnge unvermeidlich von der Aufmerksamkeit einerauszligerhalb der politischen Buumlhne angesiedelten Vernunftkritik beglei-tet wurden Insofern blieb Platons mutiger Schritt eine politischeEntitaumlt systematisch in Zweifel zu ziehen und sie auch noch miteinem Gegenmodell zu konfrontieren nicht ohne kuumlnftige Folgen

Einstweilen blieb aber Platons politische FundamentaloppositionSache der Schule deren Eigengesetzlichkeit sich auf die inhaltlicheWeiterarbeit spuumlrbar auswirken sollte Zur (nachsokratischen)Grund-ausstattung der Schule gehoumlrte die Schriftlichkeit die Platon in nichtgeringe Verlegenheit brachte weil er auf unmittelbare Praumlsenz derVernunft setzte und nicht auf eine mittelbare die sich auch nochdurch Ablage ins Buumlcherregal unschaumldlich machen lieszlig1 Zudemzeichnete sich uumlber das politische Kerninteresse hinaus eine durchschultypisches Weiterfragen ausgeloumlste Verfaumlcherung ab die Platonnoch identitaumltsphilosophisch aufzufangen vermochte die aber auflange Sicht jenseits der Politik zur Etablierung von Einzeldisziplinenwie Ontologie Kosmologie Mathematik und Erkenntnistheorie fuumlhr-te Den Sophisten ging es aumlhnlich wie Sokrates von Protagoras er-faumlhrt Nur bei ihm selbst erfuumlhren die Schuumller das Noumltige uumlber ihrKerngeschaumlft das Haus gut zu verwalten und sich auf der Agoraacute zubewaumlhren waumlhrend sie bei anderen Sophisten wie Hippias von Elisverdorben wuumlrden weil diese sie mit Unnuumltzem wie Arithmetik As-tronomie Geometrie und Dichtung traktierten2 So weitete also auchdie Schule Platons allmaumlhlich ihren Themenkreis immer weiter aus

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Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

1 Auf dieses Merkmal der Schule ist G Bien naumlher eingegangen Das Theorie-Praxis-Problem und die politische Philosophie bei Platon und Aristoteles in Phil Jb 76(196869) 264ndash314 hier S 307ndash3132 Platon Protagoras 318 Dndash319 A

je mehr ihre Vorlaumlufigkeit die mit einem politischen Erfolg der Fun-damentalopposition ihr Ende finden sollte in Vergessenheit gerietAristoteles sollte an seinem Lehrer in der Sache manche Kritik uumlbenaber die Regeln der Institution Schule ihre Hinwendung zur Schrift-lichkeit und ihre Etablierung von Einzeldisziplinen (Pragmatien) ver-standen sich fuumlr ihn schon von selbst

Aristoteles (384ndash322) hatte als Siebzehnjaumlhriger seine makedo-nische Heimat verlassen um sich im Jahre 36766 der Akademie an-zuschlieszligen Da war Platon schon uumlber fuumlnfzig Jahre alt und hatteseine philosophische Arbeit dogmatisch abgeschlossen Da er in die-sen Tagen kurz vor seiner zweiten Reise nach Syrakus stand hat ervielleicht erst nach seiner Ruumlckkehr erkannt wer von nun an seinbegabtester Schuumller war Als Aristoteles einmal bei einer Vorlesungfehlte rief Platon verzweifelt aus raquoDer Geist ist nicht zugegenstumpf ist da die Houmlrerschaftlaquo ndash im Original ein ausgefeilter jambi-scher Trimeter ὁ νοῦς ἄπεσ|τιν κωφὸν τἀκ|ροατήριον3 Aristote-les wird sich dieses Lob seines Lehrers gewiss bei vielen Gelegenhei-ten verdient haben nicht zuletzt aber dank der Art wie er sich beiPlatons beruumlhmter Altersvorlesung raquoUumlber das Gutelaquo4 bewaumlhrte Alsdieser das Gute kosmologisch im zahlhaft bestimmten Einen verorte-te blieben die Houmlrer einer nach dem anderen enttaumluscht der Vor-lesung fern weil sie Ausfuumlhrungen uumlber seelische koumlrperliche undaumluszligere Guumlter im gemeinen Verstande erwartet hatten Auf diese Re-aktion der Houmlrer hatte Platon nur gewartet er wollte wissen wer mitseinem Vorstellungshorizont uumlber den der Menge hinausging undsich damit als genuiner Philosoph erwies Tatsaumlchlich harrten nurwenige Houmlrer bis zum Ende aus und empfingen den Ritterschlageines wahren Philosophen darunter natuumlrlich Aristoteles Dieser er-klaumlrte allerdings spaumlter er werde sich an das allgemein Anerkanntehalten statt aus dem Satz dass das Eine ein Gut sei herzuleiten dassdie Gerechtigkeit ein Gut sei5

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Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

3 Zitiert nach V Rose Aristotelis qui ferebantur librorum fragmenta collegit V RLeipzig 18701886 repr Stuttgart 1967 S 4284 Das Vorlesungsmanuskript ist im Original nicht erhalten Die zahlreichen Para-phrasen bei anderen Autoren hat W D Ross Aristotelis Fragmenta Oxford 1935S 111ndash120 gesammelt5 Aristoteles Eudemische Ethik 1218 a 15ndash22 Der Aristotelesschuumller Aristoxenosbestaumltigte diese Reaktion seines Lehrers in seinen ἁρμονικὰ στοιχεῖα (ed P Mar-quard Die harmonischen Fragmente des Aristoxenos Berlin 1868 S 30) und fuumlgtehinzu es empfehle sich zu Beginn einer Vorlesung sein Thema genau anzukuumlndigen

Im Uumlbrigen sparte auch Aristoteles nicht mit Lob auf seinenLehrer Im Rahmen seiner Inschrift auf einem Altar der Freundschaftden Eudemos von Kypros von einer Reise nach Athen zuruumlckgekehrtgestiftet hatte ruumlhmt Aristoteles Platon als Mann den schlechteMenschen nicht einmal loben duumlrften und als Mann der als Ersterunter den Menschen durch eigene Lebensfuumlhrung und vorgetrageneGruumlnde demonstriert habe dass der gute Mann ebendeshalb auch dergluumlckliche Mann ist Zwar taucht im uumlberlieferten Text der Distichenweder der Name Platons noch der des Eudemos auf Olympiodor ver-sichert aber Aristoteles habe in seiner Widmung an den Stifter Eude-mos ebendieses Lob auf Platon ausgesprochen6 Bei welchem Lehrerhaumltte Aristoteles auch besser lernen koumlnnen wie man wesentlicheaber oft uumlbersehene Fragen stellt wie man fuumlr andere uumlberraschendauf Zusammenhaumlnge und Widerspruumlche aufmerksam macht wieman auf den ersten Blick unerkannte Implikationen und Konsequen-zen herausarbeitet wie man unzureichend Bewiesenes als solchesidentifiziert wie man einmal erzielte Uumlbereinkuumlnfte stets im Ge-daumlchtnis praumlsent haumllt wie man seine Argumente durch Ruumlckfuumlhrungauf Gruumlnde und Ursachen als anerkannte Berufungsinstanzen uumlber-zeugend vortraumlgt

Zur gegenseitigen Wertschaumltzung aufgrund ihrer intellektuellenVorzuumlge gesellte sich die politische Uumlbereinstimmung beider Philoso-phen die neben der Sympathie fuumlr Makedonien die entschieden ab-lehnende Haltung gegenuumlber der attischen Demokratie betraf FuumlrPlaton fiel die Suche nach der gerechten Polis als dem hiesigen Kor-relat des absolut Guten mit entschiedener Demokratiekritik zusam-men Seine politische Leitidee bildete die Gerechtigkeit als Einheit derKardinaltugenden mit dem Ziel der Baumlndigung des sinnlichen Inte-resses (ἡδονήvoluptas) waumlhrend in seinen Augen die demokrati-schen Leitideen der Gleichheit und Freiheit lediglich auf eine Beschouml-nigung der voluptas als des wahren Bestimmungsgrundes der Mengehinausliefen Diesen von voluptas durchdrungenen Staat sah Platonals derart heillos verfahren an dass er anknuumlpfende Schritt-fuumlr-Schritt Reformen gar nicht erst in Betracht zog Stattdessen setzte

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Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

und wenn man Paradoxes vortragen wolle dies auch unmissverstaumlndlich zu sagen Sobliebe den Houmlrern die Enttaumluschung erspart wenn sie in Erwartung einer Belehrunguumlber Guumlter wie Reichtum Gesundheit Gluumlck am Ende lediglich die blasse Auskunfterhielten das Gute sei Eines6 Olympiodoros in Platonis Gorgiam XLI 10 ad p 515 C

Platons politische Opposition mit anderen Mitteln7 auf eine vomNullpunkt aus fehlerfrei in Gedanken durchkonstruierte Polis in derdie schon seit Kleisthenes bestehende Einheitlichkeit und Geschlos-senheit des Gemeinwesens gewahrt blieben aber konkrete demokra-tische Komponenten wie Rat und Volksversammlung Geschwore-nengericht und Flotte Panathenaumlen Dionysien und Eleusinien nichteinmal dem Namen nach vorkamen Bei dieser Konstellation gerietenSchule und Polis zwangslaumlufig in ein Verhaumlltnis sich gegenseitigenIgnorierens Die Schule fuumlhrte ihre Debatten als private Institutionohne Beruumlcksichtigung der Vorgaumlnge auf der Agoraacute und die Agoraacutemuumlhte sich mit den ihr eigenen Mitteln um eine Konsolidierung derdemokratischen Institutionen ohne die Einwaumlnde der Schule zurKenntnis zu nehmen Nun mag Platon einen offenbar unpolitischenweil von den Realitaumlten abgehobenen Ausgangspunkt gewaumlhlt unddamit seiner Weiterarbeit wie spaumlter die hermeneutisch argumentie-rende Kritik des Aristoteles zeigen sollte einen schlechten Dienst er-wiesen haben aber ihn leitete ohne jeden Zweifel ein handfestes Mo-tiv und eine daraus abgeleitete allgemeine bis in unsere Tage zubeherzigende Grundeinsicht

Platons Schluumlsselerlebnis war das Todesurteil gegen Sokratesdas eine Mehrheit unter fuumlnfhundert Geschworenen faumlllte obwohlsich Sokrates in allen Anklagepunkten ganz offenkundig als nichtschuldig erwiesen hatte Moumlglich wurde diese Gerichtsentscheidungweil es den Anklaumlgern wie routinierten Demagogen gelang mit ihrenUnwahrheiten eine ignorante Menge auf ihre Seite zu ziehen In derTat hatten sie wie Sokrates gleich im zweiten Satz der Apologie aus-ruft nicht ein einzigen wahren Satz vorgetragen (ἀληθές γε hellip οὐ-δὲν εἰρήκασιν) Der offenbar unausrottbaren Moumlglichkeit dass De-magogen gerade mit der Unwahrheit Mehrheiten fuumlr sich gewinnenkoumlnnen galt zeitlebens Platons kritische Aufmerksamkeit Tatort wa-ren nicht nur die Geschworenengerichte sondern nicht minder dieVolksversammlung in der interessierte Redner Mehrheitsbeschluumlsse(ψηφίσματα) herbeifuumlhrten mit denen sie bestehende Gesetze un-terliefen8 Auch fuumlr dieses Fehlverhalten gab es eine Schluumlsselszeneals naumlmlich im Zuge des Arginusenprozesses ein Mann aus der auf-gehetzten Menge rief es sei eine Ungeheuerlichkeit wenn man denDemos nicht tun lasse was er wolle und gleich darauf durchgesetzt

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7 Platon VII Brief 325 Endash326 A8 Ebd 325 DndashE

wurde dass die angeklagten Seeoffiziere en bloc verurteilt wurdenund nicht wie es das Gesetz verlangte jeder einzeln Der Einzigeder sich diesem rechtswidrigen Beschluss widersetzte war Sokrates9

Dass dieser Staat ausgerechnet seinen gerechtesten Buumlrger zumTode verurteilt hatte hat Platon nie verziehen Da indes die aus-schlaggebende Mehrheit der Geschworenen ihr Urteil wohl kaumfuumlr ungerecht hielt sah Platon sich verpflichtet allen ebenso gesinn-ten Athenern vorzutragen was an und fuumlr sich Gerechtigkeit wirklichist und zwar in der Politeia aus dem Munde eben des Sokrates Danun der Staat fuumlr die Gerechtigkeit der groumlszligere und besser sichtbareBewaumlhrungsort ist als der Einzelne schlug Sokrates vor den Begriffvon Gerechtigkeit zunaumlchst im Blick auf den Staat zu entwickeln (Po-liteia 368 E 472 B) Die Frage nach der Gerechtigkeit konkretisiertesich auf diese Weise zur Frage nach dem gerechten Staat Folgerichtigsetzte Platon im Geist des Sokrates der attischen Demokratie mitihrem falschen Machtwillen einen auf reiner Vernunft beruhendenIdealstaat entgegen von dessen Vorzuumlgen er vielleicht schon dienaumlchste Generation der Athener zu uumlberzeugen hoffte10 anderenfallskoumlnne man nur noch auf einen Gluumlcksschlag von auszligen (τύχη) set-zen oder dass sich dank goumlttlicher Fuumlgung ein Staatenlenker mit derPhilosophie befasse11 Die Befuumlrchtung der Philosoph koumlnne in seinereigenen Stadt wenn uumlberhaupt dann nur dank goumlttlicher Fuumlgung po-litisch taumltig werden (Politeia 592 A) wollte Platon allerdings fuumlr sichnicht als Entschuldigung gelten lassen im Gegenteil Platon ver-sicherte er sei eigens nach Syrakus gereist damit man ihm nicht vor-halten koumlnne er sei nur im Felde der Theorie stark ziehe sich aberzuruumlck wenn es an die praktische Ausfuumlhrung gehe (VII Brief328 C) Vielmehr war fuumlr ihn der gerechte Staat Inhalt philosophi-scher Reflexion mit dem Ziel seiner Verwirklichung

Im idealen Staat darf die Entscheidungsbefugnis nur bei Buumlrgernliegen die allein durch philosophisch uumlberpruumlfte Qualifikation undnicht durch Loswahl in ihr Amt gelangt sind Nur wer die Houmlhle derdie Menge auszeichnenden Kurzsichtigkeit verlassen und dank uumlber-legener Vernuumlnftigkeit die Idee des Guten geschaut hat vermag pri-vat wie oumlffentlich vernuumlnftig zu handeln12 eben seitdem er sich von

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Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

9 Xenophon Hellenika 1 7 12ndash16 Vgl unten Anm 38 S 137 und Anm 17 S 14810 Platon Politeia 315 CndashD11 Platon VII Brief 326 A12 Platon Politeia 517 C

der Aussageabsicht der drei beruumlhmten Gleichnisse hat uumlberzeugenlassen dass naumlmlich das Gerechte das Gute ist und nicht das sinnlicheInteresse der auf den Schein fixierten Menge13 Entsprechend heiszligt esin Platons 8 Brief (355 A) Fuumlr besonnene Menschen ist Gott das Ge-setz fuumlr die unvernuumlnftigen ist es die Lust Das Gute hat also densel-ben Stellenwert wie Gott und bildet wie dieser insofern den Welt-grund als es weil jenseits (ἐπέκεινα) des daseienden Universumsangesiedelt im Rang noch uumlber dieses hinausragt und sich heilsambewaumlhrt indem es dank seinem Sproumlssling dem Sonnenlicht Orien-tierung durch Sichtbarkeit der Dinge sowie Leben Wachstum undGedeihen moumlglich macht14 Die Ausrichtung amGuten als Weltgrunderhebt das Gerechte zur unbedingten Handlungsnorm fordert abernicht nur sondern gewaumlhrt in einem damit den Buumlrgern auch wahr-haft praktischen Nutzen naumlmlich das Leben im sittlichen Gesetzes-staat ndash die Frucht eben der Herrschaft der Gerechtigkeit15 Damit istdie Frage zu deren Beantwortung Sokrates die drei beruumlhmtenGleichnisse vortrug naumlmlich ob Lust oder das Gerechte das wahreGut ist beantwortet und die implizit gegebene Antwort die auf derUnterscheidung der vier Erkenntnisstufen im Liniengleichnis beruhtbesagt dass die beschraumlnkten intellektuellen Moumlglichkeiten der Men-ge zu dieser Einsicht nicht ausreichen diese also fuumlglich zu entmuumln-digen ist schon um den Demagogen ein leichtglaumlubiges Publikum zuentziehen

Der Form nach stand bei aller Reserve Platon durchaus in derSchuld der Demokraten Sie waren es die unter Kleisthenes den atti-schen Staat als rational verwalteten Einheitsstaat geschaffen hattender nicht mehr nach Staumlmmen Sippen und oumlrtlich bedingten Loyali-taumlten fragmentiert war Unter Phylen verstand Kleisthenes nichtmehr den Oberbegriff vertikal strukturierter Personenverbaumlnde son-dern horizontal strukturierter einheitlich verwalteter Bezirke nachdem Territorialprinzip Das Volk der Athener (ὁ τῶν Ἀθηναίων δῆ-μος) trat an die Stelle der Klientel wie in Rom der populus Romanusan die Stelle der gentes Platon musste also das Prinzip staatlicherEinheit selbst nicht mehr erfinden wohl aber dem Inhalt nach fuumlr alleZukunft beschlieszligen dass nicht nur dieser sondern jeder Staat sei-nem Wesen gemaumlszlig in der Pflicht sei sich als raquoWirklichkeit der sitt-

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Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

13 Ebd 505 B14 Ebd 509 AndashB15 Ebd 505 A

lichen Ideelaquo (Hegel) zu bewaumlhren Uumlber diesen Beschluss hinausdachte Platon noch einen Schritt weiter denn es konnte nicht ge-nuumlgen einen Staat philosophischer Sittlichkeit lediglich zu gruumlndener musste auch erhalten werden ndash durch ein Kollegium integrer Ge-setzeshuumlter die das muumlhsam Erreichte unveraumlndert zu bewahren hat-ten16 Diese Position waumlre etwa im Arginusenprozess unbesetzt ge-wesen haumltte Sokrates sie nicht eingenommen und auf Einhaltungder Gesetze bestanden

Ebenso wie die vorgegebene Staatlichkeit hat auch das mit dieserverbundene demokratische System der Rechtspflege das das archai-sche Selbsthilfeprinzip abloumlste Eingang in Platons Philosophie gefun-den Die archaische Selbsthilfe bestand darin dass die durch einenUumlbergriff beleidigte Sippe der Sippe des Taumlters die Fehde ankuumlndigte(πρόρρησις) deren Beendigung durch Abschluss eines Suumlhnevertra-ges (αἴδεσις) erfolgte Dass bei dieser Form der Konfliktbeilegungdurch Aussoumlhnung die staumlrkere Sippe in der Regel ihre Loumlsungsvor-stellungen durchsetzte liegt auf der Hand Der Schritt fuumlr Schritterfolgte Gerichtszwang durch den der Staat erst allmaumlhlich das Mo-nopol der Rechtspflege uumlbernahm hatte zum Ziel dass anstelle zufaumll-liger Machtverhaumlltnisse die Systematik von Recht und Gesetz imStreit der Parteien entscheidet17 Diesen Sinn der nacharchaischenRechtsprechung hat Ovid mit dem Hexameter zusammengefasstinde datae leges ne firmior omnia posset (Fasten 3 279) Im Gor-gias-Dialog haumllt nun Platon der Rhetorik vor sie sei der methodischeVersuch gerade diese Errungenschaft der Rechtsprechung ruumlckgaumln-gig zu machen Kallikles ein Anhaumlnger des Rhetoriklehrers Gorgiasspricht unverhohlen aus dass Herakles voumlllig im Recht war Geryonesseine Rinder die er weder gekauft noch zum Geschenk erhalten hatteohne Bedenken zu stehlen da das von Natur Gerechte darin bestehedass alles Eigentum der Schwaumlcheren in Wahrheit dem Staumlrkeren ge-houmlre18 Sokrates haumllt Kallikles entgegen dass wahre Uumlberlegenheitnicht im Mehr-haben-Wollen sondern im Sittlich-besser-Sein be-stehe und beruft sich damit ebenso wie die Rechtsprechung auf ein

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Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

16 Platon Politeia 484 B Nomoi 752 DndashE 754 Dndash755 C 770 AndashD 847 AndashD 959 Dndash961 CIm Abschnitt zu raquoDemetrios Phalereus ndash oder die vierzehnte Wendelaquo wird diese pla-tonische Vorgabe noch eine wesentliche Rolle spielen17 Zu diesen nicht leicht zu rekonstruierenden Prozessen sei auf die im Literaturver-zeichnis genannten Aufsaumltze von E Ruschenbusch verwiesen18 Platon Gorgias 484 BndashC

systematisches Kriterium um die individuelle Machtperspektive inSchranken zu weisen Dass Sokrates bei seinem Gespraumlchspartnermit dieser Argumentation nicht durchdringt ist allein der Borniert-heit des Kallikles zuzuschreiben

Es ist nicht zu leugnen dass Platon ebenso wie der Oligarch Kal-likles den Besseren das Wort redete aber unter den Besseren wirklichBessere verstand die den Staat als sublimierte Oligarchie tragen soll-ten Von dieser Staatslehre gilt es also zu uumlberzeugen und das ver-suchte Platon auch ganz im Sinne des Sokrates zunaumlchst durch sach-liche Gespraumlchsfuumlhrung oder Dialektik (διαλέγεσθαι) die mitkurzen Saumltzen Rechenschaft fordert und gewaumlhrt Sokrates mochtekeine langen Reden die geeignet sind das Ausgangsthema nach eini-ger Zeit aus den Augen zu verlieren19 Auch mochte es Sokrates garnicht wenn Unterredner sich streitsuumlchtig (ἐρίζειν) an Worten fest-bissen statt am intendierten Inhalt20 Das richtet sich gegen Protago-ras der als Erfinder der Eristik Wortklauberei betrieb statt sich aufdie Bedeutung des Sachverhalts zu konzentrieren21 Insgesamt ist diesokratische Version von Dialektik ein Gegenentwurf zur raquosogenann-ten Kunst der Rhetoriklaquo22 die lediglich den Uumlberredungserfolg zumZiel hat und nicht etwa wohlbegruumlndete Wahrheiten herausarbeitenwill Nun musste Platon etwa im Gespraumlch mit Kallikles im Gorgiasoder mit Thrasymachos im ersten Buch der Politeia erkennen dassgerade seine Sachlichkeit bei Boumlswilligen auf taube Ohren stoumlszligt Erentwickelte daher noch in der Politeia einen uumlber Sokrates hinaus-gehenden Begriff von Dialektik die nicht diskutiert sondern dekre-tiert nachdem diese durch reines auf das Gespraumlch mit sich selbstkonzentriertes Durchdenken des Wesentlichen frei von sinnlichenEindruumlcken zum Ziel der Erkenntnis des Guten gelangt ist (532 AndashB) Weil somit Dialektik zustaumlndig wird fuumlr die Vergegenwaumlrtigungdes Guten in der politischen Welt darf auch nur der ausgewieseneDialektiker Staatenlenker werden (534 CndashD) der auf seinen Einsich-ten beharrt auch wenn ihm seine Mitbuumlrger die Zustimmung ver-weigern Gegen vordergruumlndige Rechthaberei von wem immer sieausgeht verteidigt Platon das Prinzip vernuumlnftiger Argumentationgegen die Kraumlfte ihrer Blockierung

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Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

19 Platon Protagoras 336 AndashC Gorgias 474 B20 Platon Politeia 454 A21 Diogenes Laertios 9 5222 Platon Gorgias 448 D

Page 3: Platon und Aristoteles als Wegbereiter der praktischen ... · Differenzen zwischen Platon und Aristoteles ins Auge fallen. Wer jedoch Platon und Aristoteles zusammen gegen die später

Dieses Buch stellt sich die Aufgabe Wege und Umwege nachzuzeich-nen die die philosophia practica universalis ndash Ethik Politik Oumlko-nomik ndash seit ihren Anfaumlngen bis in unsere Tage zuruumlckgelegt hatDieses Programm setzt eine Kontinuitaumlt voraus die schon alleindurch das nie obsolete Telos der praktischen Philosophie naumlmlichdas gelungene Leben (bene beateque vivere) hinreichend gesichertist Dasselbe Ziel kann gleichwohl aber auch Ursache eines diskon-tinuierlichen Verlaufs sein sofern praktische Philosophie wenn sieglaubhaft sein will ihre Argumente stets anlassbezogen im Blick aufsich aumlndernde aumluszligere Umstaumlnde vortragen muss So verkuumlrzten dieStoiker in Abkehr von Platon und Aristoteles die praktische Philoso-phie notgedrungen auf die Ethik weil Misstrauen der jeweils Situa-tionsmaumlchtigen die Philosophie zur Sezession genoumltigt hatte Da-gegen war die unverkuumlrzte Wiederkehr der praktischen Philosophiemitsamt ihremmethodischen Ruumlstzeug geradezu ein Gebot der Stun-de als in den Tagen der Franzoumlsischen Revolution sowie in den Jahrennach dem Zweiten Weltkrieg die Herstellung der Rechtsstaatlichkeitzum essentiellen Thema wurde Tragende Saumlulen der philosophischenBegleitung dieses weltgeschichtlichen Geschehens wurden Ethik undPolitik und ganz besonders die Oumlkonomik als Ethik mit anderen Mit-teln Die praktische Philosophie ergruumlndet die Bedeutung dessen wasist in hermeneutischer Selbstvergewisserung aus ihrer eigenen Ge-schichte

Die Referenzautoren Sokrates Platon Aristoteles Zenon ChrysippCicero Th Hobbes I Kant G W F Hegel J Ritter G BienH Luumlbbe O Marquard

Der Autor

Armin Muumlller Jahrgang 1936 war nach der Promotion bei JoachimRitter (1967) Lehrer am Gymnasium Paulinum zu Muumlnster Zugleichwar er Lehrbeauftragter an der Universitaumlt Muumlnster und zwar zu-naumlchst am Philosophischen Seminar bis 1992 und seit 2001 am Insti-tut fuumlr Klassische Philologie Seit 1982 betreut er AschendorffsSammlung Lateinischer und Griechischer Klassiker als Herausgeber

Armin Muumlller

Platon und Aristotelesals Wegbereiterder praktischenPhilosophieMit einem Ausblick auf dieAktualitaumlt der beiden Klassiker alsZeugen im hermeneutischenVerfahren zur Beglaubigungmoderner Rechtsstaatlichkeit

Verlag Karl Alber FreiburgMuumlnchen

Originalausgabe

copy VERLAG KARL ALBERin der Verlag Herder GmbH Freiburg Muumlnchen 2017Alle Rechte vorbehaltenwwwverlag-alberde

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ISBN (Buch) 978-3-495-48886-7ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-81349-2

Vorwort

Was Sokrates durch seine Gespraumlche auf dem Markt vorgelebt hattenahmen Platon und Aristoteles in ihren Schulen kongenial auf als siedas menschliche Handeln in der Polis in den Mittelpunkt ihrer Auf-merksamkeit ruumlckten und auf diese Weise zu Gruumlndungsvaumltern derpraktischen Philosophie wurden Das wissenschaftstheoretische Er-gebnis ihrer Arbeit ist die Konstituierung der philosophia practicauniversalis deren drei Disziplinen Ethik Politik und Oumlkonomik un-ter verschiedenen Aspekten das Ziel des bene beateque vivere verfol-gen Diese Trias verkoumlrpert ein Leitbild das wenn auch auf unver-meidlichen Umwegen bis in unsere Tage wirksam geblieben ist

Ihre vitale Kontinuitaumlt verdankt dieses System der praktischenPhilosophie demUmstand dass neben Gemeinsamkeiten seiner aumlltes-ten Verfechter auch der Streit an seiner Wiege stand Platon argu-mentierte aus raquoreiner Vernunftlaquo ohne den Phaumlnomenen eigene Ver-nuumlnftigkeit zuzugestehen Aristoteles argumentierte hermeneutischindem er pruumlfte welche Vernunftgruumlnde in dem was ist oder ge-schieht schon enthalten sind Die Auseinandersetzungen als Folgedieser Differenz konnten der Qualitaumlt des Ergebnisses nur foumlrderlichsein Andererseits schloss der fundamentale Unterschied im metho-dischen Vorgehen der beiden Gruumlndungsvaumlter Gemeinsamkeiten inden politischen Praumlferenzen keineswegs aus Beide hegten eine Aver-sion gegen Athens demokratisches Lager beide sympathisierten mitPhilipp vonMakedonien Beide wurden schlieszliglich aber auch gemein-sam von den alten Stoikern fuumlr laumlngere Zeit in den Hintergrund ge-draumlngt als es nach dem Sturz des Demetrios Phalereus im Interessedes Burgfriedens ratsam schien dass die Philosophie bis auf weiteresden Staat verschonte also auf dessen ndash sei es kritische oder sei esermunternde ndash Beeinflussung verzichtete Implizit hielten die sto-ischen Nachfolger Platon und Aristoteles vor ihre einst in Akademieund Lykeion vorgetragene praktische Philosophie sei keine Antwort

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mehr auf die Problemlage der im Zeichen des Hellenismus gewandel-ten Polis

Waumlhrend nun das Setzen der alten Stoiker auf innere Auto-nomie ndash Ausdruck einer mehr oder weniger erzwungenen Sezessionaus der Polis ndash ebendeshalb historisch zu erklaumlren ist sind Platon undAristoteles von Zweifeln an der Allgemeinheit der Grundsaumltze ihrerpraktischen Philosophie laumlngst freigesprochen Dank dieser spaumltes-tens seit Cicero erwirkten Rehabilitation sind Platon und Aristotelesganz im Sinne ihrer urspruumlnglichen Intentionen bis in die moderneWelt einflussreich geblieben und konnten etwa Hegels philosophi-scher Begleitung der Konstituierung des modernen Rechtsstaats in-spirierend zur Seite stehen ndash gleichsam zur Selbstvergewisserung dereinen Sattelzeit durch eine andere Hegels Vorgehen sollte sich erneutbei gleichzeitigem Ruumlckgriff auf Platon und Aristoteles wiederholenals im Zuge der geistigen Gruumlndung der Bundesrepublik nach demZweiten Weltkrieg bewusst wurde dass eine Wiederaufnahme deszwischenzeitlich verworfenen Hegelschen Plaumldoyers fuumlr den Rechts-staat ein Gebot der Stunde sei Die faumlllige Vergegenwaumlrtigung Hegelsuumlbernahm initiierend Joachim Ritter und ausweitend lenkten spaumlterseine Schuumller aus dem raquoCollegium Philosophicumlaquo den Blick auf dieunvermeidlichen von Ethik Politik und Oumlkonomik zu beantworten-den Anschlussprobleme Im Zuge der Anknuumlpfung an die Traditionder praktischen Philosophie durch J Ritter erfuhren Platon und Aris-toteles unter Vermittlung Hegels erneut in einem essenziellen Ver-fahren ihre ehrenvolle Einberufung in den Zeugenstand Wenn nundieses Buch sich anschickt die Grundzuumlge dieses modernen Prozessessamt seiner auf Platon und Aristoteles zuruumlckgehenden Vorgeschich-te nachzuzeichnen so muss es sich bei einer in mehr als zweitausendJahren angehaumluften Stofffuumllle zwangslaumlufig auf die Hervorhebungdes Wesentlichen beschraumlnken Indes tut das damit eingestandeneUumlberspringen des weniger Wesentlichen der Intention keinen Ab-bruch zur Selbstvergewisserung der praktischen Philosophie bei-zutragen durch Ruumlckbesinnung auf ihren systematischen Ursprungder mit der Einsicht in die Zusammengehoumlrigkeit von Ethik Politikund Oumlkonomik zusammenfaumlllt

Ein Buch wird in der Regel nicht ohne konsultierende Gespraumlchemit befreundeten Experten geschrieben Das ist auch in diesem Fallgeschehen Fuumlr ihre Bereitschaft sich jederzeit auf die Eroumlrterungaufkommender Probleme einzulassen oder Bedenken zu zerstreuendankt der Autor herzlich den Professoren Dr Guumlnther Bien Dr Rai-

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Vorwort

ner Henke und Dr Dr Karl Homann Zusaumltzlichen Dank schuldet derAutor Professor Henke der freundlicherweise das Korrekturlesen desManuskripts auf sich genommen hat

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Vorwort

Inhalt

Vorwort 5

Einleitung ndash zur Erlaumluterung der These 11

Hermeneutikgeleitete Chronik der Wege und Umwege derphilosophia practica universalis von den Anfaumlngen bis in dieGegenwart 19Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie 21Schluumlsse aus dem politischen Scheitern der Platonschuumller 35Die Vorarbeiten des Aristoteles fuumlr die Politik 54Die philosophischen Pflichten des Tages gegenuumlber dengriechischen Staumldten 62Die ideale Stadt des Aristoteles 72Das Ende der Freundschaft zwischen Alexander und Aristoteles 84Die Bedeutung der elf Wenden in der Athenaion Politeia ndashquid facti 100Die Legitimitaumlt der attischen Demokratie ndash quid iuris 107Das Ungluumlcksjahr 322 117Antipatros und Phokion ndash oder die zwoumllfte Wende (322) 121Kassandros und Polyperchon ndash oder die dreizehnte Wende(319) 125Demetrios Phalereus ndash oder die vierzehnte Wende (317) 128Die Sezession der Philosophie nach dem Sturz des DemetriosPhalereus (307) 146Demetrios Poliorketes und der Herrscherkult ndash oder diefuumlnfzehnte Wende (307) 163

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Die Tyrannei des Lachares ndash oder die sechzehnte Wende(um 300) 171Die Ruumlckkehr des Demetrios Poliorketes ndashoder die siebzehnte Wende (295) 174Der Siegeszug des Herrscherkults 187Die stoische Goumltterlehre als Antwort auf den Herrscherkult 193Lactantius uumlber die heidnische Entlastung der Goumltter 208Die wiederhergestellte Autoritaumlt Homers 214Platon und Chrysipp im Streit uumlber Homers theologia 227Die tragische Katharsis und die stoische Lehre von denAffekten 239Theodizee und Geschichtsphilosophie 258Die quaestio finita als Pruumlfstein originalitaumltsgerechterRezeption 276Hegels Ruumlckgriff auf die Lehre vom sittlichen Staat bei Platonund den Tragikern 282Aristoteles als Zeuge der praktischen Philosophie Hegels 288Joachim Ritters Erneuerung der Hegelschen Platon- undAristotelesrezeption 314Politik und Ethik als Bauglieder der philosophia practicauniversalis im Blickpunkt der Ritterschen MitteGuumlnther Bien Hermann Luumlbbe Odo Marquard 328Die Oumlkonomik oder der von der Ritterschen Mitte gesetzteSchlussstein der philosophia practica universalisKarl Homann 343

Verwendete Sigla 371

Literaturverzeichnis 372

Index nominum et rerum 383

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Inhalt

Einleitung ndash zur Erlaumluterung der These

Platons Akademie und das Lykeion des Aristoteles lagen zwar vor denMauern aber deshalb war die Stadt der Schule keineswegs gleichguumll-tig im Gegenteil die Stadt erfreute sich jederzeit intensiver Auf-merksamkeit durch die Schule Vorgegeben war diese Haltung durchden gemeinsamen Ahnherren Sokrates raquoden Landschaft und Baumlumewenig lehrten wohl aber die Menschen in der Stadtlaquo1 Buumlndig be-staumltigt das auf seine Weise Cicero Socrates autem primus philoso-phiam devocavit e caelo et in urbibus conlocavit2 Noch im Gefaumlngnisunterstreicht Sokrates er koumlnne unmoumlglich ohne Einverstaumlndnis derAthener fliehen wo er doch so bewusst und ausdruumlcklich sein ganzesLeben in ihrer Stadt verbracht habe dass er sie auszliger zu Feldzuumlgennur ein einziges Mal mit einer Festgesandtschaft zu den IsthmischenSpielen verlassen habe3 Sokrates war uumlberzeugt ein gelungenes Le-ben habe er nur als Buumlrger der Stadt Athen fuumlhren koumlnnen und mitdieser Bindung an die Polis identifizierten sich Platon und Aristotelesnicht minder

Das Verhaumlltnis von Schule und Stadt war laumlnger als ein halbesJahrhundert gepraumlgt von einer auf Unabhaumlngigkeit beider Seiten be-ruhenden Auseinandersetzung die im Jahre 322 zu Ende ging alswenige Wochen vor dem Tod des Aristoteles Athen mit der Nieder-lage im Lamischen Krieg unwiederbringlich die politische Autonomieeinbuumlszligte Wer nun die Philosophie der Epoche bis zu diesem Wende-jahr betrachtet dem werden unvermeidlich die nicht zu leugnendenDifferenzen zwischen Platon und Aristoteles ins Auge fallen Werjedoch Platon und Aristoteles zusammen gegen die spaumlter von derStoa gepraumlgte Epoche abhebt wird ihnen ebenso unvermeidlich alsganz wesentliches gemeinsames Merkmal den Umstand zuordnen

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1 Platon Phaidros 230 D2 Cicero Tusculanae disputationes 5 103 Platon Kriton 52 B

dass im Mittelpunkt ihrer philosophischen Aufmerksamkeit nicht dieSchule selbst sondern die politischeWelt auszligerhalb der Schule standIhre theoretische Arbeit endete nicht esoterisch mit Saumltzen zur inne-ren Sittlichkeit der Schule vielmehr uumlberschritt sie diese Schrankeund widmete sich eingehend den sittlichen Normen der Stadt ohneuumlbrigens daruumlber die Ordnung des fuumlr diese Normen keineswegsgleichguumlltigen Makrokosmos zu vernachlaumlssigen Ihre Politik ist in-stitutionelle Ethik und umgekehrt setzt ihre Ethik auf einen Staatder die Buumlrger tugendhaft macht

Bei weiter ausholendem Hinsehen erweist sich die vielbeschwo-rene Kritik des Aristoteles an Platon eher als dessen staumlndiges Be-muumlhen das gemeinsame Ziel den sittlichen Staat vor selbstverschul-detem Scheitern zu retten Aristoteles war nicht Gegner Platonssondern dessen dankbarer Erbe der der geistigen Hinterlassenschaftseines Lehrers das Uumlberleben zu sichern suchte In dieser Absicht aumln-derte er das methodische Vorgehen von Grund auf Er schrieb denBuumlrgern nicht mehr vor wie sie sein sollten sondern registrierte her-meneutisch wie sie sind um zu ergruumlnden was in diesem Ist-Bestandan vernuumlnftiger Vorleistung als dasWesentliche immer schon enthal-ten ist Als Hermeneutik lehrt praktische Philosophie dass die unsitt-liche Stadt sich nicht im Widerspruch zu einer aumluszligeren Instanz son-dern zu ihr selbst befindet Folgerichtig sah Aristoteles das Idealzieldes Philosophen auch nicht im Amt des Herrschers der aufgrundabsolutenWissens die Lebensordnung diktiert Vielmehr war er uumlber-zeugt sein Amt angemessen auszuuumlben wenn er darauf setzte zuwerben zu beraten und mit Argumenten zu uumlberzeugen und daseben nicht als philosophischer Herrscher sondern als Lehrer seinerSchuumller als Berater Philipps II als Prinzenerzieher Alexanders alsErmunterer der Buumlrger im Einklang mit Sitte Recht und Anstandihr Gluumlck zu suchen Aristoteles sah bessere Chancen fuumlr die plato-nische Substanz wenn er diese auf der institutionellen Basis der vitacontemplativa als bestimmter Lebensform neben und nicht uumlber dervita activa zu wahren suchte um die aktiv Taumltigen aus der damitimmer noch bestehenden Distanz vermoumlge hermeneutischen Vor-gehens daruumlber aufzuklaumlren dass die ethische Lebensfuumlhrung gelingtwenn sie im Einklang mit den bestehenden Sitten erfolgt

In der Politik des Aristoteles ist somit Platons Vernunftstaatdurchaus praumlsent allerdings eben nicht in Gestalt radikaler System-kritik sondern unter dem Oberbegriff einer raquoPolitielaquo den er in auf-klaumlrender und beratender Absicht ins Spiel bringt Im Blick auf aktu-

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Einleitung ndash zur Erlaumluterung der These

elle Probleme der Polis versteht Aristoteles die Politie zunaumlchst alsVerfassung die die Ursachen der oft blutigen Dauerkonflikte zwi-schen Oligarchen und Demokraten aufzuheben verspricht daruumlberhinaus entwickelt Aristoteles eine an Platons Idealstaat erinnerndezweite Version von Politie und zwar im Blick auf die Planungen Phi-lipps II mit einem panhellenischen Heer die Aumlgaumlis in ein makedo-nisches Meer zu verwandeln und die Jonier in Kleinasien von derPerserherrschaft zu befreien Die erstere Politie der Buumlcher IV bis VIbesteht in einem auf Aussoumlhnung der Konfliktparteien zielenden Ver-fassungsentwurf und entsprach somit der zum Schlagwort erhobenenWunschvorstellung der Zeit naumlmlich der inneren Eintracht (ὁμό-νοια) Die andere Politie in Buch VII enthielt die Grundlegung derLebensordnung griechischer Groszligbuumlrger die sich im befreiten Jonienansiedeln sollten Auch diese Verfassung kam zumindest indirekteiner Wunschvorstellung der Zeit entgegen naumlmlich dem Wunschnach gemeinsamem Frieden (κοινὴ εἰρήνη) der griechischen Staumldteuntereinander denn ehemalige Feinde koumlnnten umso leichter Friedenschlieszligen und Freunde werden wenn sie sich als Eroberer zum Kampfgegen einen gemeinsamen Gegner verbuumlnden Vorrangig angespro-chen sollten sich allerdings Groszligbuumlrger fuumlhlen die mit ihrem Lebenin den demokratischen Staumldten Griechenlands unzufrieden warenund einer auf oligarchischen Idealen gegruumlndeten Polis den Vorzuggaben

Obwohl Aristoteles dank seiner hermeneutischen Vorgehens-weise keineswegs an den Adressaten vorbeiredete sollte sich schonbald abzeichnen dass aus je verschiedenen Gruumlnden sowohl die prag-matische als auch die ideale Politie abgewiesen wurden Aristoteleswar daruumlber nicht entmutigt sondern verfolgte seinen hermeneuti-schen Ansatz nur noch strikter in dem was ist das Wesentliche zubegreifen Das was ist also das politisch Dominierende war nun un-bestritten die demokratische Verfassung der Athener denen dieSchule ndash und das durchaus auch den Tatsachen zuwider ndash die Ver-nachlaumlssigung ihrer eigenen Gesetze gleichsam als Erbuumlbel immerwieder vorgehalten hatte Die raquoVerfassung der Athenerlaquo (Ἀθηναίωνπολιτεία oder kurz AP) nimmt und sei es unausgesprochen dieeinst auch von Aristoteles selbst mitgetragene Kritik der Schule zu-ruumlck und bedeutet dieser implizit dass sie sich selbst um Glaub-wuumlrdigkeit und Uumlberzeugungskraft bringt wenn sie offen am Tageliegende Sachverhalte systematisch in Abrede stellt Die AP ist dieAnerkennung der Tatsache dass den Athener Demokraten im vierten

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Einleitung ndash zur Erlaumluterung der These

Jahrhundert die Vollendung eines widerspruchsfrei verfassten Geset-zesstaates gelungen ist der im Uumlbrigen nicht von einem kuumlnstlichgesetzten Nullpunkt ausgegangen ist sondern hermeneutisch rekon-struierbar sich in organischem Wachstum seit Ion und Theseus in elfWenden entwickelt hat Der Ton der AP liegt nicht darauf dass kom-promissbereite Philosophie die Welt vor der ihr sonst eigenen Radi-kalitaumlt verschonen will sondern auf der im theoretischen Zusehengewonnenen Einsicht dass die Stadt gerade das philosophische Ur-anliegen der Gesetzestreue immer schon als legitimierendes Prinzipihres Handelns befolgt hat Die hermeneutische Zirkelstruktur be-steht also darin dass die Philosophie der Stadt dies als das an ihrWesentliche erklaumlrt was sie selbst hervorgebracht hat

Der Einfluss der Akademie und des Lykeion endete aber keines-wegs abrupt mit dem Jahre 322 als die Athener ihre Souveraumlnitaumlteinbuumlszligten und damit die unumgehbare Voraussetzung einer auf Sitt-lichkeit bestehenden politischen Theorie Dank makedonischer Un-terstuumltzung erzielten die Schulen durch Phokion und Demetrios Pha-lereus in den folgenden Jahren sogar weitaus mehr politischeWirkung als die beiden Gruumlnder zu ihren Lebzeiten Ebendiesem Er-folg hatten indes im Jahre 307 die Schulen den entscheidenden Ruumlck-schlag zu verdanken als der aus ihren Reihen hervorgegangeneDemetrios Phalereus nach zehnjaumlhriger Herrschaft aus der Stadt ver-trieben wurde Rigide Entmuumlndigung der Buumlrger bei eigenem Nar-zissmus samt Selbstbereicherung brachten nicht nur Demetrios selbstum jeden Kredit sondern auch die Philosophie der Akademie und desLykeion nach deren Vorgaben er als ihr Angehoumlriger in Athen regierthatte Die empoumlrten Demokraten reagierten mit der Androhung derTodesstrafe und Verbannung der Philosophen und unter Philoso-phen verstanden sie unterschiedslos alle Platoniker und AristotelikerMit dieser harschen Reaktion laumluteten die Athener zugleich die Ge-burtsstunde der Stoiker ein die gleichsam in ihrer Gruumlndungsurkun-de festschrieben dass ihre Ethik die Sittlichkeit der Schule und nichtdie Sittlichkeit der Stadt zum Gegenstand habe Die Stoiker erkann-ten dass sie die Philosophie unter Wahrung ihrer Autonomie nurfortfuumlhren konnten wenn sie der Stadt versicherten dass sie andersals Platon und Aristoteles ihre Gesetzgebung ausschlieszliglich fuumlr ihreSchule als geschlossene secta erlieszligen Die erklaumlrtermaszligen der Poliszugewandte Philosophie die Platon und Aristoteles gemeinsam ver-treten hatten war ihnen nunmehr gemeinsam zum Verhaumlngnis ge-worden

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Einleitung ndash zur Erlaumluterung der These

Unter dem Druck der politischen Umstaumlnde beschlossen dieStoiker ihre Sezession und erklaumlrten die Beschaumlftigung mit der Polisals einst zentrales Thema der Philosophie fuumlr nichtig Daruumlber hinausdistanzierten sie sich ebenfalls noch in manch anderem Punkt vonPlaton und Aristoteles wenn sie etwa im Felde der theologia und derAffektlehre Theoreme vortrugen die erst angesichts der Lage seit 307auf die Tagesordnung gerieten So antworteten sie auf den Herrscher-kult der implizit die unsterblichen Goumltter zu zweitrangigen Groumlszligenherabstufte mit der providentia-Lehre um zu demonstrieren wessenFuumlrsorge in Wahrheit die Menschheit ihr Uumlberleben zu verdankenhabe Da aber die Goumltter bei rehabilitierender Bestaumltigung ihrer ndashden kultisch verehrten Diadochen uumlberlegenen ndash Allmacht zwingendauch fuumlr alle Uumlbel in derWelt verantwortlich waren musste Chrysippden Streit zwischen Homer und Platon ob die Goumltter fuumlr alles odernur fuumlr das Gute zustaumlndig seien erneut austragen Es war also letzt-lich das aumluszligere Phaumlnomen des Herrscherkultes der diesen Streit un-ter den Gelehrten ausloumlste Aumlhnlich lagen die Dinge beim Problemder Affekte Der dank der politischen Ereignisse des Jahres 307 er-zwungene Ruumlckzug der Philosophie auf sich selbst war nur unter derBedingung entschieden abschirmender Selbstbehauptung nach auszligenertraumlglich Dieselbe Bedingung der Autonomie musste aber auch nachinnen erfuumlllt sein und zwar gegen ein ganzes Buumlndel von denkbarenAffekten die bei Verzicht auf ihre Einhegung die muumlhsam nach au-szligen behauptete Souveraumlnitaumlt wieder untergraben haumltten Folgerichtigwar die Affektlosigkeit (ἀπάθεια) das zentrale Thema der stoischenEthik ndash mit dem Ziel der Wahrung der inneren Autonomie Die Stoi-ker konnten daher nicht das Risiko eingehen die Behandlung derAffekte wie Aristoteles wollte eher beilaumlufig den Nachwirkungender von der tragischen Dichtung ausgeloumlsten Katharsis zu uumlberlassenStattdessen mussten die Stoiker darauf bedacht sein eine spezielleTherapie fuumlr den Fall zu entwickeln dass wie zu befuumlrchten denAffekten katechismuswidrig hier und da eben doch ein Ausbruch ge-lingen sollte

Obwohl die Stoiker als die neuen Meinungsfuumlhrer Platon undAristoteles fuumlr Jahrhunderte in den Hintergrund zu draumlngen ver-mochten mussten sie am Ende doch erleben dass die beiden Arche-geten im Status von unangefochtenen Klassikern ihre Renaissanceerlebten Zwar sicherten die Stoiker durch ihren weisen Ruumlckzug derphilosophia perennis die Kontinuitaumlt duumlrften aber am Ende aus dem-selben Grund dem sie ihr Entstehen verdankten wieder von Platon

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Einleitung ndash zur Erlaumluterung der These

und Aristoteles in den Schatten gestellt worden sein Denn Lehrerwie Schuumller verstanden anders als die Stoiker unter Schule stets eineInstanz der systematischen Beschaumlftigung gerade auch mit der Au-szligenwelt Dieser erweiterte Argumentbereich konnte dem Kreis umPlaton und Aristoteles schlieszliglich nicht mehr schaden als es keinedirekt angesprochenen Zeitgenossen mehr gab die sich durch ihreLehren und das Handeln ihrer Schuumller provoziert fuumlhlten Von sol-chen Gefuumlhlen unberuumlhrt suchen hingegen spaumltere Generationen beiPlaton und Aristoteles gerade wegen ihres umfassenden Blickfeldesnach Belehrung und gegebenenfalls Bestaumltigung eigener Theorienund das sowohl im Grundsaumltzlichen als auch in Einzelfragen

Platons Philosophie nahm ihren Ausgang von der ganz be-stimmten Frage der Apologie wie Sokrates der gerechteste BuumlrgerAthens gegen die Asebieklage des Anytos Meletos und Lykon zuverteidigen sei In den Kategorien der Theorie der Rhetorik haumltte die-se Frage als eine quaestio finita gegolten die im Verfolg eine Fuumlllevon sich anschlieszligenden quaestiones infinitae ausloumlsen sollte wienaumlmlich ein gerechter Staat moumlglich sei der vom Geist seiner gerech-ten Buumlrger gepraumlgt waumlre Mit dem daraus erwachsenen Fundus vonFragen und erteilten Antworten haben Platon und entsprechend Aris-toteles der Nachwelt einen geistigen Reichtum hinterlassen dem sieschlieszliglich ndash nach zwischenzeitlicher Suspendierung ndash ihre Anerken-nung als unumstrittene Klassiker bis in unsere Tage zu verdankenhaben Angesichts solcher Hinterlassenschaft darf sich die Philo-sophie mit gutem Gewissen als Vergegenwaumlrtigung ihrer eigenen Ge-schichte definieren Vergegenwaumlrtigung wiederum ist im weitestenSinne das Gemeinschaftswerk der subtilitas intellegendi und der sub-tilitas applicandi und das so bestimmte Vorgehen ist auch dieVoraussetzung fuumlr die Zeugenrolle die Platon und Aristoteles beider philosophischen Begleitung der Preuszligischen Reformen durchG W F Hegel und erneut bei der geistigen Gruumlndung der Bundes-republik nach dem ZweitenWeltkrieg durch Joachim Ritter und seineSchuumller spielten Dass Platon und Aristoteles fuumlr den buumlrgerlichenRechtsstaat in den Zeugenstand traten setzt den hermeneutischenPhilosophiebegriff voraus demgemaumlszlig die Philosophie auf der Praumlsenzihrer eigenen Geschichte beruht Damit ist zugleich die Frage nachden Aussichten einer umfassenden Erneuerung der praktischen Phi-losophie gestellt der sich so lautet unsere These Joachim Ritter undseine Schuumller widmeten indem sie dem Primat der praktischen Ver-nunft die Ehre erweisend die klassischen Disziplinen der philosophia

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Einleitung ndash zur Erlaumluterung der These

practica universalis ndash Ethik Politik Oumlkonomik ndash schrittweise auf-nahmen und in ein systematisches Verhaumlltnis zur modernen Weltsetzten

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Einleitung ndash zur Erlaumluterung der These

Hermeneutikgeleitete Chronikder Wege und Umwege derphilosophia practica universalisvon den Anfaumlngen bis in die Gegenwart

Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

Vom Ende her gesehen koumlnnte leicht der Eindruck entstehen Platon(42827ndash34847) habe sich von vornherein als Lebenswerk die Gruumln-dung einer philosophischen Schule zum Ziel gesetzt in deren Mittel-punkt die Ausbildung einer systematischen politischen Theoriestehen sollte Dieser Eindruck taumluscht indes Wie Platon selbst imVII Brief (324 Bndash326 D) seinen Werdegang darstellt hatte er ur-spruumlnglich gar nicht die Absicht eine Schule zu gruumlnden die sichphilosophisch mit dem Staat befasste Stattdessen draumlngte er zunaumlchstauf eigenes politisches Handeln als er in der Herrschaft der DreiszligigTyrannen (40403) eine Chance sah einen Staat zu errichten der freiwar von den Schwaumlchen der Demokratie Enttaumluscht musste er aberbald erkennen dass die fruumlheren Verhaumlltnisse in der Demokratie ver-glichen mit der Gegenwart unter den Dreiszligig Gold (sic) waren Fol-gerichtig wandte er sich von den Dreiszligig ab und war nach deren Sturzwiederum bereit zu politisch aktiver Taumltigkeit wurde aber erneut ent-taumluscht ndash durch das Todesurteil gegen Sokrates den Mangel an poli-tischen Freunden die grassierende Geringachtung der Gesetze unddie Inthronisierung der Lust (ἡδονή) als Maszlig der Dinge Erst darauf-hin widmete sich Platon der theoretischen Beschaumlftigung mit demwahren Staat nicht ohne fuumlr erneute praktische Taumltigkeit in der Poli-tik bessere Zeiten abzuwarten die dann eintraumlten wenn wahrhaftePhilosophen die Herrschaft im Staat uumlbernaumlhmen und nicht die durchdas Los ins Amt befoumlrderte Inkompetenz Seine Philosophie war alsoOpposition auszligerhalb der politischen Buumlhne gedacht als ungewollteZwischenphase die erst endete wenn die Staumldte nach philosophi-schen Grundsaumltzen verfasst waumlren Die Gruumlndung der Schule erfolgtealso eher aus Verlegenheit sie war nicht die erfolgreiche Ausfuumlhrungeiner urspruumlnglichen Absicht

Mit seinem Bericht im VII Brief laumlsst Platon also durchblickendass er gleichsam widerWillen die Akademie als Schule gruumlndete undderen erstes Schulhaupt wurde Die Schule galt Platon als Surrogateiner Polis der vollendeten Sittlichkeit Folgerichtig war das Leit-thema der Schule die Lehre vom wahren Staat der das bloszlige Surrogatwieder uumlberfluumlssig machen sollte Platon verschweigt auch nicht vonwelchem Standpunkt aus er die Grundzuumlge des idealen Staates ent-wickelte Waumlhrend er die Schwaumlchen der Demokratie eher in derenStrukturen suchte ortete er die Schwaumlchen der Oligarchie im persoumln-lichen Versagen insbesondere der Dreiszligig Tyrannen Demgemaumlszlig plauml-

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dierte er fuumlr eine zu wahrer Aristokratie veredelte Oligarchie die vonindividuellen und strukturellen Defiziten frei war Diese dem Best-moumlglichen verpflichtete Parteinahme erfuumlllte zugleich die Anforde-rungen einer auf Widerspruchsfreiheit bedachten Theorie sofernPlaton alle seine politischen Vorstellungen auf Vernunftbegriffe zu-ruumlckfuumlhrte und nie vergaszlig sie geltend zu machen wo immer ihreBeachtung zwingend geboten war Mag es Platon auch nicht gelungensein in Athen einen Wiedergaumlnger des Sokrates als philosophischenHerrscher zu bestallen und auf diese Weise sein praktisches Ziel zuerreichen so bleibt doch als Ergebnis seiner Anstrengungen zumin-dest als Fortschritt im Bewusstsein dies bestehen dass von nun anpolitische Vorgaumlnge unvermeidlich von der Aufmerksamkeit einerauszligerhalb der politischen Buumlhne angesiedelten Vernunftkritik beglei-tet wurden Insofern blieb Platons mutiger Schritt eine politischeEntitaumlt systematisch in Zweifel zu ziehen und sie auch noch miteinem Gegenmodell zu konfrontieren nicht ohne kuumlnftige Folgen

Einstweilen blieb aber Platons politische FundamentaloppositionSache der Schule deren Eigengesetzlichkeit sich auf die inhaltlicheWeiterarbeit spuumlrbar auswirken sollte Zur (nachsokratischen)Grund-ausstattung der Schule gehoumlrte die Schriftlichkeit die Platon in nichtgeringe Verlegenheit brachte weil er auf unmittelbare Praumlsenz derVernunft setzte und nicht auf eine mittelbare die sich auch nochdurch Ablage ins Buumlcherregal unschaumldlich machen lieszlig1 Zudemzeichnete sich uumlber das politische Kerninteresse hinaus eine durchschultypisches Weiterfragen ausgeloumlste Verfaumlcherung ab die Platonnoch identitaumltsphilosophisch aufzufangen vermochte die aber auflange Sicht jenseits der Politik zur Etablierung von Einzeldisziplinenwie Ontologie Kosmologie Mathematik und Erkenntnistheorie fuumlhr-te Den Sophisten ging es aumlhnlich wie Sokrates von Protagoras er-faumlhrt Nur bei ihm selbst erfuumlhren die Schuumller das Noumltige uumlber ihrKerngeschaumlft das Haus gut zu verwalten und sich auf der Agoraacute zubewaumlhren waumlhrend sie bei anderen Sophisten wie Hippias von Elisverdorben wuumlrden weil diese sie mit Unnuumltzem wie Arithmetik As-tronomie Geometrie und Dichtung traktierten2 So weitete also auchdie Schule Platons allmaumlhlich ihren Themenkreis immer weiter aus

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1 Auf dieses Merkmal der Schule ist G Bien naumlher eingegangen Das Theorie-Praxis-Problem und die politische Philosophie bei Platon und Aristoteles in Phil Jb 76(196869) 264ndash314 hier S 307ndash3132 Platon Protagoras 318 Dndash319 A

je mehr ihre Vorlaumlufigkeit die mit einem politischen Erfolg der Fun-damentalopposition ihr Ende finden sollte in Vergessenheit gerietAristoteles sollte an seinem Lehrer in der Sache manche Kritik uumlbenaber die Regeln der Institution Schule ihre Hinwendung zur Schrift-lichkeit und ihre Etablierung von Einzeldisziplinen (Pragmatien) ver-standen sich fuumlr ihn schon von selbst

Aristoteles (384ndash322) hatte als Siebzehnjaumlhriger seine makedo-nische Heimat verlassen um sich im Jahre 36766 der Akademie an-zuschlieszligen Da war Platon schon uumlber fuumlnfzig Jahre alt und hatteseine philosophische Arbeit dogmatisch abgeschlossen Da er in die-sen Tagen kurz vor seiner zweiten Reise nach Syrakus stand hat ervielleicht erst nach seiner Ruumlckkehr erkannt wer von nun an seinbegabtester Schuumller war Als Aristoteles einmal bei einer Vorlesungfehlte rief Platon verzweifelt aus raquoDer Geist ist nicht zugegenstumpf ist da die Houmlrerschaftlaquo ndash im Original ein ausgefeilter jambi-scher Trimeter ὁ νοῦς ἄπεσ|τιν κωφὸν τἀκ|ροατήριον3 Aristote-les wird sich dieses Lob seines Lehrers gewiss bei vielen Gelegenhei-ten verdient haben nicht zuletzt aber dank der Art wie er sich beiPlatons beruumlhmter Altersvorlesung raquoUumlber das Gutelaquo4 bewaumlhrte Alsdieser das Gute kosmologisch im zahlhaft bestimmten Einen verorte-te blieben die Houmlrer einer nach dem anderen enttaumluscht der Vor-lesung fern weil sie Ausfuumlhrungen uumlber seelische koumlrperliche undaumluszligere Guumlter im gemeinen Verstande erwartet hatten Auf diese Re-aktion der Houmlrer hatte Platon nur gewartet er wollte wissen wer mitseinem Vorstellungshorizont uumlber den der Menge hinausging undsich damit als genuiner Philosoph erwies Tatsaumlchlich harrten nurwenige Houmlrer bis zum Ende aus und empfingen den Ritterschlageines wahren Philosophen darunter natuumlrlich Aristoteles Dieser er-klaumlrte allerdings spaumlter er werde sich an das allgemein Anerkanntehalten statt aus dem Satz dass das Eine ein Gut sei herzuleiten dassdie Gerechtigkeit ein Gut sei5

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3 Zitiert nach V Rose Aristotelis qui ferebantur librorum fragmenta collegit V RLeipzig 18701886 repr Stuttgart 1967 S 4284 Das Vorlesungsmanuskript ist im Original nicht erhalten Die zahlreichen Para-phrasen bei anderen Autoren hat W D Ross Aristotelis Fragmenta Oxford 1935S 111ndash120 gesammelt5 Aristoteles Eudemische Ethik 1218 a 15ndash22 Der Aristotelesschuumller Aristoxenosbestaumltigte diese Reaktion seines Lehrers in seinen ἁρμονικὰ στοιχεῖα (ed P Mar-quard Die harmonischen Fragmente des Aristoxenos Berlin 1868 S 30) und fuumlgtehinzu es empfehle sich zu Beginn einer Vorlesung sein Thema genau anzukuumlndigen

Im Uumlbrigen sparte auch Aristoteles nicht mit Lob auf seinenLehrer Im Rahmen seiner Inschrift auf einem Altar der Freundschaftden Eudemos von Kypros von einer Reise nach Athen zuruumlckgekehrtgestiftet hatte ruumlhmt Aristoteles Platon als Mann den schlechteMenschen nicht einmal loben duumlrften und als Mann der als Ersterunter den Menschen durch eigene Lebensfuumlhrung und vorgetrageneGruumlnde demonstriert habe dass der gute Mann ebendeshalb auch dergluumlckliche Mann ist Zwar taucht im uumlberlieferten Text der Distichenweder der Name Platons noch der des Eudemos auf Olympiodor ver-sichert aber Aristoteles habe in seiner Widmung an den Stifter Eude-mos ebendieses Lob auf Platon ausgesprochen6 Bei welchem Lehrerhaumltte Aristoteles auch besser lernen koumlnnen wie man wesentlicheaber oft uumlbersehene Fragen stellt wie man fuumlr andere uumlberraschendauf Zusammenhaumlnge und Widerspruumlche aufmerksam macht wieman auf den ersten Blick unerkannte Implikationen und Konsequen-zen herausarbeitet wie man unzureichend Bewiesenes als solchesidentifiziert wie man einmal erzielte Uumlbereinkuumlnfte stets im Ge-daumlchtnis praumlsent haumllt wie man seine Argumente durch Ruumlckfuumlhrungauf Gruumlnde und Ursachen als anerkannte Berufungsinstanzen uumlber-zeugend vortraumlgt

Zur gegenseitigen Wertschaumltzung aufgrund ihrer intellektuellenVorzuumlge gesellte sich die politische Uumlbereinstimmung beider Philoso-phen die neben der Sympathie fuumlr Makedonien die entschieden ab-lehnende Haltung gegenuumlber der attischen Demokratie betraf FuumlrPlaton fiel die Suche nach der gerechten Polis als dem hiesigen Kor-relat des absolut Guten mit entschiedener Demokratiekritik zusam-men Seine politische Leitidee bildete die Gerechtigkeit als Einheit derKardinaltugenden mit dem Ziel der Baumlndigung des sinnlichen Inte-resses (ἡδονήvoluptas) waumlhrend in seinen Augen die demokrati-schen Leitideen der Gleichheit und Freiheit lediglich auf eine Beschouml-nigung der voluptas als des wahren Bestimmungsgrundes der Mengehinausliefen Diesen von voluptas durchdrungenen Staat sah Platonals derart heillos verfahren an dass er anknuumlpfende Schritt-fuumlr-Schritt Reformen gar nicht erst in Betracht zog Stattdessen setzte

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und wenn man Paradoxes vortragen wolle dies auch unmissverstaumlndlich zu sagen Sobliebe den Houmlrern die Enttaumluschung erspart wenn sie in Erwartung einer Belehrunguumlber Guumlter wie Reichtum Gesundheit Gluumlck am Ende lediglich die blasse Auskunfterhielten das Gute sei Eines6 Olympiodoros in Platonis Gorgiam XLI 10 ad p 515 C

Platons politische Opposition mit anderen Mitteln7 auf eine vomNullpunkt aus fehlerfrei in Gedanken durchkonstruierte Polis in derdie schon seit Kleisthenes bestehende Einheitlichkeit und Geschlos-senheit des Gemeinwesens gewahrt blieben aber konkrete demokra-tische Komponenten wie Rat und Volksversammlung Geschwore-nengericht und Flotte Panathenaumlen Dionysien und Eleusinien nichteinmal dem Namen nach vorkamen Bei dieser Konstellation gerietenSchule und Polis zwangslaumlufig in ein Verhaumlltnis sich gegenseitigenIgnorierens Die Schule fuumlhrte ihre Debatten als private Institutionohne Beruumlcksichtigung der Vorgaumlnge auf der Agoraacute und die Agoraacutemuumlhte sich mit den ihr eigenen Mitteln um eine Konsolidierung derdemokratischen Institutionen ohne die Einwaumlnde der Schule zurKenntnis zu nehmen Nun mag Platon einen offenbar unpolitischenweil von den Realitaumlten abgehobenen Ausgangspunkt gewaumlhlt unddamit seiner Weiterarbeit wie spaumlter die hermeneutisch argumentie-rende Kritik des Aristoteles zeigen sollte einen schlechten Dienst er-wiesen haben aber ihn leitete ohne jeden Zweifel ein handfestes Mo-tiv und eine daraus abgeleitete allgemeine bis in unsere Tage zubeherzigende Grundeinsicht

Platons Schluumlsselerlebnis war das Todesurteil gegen Sokratesdas eine Mehrheit unter fuumlnfhundert Geschworenen faumlllte obwohlsich Sokrates in allen Anklagepunkten ganz offenkundig als nichtschuldig erwiesen hatte Moumlglich wurde diese Gerichtsentscheidungweil es den Anklaumlgern wie routinierten Demagogen gelang mit ihrenUnwahrheiten eine ignorante Menge auf ihre Seite zu ziehen In derTat hatten sie wie Sokrates gleich im zweiten Satz der Apologie aus-ruft nicht ein einzigen wahren Satz vorgetragen (ἀληθές γε hellip οὐ-δὲν εἰρήκασιν) Der offenbar unausrottbaren Moumlglichkeit dass De-magogen gerade mit der Unwahrheit Mehrheiten fuumlr sich gewinnenkoumlnnen galt zeitlebens Platons kritische Aufmerksamkeit Tatort wa-ren nicht nur die Geschworenengerichte sondern nicht minder dieVolksversammlung in der interessierte Redner Mehrheitsbeschluumlsse(ψηφίσματα) herbeifuumlhrten mit denen sie bestehende Gesetze un-terliefen8 Auch fuumlr dieses Fehlverhalten gab es eine Schluumlsselszeneals naumlmlich im Zuge des Arginusenprozesses ein Mann aus der auf-gehetzten Menge rief es sei eine Ungeheuerlichkeit wenn man denDemos nicht tun lasse was er wolle und gleich darauf durchgesetzt

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7 Platon VII Brief 325 Endash326 A8 Ebd 325 DndashE

wurde dass die angeklagten Seeoffiziere en bloc verurteilt wurdenund nicht wie es das Gesetz verlangte jeder einzeln Der Einzigeder sich diesem rechtswidrigen Beschluss widersetzte war Sokrates9

Dass dieser Staat ausgerechnet seinen gerechtesten Buumlrger zumTode verurteilt hatte hat Platon nie verziehen Da indes die aus-schlaggebende Mehrheit der Geschworenen ihr Urteil wohl kaumfuumlr ungerecht hielt sah Platon sich verpflichtet allen ebenso gesinn-ten Athenern vorzutragen was an und fuumlr sich Gerechtigkeit wirklichist und zwar in der Politeia aus dem Munde eben des Sokrates Danun der Staat fuumlr die Gerechtigkeit der groumlszligere und besser sichtbareBewaumlhrungsort ist als der Einzelne schlug Sokrates vor den Begriffvon Gerechtigkeit zunaumlchst im Blick auf den Staat zu entwickeln (Po-liteia 368 E 472 B) Die Frage nach der Gerechtigkeit konkretisiertesich auf diese Weise zur Frage nach dem gerechten Staat Folgerichtigsetzte Platon im Geist des Sokrates der attischen Demokratie mitihrem falschen Machtwillen einen auf reiner Vernunft beruhendenIdealstaat entgegen von dessen Vorzuumlgen er vielleicht schon dienaumlchste Generation der Athener zu uumlberzeugen hoffte10 anderenfallskoumlnne man nur noch auf einen Gluumlcksschlag von auszligen (τύχη) set-zen oder dass sich dank goumlttlicher Fuumlgung ein Staatenlenker mit derPhilosophie befasse11 Die Befuumlrchtung der Philosoph koumlnne in seinereigenen Stadt wenn uumlberhaupt dann nur dank goumlttlicher Fuumlgung po-litisch taumltig werden (Politeia 592 A) wollte Platon allerdings fuumlr sichnicht als Entschuldigung gelten lassen im Gegenteil Platon ver-sicherte er sei eigens nach Syrakus gereist damit man ihm nicht vor-halten koumlnne er sei nur im Felde der Theorie stark ziehe sich aberzuruumlck wenn es an die praktische Ausfuumlhrung gehe (VII Brief328 C) Vielmehr war fuumlr ihn der gerechte Staat Inhalt philosophi-scher Reflexion mit dem Ziel seiner Verwirklichung

Im idealen Staat darf die Entscheidungsbefugnis nur bei Buumlrgernliegen die allein durch philosophisch uumlberpruumlfte Qualifikation undnicht durch Loswahl in ihr Amt gelangt sind Nur wer die Houmlhle derdie Menge auszeichnenden Kurzsichtigkeit verlassen und dank uumlber-legener Vernuumlnftigkeit die Idee des Guten geschaut hat vermag pri-vat wie oumlffentlich vernuumlnftig zu handeln12 eben seitdem er sich von

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9 Xenophon Hellenika 1 7 12ndash16 Vgl unten Anm 38 S 137 und Anm 17 S 14810 Platon Politeia 315 CndashD11 Platon VII Brief 326 A12 Platon Politeia 517 C

der Aussageabsicht der drei beruumlhmten Gleichnisse hat uumlberzeugenlassen dass naumlmlich das Gerechte das Gute ist und nicht das sinnlicheInteresse der auf den Schein fixierten Menge13 Entsprechend heiszligt esin Platons 8 Brief (355 A) Fuumlr besonnene Menschen ist Gott das Ge-setz fuumlr die unvernuumlnftigen ist es die Lust Das Gute hat also densel-ben Stellenwert wie Gott und bildet wie dieser insofern den Welt-grund als es weil jenseits (ἐπέκεινα) des daseienden Universumsangesiedelt im Rang noch uumlber dieses hinausragt und sich heilsambewaumlhrt indem es dank seinem Sproumlssling dem Sonnenlicht Orien-tierung durch Sichtbarkeit der Dinge sowie Leben Wachstum undGedeihen moumlglich macht14 Die Ausrichtung amGuten als Weltgrunderhebt das Gerechte zur unbedingten Handlungsnorm fordert abernicht nur sondern gewaumlhrt in einem damit den Buumlrgern auch wahr-haft praktischen Nutzen naumlmlich das Leben im sittlichen Gesetzes-staat ndash die Frucht eben der Herrschaft der Gerechtigkeit15 Damit istdie Frage zu deren Beantwortung Sokrates die drei beruumlhmtenGleichnisse vortrug naumlmlich ob Lust oder das Gerechte das wahreGut ist beantwortet und die implizit gegebene Antwort die auf derUnterscheidung der vier Erkenntnisstufen im Liniengleichnis beruhtbesagt dass die beschraumlnkten intellektuellen Moumlglichkeiten der Men-ge zu dieser Einsicht nicht ausreichen diese also fuumlglich zu entmuumln-digen ist schon um den Demagogen ein leichtglaumlubiges Publikum zuentziehen

Der Form nach stand bei aller Reserve Platon durchaus in derSchuld der Demokraten Sie waren es die unter Kleisthenes den atti-schen Staat als rational verwalteten Einheitsstaat geschaffen hattender nicht mehr nach Staumlmmen Sippen und oumlrtlich bedingten Loyali-taumlten fragmentiert war Unter Phylen verstand Kleisthenes nichtmehr den Oberbegriff vertikal strukturierter Personenverbaumlnde son-dern horizontal strukturierter einheitlich verwalteter Bezirke nachdem Territorialprinzip Das Volk der Athener (ὁ τῶν Ἀθηναίων δῆ-μος) trat an die Stelle der Klientel wie in Rom der populus Romanusan die Stelle der gentes Platon musste also das Prinzip staatlicherEinheit selbst nicht mehr erfinden wohl aber dem Inhalt nach fuumlr alleZukunft beschlieszligen dass nicht nur dieser sondern jeder Staat sei-nem Wesen gemaumlszlig in der Pflicht sei sich als raquoWirklichkeit der sitt-

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13 Ebd 505 B14 Ebd 509 AndashB15 Ebd 505 A

lichen Ideelaquo (Hegel) zu bewaumlhren Uumlber diesen Beschluss hinausdachte Platon noch einen Schritt weiter denn es konnte nicht ge-nuumlgen einen Staat philosophischer Sittlichkeit lediglich zu gruumlndener musste auch erhalten werden ndash durch ein Kollegium integrer Ge-setzeshuumlter die das muumlhsam Erreichte unveraumlndert zu bewahren hat-ten16 Diese Position waumlre etwa im Arginusenprozess unbesetzt ge-wesen haumltte Sokrates sie nicht eingenommen und auf Einhaltungder Gesetze bestanden

Ebenso wie die vorgegebene Staatlichkeit hat auch das mit dieserverbundene demokratische System der Rechtspflege das das archai-sche Selbsthilfeprinzip abloumlste Eingang in Platons Philosophie gefun-den Die archaische Selbsthilfe bestand darin dass die durch einenUumlbergriff beleidigte Sippe der Sippe des Taumlters die Fehde ankuumlndigte(πρόρρησις) deren Beendigung durch Abschluss eines Suumlhnevertra-ges (αἴδεσις) erfolgte Dass bei dieser Form der Konfliktbeilegungdurch Aussoumlhnung die staumlrkere Sippe in der Regel ihre Loumlsungsvor-stellungen durchsetzte liegt auf der Hand Der Schritt fuumlr Schritterfolgte Gerichtszwang durch den der Staat erst allmaumlhlich das Mo-nopol der Rechtspflege uumlbernahm hatte zum Ziel dass anstelle zufaumll-liger Machtverhaumlltnisse die Systematik von Recht und Gesetz imStreit der Parteien entscheidet17 Diesen Sinn der nacharchaischenRechtsprechung hat Ovid mit dem Hexameter zusammengefasstinde datae leges ne firmior omnia posset (Fasten 3 279) Im Gor-gias-Dialog haumllt nun Platon der Rhetorik vor sie sei der methodischeVersuch gerade diese Errungenschaft der Rechtsprechung ruumlckgaumln-gig zu machen Kallikles ein Anhaumlnger des Rhetoriklehrers Gorgiasspricht unverhohlen aus dass Herakles voumlllig im Recht war Geryonesseine Rinder die er weder gekauft noch zum Geschenk erhalten hatteohne Bedenken zu stehlen da das von Natur Gerechte darin bestehedass alles Eigentum der Schwaumlcheren in Wahrheit dem Staumlrkeren ge-houmlre18 Sokrates haumllt Kallikles entgegen dass wahre Uumlberlegenheitnicht im Mehr-haben-Wollen sondern im Sittlich-besser-Sein be-stehe und beruft sich damit ebenso wie die Rechtsprechung auf ein

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16 Platon Politeia 484 B Nomoi 752 DndashE 754 Dndash755 C 770 AndashD 847 AndashD 959 Dndash961 CIm Abschnitt zu raquoDemetrios Phalereus ndash oder die vierzehnte Wendelaquo wird diese pla-tonische Vorgabe noch eine wesentliche Rolle spielen17 Zu diesen nicht leicht zu rekonstruierenden Prozessen sei auf die im Literaturver-zeichnis genannten Aufsaumltze von E Ruschenbusch verwiesen18 Platon Gorgias 484 BndashC

systematisches Kriterium um die individuelle Machtperspektive inSchranken zu weisen Dass Sokrates bei seinem Gespraumlchspartnermit dieser Argumentation nicht durchdringt ist allein der Borniert-heit des Kallikles zuzuschreiben

Es ist nicht zu leugnen dass Platon ebenso wie der Oligarch Kal-likles den Besseren das Wort redete aber unter den Besseren wirklichBessere verstand die den Staat als sublimierte Oligarchie tragen soll-ten Von dieser Staatslehre gilt es also zu uumlberzeugen und das ver-suchte Platon auch ganz im Sinne des Sokrates zunaumlchst durch sach-liche Gespraumlchsfuumlhrung oder Dialektik (διαλέγεσθαι) die mitkurzen Saumltzen Rechenschaft fordert und gewaumlhrt Sokrates mochtekeine langen Reden die geeignet sind das Ausgangsthema nach eini-ger Zeit aus den Augen zu verlieren19 Auch mochte es Sokrates garnicht wenn Unterredner sich streitsuumlchtig (ἐρίζειν) an Worten fest-bissen statt am intendierten Inhalt20 Das richtet sich gegen Protago-ras der als Erfinder der Eristik Wortklauberei betrieb statt sich aufdie Bedeutung des Sachverhalts zu konzentrieren21 Insgesamt ist diesokratische Version von Dialektik ein Gegenentwurf zur raquosogenann-ten Kunst der Rhetoriklaquo22 die lediglich den Uumlberredungserfolg zumZiel hat und nicht etwa wohlbegruumlndete Wahrheiten herausarbeitenwill Nun musste Platon etwa im Gespraumlch mit Kallikles im Gorgiasoder mit Thrasymachos im ersten Buch der Politeia erkennen dassgerade seine Sachlichkeit bei Boumlswilligen auf taube Ohren stoumlszligt Erentwickelte daher noch in der Politeia einen uumlber Sokrates hinaus-gehenden Begriff von Dialektik die nicht diskutiert sondern dekre-tiert nachdem diese durch reines auf das Gespraumlch mit sich selbstkonzentriertes Durchdenken des Wesentlichen frei von sinnlichenEindruumlcken zum Ziel der Erkenntnis des Guten gelangt ist (532 AndashB) Weil somit Dialektik zustaumlndig wird fuumlr die Vergegenwaumlrtigungdes Guten in der politischen Welt darf auch nur der ausgewieseneDialektiker Staatenlenker werden (534 CndashD) der auf seinen Einsich-ten beharrt auch wenn ihm seine Mitbuumlrger die Zustimmung ver-weigern Gegen vordergruumlndige Rechthaberei von wem immer sieausgeht verteidigt Platon das Prinzip vernuumlnftiger Argumentationgegen die Kraumlfte ihrer Blockierung

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Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

19 Platon Protagoras 336 AndashC Gorgias 474 B20 Platon Politeia 454 A21 Diogenes Laertios 9 5222 Platon Gorgias 448 D

Page 4: Platon und Aristoteles als Wegbereiter der praktischen ... · Differenzen zwischen Platon und Aristoteles ins Auge fallen. Wer jedoch Platon und Aristoteles zusammen gegen die später

Armin Muumlller

Platon und Aristotelesals Wegbereiterder praktischenPhilosophieMit einem Ausblick auf dieAktualitaumlt der beiden Klassiker alsZeugen im hermeneutischenVerfahren zur Beglaubigungmoderner Rechtsstaatlichkeit

Verlag Karl Alber FreiburgMuumlnchen

Originalausgabe

copy VERLAG KARL ALBERin der Verlag Herder GmbH Freiburg Muumlnchen 2017Alle Rechte vorbehaltenwwwverlag-alberde

Satz und PDF-E-Book SatzWeise GmbH TrierDruck und Bindung CPI books GmbH Leck

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ISBN (Buch) 978-3-495-48886-7ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-81349-2

Vorwort

Was Sokrates durch seine Gespraumlche auf dem Markt vorgelebt hattenahmen Platon und Aristoteles in ihren Schulen kongenial auf als siedas menschliche Handeln in der Polis in den Mittelpunkt ihrer Auf-merksamkeit ruumlckten und auf diese Weise zu Gruumlndungsvaumltern derpraktischen Philosophie wurden Das wissenschaftstheoretische Er-gebnis ihrer Arbeit ist die Konstituierung der philosophia practicauniversalis deren drei Disziplinen Ethik Politik und Oumlkonomik un-ter verschiedenen Aspekten das Ziel des bene beateque vivere verfol-gen Diese Trias verkoumlrpert ein Leitbild das wenn auch auf unver-meidlichen Umwegen bis in unsere Tage wirksam geblieben ist

Ihre vitale Kontinuitaumlt verdankt dieses System der praktischenPhilosophie demUmstand dass neben Gemeinsamkeiten seiner aumlltes-ten Verfechter auch der Streit an seiner Wiege stand Platon argu-mentierte aus raquoreiner Vernunftlaquo ohne den Phaumlnomenen eigene Ver-nuumlnftigkeit zuzugestehen Aristoteles argumentierte hermeneutischindem er pruumlfte welche Vernunftgruumlnde in dem was ist oder ge-schieht schon enthalten sind Die Auseinandersetzungen als Folgedieser Differenz konnten der Qualitaumlt des Ergebnisses nur foumlrderlichsein Andererseits schloss der fundamentale Unterschied im metho-dischen Vorgehen der beiden Gruumlndungsvaumlter Gemeinsamkeiten inden politischen Praumlferenzen keineswegs aus Beide hegten eine Aver-sion gegen Athens demokratisches Lager beide sympathisierten mitPhilipp vonMakedonien Beide wurden schlieszliglich aber auch gemein-sam von den alten Stoikern fuumlr laumlngere Zeit in den Hintergrund ge-draumlngt als es nach dem Sturz des Demetrios Phalereus im Interessedes Burgfriedens ratsam schien dass die Philosophie bis auf weiteresden Staat verschonte also auf dessen ndash sei es kritische oder sei esermunternde ndash Beeinflussung verzichtete Implizit hielten die sto-ischen Nachfolger Platon und Aristoteles vor ihre einst in Akademieund Lykeion vorgetragene praktische Philosophie sei keine Antwort

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mehr auf die Problemlage der im Zeichen des Hellenismus gewandel-ten Polis

Waumlhrend nun das Setzen der alten Stoiker auf innere Auto-nomie ndash Ausdruck einer mehr oder weniger erzwungenen Sezessionaus der Polis ndash ebendeshalb historisch zu erklaumlren ist sind Platon undAristoteles von Zweifeln an der Allgemeinheit der Grundsaumltze ihrerpraktischen Philosophie laumlngst freigesprochen Dank dieser spaumltes-tens seit Cicero erwirkten Rehabilitation sind Platon und Aristotelesganz im Sinne ihrer urspruumlnglichen Intentionen bis in die moderneWelt einflussreich geblieben und konnten etwa Hegels philosophi-scher Begleitung der Konstituierung des modernen Rechtsstaats in-spirierend zur Seite stehen ndash gleichsam zur Selbstvergewisserung dereinen Sattelzeit durch eine andere Hegels Vorgehen sollte sich erneutbei gleichzeitigem Ruumlckgriff auf Platon und Aristoteles wiederholenals im Zuge der geistigen Gruumlndung der Bundesrepublik nach demZweiten Weltkrieg bewusst wurde dass eine Wiederaufnahme deszwischenzeitlich verworfenen Hegelschen Plaumldoyers fuumlr den Rechts-staat ein Gebot der Stunde sei Die faumlllige Vergegenwaumlrtigung Hegelsuumlbernahm initiierend Joachim Ritter und ausweitend lenkten spaumlterseine Schuumller aus dem raquoCollegium Philosophicumlaquo den Blick auf dieunvermeidlichen von Ethik Politik und Oumlkonomik zu beantworten-den Anschlussprobleme Im Zuge der Anknuumlpfung an die Traditionder praktischen Philosophie durch J Ritter erfuhren Platon und Aris-toteles unter Vermittlung Hegels erneut in einem essenziellen Ver-fahren ihre ehrenvolle Einberufung in den Zeugenstand Wenn nundieses Buch sich anschickt die Grundzuumlge dieses modernen Prozessessamt seiner auf Platon und Aristoteles zuruumlckgehenden Vorgeschich-te nachzuzeichnen so muss es sich bei einer in mehr als zweitausendJahren angehaumluften Stofffuumllle zwangslaumlufig auf die Hervorhebungdes Wesentlichen beschraumlnken Indes tut das damit eingestandeneUumlberspringen des weniger Wesentlichen der Intention keinen Ab-bruch zur Selbstvergewisserung der praktischen Philosophie bei-zutragen durch Ruumlckbesinnung auf ihren systematischen Ursprungder mit der Einsicht in die Zusammengehoumlrigkeit von Ethik Politikund Oumlkonomik zusammenfaumlllt

Ein Buch wird in der Regel nicht ohne konsultierende Gespraumlchemit befreundeten Experten geschrieben Das ist auch in diesem Fallgeschehen Fuumlr ihre Bereitschaft sich jederzeit auf die Eroumlrterungaufkommender Probleme einzulassen oder Bedenken zu zerstreuendankt der Autor herzlich den Professoren Dr Guumlnther Bien Dr Rai-

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Vorwort

ner Henke und Dr Dr Karl Homann Zusaumltzlichen Dank schuldet derAutor Professor Henke der freundlicherweise das Korrekturlesen desManuskripts auf sich genommen hat

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Vorwort

Inhalt

Vorwort 5

Einleitung ndash zur Erlaumluterung der These 11

Hermeneutikgeleitete Chronik der Wege und Umwege derphilosophia practica universalis von den Anfaumlngen bis in dieGegenwart 19Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie 21Schluumlsse aus dem politischen Scheitern der Platonschuumller 35Die Vorarbeiten des Aristoteles fuumlr die Politik 54Die philosophischen Pflichten des Tages gegenuumlber dengriechischen Staumldten 62Die ideale Stadt des Aristoteles 72Das Ende der Freundschaft zwischen Alexander und Aristoteles 84Die Bedeutung der elf Wenden in der Athenaion Politeia ndashquid facti 100Die Legitimitaumlt der attischen Demokratie ndash quid iuris 107Das Ungluumlcksjahr 322 117Antipatros und Phokion ndash oder die zwoumllfte Wende (322) 121Kassandros und Polyperchon ndash oder die dreizehnte Wende(319) 125Demetrios Phalereus ndash oder die vierzehnte Wende (317) 128Die Sezession der Philosophie nach dem Sturz des DemetriosPhalereus (307) 146Demetrios Poliorketes und der Herrscherkult ndash oder diefuumlnfzehnte Wende (307) 163

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Die Tyrannei des Lachares ndash oder die sechzehnte Wende(um 300) 171Die Ruumlckkehr des Demetrios Poliorketes ndashoder die siebzehnte Wende (295) 174Der Siegeszug des Herrscherkults 187Die stoische Goumltterlehre als Antwort auf den Herrscherkult 193Lactantius uumlber die heidnische Entlastung der Goumltter 208Die wiederhergestellte Autoritaumlt Homers 214Platon und Chrysipp im Streit uumlber Homers theologia 227Die tragische Katharsis und die stoische Lehre von denAffekten 239Theodizee und Geschichtsphilosophie 258Die quaestio finita als Pruumlfstein originalitaumltsgerechterRezeption 276Hegels Ruumlckgriff auf die Lehre vom sittlichen Staat bei Platonund den Tragikern 282Aristoteles als Zeuge der praktischen Philosophie Hegels 288Joachim Ritters Erneuerung der Hegelschen Platon- undAristotelesrezeption 314Politik und Ethik als Bauglieder der philosophia practicauniversalis im Blickpunkt der Ritterschen MitteGuumlnther Bien Hermann Luumlbbe Odo Marquard 328Die Oumlkonomik oder der von der Ritterschen Mitte gesetzteSchlussstein der philosophia practica universalisKarl Homann 343

Verwendete Sigla 371

Literaturverzeichnis 372

Index nominum et rerum 383

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Inhalt

Einleitung ndash zur Erlaumluterung der These

Platons Akademie und das Lykeion des Aristoteles lagen zwar vor denMauern aber deshalb war die Stadt der Schule keineswegs gleichguumll-tig im Gegenteil die Stadt erfreute sich jederzeit intensiver Auf-merksamkeit durch die Schule Vorgegeben war diese Haltung durchden gemeinsamen Ahnherren Sokrates raquoden Landschaft und Baumlumewenig lehrten wohl aber die Menschen in der Stadtlaquo1 Buumlndig be-staumltigt das auf seine Weise Cicero Socrates autem primus philoso-phiam devocavit e caelo et in urbibus conlocavit2 Noch im Gefaumlngnisunterstreicht Sokrates er koumlnne unmoumlglich ohne Einverstaumlndnis derAthener fliehen wo er doch so bewusst und ausdruumlcklich sein ganzesLeben in ihrer Stadt verbracht habe dass er sie auszliger zu Feldzuumlgennur ein einziges Mal mit einer Festgesandtschaft zu den IsthmischenSpielen verlassen habe3 Sokrates war uumlberzeugt ein gelungenes Le-ben habe er nur als Buumlrger der Stadt Athen fuumlhren koumlnnen und mitdieser Bindung an die Polis identifizierten sich Platon und Aristotelesnicht minder

Das Verhaumlltnis von Schule und Stadt war laumlnger als ein halbesJahrhundert gepraumlgt von einer auf Unabhaumlngigkeit beider Seiten be-ruhenden Auseinandersetzung die im Jahre 322 zu Ende ging alswenige Wochen vor dem Tod des Aristoteles Athen mit der Nieder-lage im Lamischen Krieg unwiederbringlich die politische Autonomieeinbuumlszligte Wer nun die Philosophie der Epoche bis zu diesem Wende-jahr betrachtet dem werden unvermeidlich die nicht zu leugnendenDifferenzen zwischen Platon und Aristoteles ins Auge fallen Werjedoch Platon und Aristoteles zusammen gegen die spaumlter von derStoa gepraumlgte Epoche abhebt wird ihnen ebenso unvermeidlich alsganz wesentliches gemeinsames Merkmal den Umstand zuordnen

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1 Platon Phaidros 230 D2 Cicero Tusculanae disputationes 5 103 Platon Kriton 52 B

dass im Mittelpunkt ihrer philosophischen Aufmerksamkeit nicht dieSchule selbst sondern die politischeWelt auszligerhalb der Schule standIhre theoretische Arbeit endete nicht esoterisch mit Saumltzen zur inne-ren Sittlichkeit der Schule vielmehr uumlberschritt sie diese Schrankeund widmete sich eingehend den sittlichen Normen der Stadt ohneuumlbrigens daruumlber die Ordnung des fuumlr diese Normen keineswegsgleichguumlltigen Makrokosmos zu vernachlaumlssigen Ihre Politik ist in-stitutionelle Ethik und umgekehrt setzt ihre Ethik auf einen Staatder die Buumlrger tugendhaft macht

Bei weiter ausholendem Hinsehen erweist sich die vielbeschwo-rene Kritik des Aristoteles an Platon eher als dessen staumlndiges Be-muumlhen das gemeinsame Ziel den sittlichen Staat vor selbstverschul-detem Scheitern zu retten Aristoteles war nicht Gegner Platonssondern dessen dankbarer Erbe der der geistigen Hinterlassenschaftseines Lehrers das Uumlberleben zu sichern suchte In dieser Absicht aumln-derte er das methodische Vorgehen von Grund auf Er schrieb denBuumlrgern nicht mehr vor wie sie sein sollten sondern registrierte her-meneutisch wie sie sind um zu ergruumlnden was in diesem Ist-Bestandan vernuumlnftiger Vorleistung als dasWesentliche immer schon enthal-ten ist Als Hermeneutik lehrt praktische Philosophie dass die unsitt-liche Stadt sich nicht im Widerspruch zu einer aumluszligeren Instanz son-dern zu ihr selbst befindet Folgerichtig sah Aristoteles das Idealzieldes Philosophen auch nicht im Amt des Herrschers der aufgrundabsolutenWissens die Lebensordnung diktiert Vielmehr war er uumlber-zeugt sein Amt angemessen auszuuumlben wenn er darauf setzte zuwerben zu beraten und mit Argumenten zu uumlberzeugen und daseben nicht als philosophischer Herrscher sondern als Lehrer seinerSchuumller als Berater Philipps II als Prinzenerzieher Alexanders alsErmunterer der Buumlrger im Einklang mit Sitte Recht und Anstandihr Gluumlck zu suchen Aristoteles sah bessere Chancen fuumlr die plato-nische Substanz wenn er diese auf der institutionellen Basis der vitacontemplativa als bestimmter Lebensform neben und nicht uumlber dervita activa zu wahren suchte um die aktiv Taumltigen aus der damitimmer noch bestehenden Distanz vermoumlge hermeneutischen Vor-gehens daruumlber aufzuklaumlren dass die ethische Lebensfuumlhrung gelingtwenn sie im Einklang mit den bestehenden Sitten erfolgt

In der Politik des Aristoteles ist somit Platons Vernunftstaatdurchaus praumlsent allerdings eben nicht in Gestalt radikaler System-kritik sondern unter dem Oberbegriff einer raquoPolitielaquo den er in auf-klaumlrender und beratender Absicht ins Spiel bringt Im Blick auf aktu-

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elle Probleme der Polis versteht Aristoteles die Politie zunaumlchst alsVerfassung die die Ursachen der oft blutigen Dauerkonflikte zwi-schen Oligarchen und Demokraten aufzuheben verspricht daruumlberhinaus entwickelt Aristoteles eine an Platons Idealstaat erinnerndezweite Version von Politie und zwar im Blick auf die Planungen Phi-lipps II mit einem panhellenischen Heer die Aumlgaumlis in ein makedo-nisches Meer zu verwandeln und die Jonier in Kleinasien von derPerserherrschaft zu befreien Die erstere Politie der Buumlcher IV bis VIbesteht in einem auf Aussoumlhnung der Konfliktparteien zielenden Ver-fassungsentwurf und entsprach somit der zum Schlagwort erhobenenWunschvorstellung der Zeit naumlmlich der inneren Eintracht (ὁμό-νοια) Die andere Politie in Buch VII enthielt die Grundlegung derLebensordnung griechischer Groszligbuumlrger die sich im befreiten Jonienansiedeln sollten Auch diese Verfassung kam zumindest indirekteiner Wunschvorstellung der Zeit entgegen naumlmlich dem Wunschnach gemeinsamem Frieden (κοινὴ εἰρήνη) der griechischen Staumldteuntereinander denn ehemalige Feinde koumlnnten umso leichter Friedenschlieszligen und Freunde werden wenn sie sich als Eroberer zum Kampfgegen einen gemeinsamen Gegner verbuumlnden Vorrangig angespro-chen sollten sich allerdings Groszligbuumlrger fuumlhlen die mit ihrem Lebenin den demokratischen Staumldten Griechenlands unzufrieden warenund einer auf oligarchischen Idealen gegruumlndeten Polis den Vorzuggaben

Obwohl Aristoteles dank seiner hermeneutischen Vorgehens-weise keineswegs an den Adressaten vorbeiredete sollte sich schonbald abzeichnen dass aus je verschiedenen Gruumlnden sowohl die prag-matische als auch die ideale Politie abgewiesen wurden Aristoteleswar daruumlber nicht entmutigt sondern verfolgte seinen hermeneuti-schen Ansatz nur noch strikter in dem was ist das Wesentliche zubegreifen Das was ist also das politisch Dominierende war nun un-bestritten die demokratische Verfassung der Athener denen dieSchule ndash und das durchaus auch den Tatsachen zuwider ndash die Ver-nachlaumlssigung ihrer eigenen Gesetze gleichsam als Erbuumlbel immerwieder vorgehalten hatte Die raquoVerfassung der Athenerlaquo (Ἀθηναίωνπολιτεία oder kurz AP) nimmt und sei es unausgesprochen dieeinst auch von Aristoteles selbst mitgetragene Kritik der Schule zu-ruumlck und bedeutet dieser implizit dass sie sich selbst um Glaub-wuumlrdigkeit und Uumlberzeugungskraft bringt wenn sie offen am Tageliegende Sachverhalte systematisch in Abrede stellt Die AP ist dieAnerkennung der Tatsache dass den Athener Demokraten im vierten

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Jahrhundert die Vollendung eines widerspruchsfrei verfassten Geset-zesstaates gelungen ist der im Uumlbrigen nicht von einem kuumlnstlichgesetzten Nullpunkt ausgegangen ist sondern hermeneutisch rekon-struierbar sich in organischem Wachstum seit Ion und Theseus in elfWenden entwickelt hat Der Ton der AP liegt nicht darauf dass kom-promissbereite Philosophie die Welt vor der ihr sonst eigenen Radi-kalitaumlt verschonen will sondern auf der im theoretischen Zusehengewonnenen Einsicht dass die Stadt gerade das philosophische Ur-anliegen der Gesetzestreue immer schon als legitimierendes Prinzipihres Handelns befolgt hat Die hermeneutische Zirkelstruktur be-steht also darin dass die Philosophie der Stadt dies als das an ihrWesentliche erklaumlrt was sie selbst hervorgebracht hat

Der Einfluss der Akademie und des Lykeion endete aber keines-wegs abrupt mit dem Jahre 322 als die Athener ihre Souveraumlnitaumlteinbuumlszligten und damit die unumgehbare Voraussetzung einer auf Sitt-lichkeit bestehenden politischen Theorie Dank makedonischer Un-terstuumltzung erzielten die Schulen durch Phokion und Demetrios Pha-lereus in den folgenden Jahren sogar weitaus mehr politischeWirkung als die beiden Gruumlnder zu ihren Lebzeiten Ebendiesem Er-folg hatten indes im Jahre 307 die Schulen den entscheidenden Ruumlck-schlag zu verdanken als der aus ihren Reihen hervorgegangeneDemetrios Phalereus nach zehnjaumlhriger Herrschaft aus der Stadt ver-trieben wurde Rigide Entmuumlndigung der Buumlrger bei eigenem Nar-zissmus samt Selbstbereicherung brachten nicht nur Demetrios selbstum jeden Kredit sondern auch die Philosophie der Akademie und desLykeion nach deren Vorgaben er als ihr Angehoumlriger in Athen regierthatte Die empoumlrten Demokraten reagierten mit der Androhung derTodesstrafe und Verbannung der Philosophen und unter Philoso-phen verstanden sie unterschiedslos alle Platoniker und AristotelikerMit dieser harschen Reaktion laumluteten die Athener zugleich die Ge-burtsstunde der Stoiker ein die gleichsam in ihrer Gruumlndungsurkun-de festschrieben dass ihre Ethik die Sittlichkeit der Schule und nichtdie Sittlichkeit der Stadt zum Gegenstand habe Die Stoiker erkann-ten dass sie die Philosophie unter Wahrung ihrer Autonomie nurfortfuumlhren konnten wenn sie der Stadt versicherten dass sie andersals Platon und Aristoteles ihre Gesetzgebung ausschlieszliglich fuumlr ihreSchule als geschlossene secta erlieszligen Die erklaumlrtermaszligen der Poliszugewandte Philosophie die Platon und Aristoteles gemeinsam ver-treten hatten war ihnen nunmehr gemeinsam zum Verhaumlngnis ge-worden

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Unter dem Druck der politischen Umstaumlnde beschlossen dieStoiker ihre Sezession und erklaumlrten die Beschaumlftigung mit der Polisals einst zentrales Thema der Philosophie fuumlr nichtig Daruumlber hinausdistanzierten sie sich ebenfalls noch in manch anderem Punkt vonPlaton und Aristoteles wenn sie etwa im Felde der theologia und derAffektlehre Theoreme vortrugen die erst angesichts der Lage seit 307auf die Tagesordnung gerieten So antworteten sie auf den Herrscher-kult der implizit die unsterblichen Goumltter zu zweitrangigen Groumlszligenherabstufte mit der providentia-Lehre um zu demonstrieren wessenFuumlrsorge in Wahrheit die Menschheit ihr Uumlberleben zu verdankenhabe Da aber die Goumltter bei rehabilitierender Bestaumltigung ihrer ndashden kultisch verehrten Diadochen uumlberlegenen ndash Allmacht zwingendauch fuumlr alle Uumlbel in derWelt verantwortlich waren musste Chrysippden Streit zwischen Homer und Platon ob die Goumltter fuumlr alles odernur fuumlr das Gute zustaumlndig seien erneut austragen Es war also letzt-lich das aumluszligere Phaumlnomen des Herrscherkultes der diesen Streit un-ter den Gelehrten ausloumlste Aumlhnlich lagen die Dinge beim Problemder Affekte Der dank der politischen Ereignisse des Jahres 307 er-zwungene Ruumlckzug der Philosophie auf sich selbst war nur unter derBedingung entschieden abschirmender Selbstbehauptung nach auszligenertraumlglich Dieselbe Bedingung der Autonomie musste aber auch nachinnen erfuumlllt sein und zwar gegen ein ganzes Buumlndel von denkbarenAffekten die bei Verzicht auf ihre Einhegung die muumlhsam nach au-szligen behauptete Souveraumlnitaumlt wieder untergraben haumltten Folgerichtigwar die Affektlosigkeit (ἀπάθεια) das zentrale Thema der stoischenEthik ndash mit dem Ziel der Wahrung der inneren Autonomie Die Stoi-ker konnten daher nicht das Risiko eingehen die Behandlung derAffekte wie Aristoteles wollte eher beilaumlufig den Nachwirkungender von der tragischen Dichtung ausgeloumlsten Katharsis zu uumlberlassenStattdessen mussten die Stoiker darauf bedacht sein eine spezielleTherapie fuumlr den Fall zu entwickeln dass wie zu befuumlrchten denAffekten katechismuswidrig hier und da eben doch ein Ausbruch ge-lingen sollte

Obwohl die Stoiker als die neuen Meinungsfuumlhrer Platon undAristoteles fuumlr Jahrhunderte in den Hintergrund zu draumlngen ver-mochten mussten sie am Ende doch erleben dass die beiden Arche-geten im Status von unangefochtenen Klassikern ihre Renaissanceerlebten Zwar sicherten die Stoiker durch ihren weisen Ruumlckzug derphilosophia perennis die Kontinuitaumlt duumlrften aber am Ende aus dem-selben Grund dem sie ihr Entstehen verdankten wieder von Platon

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und Aristoteles in den Schatten gestellt worden sein Denn Lehrerwie Schuumller verstanden anders als die Stoiker unter Schule stets eineInstanz der systematischen Beschaumlftigung gerade auch mit der Au-szligenwelt Dieser erweiterte Argumentbereich konnte dem Kreis umPlaton und Aristoteles schlieszliglich nicht mehr schaden als es keinedirekt angesprochenen Zeitgenossen mehr gab die sich durch ihreLehren und das Handeln ihrer Schuumller provoziert fuumlhlten Von sol-chen Gefuumlhlen unberuumlhrt suchen hingegen spaumltere Generationen beiPlaton und Aristoteles gerade wegen ihres umfassenden Blickfeldesnach Belehrung und gegebenenfalls Bestaumltigung eigener Theorienund das sowohl im Grundsaumltzlichen als auch in Einzelfragen

Platons Philosophie nahm ihren Ausgang von der ganz be-stimmten Frage der Apologie wie Sokrates der gerechteste BuumlrgerAthens gegen die Asebieklage des Anytos Meletos und Lykon zuverteidigen sei In den Kategorien der Theorie der Rhetorik haumltte die-se Frage als eine quaestio finita gegolten die im Verfolg eine Fuumlllevon sich anschlieszligenden quaestiones infinitae ausloumlsen sollte wienaumlmlich ein gerechter Staat moumlglich sei der vom Geist seiner gerech-ten Buumlrger gepraumlgt waumlre Mit dem daraus erwachsenen Fundus vonFragen und erteilten Antworten haben Platon und entsprechend Aris-toteles der Nachwelt einen geistigen Reichtum hinterlassen dem sieschlieszliglich ndash nach zwischenzeitlicher Suspendierung ndash ihre Anerken-nung als unumstrittene Klassiker bis in unsere Tage zu verdankenhaben Angesichts solcher Hinterlassenschaft darf sich die Philo-sophie mit gutem Gewissen als Vergegenwaumlrtigung ihrer eigenen Ge-schichte definieren Vergegenwaumlrtigung wiederum ist im weitestenSinne das Gemeinschaftswerk der subtilitas intellegendi und der sub-tilitas applicandi und das so bestimmte Vorgehen ist auch dieVoraussetzung fuumlr die Zeugenrolle die Platon und Aristoteles beider philosophischen Begleitung der Preuszligischen Reformen durchG W F Hegel und erneut bei der geistigen Gruumlndung der Bundes-republik nach dem ZweitenWeltkrieg durch Joachim Ritter und seineSchuumller spielten Dass Platon und Aristoteles fuumlr den buumlrgerlichenRechtsstaat in den Zeugenstand traten setzt den hermeneutischenPhilosophiebegriff voraus demgemaumlszlig die Philosophie auf der Praumlsenzihrer eigenen Geschichte beruht Damit ist zugleich die Frage nachden Aussichten einer umfassenden Erneuerung der praktischen Phi-losophie gestellt der sich so lautet unsere These Joachim Ritter undseine Schuumller widmeten indem sie dem Primat der praktischen Ver-nunft die Ehre erweisend die klassischen Disziplinen der philosophia

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practica universalis ndash Ethik Politik Oumlkonomik ndash schrittweise auf-nahmen und in ein systematisches Verhaumlltnis zur modernen Weltsetzten

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Hermeneutikgeleitete Chronikder Wege und Umwege derphilosophia practica universalisvon den Anfaumlngen bis in die Gegenwart

Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

Vom Ende her gesehen koumlnnte leicht der Eindruck entstehen Platon(42827ndash34847) habe sich von vornherein als Lebenswerk die Gruumln-dung einer philosophischen Schule zum Ziel gesetzt in deren Mittel-punkt die Ausbildung einer systematischen politischen Theoriestehen sollte Dieser Eindruck taumluscht indes Wie Platon selbst imVII Brief (324 Bndash326 D) seinen Werdegang darstellt hatte er ur-spruumlnglich gar nicht die Absicht eine Schule zu gruumlnden die sichphilosophisch mit dem Staat befasste Stattdessen draumlngte er zunaumlchstauf eigenes politisches Handeln als er in der Herrschaft der DreiszligigTyrannen (40403) eine Chance sah einen Staat zu errichten der freiwar von den Schwaumlchen der Demokratie Enttaumluscht musste er aberbald erkennen dass die fruumlheren Verhaumlltnisse in der Demokratie ver-glichen mit der Gegenwart unter den Dreiszligig Gold (sic) waren Fol-gerichtig wandte er sich von den Dreiszligig ab und war nach deren Sturzwiederum bereit zu politisch aktiver Taumltigkeit wurde aber erneut ent-taumluscht ndash durch das Todesurteil gegen Sokrates den Mangel an poli-tischen Freunden die grassierende Geringachtung der Gesetze unddie Inthronisierung der Lust (ἡδονή) als Maszlig der Dinge Erst darauf-hin widmete sich Platon der theoretischen Beschaumlftigung mit demwahren Staat nicht ohne fuumlr erneute praktische Taumltigkeit in der Poli-tik bessere Zeiten abzuwarten die dann eintraumlten wenn wahrhaftePhilosophen die Herrschaft im Staat uumlbernaumlhmen und nicht die durchdas Los ins Amt befoumlrderte Inkompetenz Seine Philosophie war alsoOpposition auszligerhalb der politischen Buumlhne gedacht als ungewollteZwischenphase die erst endete wenn die Staumldte nach philosophi-schen Grundsaumltzen verfasst waumlren Die Gruumlndung der Schule erfolgtealso eher aus Verlegenheit sie war nicht die erfolgreiche Ausfuumlhrungeiner urspruumlnglichen Absicht

Mit seinem Bericht im VII Brief laumlsst Platon also durchblickendass er gleichsam widerWillen die Akademie als Schule gruumlndete undderen erstes Schulhaupt wurde Die Schule galt Platon als Surrogateiner Polis der vollendeten Sittlichkeit Folgerichtig war das Leit-thema der Schule die Lehre vom wahren Staat der das bloszlige Surrogatwieder uumlberfluumlssig machen sollte Platon verschweigt auch nicht vonwelchem Standpunkt aus er die Grundzuumlge des idealen Staates ent-wickelte Waumlhrend er die Schwaumlchen der Demokratie eher in derenStrukturen suchte ortete er die Schwaumlchen der Oligarchie im persoumln-lichen Versagen insbesondere der Dreiszligig Tyrannen Demgemaumlszlig plauml-

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dierte er fuumlr eine zu wahrer Aristokratie veredelte Oligarchie die vonindividuellen und strukturellen Defiziten frei war Diese dem Best-moumlglichen verpflichtete Parteinahme erfuumlllte zugleich die Anforde-rungen einer auf Widerspruchsfreiheit bedachten Theorie sofernPlaton alle seine politischen Vorstellungen auf Vernunftbegriffe zu-ruumlckfuumlhrte und nie vergaszlig sie geltend zu machen wo immer ihreBeachtung zwingend geboten war Mag es Platon auch nicht gelungensein in Athen einen Wiedergaumlnger des Sokrates als philosophischenHerrscher zu bestallen und auf diese Weise sein praktisches Ziel zuerreichen so bleibt doch als Ergebnis seiner Anstrengungen zumin-dest als Fortschritt im Bewusstsein dies bestehen dass von nun anpolitische Vorgaumlnge unvermeidlich von der Aufmerksamkeit einerauszligerhalb der politischen Buumlhne angesiedelten Vernunftkritik beglei-tet wurden Insofern blieb Platons mutiger Schritt eine politischeEntitaumlt systematisch in Zweifel zu ziehen und sie auch noch miteinem Gegenmodell zu konfrontieren nicht ohne kuumlnftige Folgen

Einstweilen blieb aber Platons politische FundamentaloppositionSache der Schule deren Eigengesetzlichkeit sich auf die inhaltlicheWeiterarbeit spuumlrbar auswirken sollte Zur (nachsokratischen)Grund-ausstattung der Schule gehoumlrte die Schriftlichkeit die Platon in nichtgeringe Verlegenheit brachte weil er auf unmittelbare Praumlsenz derVernunft setzte und nicht auf eine mittelbare die sich auch nochdurch Ablage ins Buumlcherregal unschaumldlich machen lieszlig1 Zudemzeichnete sich uumlber das politische Kerninteresse hinaus eine durchschultypisches Weiterfragen ausgeloumlste Verfaumlcherung ab die Platonnoch identitaumltsphilosophisch aufzufangen vermochte die aber auflange Sicht jenseits der Politik zur Etablierung von Einzeldisziplinenwie Ontologie Kosmologie Mathematik und Erkenntnistheorie fuumlhr-te Den Sophisten ging es aumlhnlich wie Sokrates von Protagoras er-faumlhrt Nur bei ihm selbst erfuumlhren die Schuumller das Noumltige uumlber ihrKerngeschaumlft das Haus gut zu verwalten und sich auf der Agoraacute zubewaumlhren waumlhrend sie bei anderen Sophisten wie Hippias von Elisverdorben wuumlrden weil diese sie mit Unnuumltzem wie Arithmetik As-tronomie Geometrie und Dichtung traktierten2 So weitete also auchdie Schule Platons allmaumlhlich ihren Themenkreis immer weiter aus

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Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

1 Auf dieses Merkmal der Schule ist G Bien naumlher eingegangen Das Theorie-Praxis-Problem und die politische Philosophie bei Platon und Aristoteles in Phil Jb 76(196869) 264ndash314 hier S 307ndash3132 Platon Protagoras 318 Dndash319 A

je mehr ihre Vorlaumlufigkeit die mit einem politischen Erfolg der Fun-damentalopposition ihr Ende finden sollte in Vergessenheit gerietAristoteles sollte an seinem Lehrer in der Sache manche Kritik uumlbenaber die Regeln der Institution Schule ihre Hinwendung zur Schrift-lichkeit und ihre Etablierung von Einzeldisziplinen (Pragmatien) ver-standen sich fuumlr ihn schon von selbst

Aristoteles (384ndash322) hatte als Siebzehnjaumlhriger seine makedo-nische Heimat verlassen um sich im Jahre 36766 der Akademie an-zuschlieszligen Da war Platon schon uumlber fuumlnfzig Jahre alt und hatteseine philosophische Arbeit dogmatisch abgeschlossen Da er in die-sen Tagen kurz vor seiner zweiten Reise nach Syrakus stand hat ervielleicht erst nach seiner Ruumlckkehr erkannt wer von nun an seinbegabtester Schuumller war Als Aristoteles einmal bei einer Vorlesungfehlte rief Platon verzweifelt aus raquoDer Geist ist nicht zugegenstumpf ist da die Houmlrerschaftlaquo ndash im Original ein ausgefeilter jambi-scher Trimeter ὁ νοῦς ἄπεσ|τιν κωφὸν τἀκ|ροατήριον3 Aristote-les wird sich dieses Lob seines Lehrers gewiss bei vielen Gelegenhei-ten verdient haben nicht zuletzt aber dank der Art wie er sich beiPlatons beruumlhmter Altersvorlesung raquoUumlber das Gutelaquo4 bewaumlhrte Alsdieser das Gute kosmologisch im zahlhaft bestimmten Einen verorte-te blieben die Houmlrer einer nach dem anderen enttaumluscht der Vor-lesung fern weil sie Ausfuumlhrungen uumlber seelische koumlrperliche undaumluszligere Guumlter im gemeinen Verstande erwartet hatten Auf diese Re-aktion der Houmlrer hatte Platon nur gewartet er wollte wissen wer mitseinem Vorstellungshorizont uumlber den der Menge hinausging undsich damit als genuiner Philosoph erwies Tatsaumlchlich harrten nurwenige Houmlrer bis zum Ende aus und empfingen den Ritterschlageines wahren Philosophen darunter natuumlrlich Aristoteles Dieser er-klaumlrte allerdings spaumlter er werde sich an das allgemein Anerkanntehalten statt aus dem Satz dass das Eine ein Gut sei herzuleiten dassdie Gerechtigkeit ein Gut sei5

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Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

3 Zitiert nach V Rose Aristotelis qui ferebantur librorum fragmenta collegit V RLeipzig 18701886 repr Stuttgart 1967 S 4284 Das Vorlesungsmanuskript ist im Original nicht erhalten Die zahlreichen Para-phrasen bei anderen Autoren hat W D Ross Aristotelis Fragmenta Oxford 1935S 111ndash120 gesammelt5 Aristoteles Eudemische Ethik 1218 a 15ndash22 Der Aristotelesschuumller Aristoxenosbestaumltigte diese Reaktion seines Lehrers in seinen ἁρμονικὰ στοιχεῖα (ed P Mar-quard Die harmonischen Fragmente des Aristoxenos Berlin 1868 S 30) und fuumlgtehinzu es empfehle sich zu Beginn einer Vorlesung sein Thema genau anzukuumlndigen

Im Uumlbrigen sparte auch Aristoteles nicht mit Lob auf seinenLehrer Im Rahmen seiner Inschrift auf einem Altar der Freundschaftden Eudemos von Kypros von einer Reise nach Athen zuruumlckgekehrtgestiftet hatte ruumlhmt Aristoteles Platon als Mann den schlechteMenschen nicht einmal loben duumlrften und als Mann der als Ersterunter den Menschen durch eigene Lebensfuumlhrung und vorgetrageneGruumlnde demonstriert habe dass der gute Mann ebendeshalb auch dergluumlckliche Mann ist Zwar taucht im uumlberlieferten Text der Distichenweder der Name Platons noch der des Eudemos auf Olympiodor ver-sichert aber Aristoteles habe in seiner Widmung an den Stifter Eude-mos ebendieses Lob auf Platon ausgesprochen6 Bei welchem Lehrerhaumltte Aristoteles auch besser lernen koumlnnen wie man wesentlicheaber oft uumlbersehene Fragen stellt wie man fuumlr andere uumlberraschendauf Zusammenhaumlnge und Widerspruumlche aufmerksam macht wieman auf den ersten Blick unerkannte Implikationen und Konsequen-zen herausarbeitet wie man unzureichend Bewiesenes als solchesidentifiziert wie man einmal erzielte Uumlbereinkuumlnfte stets im Ge-daumlchtnis praumlsent haumllt wie man seine Argumente durch Ruumlckfuumlhrungauf Gruumlnde und Ursachen als anerkannte Berufungsinstanzen uumlber-zeugend vortraumlgt

Zur gegenseitigen Wertschaumltzung aufgrund ihrer intellektuellenVorzuumlge gesellte sich die politische Uumlbereinstimmung beider Philoso-phen die neben der Sympathie fuumlr Makedonien die entschieden ab-lehnende Haltung gegenuumlber der attischen Demokratie betraf FuumlrPlaton fiel die Suche nach der gerechten Polis als dem hiesigen Kor-relat des absolut Guten mit entschiedener Demokratiekritik zusam-men Seine politische Leitidee bildete die Gerechtigkeit als Einheit derKardinaltugenden mit dem Ziel der Baumlndigung des sinnlichen Inte-resses (ἡδονήvoluptas) waumlhrend in seinen Augen die demokrati-schen Leitideen der Gleichheit und Freiheit lediglich auf eine Beschouml-nigung der voluptas als des wahren Bestimmungsgrundes der Mengehinausliefen Diesen von voluptas durchdrungenen Staat sah Platonals derart heillos verfahren an dass er anknuumlpfende Schritt-fuumlr-Schritt Reformen gar nicht erst in Betracht zog Stattdessen setzte

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Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

und wenn man Paradoxes vortragen wolle dies auch unmissverstaumlndlich zu sagen Sobliebe den Houmlrern die Enttaumluschung erspart wenn sie in Erwartung einer Belehrunguumlber Guumlter wie Reichtum Gesundheit Gluumlck am Ende lediglich die blasse Auskunfterhielten das Gute sei Eines6 Olympiodoros in Platonis Gorgiam XLI 10 ad p 515 C

Platons politische Opposition mit anderen Mitteln7 auf eine vomNullpunkt aus fehlerfrei in Gedanken durchkonstruierte Polis in derdie schon seit Kleisthenes bestehende Einheitlichkeit und Geschlos-senheit des Gemeinwesens gewahrt blieben aber konkrete demokra-tische Komponenten wie Rat und Volksversammlung Geschwore-nengericht und Flotte Panathenaumlen Dionysien und Eleusinien nichteinmal dem Namen nach vorkamen Bei dieser Konstellation gerietenSchule und Polis zwangslaumlufig in ein Verhaumlltnis sich gegenseitigenIgnorierens Die Schule fuumlhrte ihre Debatten als private Institutionohne Beruumlcksichtigung der Vorgaumlnge auf der Agoraacute und die Agoraacutemuumlhte sich mit den ihr eigenen Mitteln um eine Konsolidierung derdemokratischen Institutionen ohne die Einwaumlnde der Schule zurKenntnis zu nehmen Nun mag Platon einen offenbar unpolitischenweil von den Realitaumlten abgehobenen Ausgangspunkt gewaumlhlt unddamit seiner Weiterarbeit wie spaumlter die hermeneutisch argumentie-rende Kritik des Aristoteles zeigen sollte einen schlechten Dienst er-wiesen haben aber ihn leitete ohne jeden Zweifel ein handfestes Mo-tiv und eine daraus abgeleitete allgemeine bis in unsere Tage zubeherzigende Grundeinsicht

Platons Schluumlsselerlebnis war das Todesurteil gegen Sokratesdas eine Mehrheit unter fuumlnfhundert Geschworenen faumlllte obwohlsich Sokrates in allen Anklagepunkten ganz offenkundig als nichtschuldig erwiesen hatte Moumlglich wurde diese Gerichtsentscheidungweil es den Anklaumlgern wie routinierten Demagogen gelang mit ihrenUnwahrheiten eine ignorante Menge auf ihre Seite zu ziehen In derTat hatten sie wie Sokrates gleich im zweiten Satz der Apologie aus-ruft nicht ein einzigen wahren Satz vorgetragen (ἀληθές γε hellip οὐ-δὲν εἰρήκασιν) Der offenbar unausrottbaren Moumlglichkeit dass De-magogen gerade mit der Unwahrheit Mehrheiten fuumlr sich gewinnenkoumlnnen galt zeitlebens Platons kritische Aufmerksamkeit Tatort wa-ren nicht nur die Geschworenengerichte sondern nicht minder dieVolksversammlung in der interessierte Redner Mehrheitsbeschluumlsse(ψηφίσματα) herbeifuumlhrten mit denen sie bestehende Gesetze un-terliefen8 Auch fuumlr dieses Fehlverhalten gab es eine Schluumlsselszeneals naumlmlich im Zuge des Arginusenprozesses ein Mann aus der auf-gehetzten Menge rief es sei eine Ungeheuerlichkeit wenn man denDemos nicht tun lasse was er wolle und gleich darauf durchgesetzt

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Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

7 Platon VII Brief 325 Endash326 A8 Ebd 325 DndashE

wurde dass die angeklagten Seeoffiziere en bloc verurteilt wurdenund nicht wie es das Gesetz verlangte jeder einzeln Der Einzigeder sich diesem rechtswidrigen Beschluss widersetzte war Sokrates9

Dass dieser Staat ausgerechnet seinen gerechtesten Buumlrger zumTode verurteilt hatte hat Platon nie verziehen Da indes die aus-schlaggebende Mehrheit der Geschworenen ihr Urteil wohl kaumfuumlr ungerecht hielt sah Platon sich verpflichtet allen ebenso gesinn-ten Athenern vorzutragen was an und fuumlr sich Gerechtigkeit wirklichist und zwar in der Politeia aus dem Munde eben des Sokrates Danun der Staat fuumlr die Gerechtigkeit der groumlszligere und besser sichtbareBewaumlhrungsort ist als der Einzelne schlug Sokrates vor den Begriffvon Gerechtigkeit zunaumlchst im Blick auf den Staat zu entwickeln (Po-liteia 368 E 472 B) Die Frage nach der Gerechtigkeit konkretisiertesich auf diese Weise zur Frage nach dem gerechten Staat Folgerichtigsetzte Platon im Geist des Sokrates der attischen Demokratie mitihrem falschen Machtwillen einen auf reiner Vernunft beruhendenIdealstaat entgegen von dessen Vorzuumlgen er vielleicht schon dienaumlchste Generation der Athener zu uumlberzeugen hoffte10 anderenfallskoumlnne man nur noch auf einen Gluumlcksschlag von auszligen (τύχη) set-zen oder dass sich dank goumlttlicher Fuumlgung ein Staatenlenker mit derPhilosophie befasse11 Die Befuumlrchtung der Philosoph koumlnne in seinereigenen Stadt wenn uumlberhaupt dann nur dank goumlttlicher Fuumlgung po-litisch taumltig werden (Politeia 592 A) wollte Platon allerdings fuumlr sichnicht als Entschuldigung gelten lassen im Gegenteil Platon ver-sicherte er sei eigens nach Syrakus gereist damit man ihm nicht vor-halten koumlnne er sei nur im Felde der Theorie stark ziehe sich aberzuruumlck wenn es an die praktische Ausfuumlhrung gehe (VII Brief328 C) Vielmehr war fuumlr ihn der gerechte Staat Inhalt philosophi-scher Reflexion mit dem Ziel seiner Verwirklichung

Im idealen Staat darf die Entscheidungsbefugnis nur bei Buumlrgernliegen die allein durch philosophisch uumlberpruumlfte Qualifikation undnicht durch Loswahl in ihr Amt gelangt sind Nur wer die Houmlhle derdie Menge auszeichnenden Kurzsichtigkeit verlassen und dank uumlber-legener Vernuumlnftigkeit die Idee des Guten geschaut hat vermag pri-vat wie oumlffentlich vernuumlnftig zu handeln12 eben seitdem er sich von

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Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

9 Xenophon Hellenika 1 7 12ndash16 Vgl unten Anm 38 S 137 und Anm 17 S 14810 Platon Politeia 315 CndashD11 Platon VII Brief 326 A12 Platon Politeia 517 C

der Aussageabsicht der drei beruumlhmten Gleichnisse hat uumlberzeugenlassen dass naumlmlich das Gerechte das Gute ist und nicht das sinnlicheInteresse der auf den Schein fixierten Menge13 Entsprechend heiszligt esin Platons 8 Brief (355 A) Fuumlr besonnene Menschen ist Gott das Ge-setz fuumlr die unvernuumlnftigen ist es die Lust Das Gute hat also densel-ben Stellenwert wie Gott und bildet wie dieser insofern den Welt-grund als es weil jenseits (ἐπέκεινα) des daseienden Universumsangesiedelt im Rang noch uumlber dieses hinausragt und sich heilsambewaumlhrt indem es dank seinem Sproumlssling dem Sonnenlicht Orien-tierung durch Sichtbarkeit der Dinge sowie Leben Wachstum undGedeihen moumlglich macht14 Die Ausrichtung amGuten als Weltgrunderhebt das Gerechte zur unbedingten Handlungsnorm fordert abernicht nur sondern gewaumlhrt in einem damit den Buumlrgern auch wahr-haft praktischen Nutzen naumlmlich das Leben im sittlichen Gesetzes-staat ndash die Frucht eben der Herrschaft der Gerechtigkeit15 Damit istdie Frage zu deren Beantwortung Sokrates die drei beruumlhmtenGleichnisse vortrug naumlmlich ob Lust oder das Gerechte das wahreGut ist beantwortet und die implizit gegebene Antwort die auf derUnterscheidung der vier Erkenntnisstufen im Liniengleichnis beruhtbesagt dass die beschraumlnkten intellektuellen Moumlglichkeiten der Men-ge zu dieser Einsicht nicht ausreichen diese also fuumlglich zu entmuumln-digen ist schon um den Demagogen ein leichtglaumlubiges Publikum zuentziehen

Der Form nach stand bei aller Reserve Platon durchaus in derSchuld der Demokraten Sie waren es die unter Kleisthenes den atti-schen Staat als rational verwalteten Einheitsstaat geschaffen hattender nicht mehr nach Staumlmmen Sippen und oumlrtlich bedingten Loyali-taumlten fragmentiert war Unter Phylen verstand Kleisthenes nichtmehr den Oberbegriff vertikal strukturierter Personenverbaumlnde son-dern horizontal strukturierter einheitlich verwalteter Bezirke nachdem Territorialprinzip Das Volk der Athener (ὁ τῶν Ἀθηναίων δῆ-μος) trat an die Stelle der Klientel wie in Rom der populus Romanusan die Stelle der gentes Platon musste also das Prinzip staatlicherEinheit selbst nicht mehr erfinden wohl aber dem Inhalt nach fuumlr alleZukunft beschlieszligen dass nicht nur dieser sondern jeder Staat sei-nem Wesen gemaumlszlig in der Pflicht sei sich als raquoWirklichkeit der sitt-

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Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

13 Ebd 505 B14 Ebd 509 AndashB15 Ebd 505 A

lichen Ideelaquo (Hegel) zu bewaumlhren Uumlber diesen Beschluss hinausdachte Platon noch einen Schritt weiter denn es konnte nicht ge-nuumlgen einen Staat philosophischer Sittlichkeit lediglich zu gruumlndener musste auch erhalten werden ndash durch ein Kollegium integrer Ge-setzeshuumlter die das muumlhsam Erreichte unveraumlndert zu bewahren hat-ten16 Diese Position waumlre etwa im Arginusenprozess unbesetzt ge-wesen haumltte Sokrates sie nicht eingenommen und auf Einhaltungder Gesetze bestanden

Ebenso wie die vorgegebene Staatlichkeit hat auch das mit dieserverbundene demokratische System der Rechtspflege das das archai-sche Selbsthilfeprinzip abloumlste Eingang in Platons Philosophie gefun-den Die archaische Selbsthilfe bestand darin dass die durch einenUumlbergriff beleidigte Sippe der Sippe des Taumlters die Fehde ankuumlndigte(πρόρρησις) deren Beendigung durch Abschluss eines Suumlhnevertra-ges (αἴδεσις) erfolgte Dass bei dieser Form der Konfliktbeilegungdurch Aussoumlhnung die staumlrkere Sippe in der Regel ihre Loumlsungsvor-stellungen durchsetzte liegt auf der Hand Der Schritt fuumlr Schritterfolgte Gerichtszwang durch den der Staat erst allmaumlhlich das Mo-nopol der Rechtspflege uumlbernahm hatte zum Ziel dass anstelle zufaumll-liger Machtverhaumlltnisse die Systematik von Recht und Gesetz imStreit der Parteien entscheidet17 Diesen Sinn der nacharchaischenRechtsprechung hat Ovid mit dem Hexameter zusammengefasstinde datae leges ne firmior omnia posset (Fasten 3 279) Im Gor-gias-Dialog haumllt nun Platon der Rhetorik vor sie sei der methodischeVersuch gerade diese Errungenschaft der Rechtsprechung ruumlckgaumln-gig zu machen Kallikles ein Anhaumlnger des Rhetoriklehrers Gorgiasspricht unverhohlen aus dass Herakles voumlllig im Recht war Geryonesseine Rinder die er weder gekauft noch zum Geschenk erhalten hatteohne Bedenken zu stehlen da das von Natur Gerechte darin bestehedass alles Eigentum der Schwaumlcheren in Wahrheit dem Staumlrkeren ge-houmlre18 Sokrates haumllt Kallikles entgegen dass wahre Uumlberlegenheitnicht im Mehr-haben-Wollen sondern im Sittlich-besser-Sein be-stehe und beruft sich damit ebenso wie die Rechtsprechung auf ein

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Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

16 Platon Politeia 484 B Nomoi 752 DndashE 754 Dndash755 C 770 AndashD 847 AndashD 959 Dndash961 CIm Abschnitt zu raquoDemetrios Phalereus ndash oder die vierzehnte Wendelaquo wird diese pla-tonische Vorgabe noch eine wesentliche Rolle spielen17 Zu diesen nicht leicht zu rekonstruierenden Prozessen sei auf die im Literaturver-zeichnis genannten Aufsaumltze von E Ruschenbusch verwiesen18 Platon Gorgias 484 BndashC

systematisches Kriterium um die individuelle Machtperspektive inSchranken zu weisen Dass Sokrates bei seinem Gespraumlchspartnermit dieser Argumentation nicht durchdringt ist allein der Borniert-heit des Kallikles zuzuschreiben

Es ist nicht zu leugnen dass Platon ebenso wie der Oligarch Kal-likles den Besseren das Wort redete aber unter den Besseren wirklichBessere verstand die den Staat als sublimierte Oligarchie tragen soll-ten Von dieser Staatslehre gilt es also zu uumlberzeugen und das ver-suchte Platon auch ganz im Sinne des Sokrates zunaumlchst durch sach-liche Gespraumlchsfuumlhrung oder Dialektik (διαλέγεσθαι) die mitkurzen Saumltzen Rechenschaft fordert und gewaumlhrt Sokrates mochtekeine langen Reden die geeignet sind das Ausgangsthema nach eini-ger Zeit aus den Augen zu verlieren19 Auch mochte es Sokrates garnicht wenn Unterredner sich streitsuumlchtig (ἐρίζειν) an Worten fest-bissen statt am intendierten Inhalt20 Das richtet sich gegen Protago-ras der als Erfinder der Eristik Wortklauberei betrieb statt sich aufdie Bedeutung des Sachverhalts zu konzentrieren21 Insgesamt ist diesokratische Version von Dialektik ein Gegenentwurf zur raquosogenann-ten Kunst der Rhetoriklaquo22 die lediglich den Uumlberredungserfolg zumZiel hat und nicht etwa wohlbegruumlndete Wahrheiten herausarbeitenwill Nun musste Platon etwa im Gespraumlch mit Kallikles im Gorgiasoder mit Thrasymachos im ersten Buch der Politeia erkennen dassgerade seine Sachlichkeit bei Boumlswilligen auf taube Ohren stoumlszligt Erentwickelte daher noch in der Politeia einen uumlber Sokrates hinaus-gehenden Begriff von Dialektik die nicht diskutiert sondern dekre-tiert nachdem diese durch reines auf das Gespraumlch mit sich selbstkonzentriertes Durchdenken des Wesentlichen frei von sinnlichenEindruumlcken zum Ziel der Erkenntnis des Guten gelangt ist (532 AndashB) Weil somit Dialektik zustaumlndig wird fuumlr die Vergegenwaumlrtigungdes Guten in der politischen Welt darf auch nur der ausgewieseneDialektiker Staatenlenker werden (534 CndashD) der auf seinen Einsich-ten beharrt auch wenn ihm seine Mitbuumlrger die Zustimmung ver-weigern Gegen vordergruumlndige Rechthaberei von wem immer sieausgeht verteidigt Platon das Prinzip vernuumlnftiger Argumentationgegen die Kraumlfte ihrer Blockierung

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Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

19 Platon Protagoras 336 AndashC Gorgias 474 B20 Platon Politeia 454 A21 Diogenes Laertios 9 5222 Platon Gorgias 448 D

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Originalausgabe

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Vorwort

Was Sokrates durch seine Gespraumlche auf dem Markt vorgelebt hattenahmen Platon und Aristoteles in ihren Schulen kongenial auf als siedas menschliche Handeln in der Polis in den Mittelpunkt ihrer Auf-merksamkeit ruumlckten und auf diese Weise zu Gruumlndungsvaumltern derpraktischen Philosophie wurden Das wissenschaftstheoretische Er-gebnis ihrer Arbeit ist die Konstituierung der philosophia practicauniversalis deren drei Disziplinen Ethik Politik und Oumlkonomik un-ter verschiedenen Aspekten das Ziel des bene beateque vivere verfol-gen Diese Trias verkoumlrpert ein Leitbild das wenn auch auf unver-meidlichen Umwegen bis in unsere Tage wirksam geblieben ist

Ihre vitale Kontinuitaumlt verdankt dieses System der praktischenPhilosophie demUmstand dass neben Gemeinsamkeiten seiner aumlltes-ten Verfechter auch der Streit an seiner Wiege stand Platon argu-mentierte aus raquoreiner Vernunftlaquo ohne den Phaumlnomenen eigene Ver-nuumlnftigkeit zuzugestehen Aristoteles argumentierte hermeneutischindem er pruumlfte welche Vernunftgruumlnde in dem was ist oder ge-schieht schon enthalten sind Die Auseinandersetzungen als Folgedieser Differenz konnten der Qualitaumlt des Ergebnisses nur foumlrderlichsein Andererseits schloss der fundamentale Unterschied im metho-dischen Vorgehen der beiden Gruumlndungsvaumlter Gemeinsamkeiten inden politischen Praumlferenzen keineswegs aus Beide hegten eine Aver-sion gegen Athens demokratisches Lager beide sympathisierten mitPhilipp vonMakedonien Beide wurden schlieszliglich aber auch gemein-sam von den alten Stoikern fuumlr laumlngere Zeit in den Hintergrund ge-draumlngt als es nach dem Sturz des Demetrios Phalereus im Interessedes Burgfriedens ratsam schien dass die Philosophie bis auf weiteresden Staat verschonte also auf dessen ndash sei es kritische oder sei esermunternde ndash Beeinflussung verzichtete Implizit hielten die sto-ischen Nachfolger Platon und Aristoteles vor ihre einst in Akademieund Lykeion vorgetragene praktische Philosophie sei keine Antwort

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mehr auf die Problemlage der im Zeichen des Hellenismus gewandel-ten Polis

Waumlhrend nun das Setzen der alten Stoiker auf innere Auto-nomie ndash Ausdruck einer mehr oder weniger erzwungenen Sezessionaus der Polis ndash ebendeshalb historisch zu erklaumlren ist sind Platon undAristoteles von Zweifeln an der Allgemeinheit der Grundsaumltze ihrerpraktischen Philosophie laumlngst freigesprochen Dank dieser spaumltes-tens seit Cicero erwirkten Rehabilitation sind Platon und Aristotelesganz im Sinne ihrer urspruumlnglichen Intentionen bis in die moderneWelt einflussreich geblieben und konnten etwa Hegels philosophi-scher Begleitung der Konstituierung des modernen Rechtsstaats in-spirierend zur Seite stehen ndash gleichsam zur Selbstvergewisserung dereinen Sattelzeit durch eine andere Hegels Vorgehen sollte sich erneutbei gleichzeitigem Ruumlckgriff auf Platon und Aristoteles wiederholenals im Zuge der geistigen Gruumlndung der Bundesrepublik nach demZweiten Weltkrieg bewusst wurde dass eine Wiederaufnahme deszwischenzeitlich verworfenen Hegelschen Plaumldoyers fuumlr den Rechts-staat ein Gebot der Stunde sei Die faumlllige Vergegenwaumlrtigung Hegelsuumlbernahm initiierend Joachim Ritter und ausweitend lenkten spaumlterseine Schuumller aus dem raquoCollegium Philosophicumlaquo den Blick auf dieunvermeidlichen von Ethik Politik und Oumlkonomik zu beantworten-den Anschlussprobleme Im Zuge der Anknuumlpfung an die Traditionder praktischen Philosophie durch J Ritter erfuhren Platon und Aris-toteles unter Vermittlung Hegels erneut in einem essenziellen Ver-fahren ihre ehrenvolle Einberufung in den Zeugenstand Wenn nundieses Buch sich anschickt die Grundzuumlge dieses modernen Prozessessamt seiner auf Platon und Aristoteles zuruumlckgehenden Vorgeschich-te nachzuzeichnen so muss es sich bei einer in mehr als zweitausendJahren angehaumluften Stofffuumllle zwangslaumlufig auf die Hervorhebungdes Wesentlichen beschraumlnken Indes tut das damit eingestandeneUumlberspringen des weniger Wesentlichen der Intention keinen Ab-bruch zur Selbstvergewisserung der praktischen Philosophie bei-zutragen durch Ruumlckbesinnung auf ihren systematischen Ursprungder mit der Einsicht in die Zusammengehoumlrigkeit von Ethik Politikund Oumlkonomik zusammenfaumlllt

Ein Buch wird in der Regel nicht ohne konsultierende Gespraumlchemit befreundeten Experten geschrieben Das ist auch in diesem Fallgeschehen Fuumlr ihre Bereitschaft sich jederzeit auf die Eroumlrterungaufkommender Probleme einzulassen oder Bedenken zu zerstreuendankt der Autor herzlich den Professoren Dr Guumlnther Bien Dr Rai-

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Vorwort

ner Henke und Dr Dr Karl Homann Zusaumltzlichen Dank schuldet derAutor Professor Henke der freundlicherweise das Korrekturlesen desManuskripts auf sich genommen hat

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Vorwort

Inhalt

Vorwort 5

Einleitung ndash zur Erlaumluterung der These 11

Hermeneutikgeleitete Chronik der Wege und Umwege derphilosophia practica universalis von den Anfaumlngen bis in dieGegenwart 19Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie 21Schluumlsse aus dem politischen Scheitern der Platonschuumller 35Die Vorarbeiten des Aristoteles fuumlr die Politik 54Die philosophischen Pflichten des Tages gegenuumlber dengriechischen Staumldten 62Die ideale Stadt des Aristoteles 72Das Ende der Freundschaft zwischen Alexander und Aristoteles 84Die Bedeutung der elf Wenden in der Athenaion Politeia ndashquid facti 100Die Legitimitaumlt der attischen Demokratie ndash quid iuris 107Das Ungluumlcksjahr 322 117Antipatros und Phokion ndash oder die zwoumllfte Wende (322) 121Kassandros und Polyperchon ndash oder die dreizehnte Wende(319) 125Demetrios Phalereus ndash oder die vierzehnte Wende (317) 128Die Sezession der Philosophie nach dem Sturz des DemetriosPhalereus (307) 146Demetrios Poliorketes und der Herrscherkult ndash oder diefuumlnfzehnte Wende (307) 163

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Die Tyrannei des Lachares ndash oder die sechzehnte Wende(um 300) 171Die Ruumlckkehr des Demetrios Poliorketes ndashoder die siebzehnte Wende (295) 174Der Siegeszug des Herrscherkults 187Die stoische Goumltterlehre als Antwort auf den Herrscherkult 193Lactantius uumlber die heidnische Entlastung der Goumltter 208Die wiederhergestellte Autoritaumlt Homers 214Platon und Chrysipp im Streit uumlber Homers theologia 227Die tragische Katharsis und die stoische Lehre von denAffekten 239Theodizee und Geschichtsphilosophie 258Die quaestio finita als Pruumlfstein originalitaumltsgerechterRezeption 276Hegels Ruumlckgriff auf die Lehre vom sittlichen Staat bei Platonund den Tragikern 282Aristoteles als Zeuge der praktischen Philosophie Hegels 288Joachim Ritters Erneuerung der Hegelschen Platon- undAristotelesrezeption 314Politik und Ethik als Bauglieder der philosophia practicauniversalis im Blickpunkt der Ritterschen MitteGuumlnther Bien Hermann Luumlbbe Odo Marquard 328Die Oumlkonomik oder der von der Ritterschen Mitte gesetzteSchlussstein der philosophia practica universalisKarl Homann 343

Verwendete Sigla 371

Literaturverzeichnis 372

Index nominum et rerum 383

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Inhalt

Einleitung ndash zur Erlaumluterung der These

Platons Akademie und das Lykeion des Aristoteles lagen zwar vor denMauern aber deshalb war die Stadt der Schule keineswegs gleichguumll-tig im Gegenteil die Stadt erfreute sich jederzeit intensiver Auf-merksamkeit durch die Schule Vorgegeben war diese Haltung durchden gemeinsamen Ahnherren Sokrates raquoden Landschaft und Baumlumewenig lehrten wohl aber die Menschen in der Stadtlaquo1 Buumlndig be-staumltigt das auf seine Weise Cicero Socrates autem primus philoso-phiam devocavit e caelo et in urbibus conlocavit2 Noch im Gefaumlngnisunterstreicht Sokrates er koumlnne unmoumlglich ohne Einverstaumlndnis derAthener fliehen wo er doch so bewusst und ausdruumlcklich sein ganzesLeben in ihrer Stadt verbracht habe dass er sie auszliger zu Feldzuumlgennur ein einziges Mal mit einer Festgesandtschaft zu den IsthmischenSpielen verlassen habe3 Sokrates war uumlberzeugt ein gelungenes Le-ben habe er nur als Buumlrger der Stadt Athen fuumlhren koumlnnen und mitdieser Bindung an die Polis identifizierten sich Platon und Aristotelesnicht minder

Das Verhaumlltnis von Schule und Stadt war laumlnger als ein halbesJahrhundert gepraumlgt von einer auf Unabhaumlngigkeit beider Seiten be-ruhenden Auseinandersetzung die im Jahre 322 zu Ende ging alswenige Wochen vor dem Tod des Aristoteles Athen mit der Nieder-lage im Lamischen Krieg unwiederbringlich die politische Autonomieeinbuumlszligte Wer nun die Philosophie der Epoche bis zu diesem Wende-jahr betrachtet dem werden unvermeidlich die nicht zu leugnendenDifferenzen zwischen Platon und Aristoteles ins Auge fallen Werjedoch Platon und Aristoteles zusammen gegen die spaumlter von derStoa gepraumlgte Epoche abhebt wird ihnen ebenso unvermeidlich alsganz wesentliches gemeinsames Merkmal den Umstand zuordnen

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1 Platon Phaidros 230 D2 Cicero Tusculanae disputationes 5 103 Platon Kriton 52 B

dass im Mittelpunkt ihrer philosophischen Aufmerksamkeit nicht dieSchule selbst sondern die politischeWelt auszligerhalb der Schule standIhre theoretische Arbeit endete nicht esoterisch mit Saumltzen zur inne-ren Sittlichkeit der Schule vielmehr uumlberschritt sie diese Schrankeund widmete sich eingehend den sittlichen Normen der Stadt ohneuumlbrigens daruumlber die Ordnung des fuumlr diese Normen keineswegsgleichguumlltigen Makrokosmos zu vernachlaumlssigen Ihre Politik ist in-stitutionelle Ethik und umgekehrt setzt ihre Ethik auf einen Staatder die Buumlrger tugendhaft macht

Bei weiter ausholendem Hinsehen erweist sich die vielbeschwo-rene Kritik des Aristoteles an Platon eher als dessen staumlndiges Be-muumlhen das gemeinsame Ziel den sittlichen Staat vor selbstverschul-detem Scheitern zu retten Aristoteles war nicht Gegner Platonssondern dessen dankbarer Erbe der der geistigen Hinterlassenschaftseines Lehrers das Uumlberleben zu sichern suchte In dieser Absicht aumln-derte er das methodische Vorgehen von Grund auf Er schrieb denBuumlrgern nicht mehr vor wie sie sein sollten sondern registrierte her-meneutisch wie sie sind um zu ergruumlnden was in diesem Ist-Bestandan vernuumlnftiger Vorleistung als dasWesentliche immer schon enthal-ten ist Als Hermeneutik lehrt praktische Philosophie dass die unsitt-liche Stadt sich nicht im Widerspruch zu einer aumluszligeren Instanz son-dern zu ihr selbst befindet Folgerichtig sah Aristoteles das Idealzieldes Philosophen auch nicht im Amt des Herrschers der aufgrundabsolutenWissens die Lebensordnung diktiert Vielmehr war er uumlber-zeugt sein Amt angemessen auszuuumlben wenn er darauf setzte zuwerben zu beraten und mit Argumenten zu uumlberzeugen und daseben nicht als philosophischer Herrscher sondern als Lehrer seinerSchuumller als Berater Philipps II als Prinzenerzieher Alexanders alsErmunterer der Buumlrger im Einklang mit Sitte Recht und Anstandihr Gluumlck zu suchen Aristoteles sah bessere Chancen fuumlr die plato-nische Substanz wenn er diese auf der institutionellen Basis der vitacontemplativa als bestimmter Lebensform neben und nicht uumlber dervita activa zu wahren suchte um die aktiv Taumltigen aus der damitimmer noch bestehenden Distanz vermoumlge hermeneutischen Vor-gehens daruumlber aufzuklaumlren dass die ethische Lebensfuumlhrung gelingtwenn sie im Einklang mit den bestehenden Sitten erfolgt

In der Politik des Aristoteles ist somit Platons Vernunftstaatdurchaus praumlsent allerdings eben nicht in Gestalt radikaler System-kritik sondern unter dem Oberbegriff einer raquoPolitielaquo den er in auf-klaumlrender und beratender Absicht ins Spiel bringt Im Blick auf aktu-

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Einleitung ndash zur Erlaumluterung der These

elle Probleme der Polis versteht Aristoteles die Politie zunaumlchst alsVerfassung die die Ursachen der oft blutigen Dauerkonflikte zwi-schen Oligarchen und Demokraten aufzuheben verspricht daruumlberhinaus entwickelt Aristoteles eine an Platons Idealstaat erinnerndezweite Version von Politie und zwar im Blick auf die Planungen Phi-lipps II mit einem panhellenischen Heer die Aumlgaumlis in ein makedo-nisches Meer zu verwandeln und die Jonier in Kleinasien von derPerserherrschaft zu befreien Die erstere Politie der Buumlcher IV bis VIbesteht in einem auf Aussoumlhnung der Konfliktparteien zielenden Ver-fassungsentwurf und entsprach somit der zum Schlagwort erhobenenWunschvorstellung der Zeit naumlmlich der inneren Eintracht (ὁμό-νοια) Die andere Politie in Buch VII enthielt die Grundlegung derLebensordnung griechischer Groszligbuumlrger die sich im befreiten Jonienansiedeln sollten Auch diese Verfassung kam zumindest indirekteiner Wunschvorstellung der Zeit entgegen naumlmlich dem Wunschnach gemeinsamem Frieden (κοινὴ εἰρήνη) der griechischen Staumldteuntereinander denn ehemalige Feinde koumlnnten umso leichter Friedenschlieszligen und Freunde werden wenn sie sich als Eroberer zum Kampfgegen einen gemeinsamen Gegner verbuumlnden Vorrangig angespro-chen sollten sich allerdings Groszligbuumlrger fuumlhlen die mit ihrem Lebenin den demokratischen Staumldten Griechenlands unzufrieden warenund einer auf oligarchischen Idealen gegruumlndeten Polis den Vorzuggaben

Obwohl Aristoteles dank seiner hermeneutischen Vorgehens-weise keineswegs an den Adressaten vorbeiredete sollte sich schonbald abzeichnen dass aus je verschiedenen Gruumlnden sowohl die prag-matische als auch die ideale Politie abgewiesen wurden Aristoteleswar daruumlber nicht entmutigt sondern verfolgte seinen hermeneuti-schen Ansatz nur noch strikter in dem was ist das Wesentliche zubegreifen Das was ist also das politisch Dominierende war nun un-bestritten die demokratische Verfassung der Athener denen dieSchule ndash und das durchaus auch den Tatsachen zuwider ndash die Ver-nachlaumlssigung ihrer eigenen Gesetze gleichsam als Erbuumlbel immerwieder vorgehalten hatte Die raquoVerfassung der Athenerlaquo (Ἀθηναίωνπολιτεία oder kurz AP) nimmt und sei es unausgesprochen dieeinst auch von Aristoteles selbst mitgetragene Kritik der Schule zu-ruumlck und bedeutet dieser implizit dass sie sich selbst um Glaub-wuumlrdigkeit und Uumlberzeugungskraft bringt wenn sie offen am Tageliegende Sachverhalte systematisch in Abrede stellt Die AP ist dieAnerkennung der Tatsache dass den Athener Demokraten im vierten

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Einleitung ndash zur Erlaumluterung der These

Jahrhundert die Vollendung eines widerspruchsfrei verfassten Geset-zesstaates gelungen ist der im Uumlbrigen nicht von einem kuumlnstlichgesetzten Nullpunkt ausgegangen ist sondern hermeneutisch rekon-struierbar sich in organischem Wachstum seit Ion und Theseus in elfWenden entwickelt hat Der Ton der AP liegt nicht darauf dass kom-promissbereite Philosophie die Welt vor der ihr sonst eigenen Radi-kalitaumlt verschonen will sondern auf der im theoretischen Zusehengewonnenen Einsicht dass die Stadt gerade das philosophische Ur-anliegen der Gesetzestreue immer schon als legitimierendes Prinzipihres Handelns befolgt hat Die hermeneutische Zirkelstruktur be-steht also darin dass die Philosophie der Stadt dies als das an ihrWesentliche erklaumlrt was sie selbst hervorgebracht hat

Der Einfluss der Akademie und des Lykeion endete aber keines-wegs abrupt mit dem Jahre 322 als die Athener ihre Souveraumlnitaumlteinbuumlszligten und damit die unumgehbare Voraussetzung einer auf Sitt-lichkeit bestehenden politischen Theorie Dank makedonischer Un-terstuumltzung erzielten die Schulen durch Phokion und Demetrios Pha-lereus in den folgenden Jahren sogar weitaus mehr politischeWirkung als die beiden Gruumlnder zu ihren Lebzeiten Ebendiesem Er-folg hatten indes im Jahre 307 die Schulen den entscheidenden Ruumlck-schlag zu verdanken als der aus ihren Reihen hervorgegangeneDemetrios Phalereus nach zehnjaumlhriger Herrschaft aus der Stadt ver-trieben wurde Rigide Entmuumlndigung der Buumlrger bei eigenem Nar-zissmus samt Selbstbereicherung brachten nicht nur Demetrios selbstum jeden Kredit sondern auch die Philosophie der Akademie und desLykeion nach deren Vorgaben er als ihr Angehoumlriger in Athen regierthatte Die empoumlrten Demokraten reagierten mit der Androhung derTodesstrafe und Verbannung der Philosophen und unter Philoso-phen verstanden sie unterschiedslos alle Platoniker und AristotelikerMit dieser harschen Reaktion laumluteten die Athener zugleich die Ge-burtsstunde der Stoiker ein die gleichsam in ihrer Gruumlndungsurkun-de festschrieben dass ihre Ethik die Sittlichkeit der Schule und nichtdie Sittlichkeit der Stadt zum Gegenstand habe Die Stoiker erkann-ten dass sie die Philosophie unter Wahrung ihrer Autonomie nurfortfuumlhren konnten wenn sie der Stadt versicherten dass sie andersals Platon und Aristoteles ihre Gesetzgebung ausschlieszliglich fuumlr ihreSchule als geschlossene secta erlieszligen Die erklaumlrtermaszligen der Poliszugewandte Philosophie die Platon und Aristoteles gemeinsam ver-treten hatten war ihnen nunmehr gemeinsam zum Verhaumlngnis ge-worden

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Einleitung ndash zur Erlaumluterung der These

Unter dem Druck der politischen Umstaumlnde beschlossen dieStoiker ihre Sezession und erklaumlrten die Beschaumlftigung mit der Polisals einst zentrales Thema der Philosophie fuumlr nichtig Daruumlber hinausdistanzierten sie sich ebenfalls noch in manch anderem Punkt vonPlaton und Aristoteles wenn sie etwa im Felde der theologia und derAffektlehre Theoreme vortrugen die erst angesichts der Lage seit 307auf die Tagesordnung gerieten So antworteten sie auf den Herrscher-kult der implizit die unsterblichen Goumltter zu zweitrangigen Groumlszligenherabstufte mit der providentia-Lehre um zu demonstrieren wessenFuumlrsorge in Wahrheit die Menschheit ihr Uumlberleben zu verdankenhabe Da aber die Goumltter bei rehabilitierender Bestaumltigung ihrer ndashden kultisch verehrten Diadochen uumlberlegenen ndash Allmacht zwingendauch fuumlr alle Uumlbel in derWelt verantwortlich waren musste Chrysippden Streit zwischen Homer und Platon ob die Goumltter fuumlr alles odernur fuumlr das Gute zustaumlndig seien erneut austragen Es war also letzt-lich das aumluszligere Phaumlnomen des Herrscherkultes der diesen Streit un-ter den Gelehrten ausloumlste Aumlhnlich lagen die Dinge beim Problemder Affekte Der dank der politischen Ereignisse des Jahres 307 er-zwungene Ruumlckzug der Philosophie auf sich selbst war nur unter derBedingung entschieden abschirmender Selbstbehauptung nach auszligenertraumlglich Dieselbe Bedingung der Autonomie musste aber auch nachinnen erfuumlllt sein und zwar gegen ein ganzes Buumlndel von denkbarenAffekten die bei Verzicht auf ihre Einhegung die muumlhsam nach au-szligen behauptete Souveraumlnitaumlt wieder untergraben haumltten Folgerichtigwar die Affektlosigkeit (ἀπάθεια) das zentrale Thema der stoischenEthik ndash mit dem Ziel der Wahrung der inneren Autonomie Die Stoi-ker konnten daher nicht das Risiko eingehen die Behandlung derAffekte wie Aristoteles wollte eher beilaumlufig den Nachwirkungender von der tragischen Dichtung ausgeloumlsten Katharsis zu uumlberlassenStattdessen mussten die Stoiker darauf bedacht sein eine spezielleTherapie fuumlr den Fall zu entwickeln dass wie zu befuumlrchten denAffekten katechismuswidrig hier und da eben doch ein Ausbruch ge-lingen sollte

Obwohl die Stoiker als die neuen Meinungsfuumlhrer Platon undAristoteles fuumlr Jahrhunderte in den Hintergrund zu draumlngen ver-mochten mussten sie am Ende doch erleben dass die beiden Arche-geten im Status von unangefochtenen Klassikern ihre Renaissanceerlebten Zwar sicherten die Stoiker durch ihren weisen Ruumlckzug derphilosophia perennis die Kontinuitaumlt duumlrften aber am Ende aus dem-selben Grund dem sie ihr Entstehen verdankten wieder von Platon

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Einleitung ndash zur Erlaumluterung der These

und Aristoteles in den Schatten gestellt worden sein Denn Lehrerwie Schuumller verstanden anders als die Stoiker unter Schule stets eineInstanz der systematischen Beschaumlftigung gerade auch mit der Au-szligenwelt Dieser erweiterte Argumentbereich konnte dem Kreis umPlaton und Aristoteles schlieszliglich nicht mehr schaden als es keinedirekt angesprochenen Zeitgenossen mehr gab die sich durch ihreLehren und das Handeln ihrer Schuumller provoziert fuumlhlten Von sol-chen Gefuumlhlen unberuumlhrt suchen hingegen spaumltere Generationen beiPlaton und Aristoteles gerade wegen ihres umfassenden Blickfeldesnach Belehrung und gegebenenfalls Bestaumltigung eigener Theorienund das sowohl im Grundsaumltzlichen als auch in Einzelfragen

Platons Philosophie nahm ihren Ausgang von der ganz be-stimmten Frage der Apologie wie Sokrates der gerechteste BuumlrgerAthens gegen die Asebieklage des Anytos Meletos und Lykon zuverteidigen sei In den Kategorien der Theorie der Rhetorik haumltte die-se Frage als eine quaestio finita gegolten die im Verfolg eine Fuumlllevon sich anschlieszligenden quaestiones infinitae ausloumlsen sollte wienaumlmlich ein gerechter Staat moumlglich sei der vom Geist seiner gerech-ten Buumlrger gepraumlgt waumlre Mit dem daraus erwachsenen Fundus vonFragen und erteilten Antworten haben Platon und entsprechend Aris-toteles der Nachwelt einen geistigen Reichtum hinterlassen dem sieschlieszliglich ndash nach zwischenzeitlicher Suspendierung ndash ihre Anerken-nung als unumstrittene Klassiker bis in unsere Tage zu verdankenhaben Angesichts solcher Hinterlassenschaft darf sich die Philo-sophie mit gutem Gewissen als Vergegenwaumlrtigung ihrer eigenen Ge-schichte definieren Vergegenwaumlrtigung wiederum ist im weitestenSinne das Gemeinschaftswerk der subtilitas intellegendi und der sub-tilitas applicandi und das so bestimmte Vorgehen ist auch dieVoraussetzung fuumlr die Zeugenrolle die Platon und Aristoteles beider philosophischen Begleitung der Preuszligischen Reformen durchG W F Hegel und erneut bei der geistigen Gruumlndung der Bundes-republik nach dem ZweitenWeltkrieg durch Joachim Ritter und seineSchuumller spielten Dass Platon und Aristoteles fuumlr den buumlrgerlichenRechtsstaat in den Zeugenstand traten setzt den hermeneutischenPhilosophiebegriff voraus demgemaumlszlig die Philosophie auf der Praumlsenzihrer eigenen Geschichte beruht Damit ist zugleich die Frage nachden Aussichten einer umfassenden Erneuerung der praktischen Phi-losophie gestellt der sich so lautet unsere These Joachim Ritter undseine Schuumller widmeten indem sie dem Primat der praktischen Ver-nunft die Ehre erweisend die klassischen Disziplinen der philosophia

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Einleitung ndash zur Erlaumluterung der These

practica universalis ndash Ethik Politik Oumlkonomik ndash schrittweise auf-nahmen und in ein systematisches Verhaumlltnis zur modernen Weltsetzten

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Einleitung ndash zur Erlaumluterung der These

Hermeneutikgeleitete Chronikder Wege und Umwege derphilosophia practica universalisvon den Anfaumlngen bis in die Gegenwart

Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

Vom Ende her gesehen koumlnnte leicht der Eindruck entstehen Platon(42827ndash34847) habe sich von vornherein als Lebenswerk die Gruumln-dung einer philosophischen Schule zum Ziel gesetzt in deren Mittel-punkt die Ausbildung einer systematischen politischen Theoriestehen sollte Dieser Eindruck taumluscht indes Wie Platon selbst imVII Brief (324 Bndash326 D) seinen Werdegang darstellt hatte er ur-spruumlnglich gar nicht die Absicht eine Schule zu gruumlnden die sichphilosophisch mit dem Staat befasste Stattdessen draumlngte er zunaumlchstauf eigenes politisches Handeln als er in der Herrschaft der DreiszligigTyrannen (40403) eine Chance sah einen Staat zu errichten der freiwar von den Schwaumlchen der Demokratie Enttaumluscht musste er aberbald erkennen dass die fruumlheren Verhaumlltnisse in der Demokratie ver-glichen mit der Gegenwart unter den Dreiszligig Gold (sic) waren Fol-gerichtig wandte er sich von den Dreiszligig ab und war nach deren Sturzwiederum bereit zu politisch aktiver Taumltigkeit wurde aber erneut ent-taumluscht ndash durch das Todesurteil gegen Sokrates den Mangel an poli-tischen Freunden die grassierende Geringachtung der Gesetze unddie Inthronisierung der Lust (ἡδονή) als Maszlig der Dinge Erst darauf-hin widmete sich Platon der theoretischen Beschaumlftigung mit demwahren Staat nicht ohne fuumlr erneute praktische Taumltigkeit in der Poli-tik bessere Zeiten abzuwarten die dann eintraumlten wenn wahrhaftePhilosophen die Herrschaft im Staat uumlbernaumlhmen und nicht die durchdas Los ins Amt befoumlrderte Inkompetenz Seine Philosophie war alsoOpposition auszligerhalb der politischen Buumlhne gedacht als ungewollteZwischenphase die erst endete wenn die Staumldte nach philosophi-schen Grundsaumltzen verfasst waumlren Die Gruumlndung der Schule erfolgtealso eher aus Verlegenheit sie war nicht die erfolgreiche Ausfuumlhrungeiner urspruumlnglichen Absicht

Mit seinem Bericht im VII Brief laumlsst Platon also durchblickendass er gleichsam widerWillen die Akademie als Schule gruumlndete undderen erstes Schulhaupt wurde Die Schule galt Platon als Surrogateiner Polis der vollendeten Sittlichkeit Folgerichtig war das Leit-thema der Schule die Lehre vom wahren Staat der das bloszlige Surrogatwieder uumlberfluumlssig machen sollte Platon verschweigt auch nicht vonwelchem Standpunkt aus er die Grundzuumlge des idealen Staates ent-wickelte Waumlhrend er die Schwaumlchen der Demokratie eher in derenStrukturen suchte ortete er die Schwaumlchen der Oligarchie im persoumln-lichen Versagen insbesondere der Dreiszligig Tyrannen Demgemaumlszlig plauml-

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dierte er fuumlr eine zu wahrer Aristokratie veredelte Oligarchie die vonindividuellen und strukturellen Defiziten frei war Diese dem Best-moumlglichen verpflichtete Parteinahme erfuumlllte zugleich die Anforde-rungen einer auf Widerspruchsfreiheit bedachten Theorie sofernPlaton alle seine politischen Vorstellungen auf Vernunftbegriffe zu-ruumlckfuumlhrte und nie vergaszlig sie geltend zu machen wo immer ihreBeachtung zwingend geboten war Mag es Platon auch nicht gelungensein in Athen einen Wiedergaumlnger des Sokrates als philosophischenHerrscher zu bestallen und auf diese Weise sein praktisches Ziel zuerreichen so bleibt doch als Ergebnis seiner Anstrengungen zumin-dest als Fortschritt im Bewusstsein dies bestehen dass von nun anpolitische Vorgaumlnge unvermeidlich von der Aufmerksamkeit einerauszligerhalb der politischen Buumlhne angesiedelten Vernunftkritik beglei-tet wurden Insofern blieb Platons mutiger Schritt eine politischeEntitaumlt systematisch in Zweifel zu ziehen und sie auch noch miteinem Gegenmodell zu konfrontieren nicht ohne kuumlnftige Folgen

Einstweilen blieb aber Platons politische FundamentaloppositionSache der Schule deren Eigengesetzlichkeit sich auf die inhaltlicheWeiterarbeit spuumlrbar auswirken sollte Zur (nachsokratischen)Grund-ausstattung der Schule gehoumlrte die Schriftlichkeit die Platon in nichtgeringe Verlegenheit brachte weil er auf unmittelbare Praumlsenz derVernunft setzte und nicht auf eine mittelbare die sich auch nochdurch Ablage ins Buumlcherregal unschaumldlich machen lieszlig1 Zudemzeichnete sich uumlber das politische Kerninteresse hinaus eine durchschultypisches Weiterfragen ausgeloumlste Verfaumlcherung ab die Platonnoch identitaumltsphilosophisch aufzufangen vermochte die aber auflange Sicht jenseits der Politik zur Etablierung von Einzeldisziplinenwie Ontologie Kosmologie Mathematik und Erkenntnistheorie fuumlhr-te Den Sophisten ging es aumlhnlich wie Sokrates von Protagoras er-faumlhrt Nur bei ihm selbst erfuumlhren die Schuumller das Noumltige uumlber ihrKerngeschaumlft das Haus gut zu verwalten und sich auf der Agoraacute zubewaumlhren waumlhrend sie bei anderen Sophisten wie Hippias von Elisverdorben wuumlrden weil diese sie mit Unnuumltzem wie Arithmetik As-tronomie Geometrie und Dichtung traktierten2 So weitete also auchdie Schule Platons allmaumlhlich ihren Themenkreis immer weiter aus

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1 Auf dieses Merkmal der Schule ist G Bien naumlher eingegangen Das Theorie-Praxis-Problem und die politische Philosophie bei Platon und Aristoteles in Phil Jb 76(196869) 264ndash314 hier S 307ndash3132 Platon Protagoras 318 Dndash319 A

je mehr ihre Vorlaumlufigkeit die mit einem politischen Erfolg der Fun-damentalopposition ihr Ende finden sollte in Vergessenheit gerietAristoteles sollte an seinem Lehrer in der Sache manche Kritik uumlbenaber die Regeln der Institution Schule ihre Hinwendung zur Schrift-lichkeit und ihre Etablierung von Einzeldisziplinen (Pragmatien) ver-standen sich fuumlr ihn schon von selbst

Aristoteles (384ndash322) hatte als Siebzehnjaumlhriger seine makedo-nische Heimat verlassen um sich im Jahre 36766 der Akademie an-zuschlieszligen Da war Platon schon uumlber fuumlnfzig Jahre alt und hatteseine philosophische Arbeit dogmatisch abgeschlossen Da er in die-sen Tagen kurz vor seiner zweiten Reise nach Syrakus stand hat ervielleicht erst nach seiner Ruumlckkehr erkannt wer von nun an seinbegabtester Schuumller war Als Aristoteles einmal bei einer Vorlesungfehlte rief Platon verzweifelt aus raquoDer Geist ist nicht zugegenstumpf ist da die Houmlrerschaftlaquo ndash im Original ein ausgefeilter jambi-scher Trimeter ὁ νοῦς ἄπεσ|τιν κωφὸν τἀκ|ροατήριον3 Aristote-les wird sich dieses Lob seines Lehrers gewiss bei vielen Gelegenhei-ten verdient haben nicht zuletzt aber dank der Art wie er sich beiPlatons beruumlhmter Altersvorlesung raquoUumlber das Gutelaquo4 bewaumlhrte Alsdieser das Gute kosmologisch im zahlhaft bestimmten Einen verorte-te blieben die Houmlrer einer nach dem anderen enttaumluscht der Vor-lesung fern weil sie Ausfuumlhrungen uumlber seelische koumlrperliche undaumluszligere Guumlter im gemeinen Verstande erwartet hatten Auf diese Re-aktion der Houmlrer hatte Platon nur gewartet er wollte wissen wer mitseinem Vorstellungshorizont uumlber den der Menge hinausging undsich damit als genuiner Philosoph erwies Tatsaumlchlich harrten nurwenige Houmlrer bis zum Ende aus und empfingen den Ritterschlageines wahren Philosophen darunter natuumlrlich Aristoteles Dieser er-klaumlrte allerdings spaumlter er werde sich an das allgemein Anerkanntehalten statt aus dem Satz dass das Eine ein Gut sei herzuleiten dassdie Gerechtigkeit ein Gut sei5

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3 Zitiert nach V Rose Aristotelis qui ferebantur librorum fragmenta collegit V RLeipzig 18701886 repr Stuttgart 1967 S 4284 Das Vorlesungsmanuskript ist im Original nicht erhalten Die zahlreichen Para-phrasen bei anderen Autoren hat W D Ross Aristotelis Fragmenta Oxford 1935S 111ndash120 gesammelt5 Aristoteles Eudemische Ethik 1218 a 15ndash22 Der Aristotelesschuumller Aristoxenosbestaumltigte diese Reaktion seines Lehrers in seinen ἁρμονικὰ στοιχεῖα (ed P Mar-quard Die harmonischen Fragmente des Aristoxenos Berlin 1868 S 30) und fuumlgtehinzu es empfehle sich zu Beginn einer Vorlesung sein Thema genau anzukuumlndigen

Im Uumlbrigen sparte auch Aristoteles nicht mit Lob auf seinenLehrer Im Rahmen seiner Inschrift auf einem Altar der Freundschaftden Eudemos von Kypros von einer Reise nach Athen zuruumlckgekehrtgestiftet hatte ruumlhmt Aristoteles Platon als Mann den schlechteMenschen nicht einmal loben duumlrften und als Mann der als Ersterunter den Menschen durch eigene Lebensfuumlhrung und vorgetrageneGruumlnde demonstriert habe dass der gute Mann ebendeshalb auch dergluumlckliche Mann ist Zwar taucht im uumlberlieferten Text der Distichenweder der Name Platons noch der des Eudemos auf Olympiodor ver-sichert aber Aristoteles habe in seiner Widmung an den Stifter Eude-mos ebendieses Lob auf Platon ausgesprochen6 Bei welchem Lehrerhaumltte Aristoteles auch besser lernen koumlnnen wie man wesentlicheaber oft uumlbersehene Fragen stellt wie man fuumlr andere uumlberraschendauf Zusammenhaumlnge und Widerspruumlche aufmerksam macht wieman auf den ersten Blick unerkannte Implikationen und Konsequen-zen herausarbeitet wie man unzureichend Bewiesenes als solchesidentifiziert wie man einmal erzielte Uumlbereinkuumlnfte stets im Ge-daumlchtnis praumlsent haumllt wie man seine Argumente durch Ruumlckfuumlhrungauf Gruumlnde und Ursachen als anerkannte Berufungsinstanzen uumlber-zeugend vortraumlgt

Zur gegenseitigen Wertschaumltzung aufgrund ihrer intellektuellenVorzuumlge gesellte sich die politische Uumlbereinstimmung beider Philoso-phen die neben der Sympathie fuumlr Makedonien die entschieden ab-lehnende Haltung gegenuumlber der attischen Demokratie betraf FuumlrPlaton fiel die Suche nach der gerechten Polis als dem hiesigen Kor-relat des absolut Guten mit entschiedener Demokratiekritik zusam-men Seine politische Leitidee bildete die Gerechtigkeit als Einheit derKardinaltugenden mit dem Ziel der Baumlndigung des sinnlichen Inte-resses (ἡδονήvoluptas) waumlhrend in seinen Augen die demokrati-schen Leitideen der Gleichheit und Freiheit lediglich auf eine Beschouml-nigung der voluptas als des wahren Bestimmungsgrundes der Mengehinausliefen Diesen von voluptas durchdrungenen Staat sah Platonals derart heillos verfahren an dass er anknuumlpfende Schritt-fuumlr-Schritt Reformen gar nicht erst in Betracht zog Stattdessen setzte

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und wenn man Paradoxes vortragen wolle dies auch unmissverstaumlndlich zu sagen Sobliebe den Houmlrern die Enttaumluschung erspart wenn sie in Erwartung einer Belehrunguumlber Guumlter wie Reichtum Gesundheit Gluumlck am Ende lediglich die blasse Auskunfterhielten das Gute sei Eines6 Olympiodoros in Platonis Gorgiam XLI 10 ad p 515 C

Platons politische Opposition mit anderen Mitteln7 auf eine vomNullpunkt aus fehlerfrei in Gedanken durchkonstruierte Polis in derdie schon seit Kleisthenes bestehende Einheitlichkeit und Geschlos-senheit des Gemeinwesens gewahrt blieben aber konkrete demokra-tische Komponenten wie Rat und Volksversammlung Geschwore-nengericht und Flotte Panathenaumlen Dionysien und Eleusinien nichteinmal dem Namen nach vorkamen Bei dieser Konstellation gerietenSchule und Polis zwangslaumlufig in ein Verhaumlltnis sich gegenseitigenIgnorierens Die Schule fuumlhrte ihre Debatten als private Institutionohne Beruumlcksichtigung der Vorgaumlnge auf der Agoraacute und die Agoraacutemuumlhte sich mit den ihr eigenen Mitteln um eine Konsolidierung derdemokratischen Institutionen ohne die Einwaumlnde der Schule zurKenntnis zu nehmen Nun mag Platon einen offenbar unpolitischenweil von den Realitaumlten abgehobenen Ausgangspunkt gewaumlhlt unddamit seiner Weiterarbeit wie spaumlter die hermeneutisch argumentie-rende Kritik des Aristoteles zeigen sollte einen schlechten Dienst er-wiesen haben aber ihn leitete ohne jeden Zweifel ein handfestes Mo-tiv und eine daraus abgeleitete allgemeine bis in unsere Tage zubeherzigende Grundeinsicht

Platons Schluumlsselerlebnis war das Todesurteil gegen Sokratesdas eine Mehrheit unter fuumlnfhundert Geschworenen faumlllte obwohlsich Sokrates in allen Anklagepunkten ganz offenkundig als nichtschuldig erwiesen hatte Moumlglich wurde diese Gerichtsentscheidungweil es den Anklaumlgern wie routinierten Demagogen gelang mit ihrenUnwahrheiten eine ignorante Menge auf ihre Seite zu ziehen In derTat hatten sie wie Sokrates gleich im zweiten Satz der Apologie aus-ruft nicht ein einzigen wahren Satz vorgetragen (ἀληθές γε hellip οὐ-δὲν εἰρήκασιν) Der offenbar unausrottbaren Moumlglichkeit dass De-magogen gerade mit der Unwahrheit Mehrheiten fuumlr sich gewinnenkoumlnnen galt zeitlebens Platons kritische Aufmerksamkeit Tatort wa-ren nicht nur die Geschworenengerichte sondern nicht minder dieVolksversammlung in der interessierte Redner Mehrheitsbeschluumlsse(ψηφίσματα) herbeifuumlhrten mit denen sie bestehende Gesetze un-terliefen8 Auch fuumlr dieses Fehlverhalten gab es eine Schluumlsselszeneals naumlmlich im Zuge des Arginusenprozesses ein Mann aus der auf-gehetzten Menge rief es sei eine Ungeheuerlichkeit wenn man denDemos nicht tun lasse was er wolle und gleich darauf durchgesetzt

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7 Platon VII Brief 325 Endash326 A8 Ebd 325 DndashE

wurde dass die angeklagten Seeoffiziere en bloc verurteilt wurdenund nicht wie es das Gesetz verlangte jeder einzeln Der Einzigeder sich diesem rechtswidrigen Beschluss widersetzte war Sokrates9

Dass dieser Staat ausgerechnet seinen gerechtesten Buumlrger zumTode verurteilt hatte hat Platon nie verziehen Da indes die aus-schlaggebende Mehrheit der Geschworenen ihr Urteil wohl kaumfuumlr ungerecht hielt sah Platon sich verpflichtet allen ebenso gesinn-ten Athenern vorzutragen was an und fuumlr sich Gerechtigkeit wirklichist und zwar in der Politeia aus dem Munde eben des Sokrates Danun der Staat fuumlr die Gerechtigkeit der groumlszligere und besser sichtbareBewaumlhrungsort ist als der Einzelne schlug Sokrates vor den Begriffvon Gerechtigkeit zunaumlchst im Blick auf den Staat zu entwickeln (Po-liteia 368 E 472 B) Die Frage nach der Gerechtigkeit konkretisiertesich auf diese Weise zur Frage nach dem gerechten Staat Folgerichtigsetzte Platon im Geist des Sokrates der attischen Demokratie mitihrem falschen Machtwillen einen auf reiner Vernunft beruhendenIdealstaat entgegen von dessen Vorzuumlgen er vielleicht schon dienaumlchste Generation der Athener zu uumlberzeugen hoffte10 anderenfallskoumlnne man nur noch auf einen Gluumlcksschlag von auszligen (τύχη) set-zen oder dass sich dank goumlttlicher Fuumlgung ein Staatenlenker mit derPhilosophie befasse11 Die Befuumlrchtung der Philosoph koumlnne in seinereigenen Stadt wenn uumlberhaupt dann nur dank goumlttlicher Fuumlgung po-litisch taumltig werden (Politeia 592 A) wollte Platon allerdings fuumlr sichnicht als Entschuldigung gelten lassen im Gegenteil Platon ver-sicherte er sei eigens nach Syrakus gereist damit man ihm nicht vor-halten koumlnne er sei nur im Felde der Theorie stark ziehe sich aberzuruumlck wenn es an die praktische Ausfuumlhrung gehe (VII Brief328 C) Vielmehr war fuumlr ihn der gerechte Staat Inhalt philosophi-scher Reflexion mit dem Ziel seiner Verwirklichung

Im idealen Staat darf die Entscheidungsbefugnis nur bei Buumlrgernliegen die allein durch philosophisch uumlberpruumlfte Qualifikation undnicht durch Loswahl in ihr Amt gelangt sind Nur wer die Houmlhle derdie Menge auszeichnenden Kurzsichtigkeit verlassen und dank uumlber-legener Vernuumlnftigkeit die Idee des Guten geschaut hat vermag pri-vat wie oumlffentlich vernuumlnftig zu handeln12 eben seitdem er sich von

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9 Xenophon Hellenika 1 7 12ndash16 Vgl unten Anm 38 S 137 und Anm 17 S 14810 Platon Politeia 315 CndashD11 Platon VII Brief 326 A12 Platon Politeia 517 C

der Aussageabsicht der drei beruumlhmten Gleichnisse hat uumlberzeugenlassen dass naumlmlich das Gerechte das Gute ist und nicht das sinnlicheInteresse der auf den Schein fixierten Menge13 Entsprechend heiszligt esin Platons 8 Brief (355 A) Fuumlr besonnene Menschen ist Gott das Ge-setz fuumlr die unvernuumlnftigen ist es die Lust Das Gute hat also densel-ben Stellenwert wie Gott und bildet wie dieser insofern den Welt-grund als es weil jenseits (ἐπέκεινα) des daseienden Universumsangesiedelt im Rang noch uumlber dieses hinausragt und sich heilsambewaumlhrt indem es dank seinem Sproumlssling dem Sonnenlicht Orien-tierung durch Sichtbarkeit der Dinge sowie Leben Wachstum undGedeihen moumlglich macht14 Die Ausrichtung amGuten als Weltgrunderhebt das Gerechte zur unbedingten Handlungsnorm fordert abernicht nur sondern gewaumlhrt in einem damit den Buumlrgern auch wahr-haft praktischen Nutzen naumlmlich das Leben im sittlichen Gesetzes-staat ndash die Frucht eben der Herrschaft der Gerechtigkeit15 Damit istdie Frage zu deren Beantwortung Sokrates die drei beruumlhmtenGleichnisse vortrug naumlmlich ob Lust oder das Gerechte das wahreGut ist beantwortet und die implizit gegebene Antwort die auf derUnterscheidung der vier Erkenntnisstufen im Liniengleichnis beruhtbesagt dass die beschraumlnkten intellektuellen Moumlglichkeiten der Men-ge zu dieser Einsicht nicht ausreichen diese also fuumlglich zu entmuumln-digen ist schon um den Demagogen ein leichtglaumlubiges Publikum zuentziehen

Der Form nach stand bei aller Reserve Platon durchaus in derSchuld der Demokraten Sie waren es die unter Kleisthenes den atti-schen Staat als rational verwalteten Einheitsstaat geschaffen hattender nicht mehr nach Staumlmmen Sippen und oumlrtlich bedingten Loyali-taumlten fragmentiert war Unter Phylen verstand Kleisthenes nichtmehr den Oberbegriff vertikal strukturierter Personenverbaumlnde son-dern horizontal strukturierter einheitlich verwalteter Bezirke nachdem Territorialprinzip Das Volk der Athener (ὁ τῶν Ἀθηναίων δῆ-μος) trat an die Stelle der Klientel wie in Rom der populus Romanusan die Stelle der gentes Platon musste also das Prinzip staatlicherEinheit selbst nicht mehr erfinden wohl aber dem Inhalt nach fuumlr alleZukunft beschlieszligen dass nicht nur dieser sondern jeder Staat sei-nem Wesen gemaumlszlig in der Pflicht sei sich als raquoWirklichkeit der sitt-

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Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

13 Ebd 505 B14 Ebd 509 AndashB15 Ebd 505 A

lichen Ideelaquo (Hegel) zu bewaumlhren Uumlber diesen Beschluss hinausdachte Platon noch einen Schritt weiter denn es konnte nicht ge-nuumlgen einen Staat philosophischer Sittlichkeit lediglich zu gruumlndener musste auch erhalten werden ndash durch ein Kollegium integrer Ge-setzeshuumlter die das muumlhsam Erreichte unveraumlndert zu bewahren hat-ten16 Diese Position waumlre etwa im Arginusenprozess unbesetzt ge-wesen haumltte Sokrates sie nicht eingenommen und auf Einhaltungder Gesetze bestanden

Ebenso wie die vorgegebene Staatlichkeit hat auch das mit dieserverbundene demokratische System der Rechtspflege das das archai-sche Selbsthilfeprinzip abloumlste Eingang in Platons Philosophie gefun-den Die archaische Selbsthilfe bestand darin dass die durch einenUumlbergriff beleidigte Sippe der Sippe des Taumlters die Fehde ankuumlndigte(πρόρρησις) deren Beendigung durch Abschluss eines Suumlhnevertra-ges (αἴδεσις) erfolgte Dass bei dieser Form der Konfliktbeilegungdurch Aussoumlhnung die staumlrkere Sippe in der Regel ihre Loumlsungsvor-stellungen durchsetzte liegt auf der Hand Der Schritt fuumlr Schritterfolgte Gerichtszwang durch den der Staat erst allmaumlhlich das Mo-nopol der Rechtspflege uumlbernahm hatte zum Ziel dass anstelle zufaumll-liger Machtverhaumlltnisse die Systematik von Recht und Gesetz imStreit der Parteien entscheidet17 Diesen Sinn der nacharchaischenRechtsprechung hat Ovid mit dem Hexameter zusammengefasstinde datae leges ne firmior omnia posset (Fasten 3 279) Im Gor-gias-Dialog haumllt nun Platon der Rhetorik vor sie sei der methodischeVersuch gerade diese Errungenschaft der Rechtsprechung ruumlckgaumln-gig zu machen Kallikles ein Anhaumlnger des Rhetoriklehrers Gorgiasspricht unverhohlen aus dass Herakles voumlllig im Recht war Geryonesseine Rinder die er weder gekauft noch zum Geschenk erhalten hatteohne Bedenken zu stehlen da das von Natur Gerechte darin bestehedass alles Eigentum der Schwaumlcheren in Wahrheit dem Staumlrkeren ge-houmlre18 Sokrates haumllt Kallikles entgegen dass wahre Uumlberlegenheitnicht im Mehr-haben-Wollen sondern im Sittlich-besser-Sein be-stehe und beruft sich damit ebenso wie die Rechtsprechung auf ein

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16 Platon Politeia 484 B Nomoi 752 DndashE 754 Dndash755 C 770 AndashD 847 AndashD 959 Dndash961 CIm Abschnitt zu raquoDemetrios Phalereus ndash oder die vierzehnte Wendelaquo wird diese pla-tonische Vorgabe noch eine wesentliche Rolle spielen17 Zu diesen nicht leicht zu rekonstruierenden Prozessen sei auf die im Literaturver-zeichnis genannten Aufsaumltze von E Ruschenbusch verwiesen18 Platon Gorgias 484 BndashC

systematisches Kriterium um die individuelle Machtperspektive inSchranken zu weisen Dass Sokrates bei seinem Gespraumlchspartnermit dieser Argumentation nicht durchdringt ist allein der Borniert-heit des Kallikles zuzuschreiben

Es ist nicht zu leugnen dass Platon ebenso wie der Oligarch Kal-likles den Besseren das Wort redete aber unter den Besseren wirklichBessere verstand die den Staat als sublimierte Oligarchie tragen soll-ten Von dieser Staatslehre gilt es also zu uumlberzeugen und das ver-suchte Platon auch ganz im Sinne des Sokrates zunaumlchst durch sach-liche Gespraumlchsfuumlhrung oder Dialektik (διαλέγεσθαι) die mitkurzen Saumltzen Rechenschaft fordert und gewaumlhrt Sokrates mochtekeine langen Reden die geeignet sind das Ausgangsthema nach eini-ger Zeit aus den Augen zu verlieren19 Auch mochte es Sokrates garnicht wenn Unterredner sich streitsuumlchtig (ἐρίζειν) an Worten fest-bissen statt am intendierten Inhalt20 Das richtet sich gegen Protago-ras der als Erfinder der Eristik Wortklauberei betrieb statt sich aufdie Bedeutung des Sachverhalts zu konzentrieren21 Insgesamt ist diesokratische Version von Dialektik ein Gegenentwurf zur raquosogenann-ten Kunst der Rhetoriklaquo22 die lediglich den Uumlberredungserfolg zumZiel hat und nicht etwa wohlbegruumlndete Wahrheiten herausarbeitenwill Nun musste Platon etwa im Gespraumlch mit Kallikles im Gorgiasoder mit Thrasymachos im ersten Buch der Politeia erkennen dassgerade seine Sachlichkeit bei Boumlswilligen auf taube Ohren stoumlszligt Erentwickelte daher noch in der Politeia einen uumlber Sokrates hinaus-gehenden Begriff von Dialektik die nicht diskutiert sondern dekre-tiert nachdem diese durch reines auf das Gespraumlch mit sich selbstkonzentriertes Durchdenken des Wesentlichen frei von sinnlichenEindruumlcken zum Ziel der Erkenntnis des Guten gelangt ist (532 AndashB) Weil somit Dialektik zustaumlndig wird fuumlr die Vergegenwaumlrtigungdes Guten in der politischen Welt darf auch nur der ausgewieseneDialektiker Staatenlenker werden (534 CndashD) der auf seinen Einsich-ten beharrt auch wenn ihm seine Mitbuumlrger die Zustimmung ver-weigern Gegen vordergruumlndige Rechthaberei von wem immer sieausgeht verteidigt Platon das Prinzip vernuumlnftiger Argumentationgegen die Kraumlfte ihrer Blockierung

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Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

19 Platon Protagoras 336 AndashC Gorgias 474 B20 Platon Politeia 454 A21 Diogenes Laertios 9 5222 Platon Gorgias 448 D

Page 6: Platon und Aristoteles als Wegbereiter der praktischen ... · Differenzen zwischen Platon und Aristoteles ins Auge fallen. Wer jedoch Platon und Aristoteles zusammen gegen die später

Vorwort

Was Sokrates durch seine Gespraumlche auf dem Markt vorgelebt hattenahmen Platon und Aristoteles in ihren Schulen kongenial auf als siedas menschliche Handeln in der Polis in den Mittelpunkt ihrer Auf-merksamkeit ruumlckten und auf diese Weise zu Gruumlndungsvaumltern derpraktischen Philosophie wurden Das wissenschaftstheoretische Er-gebnis ihrer Arbeit ist die Konstituierung der philosophia practicauniversalis deren drei Disziplinen Ethik Politik und Oumlkonomik un-ter verschiedenen Aspekten das Ziel des bene beateque vivere verfol-gen Diese Trias verkoumlrpert ein Leitbild das wenn auch auf unver-meidlichen Umwegen bis in unsere Tage wirksam geblieben ist

Ihre vitale Kontinuitaumlt verdankt dieses System der praktischenPhilosophie demUmstand dass neben Gemeinsamkeiten seiner aumlltes-ten Verfechter auch der Streit an seiner Wiege stand Platon argu-mentierte aus raquoreiner Vernunftlaquo ohne den Phaumlnomenen eigene Ver-nuumlnftigkeit zuzugestehen Aristoteles argumentierte hermeneutischindem er pruumlfte welche Vernunftgruumlnde in dem was ist oder ge-schieht schon enthalten sind Die Auseinandersetzungen als Folgedieser Differenz konnten der Qualitaumlt des Ergebnisses nur foumlrderlichsein Andererseits schloss der fundamentale Unterschied im metho-dischen Vorgehen der beiden Gruumlndungsvaumlter Gemeinsamkeiten inden politischen Praumlferenzen keineswegs aus Beide hegten eine Aver-sion gegen Athens demokratisches Lager beide sympathisierten mitPhilipp vonMakedonien Beide wurden schlieszliglich aber auch gemein-sam von den alten Stoikern fuumlr laumlngere Zeit in den Hintergrund ge-draumlngt als es nach dem Sturz des Demetrios Phalereus im Interessedes Burgfriedens ratsam schien dass die Philosophie bis auf weiteresden Staat verschonte also auf dessen ndash sei es kritische oder sei esermunternde ndash Beeinflussung verzichtete Implizit hielten die sto-ischen Nachfolger Platon und Aristoteles vor ihre einst in Akademieund Lykeion vorgetragene praktische Philosophie sei keine Antwort

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mehr auf die Problemlage der im Zeichen des Hellenismus gewandel-ten Polis

Waumlhrend nun das Setzen der alten Stoiker auf innere Auto-nomie ndash Ausdruck einer mehr oder weniger erzwungenen Sezessionaus der Polis ndash ebendeshalb historisch zu erklaumlren ist sind Platon undAristoteles von Zweifeln an der Allgemeinheit der Grundsaumltze ihrerpraktischen Philosophie laumlngst freigesprochen Dank dieser spaumltes-tens seit Cicero erwirkten Rehabilitation sind Platon und Aristotelesganz im Sinne ihrer urspruumlnglichen Intentionen bis in die moderneWelt einflussreich geblieben und konnten etwa Hegels philosophi-scher Begleitung der Konstituierung des modernen Rechtsstaats in-spirierend zur Seite stehen ndash gleichsam zur Selbstvergewisserung dereinen Sattelzeit durch eine andere Hegels Vorgehen sollte sich erneutbei gleichzeitigem Ruumlckgriff auf Platon und Aristoteles wiederholenals im Zuge der geistigen Gruumlndung der Bundesrepublik nach demZweiten Weltkrieg bewusst wurde dass eine Wiederaufnahme deszwischenzeitlich verworfenen Hegelschen Plaumldoyers fuumlr den Rechts-staat ein Gebot der Stunde sei Die faumlllige Vergegenwaumlrtigung Hegelsuumlbernahm initiierend Joachim Ritter und ausweitend lenkten spaumlterseine Schuumller aus dem raquoCollegium Philosophicumlaquo den Blick auf dieunvermeidlichen von Ethik Politik und Oumlkonomik zu beantworten-den Anschlussprobleme Im Zuge der Anknuumlpfung an die Traditionder praktischen Philosophie durch J Ritter erfuhren Platon und Aris-toteles unter Vermittlung Hegels erneut in einem essenziellen Ver-fahren ihre ehrenvolle Einberufung in den Zeugenstand Wenn nundieses Buch sich anschickt die Grundzuumlge dieses modernen Prozessessamt seiner auf Platon und Aristoteles zuruumlckgehenden Vorgeschich-te nachzuzeichnen so muss es sich bei einer in mehr als zweitausendJahren angehaumluften Stofffuumllle zwangslaumlufig auf die Hervorhebungdes Wesentlichen beschraumlnken Indes tut das damit eingestandeneUumlberspringen des weniger Wesentlichen der Intention keinen Ab-bruch zur Selbstvergewisserung der praktischen Philosophie bei-zutragen durch Ruumlckbesinnung auf ihren systematischen Ursprungder mit der Einsicht in die Zusammengehoumlrigkeit von Ethik Politikund Oumlkonomik zusammenfaumlllt

Ein Buch wird in der Regel nicht ohne konsultierende Gespraumlchemit befreundeten Experten geschrieben Das ist auch in diesem Fallgeschehen Fuumlr ihre Bereitschaft sich jederzeit auf die Eroumlrterungaufkommender Probleme einzulassen oder Bedenken zu zerstreuendankt der Autor herzlich den Professoren Dr Guumlnther Bien Dr Rai-

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Vorwort

ner Henke und Dr Dr Karl Homann Zusaumltzlichen Dank schuldet derAutor Professor Henke der freundlicherweise das Korrekturlesen desManuskripts auf sich genommen hat

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Vorwort

Inhalt

Vorwort 5

Einleitung ndash zur Erlaumluterung der These 11

Hermeneutikgeleitete Chronik der Wege und Umwege derphilosophia practica universalis von den Anfaumlngen bis in dieGegenwart 19Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie 21Schluumlsse aus dem politischen Scheitern der Platonschuumller 35Die Vorarbeiten des Aristoteles fuumlr die Politik 54Die philosophischen Pflichten des Tages gegenuumlber dengriechischen Staumldten 62Die ideale Stadt des Aristoteles 72Das Ende der Freundschaft zwischen Alexander und Aristoteles 84Die Bedeutung der elf Wenden in der Athenaion Politeia ndashquid facti 100Die Legitimitaumlt der attischen Demokratie ndash quid iuris 107Das Ungluumlcksjahr 322 117Antipatros und Phokion ndash oder die zwoumllfte Wende (322) 121Kassandros und Polyperchon ndash oder die dreizehnte Wende(319) 125Demetrios Phalereus ndash oder die vierzehnte Wende (317) 128Die Sezession der Philosophie nach dem Sturz des DemetriosPhalereus (307) 146Demetrios Poliorketes und der Herrscherkult ndash oder diefuumlnfzehnte Wende (307) 163

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Die Tyrannei des Lachares ndash oder die sechzehnte Wende(um 300) 171Die Ruumlckkehr des Demetrios Poliorketes ndashoder die siebzehnte Wende (295) 174Der Siegeszug des Herrscherkults 187Die stoische Goumltterlehre als Antwort auf den Herrscherkult 193Lactantius uumlber die heidnische Entlastung der Goumltter 208Die wiederhergestellte Autoritaumlt Homers 214Platon und Chrysipp im Streit uumlber Homers theologia 227Die tragische Katharsis und die stoische Lehre von denAffekten 239Theodizee und Geschichtsphilosophie 258Die quaestio finita als Pruumlfstein originalitaumltsgerechterRezeption 276Hegels Ruumlckgriff auf die Lehre vom sittlichen Staat bei Platonund den Tragikern 282Aristoteles als Zeuge der praktischen Philosophie Hegels 288Joachim Ritters Erneuerung der Hegelschen Platon- undAristotelesrezeption 314Politik und Ethik als Bauglieder der philosophia practicauniversalis im Blickpunkt der Ritterschen MitteGuumlnther Bien Hermann Luumlbbe Odo Marquard 328Die Oumlkonomik oder der von der Ritterschen Mitte gesetzteSchlussstein der philosophia practica universalisKarl Homann 343

Verwendete Sigla 371

Literaturverzeichnis 372

Index nominum et rerum 383

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Inhalt

Einleitung ndash zur Erlaumluterung der These

Platons Akademie und das Lykeion des Aristoteles lagen zwar vor denMauern aber deshalb war die Stadt der Schule keineswegs gleichguumll-tig im Gegenteil die Stadt erfreute sich jederzeit intensiver Auf-merksamkeit durch die Schule Vorgegeben war diese Haltung durchden gemeinsamen Ahnherren Sokrates raquoden Landschaft und Baumlumewenig lehrten wohl aber die Menschen in der Stadtlaquo1 Buumlndig be-staumltigt das auf seine Weise Cicero Socrates autem primus philoso-phiam devocavit e caelo et in urbibus conlocavit2 Noch im Gefaumlngnisunterstreicht Sokrates er koumlnne unmoumlglich ohne Einverstaumlndnis derAthener fliehen wo er doch so bewusst und ausdruumlcklich sein ganzesLeben in ihrer Stadt verbracht habe dass er sie auszliger zu Feldzuumlgennur ein einziges Mal mit einer Festgesandtschaft zu den IsthmischenSpielen verlassen habe3 Sokrates war uumlberzeugt ein gelungenes Le-ben habe er nur als Buumlrger der Stadt Athen fuumlhren koumlnnen und mitdieser Bindung an die Polis identifizierten sich Platon und Aristotelesnicht minder

Das Verhaumlltnis von Schule und Stadt war laumlnger als ein halbesJahrhundert gepraumlgt von einer auf Unabhaumlngigkeit beider Seiten be-ruhenden Auseinandersetzung die im Jahre 322 zu Ende ging alswenige Wochen vor dem Tod des Aristoteles Athen mit der Nieder-lage im Lamischen Krieg unwiederbringlich die politische Autonomieeinbuumlszligte Wer nun die Philosophie der Epoche bis zu diesem Wende-jahr betrachtet dem werden unvermeidlich die nicht zu leugnendenDifferenzen zwischen Platon und Aristoteles ins Auge fallen Werjedoch Platon und Aristoteles zusammen gegen die spaumlter von derStoa gepraumlgte Epoche abhebt wird ihnen ebenso unvermeidlich alsganz wesentliches gemeinsames Merkmal den Umstand zuordnen

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1 Platon Phaidros 230 D2 Cicero Tusculanae disputationes 5 103 Platon Kriton 52 B

dass im Mittelpunkt ihrer philosophischen Aufmerksamkeit nicht dieSchule selbst sondern die politischeWelt auszligerhalb der Schule standIhre theoretische Arbeit endete nicht esoterisch mit Saumltzen zur inne-ren Sittlichkeit der Schule vielmehr uumlberschritt sie diese Schrankeund widmete sich eingehend den sittlichen Normen der Stadt ohneuumlbrigens daruumlber die Ordnung des fuumlr diese Normen keineswegsgleichguumlltigen Makrokosmos zu vernachlaumlssigen Ihre Politik ist in-stitutionelle Ethik und umgekehrt setzt ihre Ethik auf einen Staatder die Buumlrger tugendhaft macht

Bei weiter ausholendem Hinsehen erweist sich die vielbeschwo-rene Kritik des Aristoteles an Platon eher als dessen staumlndiges Be-muumlhen das gemeinsame Ziel den sittlichen Staat vor selbstverschul-detem Scheitern zu retten Aristoteles war nicht Gegner Platonssondern dessen dankbarer Erbe der der geistigen Hinterlassenschaftseines Lehrers das Uumlberleben zu sichern suchte In dieser Absicht aumln-derte er das methodische Vorgehen von Grund auf Er schrieb denBuumlrgern nicht mehr vor wie sie sein sollten sondern registrierte her-meneutisch wie sie sind um zu ergruumlnden was in diesem Ist-Bestandan vernuumlnftiger Vorleistung als dasWesentliche immer schon enthal-ten ist Als Hermeneutik lehrt praktische Philosophie dass die unsitt-liche Stadt sich nicht im Widerspruch zu einer aumluszligeren Instanz son-dern zu ihr selbst befindet Folgerichtig sah Aristoteles das Idealzieldes Philosophen auch nicht im Amt des Herrschers der aufgrundabsolutenWissens die Lebensordnung diktiert Vielmehr war er uumlber-zeugt sein Amt angemessen auszuuumlben wenn er darauf setzte zuwerben zu beraten und mit Argumenten zu uumlberzeugen und daseben nicht als philosophischer Herrscher sondern als Lehrer seinerSchuumller als Berater Philipps II als Prinzenerzieher Alexanders alsErmunterer der Buumlrger im Einklang mit Sitte Recht und Anstandihr Gluumlck zu suchen Aristoteles sah bessere Chancen fuumlr die plato-nische Substanz wenn er diese auf der institutionellen Basis der vitacontemplativa als bestimmter Lebensform neben und nicht uumlber dervita activa zu wahren suchte um die aktiv Taumltigen aus der damitimmer noch bestehenden Distanz vermoumlge hermeneutischen Vor-gehens daruumlber aufzuklaumlren dass die ethische Lebensfuumlhrung gelingtwenn sie im Einklang mit den bestehenden Sitten erfolgt

In der Politik des Aristoteles ist somit Platons Vernunftstaatdurchaus praumlsent allerdings eben nicht in Gestalt radikaler System-kritik sondern unter dem Oberbegriff einer raquoPolitielaquo den er in auf-klaumlrender und beratender Absicht ins Spiel bringt Im Blick auf aktu-

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Einleitung ndash zur Erlaumluterung der These

elle Probleme der Polis versteht Aristoteles die Politie zunaumlchst alsVerfassung die die Ursachen der oft blutigen Dauerkonflikte zwi-schen Oligarchen und Demokraten aufzuheben verspricht daruumlberhinaus entwickelt Aristoteles eine an Platons Idealstaat erinnerndezweite Version von Politie und zwar im Blick auf die Planungen Phi-lipps II mit einem panhellenischen Heer die Aumlgaumlis in ein makedo-nisches Meer zu verwandeln und die Jonier in Kleinasien von derPerserherrschaft zu befreien Die erstere Politie der Buumlcher IV bis VIbesteht in einem auf Aussoumlhnung der Konfliktparteien zielenden Ver-fassungsentwurf und entsprach somit der zum Schlagwort erhobenenWunschvorstellung der Zeit naumlmlich der inneren Eintracht (ὁμό-νοια) Die andere Politie in Buch VII enthielt die Grundlegung derLebensordnung griechischer Groszligbuumlrger die sich im befreiten Jonienansiedeln sollten Auch diese Verfassung kam zumindest indirekteiner Wunschvorstellung der Zeit entgegen naumlmlich dem Wunschnach gemeinsamem Frieden (κοινὴ εἰρήνη) der griechischen Staumldteuntereinander denn ehemalige Feinde koumlnnten umso leichter Friedenschlieszligen und Freunde werden wenn sie sich als Eroberer zum Kampfgegen einen gemeinsamen Gegner verbuumlnden Vorrangig angespro-chen sollten sich allerdings Groszligbuumlrger fuumlhlen die mit ihrem Lebenin den demokratischen Staumldten Griechenlands unzufrieden warenund einer auf oligarchischen Idealen gegruumlndeten Polis den Vorzuggaben

Obwohl Aristoteles dank seiner hermeneutischen Vorgehens-weise keineswegs an den Adressaten vorbeiredete sollte sich schonbald abzeichnen dass aus je verschiedenen Gruumlnden sowohl die prag-matische als auch die ideale Politie abgewiesen wurden Aristoteleswar daruumlber nicht entmutigt sondern verfolgte seinen hermeneuti-schen Ansatz nur noch strikter in dem was ist das Wesentliche zubegreifen Das was ist also das politisch Dominierende war nun un-bestritten die demokratische Verfassung der Athener denen dieSchule ndash und das durchaus auch den Tatsachen zuwider ndash die Ver-nachlaumlssigung ihrer eigenen Gesetze gleichsam als Erbuumlbel immerwieder vorgehalten hatte Die raquoVerfassung der Athenerlaquo (Ἀθηναίωνπολιτεία oder kurz AP) nimmt und sei es unausgesprochen dieeinst auch von Aristoteles selbst mitgetragene Kritik der Schule zu-ruumlck und bedeutet dieser implizit dass sie sich selbst um Glaub-wuumlrdigkeit und Uumlberzeugungskraft bringt wenn sie offen am Tageliegende Sachverhalte systematisch in Abrede stellt Die AP ist dieAnerkennung der Tatsache dass den Athener Demokraten im vierten

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Einleitung ndash zur Erlaumluterung der These

Jahrhundert die Vollendung eines widerspruchsfrei verfassten Geset-zesstaates gelungen ist der im Uumlbrigen nicht von einem kuumlnstlichgesetzten Nullpunkt ausgegangen ist sondern hermeneutisch rekon-struierbar sich in organischem Wachstum seit Ion und Theseus in elfWenden entwickelt hat Der Ton der AP liegt nicht darauf dass kom-promissbereite Philosophie die Welt vor der ihr sonst eigenen Radi-kalitaumlt verschonen will sondern auf der im theoretischen Zusehengewonnenen Einsicht dass die Stadt gerade das philosophische Ur-anliegen der Gesetzestreue immer schon als legitimierendes Prinzipihres Handelns befolgt hat Die hermeneutische Zirkelstruktur be-steht also darin dass die Philosophie der Stadt dies als das an ihrWesentliche erklaumlrt was sie selbst hervorgebracht hat

Der Einfluss der Akademie und des Lykeion endete aber keines-wegs abrupt mit dem Jahre 322 als die Athener ihre Souveraumlnitaumlteinbuumlszligten und damit die unumgehbare Voraussetzung einer auf Sitt-lichkeit bestehenden politischen Theorie Dank makedonischer Un-terstuumltzung erzielten die Schulen durch Phokion und Demetrios Pha-lereus in den folgenden Jahren sogar weitaus mehr politischeWirkung als die beiden Gruumlnder zu ihren Lebzeiten Ebendiesem Er-folg hatten indes im Jahre 307 die Schulen den entscheidenden Ruumlck-schlag zu verdanken als der aus ihren Reihen hervorgegangeneDemetrios Phalereus nach zehnjaumlhriger Herrschaft aus der Stadt ver-trieben wurde Rigide Entmuumlndigung der Buumlrger bei eigenem Nar-zissmus samt Selbstbereicherung brachten nicht nur Demetrios selbstum jeden Kredit sondern auch die Philosophie der Akademie und desLykeion nach deren Vorgaben er als ihr Angehoumlriger in Athen regierthatte Die empoumlrten Demokraten reagierten mit der Androhung derTodesstrafe und Verbannung der Philosophen und unter Philoso-phen verstanden sie unterschiedslos alle Platoniker und AristotelikerMit dieser harschen Reaktion laumluteten die Athener zugleich die Ge-burtsstunde der Stoiker ein die gleichsam in ihrer Gruumlndungsurkun-de festschrieben dass ihre Ethik die Sittlichkeit der Schule und nichtdie Sittlichkeit der Stadt zum Gegenstand habe Die Stoiker erkann-ten dass sie die Philosophie unter Wahrung ihrer Autonomie nurfortfuumlhren konnten wenn sie der Stadt versicherten dass sie andersals Platon und Aristoteles ihre Gesetzgebung ausschlieszliglich fuumlr ihreSchule als geschlossene secta erlieszligen Die erklaumlrtermaszligen der Poliszugewandte Philosophie die Platon und Aristoteles gemeinsam ver-treten hatten war ihnen nunmehr gemeinsam zum Verhaumlngnis ge-worden

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Unter dem Druck der politischen Umstaumlnde beschlossen dieStoiker ihre Sezession und erklaumlrten die Beschaumlftigung mit der Polisals einst zentrales Thema der Philosophie fuumlr nichtig Daruumlber hinausdistanzierten sie sich ebenfalls noch in manch anderem Punkt vonPlaton und Aristoteles wenn sie etwa im Felde der theologia und derAffektlehre Theoreme vortrugen die erst angesichts der Lage seit 307auf die Tagesordnung gerieten So antworteten sie auf den Herrscher-kult der implizit die unsterblichen Goumltter zu zweitrangigen Groumlszligenherabstufte mit der providentia-Lehre um zu demonstrieren wessenFuumlrsorge in Wahrheit die Menschheit ihr Uumlberleben zu verdankenhabe Da aber die Goumltter bei rehabilitierender Bestaumltigung ihrer ndashden kultisch verehrten Diadochen uumlberlegenen ndash Allmacht zwingendauch fuumlr alle Uumlbel in derWelt verantwortlich waren musste Chrysippden Streit zwischen Homer und Platon ob die Goumltter fuumlr alles odernur fuumlr das Gute zustaumlndig seien erneut austragen Es war also letzt-lich das aumluszligere Phaumlnomen des Herrscherkultes der diesen Streit un-ter den Gelehrten ausloumlste Aumlhnlich lagen die Dinge beim Problemder Affekte Der dank der politischen Ereignisse des Jahres 307 er-zwungene Ruumlckzug der Philosophie auf sich selbst war nur unter derBedingung entschieden abschirmender Selbstbehauptung nach auszligenertraumlglich Dieselbe Bedingung der Autonomie musste aber auch nachinnen erfuumlllt sein und zwar gegen ein ganzes Buumlndel von denkbarenAffekten die bei Verzicht auf ihre Einhegung die muumlhsam nach au-szligen behauptete Souveraumlnitaumlt wieder untergraben haumltten Folgerichtigwar die Affektlosigkeit (ἀπάθεια) das zentrale Thema der stoischenEthik ndash mit dem Ziel der Wahrung der inneren Autonomie Die Stoi-ker konnten daher nicht das Risiko eingehen die Behandlung derAffekte wie Aristoteles wollte eher beilaumlufig den Nachwirkungender von der tragischen Dichtung ausgeloumlsten Katharsis zu uumlberlassenStattdessen mussten die Stoiker darauf bedacht sein eine spezielleTherapie fuumlr den Fall zu entwickeln dass wie zu befuumlrchten denAffekten katechismuswidrig hier und da eben doch ein Ausbruch ge-lingen sollte

Obwohl die Stoiker als die neuen Meinungsfuumlhrer Platon undAristoteles fuumlr Jahrhunderte in den Hintergrund zu draumlngen ver-mochten mussten sie am Ende doch erleben dass die beiden Arche-geten im Status von unangefochtenen Klassikern ihre Renaissanceerlebten Zwar sicherten die Stoiker durch ihren weisen Ruumlckzug derphilosophia perennis die Kontinuitaumlt duumlrften aber am Ende aus dem-selben Grund dem sie ihr Entstehen verdankten wieder von Platon

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und Aristoteles in den Schatten gestellt worden sein Denn Lehrerwie Schuumller verstanden anders als die Stoiker unter Schule stets eineInstanz der systematischen Beschaumlftigung gerade auch mit der Au-szligenwelt Dieser erweiterte Argumentbereich konnte dem Kreis umPlaton und Aristoteles schlieszliglich nicht mehr schaden als es keinedirekt angesprochenen Zeitgenossen mehr gab die sich durch ihreLehren und das Handeln ihrer Schuumller provoziert fuumlhlten Von sol-chen Gefuumlhlen unberuumlhrt suchen hingegen spaumltere Generationen beiPlaton und Aristoteles gerade wegen ihres umfassenden Blickfeldesnach Belehrung und gegebenenfalls Bestaumltigung eigener Theorienund das sowohl im Grundsaumltzlichen als auch in Einzelfragen

Platons Philosophie nahm ihren Ausgang von der ganz be-stimmten Frage der Apologie wie Sokrates der gerechteste BuumlrgerAthens gegen die Asebieklage des Anytos Meletos und Lykon zuverteidigen sei In den Kategorien der Theorie der Rhetorik haumltte die-se Frage als eine quaestio finita gegolten die im Verfolg eine Fuumlllevon sich anschlieszligenden quaestiones infinitae ausloumlsen sollte wienaumlmlich ein gerechter Staat moumlglich sei der vom Geist seiner gerech-ten Buumlrger gepraumlgt waumlre Mit dem daraus erwachsenen Fundus vonFragen und erteilten Antworten haben Platon und entsprechend Aris-toteles der Nachwelt einen geistigen Reichtum hinterlassen dem sieschlieszliglich ndash nach zwischenzeitlicher Suspendierung ndash ihre Anerken-nung als unumstrittene Klassiker bis in unsere Tage zu verdankenhaben Angesichts solcher Hinterlassenschaft darf sich die Philo-sophie mit gutem Gewissen als Vergegenwaumlrtigung ihrer eigenen Ge-schichte definieren Vergegenwaumlrtigung wiederum ist im weitestenSinne das Gemeinschaftswerk der subtilitas intellegendi und der sub-tilitas applicandi und das so bestimmte Vorgehen ist auch dieVoraussetzung fuumlr die Zeugenrolle die Platon und Aristoteles beider philosophischen Begleitung der Preuszligischen Reformen durchG W F Hegel und erneut bei der geistigen Gruumlndung der Bundes-republik nach dem ZweitenWeltkrieg durch Joachim Ritter und seineSchuumller spielten Dass Platon und Aristoteles fuumlr den buumlrgerlichenRechtsstaat in den Zeugenstand traten setzt den hermeneutischenPhilosophiebegriff voraus demgemaumlszlig die Philosophie auf der Praumlsenzihrer eigenen Geschichte beruht Damit ist zugleich die Frage nachden Aussichten einer umfassenden Erneuerung der praktischen Phi-losophie gestellt der sich so lautet unsere These Joachim Ritter undseine Schuumller widmeten indem sie dem Primat der praktischen Ver-nunft die Ehre erweisend die klassischen Disziplinen der philosophia

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practica universalis ndash Ethik Politik Oumlkonomik ndash schrittweise auf-nahmen und in ein systematisches Verhaumlltnis zur modernen Weltsetzten

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Hermeneutikgeleitete Chronikder Wege und Umwege derphilosophia practica universalisvon den Anfaumlngen bis in die Gegenwart

Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

Vom Ende her gesehen koumlnnte leicht der Eindruck entstehen Platon(42827ndash34847) habe sich von vornherein als Lebenswerk die Gruumln-dung einer philosophischen Schule zum Ziel gesetzt in deren Mittel-punkt die Ausbildung einer systematischen politischen Theoriestehen sollte Dieser Eindruck taumluscht indes Wie Platon selbst imVII Brief (324 Bndash326 D) seinen Werdegang darstellt hatte er ur-spruumlnglich gar nicht die Absicht eine Schule zu gruumlnden die sichphilosophisch mit dem Staat befasste Stattdessen draumlngte er zunaumlchstauf eigenes politisches Handeln als er in der Herrschaft der DreiszligigTyrannen (40403) eine Chance sah einen Staat zu errichten der freiwar von den Schwaumlchen der Demokratie Enttaumluscht musste er aberbald erkennen dass die fruumlheren Verhaumlltnisse in der Demokratie ver-glichen mit der Gegenwart unter den Dreiszligig Gold (sic) waren Fol-gerichtig wandte er sich von den Dreiszligig ab und war nach deren Sturzwiederum bereit zu politisch aktiver Taumltigkeit wurde aber erneut ent-taumluscht ndash durch das Todesurteil gegen Sokrates den Mangel an poli-tischen Freunden die grassierende Geringachtung der Gesetze unddie Inthronisierung der Lust (ἡδονή) als Maszlig der Dinge Erst darauf-hin widmete sich Platon der theoretischen Beschaumlftigung mit demwahren Staat nicht ohne fuumlr erneute praktische Taumltigkeit in der Poli-tik bessere Zeiten abzuwarten die dann eintraumlten wenn wahrhaftePhilosophen die Herrschaft im Staat uumlbernaumlhmen und nicht die durchdas Los ins Amt befoumlrderte Inkompetenz Seine Philosophie war alsoOpposition auszligerhalb der politischen Buumlhne gedacht als ungewollteZwischenphase die erst endete wenn die Staumldte nach philosophi-schen Grundsaumltzen verfasst waumlren Die Gruumlndung der Schule erfolgtealso eher aus Verlegenheit sie war nicht die erfolgreiche Ausfuumlhrungeiner urspruumlnglichen Absicht

Mit seinem Bericht im VII Brief laumlsst Platon also durchblickendass er gleichsam widerWillen die Akademie als Schule gruumlndete undderen erstes Schulhaupt wurde Die Schule galt Platon als Surrogateiner Polis der vollendeten Sittlichkeit Folgerichtig war das Leit-thema der Schule die Lehre vom wahren Staat der das bloszlige Surrogatwieder uumlberfluumlssig machen sollte Platon verschweigt auch nicht vonwelchem Standpunkt aus er die Grundzuumlge des idealen Staates ent-wickelte Waumlhrend er die Schwaumlchen der Demokratie eher in derenStrukturen suchte ortete er die Schwaumlchen der Oligarchie im persoumln-lichen Versagen insbesondere der Dreiszligig Tyrannen Demgemaumlszlig plauml-

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dierte er fuumlr eine zu wahrer Aristokratie veredelte Oligarchie die vonindividuellen und strukturellen Defiziten frei war Diese dem Best-moumlglichen verpflichtete Parteinahme erfuumlllte zugleich die Anforde-rungen einer auf Widerspruchsfreiheit bedachten Theorie sofernPlaton alle seine politischen Vorstellungen auf Vernunftbegriffe zu-ruumlckfuumlhrte und nie vergaszlig sie geltend zu machen wo immer ihreBeachtung zwingend geboten war Mag es Platon auch nicht gelungensein in Athen einen Wiedergaumlnger des Sokrates als philosophischenHerrscher zu bestallen und auf diese Weise sein praktisches Ziel zuerreichen so bleibt doch als Ergebnis seiner Anstrengungen zumin-dest als Fortschritt im Bewusstsein dies bestehen dass von nun anpolitische Vorgaumlnge unvermeidlich von der Aufmerksamkeit einerauszligerhalb der politischen Buumlhne angesiedelten Vernunftkritik beglei-tet wurden Insofern blieb Platons mutiger Schritt eine politischeEntitaumlt systematisch in Zweifel zu ziehen und sie auch noch miteinem Gegenmodell zu konfrontieren nicht ohne kuumlnftige Folgen

Einstweilen blieb aber Platons politische FundamentaloppositionSache der Schule deren Eigengesetzlichkeit sich auf die inhaltlicheWeiterarbeit spuumlrbar auswirken sollte Zur (nachsokratischen)Grund-ausstattung der Schule gehoumlrte die Schriftlichkeit die Platon in nichtgeringe Verlegenheit brachte weil er auf unmittelbare Praumlsenz derVernunft setzte und nicht auf eine mittelbare die sich auch nochdurch Ablage ins Buumlcherregal unschaumldlich machen lieszlig1 Zudemzeichnete sich uumlber das politische Kerninteresse hinaus eine durchschultypisches Weiterfragen ausgeloumlste Verfaumlcherung ab die Platonnoch identitaumltsphilosophisch aufzufangen vermochte die aber auflange Sicht jenseits der Politik zur Etablierung von Einzeldisziplinenwie Ontologie Kosmologie Mathematik und Erkenntnistheorie fuumlhr-te Den Sophisten ging es aumlhnlich wie Sokrates von Protagoras er-faumlhrt Nur bei ihm selbst erfuumlhren die Schuumller das Noumltige uumlber ihrKerngeschaumlft das Haus gut zu verwalten und sich auf der Agoraacute zubewaumlhren waumlhrend sie bei anderen Sophisten wie Hippias von Elisverdorben wuumlrden weil diese sie mit Unnuumltzem wie Arithmetik As-tronomie Geometrie und Dichtung traktierten2 So weitete also auchdie Schule Platons allmaumlhlich ihren Themenkreis immer weiter aus

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Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

1 Auf dieses Merkmal der Schule ist G Bien naumlher eingegangen Das Theorie-Praxis-Problem und die politische Philosophie bei Platon und Aristoteles in Phil Jb 76(196869) 264ndash314 hier S 307ndash3132 Platon Protagoras 318 Dndash319 A

je mehr ihre Vorlaumlufigkeit die mit einem politischen Erfolg der Fun-damentalopposition ihr Ende finden sollte in Vergessenheit gerietAristoteles sollte an seinem Lehrer in der Sache manche Kritik uumlbenaber die Regeln der Institution Schule ihre Hinwendung zur Schrift-lichkeit und ihre Etablierung von Einzeldisziplinen (Pragmatien) ver-standen sich fuumlr ihn schon von selbst

Aristoteles (384ndash322) hatte als Siebzehnjaumlhriger seine makedo-nische Heimat verlassen um sich im Jahre 36766 der Akademie an-zuschlieszligen Da war Platon schon uumlber fuumlnfzig Jahre alt und hatteseine philosophische Arbeit dogmatisch abgeschlossen Da er in die-sen Tagen kurz vor seiner zweiten Reise nach Syrakus stand hat ervielleicht erst nach seiner Ruumlckkehr erkannt wer von nun an seinbegabtester Schuumller war Als Aristoteles einmal bei einer Vorlesungfehlte rief Platon verzweifelt aus raquoDer Geist ist nicht zugegenstumpf ist da die Houmlrerschaftlaquo ndash im Original ein ausgefeilter jambi-scher Trimeter ὁ νοῦς ἄπεσ|τιν κωφὸν τἀκ|ροατήριον3 Aristote-les wird sich dieses Lob seines Lehrers gewiss bei vielen Gelegenhei-ten verdient haben nicht zuletzt aber dank der Art wie er sich beiPlatons beruumlhmter Altersvorlesung raquoUumlber das Gutelaquo4 bewaumlhrte Alsdieser das Gute kosmologisch im zahlhaft bestimmten Einen verorte-te blieben die Houmlrer einer nach dem anderen enttaumluscht der Vor-lesung fern weil sie Ausfuumlhrungen uumlber seelische koumlrperliche undaumluszligere Guumlter im gemeinen Verstande erwartet hatten Auf diese Re-aktion der Houmlrer hatte Platon nur gewartet er wollte wissen wer mitseinem Vorstellungshorizont uumlber den der Menge hinausging undsich damit als genuiner Philosoph erwies Tatsaumlchlich harrten nurwenige Houmlrer bis zum Ende aus und empfingen den Ritterschlageines wahren Philosophen darunter natuumlrlich Aristoteles Dieser er-klaumlrte allerdings spaumlter er werde sich an das allgemein Anerkanntehalten statt aus dem Satz dass das Eine ein Gut sei herzuleiten dassdie Gerechtigkeit ein Gut sei5

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Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

3 Zitiert nach V Rose Aristotelis qui ferebantur librorum fragmenta collegit V RLeipzig 18701886 repr Stuttgart 1967 S 4284 Das Vorlesungsmanuskript ist im Original nicht erhalten Die zahlreichen Para-phrasen bei anderen Autoren hat W D Ross Aristotelis Fragmenta Oxford 1935S 111ndash120 gesammelt5 Aristoteles Eudemische Ethik 1218 a 15ndash22 Der Aristotelesschuumller Aristoxenosbestaumltigte diese Reaktion seines Lehrers in seinen ἁρμονικὰ στοιχεῖα (ed P Mar-quard Die harmonischen Fragmente des Aristoxenos Berlin 1868 S 30) und fuumlgtehinzu es empfehle sich zu Beginn einer Vorlesung sein Thema genau anzukuumlndigen

Im Uumlbrigen sparte auch Aristoteles nicht mit Lob auf seinenLehrer Im Rahmen seiner Inschrift auf einem Altar der Freundschaftden Eudemos von Kypros von einer Reise nach Athen zuruumlckgekehrtgestiftet hatte ruumlhmt Aristoteles Platon als Mann den schlechteMenschen nicht einmal loben duumlrften und als Mann der als Ersterunter den Menschen durch eigene Lebensfuumlhrung und vorgetrageneGruumlnde demonstriert habe dass der gute Mann ebendeshalb auch dergluumlckliche Mann ist Zwar taucht im uumlberlieferten Text der Distichenweder der Name Platons noch der des Eudemos auf Olympiodor ver-sichert aber Aristoteles habe in seiner Widmung an den Stifter Eude-mos ebendieses Lob auf Platon ausgesprochen6 Bei welchem Lehrerhaumltte Aristoteles auch besser lernen koumlnnen wie man wesentlicheaber oft uumlbersehene Fragen stellt wie man fuumlr andere uumlberraschendauf Zusammenhaumlnge und Widerspruumlche aufmerksam macht wieman auf den ersten Blick unerkannte Implikationen und Konsequen-zen herausarbeitet wie man unzureichend Bewiesenes als solchesidentifiziert wie man einmal erzielte Uumlbereinkuumlnfte stets im Ge-daumlchtnis praumlsent haumllt wie man seine Argumente durch Ruumlckfuumlhrungauf Gruumlnde und Ursachen als anerkannte Berufungsinstanzen uumlber-zeugend vortraumlgt

Zur gegenseitigen Wertschaumltzung aufgrund ihrer intellektuellenVorzuumlge gesellte sich die politische Uumlbereinstimmung beider Philoso-phen die neben der Sympathie fuumlr Makedonien die entschieden ab-lehnende Haltung gegenuumlber der attischen Demokratie betraf FuumlrPlaton fiel die Suche nach der gerechten Polis als dem hiesigen Kor-relat des absolut Guten mit entschiedener Demokratiekritik zusam-men Seine politische Leitidee bildete die Gerechtigkeit als Einheit derKardinaltugenden mit dem Ziel der Baumlndigung des sinnlichen Inte-resses (ἡδονήvoluptas) waumlhrend in seinen Augen die demokrati-schen Leitideen der Gleichheit und Freiheit lediglich auf eine Beschouml-nigung der voluptas als des wahren Bestimmungsgrundes der Mengehinausliefen Diesen von voluptas durchdrungenen Staat sah Platonals derart heillos verfahren an dass er anknuumlpfende Schritt-fuumlr-Schritt Reformen gar nicht erst in Betracht zog Stattdessen setzte

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Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

und wenn man Paradoxes vortragen wolle dies auch unmissverstaumlndlich zu sagen Sobliebe den Houmlrern die Enttaumluschung erspart wenn sie in Erwartung einer Belehrunguumlber Guumlter wie Reichtum Gesundheit Gluumlck am Ende lediglich die blasse Auskunfterhielten das Gute sei Eines6 Olympiodoros in Platonis Gorgiam XLI 10 ad p 515 C

Platons politische Opposition mit anderen Mitteln7 auf eine vomNullpunkt aus fehlerfrei in Gedanken durchkonstruierte Polis in derdie schon seit Kleisthenes bestehende Einheitlichkeit und Geschlos-senheit des Gemeinwesens gewahrt blieben aber konkrete demokra-tische Komponenten wie Rat und Volksversammlung Geschwore-nengericht und Flotte Panathenaumlen Dionysien und Eleusinien nichteinmal dem Namen nach vorkamen Bei dieser Konstellation gerietenSchule und Polis zwangslaumlufig in ein Verhaumlltnis sich gegenseitigenIgnorierens Die Schule fuumlhrte ihre Debatten als private Institutionohne Beruumlcksichtigung der Vorgaumlnge auf der Agoraacute und die Agoraacutemuumlhte sich mit den ihr eigenen Mitteln um eine Konsolidierung derdemokratischen Institutionen ohne die Einwaumlnde der Schule zurKenntnis zu nehmen Nun mag Platon einen offenbar unpolitischenweil von den Realitaumlten abgehobenen Ausgangspunkt gewaumlhlt unddamit seiner Weiterarbeit wie spaumlter die hermeneutisch argumentie-rende Kritik des Aristoteles zeigen sollte einen schlechten Dienst er-wiesen haben aber ihn leitete ohne jeden Zweifel ein handfestes Mo-tiv und eine daraus abgeleitete allgemeine bis in unsere Tage zubeherzigende Grundeinsicht

Platons Schluumlsselerlebnis war das Todesurteil gegen Sokratesdas eine Mehrheit unter fuumlnfhundert Geschworenen faumlllte obwohlsich Sokrates in allen Anklagepunkten ganz offenkundig als nichtschuldig erwiesen hatte Moumlglich wurde diese Gerichtsentscheidungweil es den Anklaumlgern wie routinierten Demagogen gelang mit ihrenUnwahrheiten eine ignorante Menge auf ihre Seite zu ziehen In derTat hatten sie wie Sokrates gleich im zweiten Satz der Apologie aus-ruft nicht ein einzigen wahren Satz vorgetragen (ἀληθές γε hellip οὐ-δὲν εἰρήκασιν) Der offenbar unausrottbaren Moumlglichkeit dass De-magogen gerade mit der Unwahrheit Mehrheiten fuumlr sich gewinnenkoumlnnen galt zeitlebens Platons kritische Aufmerksamkeit Tatort wa-ren nicht nur die Geschworenengerichte sondern nicht minder dieVolksversammlung in der interessierte Redner Mehrheitsbeschluumlsse(ψηφίσματα) herbeifuumlhrten mit denen sie bestehende Gesetze un-terliefen8 Auch fuumlr dieses Fehlverhalten gab es eine Schluumlsselszeneals naumlmlich im Zuge des Arginusenprozesses ein Mann aus der auf-gehetzten Menge rief es sei eine Ungeheuerlichkeit wenn man denDemos nicht tun lasse was er wolle und gleich darauf durchgesetzt

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Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

7 Platon VII Brief 325 Endash326 A8 Ebd 325 DndashE

wurde dass die angeklagten Seeoffiziere en bloc verurteilt wurdenund nicht wie es das Gesetz verlangte jeder einzeln Der Einzigeder sich diesem rechtswidrigen Beschluss widersetzte war Sokrates9

Dass dieser Staat ausgerechnet seinen gerechtesten Buumlrger zumTode verurteilt hatte hat Platon nie verziehen Da indes die aus-schlaggebende Mehrheit der Geschworenen ihr Urteil wohl kaumfuumlr ungerecht hielt sah Platon sich verpflichtet allen ebenso gesinn-ten Athenern vorzutragen was an und fuumlr sich Gerechtigkeit wirklichist und zwar in der Politeia aus dem Munde eben des Sokrates Danun der Staat fuumlr die Gerechtigkeit der groumlszligere und besser sichtbareBewaumlhrungsort ist als der Einzelne schlug Sokrates vor den Begriffvon Gerechtigkeit zunaumlchst im Blick auf den Staat zu entwickeln (Po-liteia 368 E 472 B) Die Frage nach der Gerechtigkeit konkretisiertesich auf diese Weise zur Frage nach dem gerechten Staat Folgerichtigsetzte Platon im Geist des Sokrates der attischen Demokratie mitihrem falschen Machtwillen einen auf reiner Vernunft beruhendenIdealstaat entgegen von dessen Vorzuumlgen er vielleicht schon dienaumlchste Generation der Athener zu uumlberzeugen hoffte10 anderenfallskoumlnne man nur noch auf einen Gluumlcksschlag von auszligen (τύχη) set-zen oder dass sich dank goumlttlicher Fuumlgung ein Staatenlenker mit derPhilosophie befasse11 Die Befuumlrchtung der Philosoph koumlnne in seinereigenen Stadt wenn uumlberhaupt dann nur dank goumlttlicher Fuumlgung po-litisch taumltig werden (Politeia 592 A) wollte Platon allerdings fuumlr sichnicht als Entschuldigung gelten lassen im Gegenteil Platon ver-sicherte er sei eigens nach Syrakus gereist damit man ihm nicht vor-halten koumlnne er sei nur im Felde der Theorie stark ziehe sich aberzuruumlck wenn es an die praktische Ausfuumlhrung gehe (VII Brief328 C) Vielmehr war fuumlr ihn der gerechte Staat Inhalt philosophi-scher Reflexion mit dem Ziel seiner Verwirklichung

Im idealen Staat darf die Entscheidungsbefugnis nur bei Buumlrgernliegen die allein durch philosophisch uumlberpruumlfte Qualifikation undnicht durch Loswahl in ihr Amt gelangt sind Nur wer die Houmlhle derdie Menge auszeichnenden Kurzsichtigkeit verlassen und dank uumlber-legener Vernuumlnftigkeit die Idee des Guten geschaut hat vermag pri-vat wie oumlffentlich vernuumlnftig zu handeln12 eben seitdem er sich von

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Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

9 Xenophon Hellenika 1 7 12ndash16 Vgl unten Anm 38 S 137 und Anm 17 S 14810 Platon Politeia 315 CndashD11 Platon VII Brief 326 A12 Platon Politeia 517 C

der Aussageabsicht der drei beruumlhmten Gleichnisse hat uumlberzeugenlassen dass naumlmlich das Gerechte das Gute ist und nicht das sinnlicheInteresse der auf den Schein fixierten Menge13 Entsprechend heiszligt esin Platons 8 Brief (355 A) Fuumlr besonnene Menschen ist Gott das Ge-setz fuumlr die unvernuumlnftigen ist es die Lust Das Gute hat also densel-ben Stellenwert wie Gott und bildet wie dieser insofern den Welt-grund als es weil jenseits (ἐπέκεινα) des daseienden Universumsangesiedelt im Rang noch uumlber dieses hinausragt und sich heilsambewaumlhrt indem es dank seinem Sproumlssling dem Sonnenlicht Orien-tierung durch Sichtbarkeit der Dinge sowie Leben Wachstum undGedeihen moumlglich macht14 Die Ausrichtung amGuten als Weltgrunderhebt das Gerechte zur unbedingten Handlungsnorm fordert abernicht nur sondern gewaumlhrt in einem damit den Buumlrgern auch wahr-haft praktischen Nutzen naumlmlich das Leben im sittlichen Gesetzes-staat ndash die Frucht eben der Herrschaft der Gerechtigkeit15 Damit istdie Frage zu deren Beantwortung Sokrates die drei beruumlhmtenGleichnisse vortrug naumlmlich ob Lust oder das Gerechte das wahreGut ist beantwortet und die implizit gegebene Antwort die auf derUnterscheidung der vier Erkenntnisstufen im Liniengleichnis beruhtbesagt dass die beschraumlnkten intellektuellen Moumlglichkeiten der Men-ge zu dieser Einsicht nicht ausreichen diese also fuumlglich zu entmuumln-digen ist schon um den Demagogen ein leichtglaumlubiges Publikum zuentziehen

Der Form nach stand bei aller Reserve Platon durchaus in derSchuld der Demokraten Sie waren es die unter Kleisthenes den atti-schen Staat als rational verwalteten Einheitsstaat geschaffen hattender nicht mehr nach Staumlmmen Sippen und oumlrtlich bedingten Loyali-taumlten fragmentiert war Unter Phylen verstand Kleisthenes nichtmehr den Oberbegriff vertikal strukturierter Personenverbaumlnde son-dern horizontal strukturierter einheitlich verwalteter Bezirke nachdem Territorialprinzip Das Volk der Athener (ὁ τῶν Ἀθηναίων δῆ-μος) trat an die Stelle der Klientel wie in Rom der populus Romanusan die Stelle der gentes Platon musste also das Prinzip staatlicherEinheit selbst nicht mehr erfinden wohl aber dem Inhalt nach fuumlr alleZukunft beschlieszligen dass nicht nur dieser sondern jeder Staat sei-nem Wesen gemaumlszlig in der Pflicht sei sich als raquoWirklichkeit der sitt-

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Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

13 Ebd 505 B14 Ebd 509 AndashB15 Ebd 505 A

lichen Ideelaquo (Hegel) zu bewaumlhren Uumlber diesen Beschluss hinausdachte Platon noch einen Schritt weiter denn es konnte nicht ge-nuumlgen einen Staat philosophischer Sittlichkeit lediglich zu gruumlndener musste auch erhalten werden ndash durch ein Kollegium integrer Ge-setzeshuumlter die das muumlhsam Erreichte unveraumlndert zu bewahren hat-ten16 Diese Position waumlre etwa im Arginusenprozess unbesetzt ge-wesen haumltte Sokrates sie nicht eingenommen und auf Einhaltungder Gesetze bestanden

Ebenso wie die vorgegebene Staatlichkeit hat auch das mit dieserverbundene demokratische System der Rechtspflege das das archai-sche Selbsthilfeprinzip abloumlste Eingang in Platons Philosophie gefun-den Die archaische Selbsthilfe bestand darin dass die durch einenUumlbergriff beleidigte Sippe der Sippe des Taumlters die Fehde ankuumlndigte(πρόρρησις) deren Beendigung durch Abschluss eines Suumlhnevertra-ges (αἴδεσις) erfolgte Dass bei dieser Form der Konfliktbeilegungdurch Aussoumlhnung die staumlrkere Sippe in der Regel ihre Loumlsungsvor-stellungen durchsetzte liegt auf der Hand Der Schritt fuumlr Schritterfolgte Gerichtszwang durch den der Staat erst allmaumlhlich das Mo-nopol der Rechtspflege uumlbernahm hatte zum Ziel dass anstelle zufaumll-liger Machtverhaumlltnisse die Systematik von Recht und Gesetz imStreit der Parteien entscheidet17 Diesen Sinn der nacharchaischenRechtsprechung hat Ovid mit dem Hexameter zusammengefasstinde datae leges ne firmior omnia posset (Fasten 3 279) Im Gor-gias-Dialog haumllt nun Platon der Rhetorik vor sie sei der methodischeVersuch gerade diese Errungenschaft der Rechtsprechung ruumlckgaumln-gig zu machen Kallikles ein Anhaumlnger des Rhetoriklehrers Gorgiasspricht unverhohlen aus dass Herakles voumlllig im Recht war Geryonesseine Rinder die er weder gekauft noch zum Geschenk erhalten hatteohne Bedenken zu stehlen da das von Natur Gerechte darin bestehedass alles Eigentum der Schwaumlcheren in Wahrheit dem Staumlrkeren ge-houmlre18 Sokrates haumllt Kallikles entgegen dass wahre Uumlberlegenheitnicht im Mehr-haben-Wollen sondern im Sittlich-besser-Sein be-stehe und beruft sich damit ebenso wie die Rechtsprechung auf ein

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Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

16 Platon Politeia 484 B Nomoi 752 DndashE 754 Dndash755 C 770 AndashD 847 AndashD 959 Dndash961 CIm Abschnitt zu raquoDemetrios Phalereus ndash oder die vierzehnte Wendelaquo wird diese pla-tonische Vorgabe noch eine wesentliche Rolle spielen17 Zu diesen nicht leicht zu rekonstruierenden Prozessen sei auf die im Literaturver-zeichnis genannten Aufsaumltze von E Ruschenbusch verwiesen18 Platon Gorgias 484 BndashC

systematisches Kriterium um die individuelle Machtperspektive inSchranken zu weisen Dass Sokrates bei seinem Gespraumlchspartnermit dieser Argumentation nicht durchdringt ist allein der Borniert-heit des Kallikles zuzuschreiben

Es ist nicht zu leugnen dass Platon ebenso wie der Oligarch Kal-likles den Besseren das Wort redete aber unter den Besseren wirklichBessere verstand die den Staat als sublimierte Oligarchie tragen soll-ten Von dieser Staatslehre gilt es also zu uumlberzeugen und das ver-suchte Platon auch ganz im Sinne des Sokrates zunaumlchst durch sach-liche Gespraumlchsfuumlhrung oder Dialektik (διαλέγεσθαι) die mitkurzen Saumltzen Rechenschaft fordert und gewaumlhrt Sokrates mochtekeine langen Reden die geeignet sind das Ausgangsthema nach eini-ger Zeit aus den Augen zu verlieren19 Auch mochte es Sokrates garnicht wenn Unterredner sich streitsuumlchtig (ἐρίζειν) an Worten fest-bissen statt am intendierten Inhalt20 Das richtet sich gegen Protago-ras der als Erfinder der Eristik Wortklauberei betrieb statt sich aufdie Bedeutung des Sachverhalts zu konzentrieren21 Insgesamt ist diesokratische Version von Dialektik ein Gegenentwurf zur raquosogenann-ten Kunst der Rhetoriklaquo22 die lediglich den Uumlberredungserfolg zumZiel hat und nicht etwa wohlbegruumlndete Wahrheiten herausarbeitenwill Nun musste Platon etwa im Gespraumlch mit Kallikles im Gorgiasoder mit Thrasymachos im ersten Buch der Politeia erkennen dassgerade seine Sachlichkeit bei Boumlswilligen auf taube Ohren stoumlszligt Erentwickelte daher noch in der Politeia einen uumlber Sokrates hinaus-gehenden Begriff von Dialektik die nicht diskutiert sondern dekre-tiert nachdem diese durch reines auf das Gespraumlch mit sich selbstkonzentriertes Durchdenken des Wesentlichen frei von sinnlichenEindruumlcken zum Ziel der Erkenntnis des Guten gelangt ist (532 AndashB) Weil somit Dialektik zustaumlndig wird fuumlr die Vergegenwaumlrtigungdes Guten in der politischen Welt darf auch nur der ausgewieseneDialektiker Staatenlenker werden (534 CndashD) der auf seinen Einsich-ten beharrt auch wenn ihm seine Mitbuumlrger die Zustimmung ver-weigern Gegen vordergruumlndige Rechthaberei von wem immer sieausgeht verteidigt Platon das Prinzip vernuumlnftiger Argumentationgegen die Kraumlfte ihrer Blockierung

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Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

19 Platon Protagoras 336 AndashC Gorgias 474 B20 Platon Politeia 454 A21 Diogenes Laertios 9 5222 Platon Gorgias 448 D

Page 7: Platon und Aristoteles als Wegbereiter der praktischen ... · Differenzen zwischen Platon und Aristoteles ins Auge fallen. Wer jedoch Platon und Aristoteles zusammen gegen die später

mehr auf die Problemlage der im Zeichen des Hellenismus gewandel-ten Polis

Waumlhrend nun das Setzen der alten Stoiker auf innere Auto-nomie ndash Ausdruck einer mehr oder weniger erzwungenen Sezessionaus der Polis ndash ebendeshalb historisch zu erklaumlren ist sind Platon undAristoteles von Zweifeln an der Allgemeinheit der Grundsaumltze ihrerpraktischen Philosophie laumlngst freigesprochen Dank dieser spaumltes-tens seit Cicero erwirkten Rehabilitation sind Platon und Aristotelesganz im Sinne ihrer urspruumlnglichen Intentionen bis in die moderneWelt einflussreich geblieben und konnten etwa Hegels philosophi-scher Begleitung der Konstituierung des modernen Rechtsstaats in-spirierend zur Seite stehen ndash gleichsam zur Selbstvergewisserung dereinen Sattelzeit durch eine andere Hegels Vorgehen sollte sich erneutbei gleichzeitigem Ruumlckgriff auf Platon und Aristoteles wiederholenals im Zuge der geistigen Gruumlndung der Bundesrepublik nach demZweiten Weltkrieg bewusst wurde dass eine Wiederaufnahme deszwischenzeitlich verworfenen Hegelschen Plaumldoyers fuumlr den Rechts-staat ein Gebot der Stunde sei Die faumlllige Vergegenwaumlrtigung Hegelsuumlbernahm initiierend Joachim Ritter und ausweitend lenkten spaumlterseine Schuumller aus dem raquoCollegium Philosophicumlaquo den Blick auf dieunvermeidlichen von Ethik Politik und Oumlkonomik zu beantworten-den Anschlussprobleme Im Zuge der Anknuumlpfung an die Traditionder praktischen Philosophie durch J Ritter erfuhren Platon und Aris-toteles unter Vermittlung Hegels erneut in einem essenziellen Ver-fahren ihre ehrenvolle Einberufung in den Zeugenstand Wenn nundieses Buch sich anschickt die Grundzuumlge dieses modernen Prozessessamt seiner auf Platon und Aristoteles zuruumlckgehenden Vorgeschich-te nachzuzeichnen so muss es sich bei einer in mehr als zweitausendJahren angehaumluften Stofffuumllle zwangslaumlufig auf die Hervorhebungdes Wesentlichen beschraumlnken Indes tut das damit eingestandeneUumlberspringen des weniger Wesentlichen der Intention keinen Ab-bruch zur Selbstvergewisserung der praktischen Philosophie bei-zutragen durch Ruumlckbesinnung auf ihren systematischen Ursprungder mit der Einsicht in die Zusammengehoumlrigkeit von Ethik Politikund Oumlkonomik zusammenfaumlllt

Ein Buch wird in der Regel nicht ohne konsultierende Gespraumlchemit befreundeten Experten geschrieben Das ist auch in diesem Fallgeschehen Fuumlr ihre Bereitschaft sich jederzeit auf die Eroumlrterungaufkommender Probleme einzulassen oder Bedenken zu zerstreuendankt der Autor herzlich den Professoren Dr Guumlnther Bien Dr Rai-

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Vorwort

ner Henke und Dr Dr Karl Homann Zusaumltzlichen Dank schuldet derAutor Professor Henke der freundlicherweise das Korrekturlesen desManuskripts auf sich genommen hat

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Vorwort

Inhalt

Vorwort 5

Einleitung ndash zur Erlaumluterung der These 11

Hermeneutikgeleitete Chronik der Wege und Umwege derphilosophia practica universalis von den Anfaumlngen bis in dieGegenwart 19Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie 21Schluumlsse aus dem politischen Scheitern der Platonschuumller 35Die Vorarbeiten des Aristoteles fuumlr die Politik 54Die philosophischen Pflichten des Tages gegenuumlber dengriechischen Staumldten 62Die ideale Stadt des Aristoteles 72Das Ende der Freundschaft zwischen Alexander und Aristoteles 84Die Bedeutung der elf Wenden in der Athenaion Politeia ndashquid facti 100Die Legitimitaumlt der attischen Demokratie ndash quid iuris 107Das Ungluumlcksjahr 322 117Antipatros und Phokion ndash oder die zwoumllfte Wende (322) 121Kassandros und Polyperchon ndash oder die dreizehnte Wende(319) 125Demetrios Phalereus ndash oder die vierzehnte Wende (317) 128Die Sezession der Philosophie nach dem Sturz des DemetriosPhalereus (307) 146Demetrios Poliorketes und der Herrscherkult ndash oder diefuumlnfzehnte Wende (307) 163

9

Die Tyrannei des Lachares ndash oder die sechzehnte Wende(um 300) 171Die Ruumlckkehr des Demetrios Poliorketes ndashoder die siebzehnte Wende (295) 174Der Siegeszug des Herrscherkults 187Die stoische Goumltterlehre als Antwort auf den Herrscherkult 193Lactantius uumlber die heidnische Entlastung der Goumltter 208Die wiederhergestellte Autoritaumlt Homers 214Platon und Chrysipp im Streit uumlber Homers theologia 227Die tragische Katharsis und die stoische Lehre von denAffekten 239Theodizee und Geschichtsphilosophie 258Die quaestio finita als Pruumlfstein originalitaumltsgerechterRezeption 276Hegels Ruumlckgriff auf die Lehre vom sittlichen Staat bei Platonund den Tragikern 282Aristoteles als Zeuge der praktischen Philosophie Hegels 288Joachim Ritters Erneuerung der Hegelschen Platon- undAristotelesrezeption 314Politik und Ethik als Bauglieder der philosophia practicauniversalis im Blickpunkt der Ritterschen MitteGuumlnther Bien Hermann Luumlbbe Odo Marquard 328Die Oumlkonomik oder der von der Ritterschen Mitte gesetzteSchlussstein der philosophia practica universalisKarl Homann 343

Verwendete Sigla 371

Literaturverzeichnis 372

Index nominum et rerum 383

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Inhalt

Einleitung ndash zur Erlaumluterung der These

Platons Akademie und das Lykeion des Aristoteles lagen zwar vor denMauern aber deshalb war die Stadt der Schule keineswegs gleichguumll-tig im Gegenteil die Stadt erfreute sich jederzeit intensiver Auf-merksamkeit durch die Schule Vorgegeben war diese Haltung durchden gemeinsamen Ahnherren Sokrates raquoden Landschaft und Baumlumewenig lehrten wohl aber die Menschen in der Stadtlaquo1 Buumlndig be-staumltigt das auf seine Weise Cicero Socrates autem primus philoso-phiam devocavit e caelo et in urbibus conlocavit2 Noch im Gefaumlngnisunterstreicht Sokrates er koumlnne unmoumlglich ohne Einverstaumlndnis derAthener fliehen wo er doch so bewusst und ausdruumlcklich sein ganzesLeben in ihrer Stadt verbracht habe dass er sie auszliger zu Feldzuumlgennur ein einziges Mal mit einer Festgesandtschaft zu den IsthmischenSpielen verlassen habe3 Sokrates war uumlberzeugt ein gelungenes Le-ben habe er nur als Buumlrger der Stadt Athen fuumlhren koumlnnen und mitdieser Bindung an die Polis identifizierten sich Platon und Aristotelesnicht minder

Das Verhaumlltnis von Schule und Stadt war laumlnger als ein halbesJahrhundert gepraumlgt von einer auf Unabhaumlngigkeit beider Seiten be-ruhenden Auseinandersetzung die im Jahre 322 zu Ende ging alswenige Wochen vor dem Tod des Aristoteles Athen mit der Nieder-lage im Lamischen Krieg unwiederbringlich die politische Autonomieeinbuumlszligte Wer nun die Philosophie der Epoche bis zu diesem Wende-jahr betrachtet dem werden unvermeidlich die nicht zu leugnendenDifferenzen zwischen Platon und Aristoteles ins Auge fallen Werjedoch Platon und Aristoteles zusammen gegen die spaumlter von derStoa gepraumlgte Epoche abhebt wird ihnen ebenso unvermeidlich alsganz wesentliches gemeinsames Merkmal den Umstand zuordnen

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1 Platon Phaidros 230 D2 Cicero Tusculanae disputationes 5 103 Platon Kriton 52 B

dass im Mittelpunkt ihrer philosophischen Aufmerksamkeit nicht dieSchule selbst sondern die politischeWelt auszligerhalb der Schule standIhre theoretische Arbeit endete nicht esoterisch mit Saumltzen zur inne-ren Sittlichkeit der Schule vielmehr uumlberschritt sie diese Schrankeund widmete sich eingehend den sittlichen Normen der Stadt ohneuumlbrigens daruumlber die Ordnung des fuumlr diese Normen keineswegsgleichguumlltigen Makrokosmos zu vernachlaumlssigen Ihre Politik ist in-stitutionelle Ethik und umgekehrt setzt ihre Ethik auf einen Staatder die Buumlrger tugendhaft macht

Bei weiter ausholendem Hinsehen erweist sich die vielbeschwo-rene Kritik des Aristoteles an Platon eher als dessen staumlndiges Be-muumlhen das gemeinsame Ziel den sittlichen Staat vor selbstverschul-detem Scheitern zu retten Aristoteles war nicht Gegner Platonssondern dessen dankbarer Erbe der der geistigen Hinterlassenschaftseines Lehrers das Uumlberleben zu sichern suchte In dieser Absicht aumln-derte er das methodische Vorgehen von Grund auf Er schrieb denBuumlrgern nicht mehr vor wie sie sein sollten sondern registrierte her-meneutisch wie sie sind um zu ergruumlnden was in diesem Ist-Bestandan vernuumlnftiger Vorleistung als dasWesentliche immer schon enthal-ten ist Als Hermeneutik lehrt praktische Philosophie dass die unsitt-liche Stadt sich nicht im Widerspruch zu einer aumluszligeren Instanz son-dern zu ihr selbst befindet Folgerichtig sah Aristoteles das Idealzieldes Philosophen auch nicht im Amt des Herrschers der aufgrundabsolutenWissens die Lebensordnung diktiert Vielmehr war er uumlber-zeugt sein Amt angemessen auszuuumlben wenn er darauf setzte zuwerben zu beraten und mit Argumenten zu uumlberzeugen und daseben nicht als philosophischer Herrscher sondern als Lehrer seinerSchuumller als Berater Philipps II als Prinzenerzieher Alexanders alsErmunterer der Buumlrger im Einklang mit Sitte Recht und Anstandihr Gluumlck zu suchen Aristoteles sah bessere Chancen fuumlr die plato-nische Substanz wenn er diese auf der institutionellen Basis der vitacontemplativa als bestimmter Lebensform neben und nicht uumlber dervita activa zu wahren suchte um die aktiv Taumltigen aus der damitimmer noch bestehenden Distanz vermoumlge hermeneutischen Vor-gehens daruumlber aufzuklaumlren dass die ethische Lebensfuumlhrung gelingtwenn sie im Einklang mit den bestehenden Sitten erfolgt

In der Politik des Aristoteles ist somit Platons Vernunftstaatdurchaus praumlsent allerdings eben nicht in Gestalt radikaler System-kritik sondern unter dem Oberbegriff einer raquoPolitielaquo den er in auf-klaumlrender und beratender Absicht ins Spiel bringt Im Blick auf aktu-

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Einleitung ndash zur Erlaumluterung der These

elle Probleme der Polis versteht Aristoteles die Politie zunaumlchst alsVerfassung die die Ursachen der oft blutigen Dauerkonflikte zwi-schen Oligarchen und Demokraten aufzuheben verspricht daruumlberhinaus entwickelt Aristoteles eine an Platons Idealstaat erinnerndezweite Version von Politie und zwar im Blick auf die Planungen Phi-lipps II mit einem panhellenischen Heer die Aumlgaumlis in ein makedo-nisches Meer zu verwandeln und die Jonier in Kleinasien von derPerserherrschaft zu befreien Die erstere Politie der Buumlcher IV bis VIbesteht in einem auf Aussoumlhnung der Konfliktparteien zielenden Ver-fassungsentwurf und entsprach somit der zum Schlagwort erhobenenWunschvorstellung der Zeit naumlmlich der inneren Eintracht (ὁμό-νοια) Die andere Politie in Buch VII enthielt die Grundlegung derLebensordnung griechischer Groszligbuumlrger die sich im befreiten Jonienansiedeln sollten Auch diese Verfassung kam zumindest indirekteiner Wunschvorstellung der Zeit entgegen naumlmlich dem Wunschnach gemeinsamem Frieden (κοινὴ εἰρήνη) der griechischen Staumldteuntereinander denn ehemalige Feinde koumlnnten umso leichter Friedenschlieszligen und Freunde werden wenn sie sich als Eroberer zum Kampfgegen einen gemeinsamen Gegner verbuumlnden Vorrangig angespro-chen sollten sich allerdings Groszligbuumlrger fuumlhlen die mit ihrem Lebenin den demokratischen Staumldten Griechenlands unzufrieden warenund einer auf oligarchischen Idealen gegruumlndeten Polis den Vorzuggaben

Obwohl Aristoteles dank seiner hermeneutischen Vorgehens-weise keineswegs an den Adressaten vorbeiredete sollte sich schonbald abzeichnen dass aus je verschiedenen Gruumlnden sowohl die prag-matische als auch die ideale Politie abgewiesen wurden Aristoteleswar daruumlber nicht entmutigt sondern verfolgte seinen hermeneuti-schen Ansatz nur noch strikter in dem was ist das Wesentliche zubegreifen Das was ist also das politisch Dominierende war nun un-bestritten die demokratische Verfassung der Athener denen dieSchule ndash und das durchaus auch den Tatsachen zuwider ndash die Ver-nachlaumlssigung ihrer eigenen Gesetze gleichsam als Erbuumlbel immerwieder vorgehalten hatte Die raquoVerfassung der Athenerlaquo (Ἀθηναίωνπολιτεία oder kurz AP) nimmt und sei es unausgesprochen dieeinst auch von Aristoteles selbst mitgetragene Kritik der Schule zu-ruumlck und bedeutet dieser implizit dass sie sich selbst um Glaub-wuumlrdigkeit und Uumlberzeugungskraft bringt wenn sie offen am Tageliegende Sachverhalte systematisch in Abrede stellt Die AP ist dieAnerkennung der Tatsache dass den Athener Demokraten im vierten

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Einleitung ndash zur Erlaumluterung der These

Jahrhundert die Vollendung eines widerspruchsfrei verfassten Geset-zesstaates gelungen ist der im Uumlbrigen nicht von einem kuumlnstlichgesetzten Nullpunkt ausgegangen ist sondern hermeneutisch rekon-struierbar sich in organischem Wachstum seit Ion und Theseus in elfWenden entwickelt hat Der Ton der AP liegt nicht darauf dass kom-promissbereite Philosophie die Welt vor der ihr sonst eigenen Radi-kalitaumlt verschonen will sondern auf der im theoretischen Zusehengewonnenen Einsicht dass die Stadt gerade das philosophische Ur-anliegen der Gesetzestreue immer schon als legitimierendes Prinzipihres Handelns befolgt hat Die hermeneutische Zirkelstruktur be-steht also darin dass die Philosophie der Stadt dies als das an ihrWesentliche erklaumlrt was sie selbst hervorgebracht hat

Der Einfluss der Akademie und des Lykeion endete aber keines-wegs abrupt mit dem Jahre 322 als die Athener ihre Souveraumlnitaumlteinbuumlszligten und damit die unumgehbare Voraussetzung einer auf Sitt-lichkeit bestehenden politischen Theorie Dank makedonischer Un-terstuumltzung erzielten die Schulen durch Phokion und Demetrios Pha-lereus in den folgenden Jahren sogar weitaus mehr politischeWirkung als die beiden Gruumlnder zu ihren Lebzeiten Ebendiesem Er-folg hatten indes im Jahre 307 die Schulen den entscheidenden Ruumlck-schlag zu verdanken als der aus ihren Reihen hervorgegangeneDemetrios Phalereus nach zehnjaumlhriger Herrschaft aus der Stadt ver-trieben wurde Rigide Entmuumlndigung der Buumlrger bei eigenem Nar-zissmus samt Selbstbereicherung brachten nicht nur Demetrios selbstum jeden Kredit sondern auch die Philosophie der Akademie und desLykeion nach deren Vorgaben er als ihr Angehoumlriger in Athen regierthatte Die empoumlrten Demokraten reagierten mit der Androhung derTodesstrafe und Verbannung der Philosophen und unter Philoso-phen verstanden sie unterschiedslos alle Platoniker und AristotelikerMit dieser harschen Reaktion laumluteten die Athener zugleich die Ge-burtsstunde der Stoiker ein die gleichsam in ihrer Gruumlndungsurkun-de festschrieben dass ihre Ethik die Sittlichkeit der Schule und nichtdie Sittlichkeit der Stadt zum Gegenstand habe Die Stoiker erkann-ten dass sie die Philosophie unter Wahrung ihrer Autonomie nurfortfuumlhren konnten wenn sie der Stadt versicherten dass sie andersals Platon und Aristoteles ihre Gesetzgebung ausschlieszliglich fuumlr ihreSchule als geschlossene secta erlieszligen Die erklaumlrtermaszligen der Poliszugewandte Philosophie die Platon und Aristoteles gemeinsam ver-treten hatten war ihnen nunmehr gemeinsam zum Verhaumlngnis ge-worden

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Einleitung ndash zur Erlaumluterung der These

Unter dem Druck der politischen Umstaumlnde beschlossen dieStoiker ihre Sezession und erklaumlrten die Beschaumlftigung mit der Polisals einst zentrales Thema der Philosophie fuumlr nichtig Daruumlber hinausdistanzierten sie sich ebenfalls noch in manch anderem Punkt vonPlaton und Aristoteles wenn sie etwa im Felde der theologia und derAffektlehre Theoreme vortrugen die erst angesichts der Lage seit 307auf die Tagesordnung gerieten So antworteten sie auf den Herrscher-kult der implizit die unsterblichen Goumltter zu zweitrangigen Groumlszligenherabstufte mit der providentia-Lehre um zu demonstrieren wessenFuumlrsorge in Wahrheit die Menschheit ihr Uumlberleben zu verdankenhabe Da aber die Goumltter bei rehabilitierender Bestaumltigung ihrer ndashden kultisch verehrten Diadochen uumlberlegenen ndash Allmacht zwingendauch fuumlr alle Uumlbel in derWelt verantwortlich waren musste Chrysippden Streit zwischen Homer und Platon ob die Goumltter fuumlr alles odernur fuumlr das Gute zustaumlndig seien erneut austragen Es war also letzt-lich das aumluszligere Phaumlnomen des Herrscherkultes der diesen Streit un-ter den Gelehrten ausloumlste Aumlhnlich lagen die Dinge beim Problemder Affekte Der dank der politischen Ereignisse des Jahres 307 er-zwungene Ruumlckzug der Philosophie auf sich selbst war nur unter derBedingung entschieden abschirmender Selbstbehauptung nach auszligenertraumlglich Dieselbe Bedingung der Autonomie musste aber auch nachinnen erfuumlllt sein und zwar gegen ein ganzes Buumlndel von denkbarenAffekten die bei Verzicht auf ihre Einhegung die muumlhsam nach au-szligen behauptete Souveraumlnitaumlt wieder untergraben haumltten Folgerichtigwar die Affektlosigkeit (ἀπάθεια) das zentrale Thema der stoischenEthik ndash mit dem Ziel der Wahrung der inneren Autonomie Die Stoi-ker konnten daher nicht das Risiko eingehen die Behandlung derAffekte wie Aristoteles wollte eher beilaumlufig den Nachwirkungender von der tragischen Dichtung ausgeloumlsten Katharsis zu uumlberlassenStattdessen mussten die Stoiker darauf bedacht sein eine spezielleTherapie fuumlr den Fall zu entwickeln dass wie zu befuumlrchten denAffekten katechismuswidrig hier und da eben doch ein Ausbruch ge-lingen sollte

Obwohl die Stoiker als die neuen Meinungsfuumlhrer Platon undAristoteles fuumlr Jahrhunderte in den Hintergrund zu draumlngen ver-mochten mussten sie am Ende doch erleben dass die beiden Arche-geten im Status von unangefochtenen Klassikern ihre Renaissanceerlebten Zwar sicherten die Stoiker durch ihren weisen Ruumlckzug derphilosophia perennis die Kontinuitaumlt duumlrften aber am Ende aus dem-selben Grund dem sie ihr Entstehen verdankten wieder von Platon

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Einleitung ndash zur Erlaumluterung der These

und Aristoteles in den Schatten gestellt worden sein Denn Lehrerwie Schuumller verstanden anders als die Stoiker unter Schule stets eineInstanz der systematischen Beschaumlftigung gerade auch mit der Au-szligenwelt Dieser erweiterte Argumentbereich konnte dem Kreis umPlaton und Aristoteles schlieszliglich nicht mehr schaden als es keinedirekt angesprochenen Zeitgenossen mehr gab die sich durch ihreLehren und das Handeln ihrer Schuumller provoziert fuumlhlten Von sol-chen Gefuumlhlen unberuumlhrt suchen hingegen spaumltere Generationen beiPlaton und Aristoteles gerade wegen ihres umfassenden Blickfeldesnach Belehrung und gegebenenfalls Bestaumltigung eigener Theorienund das sowohl im Grundsaumltzlichen als auch in Einzelfragen

Platons Philosophie nahm ihren Ausgang von der ganz be-stimmten Frage der Apologie wie Sokrates der gerechteste BuumlrgerAthens gegen die Asebieklage des Anytos Meletos und Lykon zuverteidigen sei In den Kategorien der Theorie der Rhetorik haumltte die-se Frage als eine quaestio finita gegolten die im Verfolg eine Fuumlllevon sich anschlieszligenden quaestiones infinitae ausloumlsen sollte wienaumlmlich ein gerechter Staat moumlglich sei der vom Geist seiner gerech-ten Buumlrger gepraumlgt waumlre Mit dem daraus erwachsenen Fundus vonFragen und erteilten Antworten haben Platon und entsprechend Aris-toteles der Nachwelt einen geistigen Reichtum hinterlassen dem sieschlieszliglich ndash nach zwischenzeitlicher Suspendierung ndash ihre Anerken-nung als unumstrittene Klassiker bis in unsere Tage zu verdankenhaben Angesichts solcher Hinterlassenschaft darf sich die Philo-sophie mit gutem Gewissen als Vergegenwaumlrtigung ihrer eigenen Ge-schichte definieren Vergegenwaumlrtigung wiederum ist im weitestenSinne das Gemeinschaftswerk der subtilitas intellegendi und der sub-tilitas applicandi und das so bestimmte Vorgehen ist auch dieVoraussetzung fuumlr die Zeugenrolle die Platon und Aristoteles beider philosophischen Begleitung der Preuszligischen Reformen durchG W F Hegel und erneut bei der geistigen Gruumlndung der Bundes-republik nach dem ZweitenWeltkrieg durch Joachim Ritter und seineSchuumller spielten Dass Platon und Aristoteles fuumlr den buumlrgerlichenRechtsstaat in den Zeugenstand traten setzt den hermeneutischenPhilosophiebegriff voraus demgemaumlszlig die Philosophie auf der Praumlsenzihrer eigenen Geschichte beruht Damit ist zugleich die Frage nachden Aussichten einer umfassenden Erneuerung der praktischen Phi-losophie gestellt der sich so lautet unsere These Joachim Ritter undseine Schuumller widmeten indem sie dem Primat der praktischen Ver-nunft die Ehre erweisend die klassischen Disziplinen der philosophia

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Einleitung ndash zur Erlaumluterung der These

practica universalis ndash Ethik Politik Oumlkonomik ndash schrittweise auf-nahmen und in ein systematisches Verhaumlltnis zur modernen Weltsetzten

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Einleitung ndash zur Erlaumluterung der These

Hermeneutikgeleitete Chronikder Wege und Umwege derphilosophia practica universalisvon den Anfaumlngen bis in die Gegenwart

Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

Vom Ende her gesehen koumlnnte leicht der Eindruck entstehen Platon(42827ndash34847) habe sich von vornherein als Lebenswerk die Gruumln-dung einer philosophischen Schule zum Ziel gesetzt in deren Mittel-punkt die Ausbildung einer systematischen politischen Theoriestehen sollte Dieser Eindruck taumluscht indes Wie Platon selbst imVII Brief (324 Bndash326 D) seinen Werdegang darstellt hatte er ur-spruumlnglich gar nicht die Absicht eine Schule zu gruumlnden die sichphilosophisch mit dem Staat befasste Stattdessen draumlngte er zunaumlchstauf eigenes politisches Handeln als er in der Herrschaft der DreiszligigTyrannen (40403) eine Chance sah einen Staat zu errichten der freiwar von den Schwaumlchen der Demokratie Enttaumluscht musste er aberbald erkennen dass die fruumlheren Verhaumlltnisse in der Demokratie ver-glichen mit der Gegenwart unter den Dreiszligig Gold (sic) waren Fol-gerichtig wandte er sich von den Dreiszligig ab und war nach deren Sturzwiederum bereit zu politisch aktiver Taumltigkeit wurde aber erneut ent-taumluscht ndash durch das Todesurteil gegen Sokrates den Mangel an poli-tischen Freunden die grassierende Geringachtung der Gesetze unddie Inthronisierung der Lust (ἡδονή) als Maszlig der Dinge Erst darauf-hin widmete sich Platon der theoretischen Beschaumlftigung mit demwahren Staat nicht ohne fuumlr erneute praktische Taumltigkeit in der Poli-tik bessere Zeiten abzuwarten die dann eintraumlten wenn wahrhaftePhilosophen die Herrschaft im Staat uumlbernaumlhmen und nicht die durchdas Los ins Amt befoumlrderte Inkompetenz Seine Philosophie war alsoOpposition auszligerhalb der politischen Buumlhne gedacht als ungewollteZwischenphase die erst endete wenn die Staumldte nach philosophi-schen Grundsaumltzen verfasst waumlren Die Gruumlndung der Schule erfolgtealso eher aus Verlegenheit sie war nicht die erfolgreiche Ausfuumlhrungeiner urspruumlnglichen Absicht

Mit seinem Bericht im VII Brief laumlsst Platon also durchblickendass er gleichsam widerWillen die Akademie als Schule gruumlndete undderen erstes Schulhaupt wurde Die Schule galt Platon als Surrogateiner Polis der vollendeten Sittlichkeit Folgerichtig war das Leit-thema der Schule die Lehre vom wahren Staat der das bloszlige Surrogatwieder uumlberfluumlssig machen sollte Platon verschweigt auch nicht vonwelchem Standpunkt aus er die Grundzuumlge des idealen Staates ent-wickelte Waumlhrend er die Schwaumlchen der Demokratie eher in derenStrukturen suchte ortete er die Schwaumlchen der Oligarchie im persoumln-lichen Versagen insbesondere der Dreiszligig Tyrannen Demgemaumlszlig plauml-

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dierte er fuumlr eine zu wahrer Aristokratie veredelte Oligarchie die vonindividuellen und strukturellen Defiziten frei war Diese dem Best-moumlglichen verpflichtete Parteinahme erfuumlllte zugleich die Anforde-rungen einer auf Widerspruchsfreiheit bedachten Theorie sofernPlaton alle seine politischen Vorstellungen auf Vernunftbegriffe zu-ruumlckfuumlhrte und nie vergaszlig sie geltend zu machen wo immer ihreBeachtung zwingend geboten war Mag es Platon auch nicht gelungensein in Athen einen Wiedergaumlnger des Sokrates als philosophischenHerrscher zu bestallen und auf diese Weise sein praktisches Ziel zuerreichen so bleibt doch als Ergebnis seiner Anstrengungen zumin-dest als Fortschritt im Bewusstsein dies bestehen dass von nun anpolitische Vorgaumlnge unvermeidlich von der Aufmerksamkeit einerauszligerhalb der politischen Buumlhne angesiedelten Vernunftkritik beglei-tet wurden Insofern blieb Platons mutiger Schritt eine politischeEntitaumlt systematisch in Zweifel zu ziehen und sie auch noch miteinem Gegenmodell zu konfrontieren nicht ohne kuumlnftige Folgen

Einstweilen blieb aber Platons politische FundamentaloppositionSache der Schule deren Eigengesetzlichkeit sich auf die inhaltlicheWeiterarbeit spuumlrbar auswirken sollte Zur (nachsokratischen)Grund-ausstattung der Schule gehoumlrte die Schriftlichkeit die Platon in nichtgeringe Verlegenheit brachte weil er auf unmittelbare Praumlsenz derVernunft setzte und nicht auf eine mittelbare die sich auch nochdurch Ablage ins Buumlcherregal unschaumldlich machen lieszlig1 Zudemzeichnete sich uumlber das politische Kerninteresse hinaus eine durchschultypisches Weiterfragen ausgeloumlste Verfaumlcherung ab die Platonnoch identitaumltsphilosophisch aufzufangen vermochte die aber auflange Sicht jenseits der Politik zur Etablierung von Einzeldisziplinenwie Ontologie Kosmologie Mathematik und Erkenntnistheorie fuumlhr-te Den Sophisten ging es aumlhnlich wie Sokrates von Protagoras er-faumlhrt Nur bei ihm selbst erfuumlhren die Schuumller das Noumltige uumlber ihrKerngeschaumlft das Haus gut zu verwalten und sich auf der Agoraacute zubewaumlhren waumlhrend sie bei anderen Sophisten wie Hippias von Elisverdorben wuumlrden weil diese sie mit Unnuumltzem wie Arithmetik As-tronomie Geometrie und Dichtung traktierten2 So weitete also auchdie Schule Platons allmaumlhlich ihren Themenkreis immer weiter aus

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Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

1 Auf dieses Merkmal der Schule ist G Bien naumlher eingegangen Das Theorie-Praxis-Problem und die politische Philosophie bei Platon und Aristoteles in Phil Jb 76(196869) 264ndash314 hier S 307ndash3132 Platon Protagoras 318 Dndash319 A

je mehr ihre Vorlaumlufigkeit die mit einem politischen Erfolg der Fun-damentalopposition ihr Ende finden sollte in Vergessenheit gerietAristoteles sollte an seinem Lehrer in der Sache manche Kritik uumlbenaber die Regeln der Institution Schule ihre Hinwendung zur Schrift-lichkeit und ihre Etablierung von Einzeldisziplinen (Pragmatien) ver-standen sich fuumlr ihn schon von selbst

Aristoteles (384ndash322) hatte als Siebzehnjaumlhriger seine makedo-nische Heimat verlassen um sich im Jahre 36766 der Akademie an-zuschlieszligen Da war Platon schon uumlber fuumlnfzig Jahre alt und hatteseine philosophische Arbeit dogmatisch abgeschlossen Da er in die-sen Tagen kurz vor seiner zweiten Reise nach Syrakus stand hat ervielleicht erst nach seiner Ruumlckkehr erkannt wer von nun an seinbegabtester Schuumller war Als Aristoteles einmal bei einer Vorlesungfehlte rief Platon verzweifelt aus raquoDer Geist ist nicht zugegenstumpf ist da die Houmlrerschaftlaquo ndash im Original ein ausgefeilter jambi-scher Trimeter ὁ νοῦς ἄπεσ|τιν κωφὸν τἀκ|ροατήριον3 Aristote-les wird sich dieses Lob seines Lehrers gewiss bei vielen Gelegenhei-ten verdient haben nicht zuletzt aber dank der Art wie er sich beiPlatons beruumlhmter Altersvorlesung raquoUumlber das Gutelaquo4 bewaumlhrte Alsdieser das Gute kosmologisch im zahlhaft bestimmten Einen verorte-te blieben die Houmlrer einer nach dem anderen enttaumluscht der Vor-lesung fern weil sie Ausfuumlhrungen uumlber seelische koumlrperliche undaumluszligere Guumlter im gemeinen Verstande erwartet hatten Auf diese Re-aktion der Houmlrer hatte Platon nur gewartet er wollte wissen wer mitseinem Vorstellungshorizont uumlber den der Menge hinausging undsich damit als genuiner Philosoph erwies Tatsaumlchlich harrten nurwenige Houmlrer bis zum Ende aus und empfingen den Ritterschlageines wahren Philosophen darunter natuumlrlich Aristoteles Dieser er-klaumlrte allerdings spaumlter er werde sich an das allgemein Anerkanntehalten statt aus dem Satz dass das Eine ein Gut sei herzuleiten dassdie Gerechtigkeit ein Gut sei5

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Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

3 Zitiert nach V Rose Aristotelis qui ferebantur librorum fragmenta collegit V RLeipzig 18701886 repr Stuttgart 1967 S 4284 Das Vorlesungsmanuskript ist im Original nicht erhalten Die zahlreichen Para-phrasen bei anderen Autoren hat W D Ross Aristotelis Fragmenta Oxford 1935S 111ndash120 gesammelt5 Aristoteles Eudemische Ethik 1218 a 15ndash22 Der Aristotelesschuumller Aristoxenosbestaumltigte diese Reaktion seines Lehrers in seinen ἁρμονικὰ στοιχεῖα (ed P Mar-quard Die harmonischen Fragmente des Aristoxenos Berlin 1868 S 30) und fuumlgtehinzu es empfehle sich zu Beginn einer Vorlesung sein Thema genau anzukuumlndigen

Im Uumlbrigen sparte auch Aristoteles nicht mit Lob auf seinenLehrer Im Rahmen seiner Inschrift auf einem Altar der Freundschaftden Eudemos von Kypros von einer Reise nach Athen zuruumlckgekehrtgestiftet hatte ruumlhmt Aristoteles Platon als Mann den schlechteMenschen nicht einmal loben duumlrften und als Mann der als Ersterunter den Menschen durch eigene Lebensfuumlhrung und vorgetrageneGruumlnde demonstriert habe dass der gute Mann ebendeshalb auch dergluumlckliche Mann ist Zwar taucht im uumlberlieferten Text der Distichenweder der Name Platons noch der des Eudemos auf Olympiodor ver-sichert aber Aristoteles habe in seiner Widmung an den Stifter Eude-mos ebendieses Lob auf Platon ausgesprochen6 Bei welchem Lehrerhaumltte Aristoteles auch besser lernen koumlnnen wie man wesentlicheaber oft uumlbersehene Fragen stellt wie man fuumlr andere uumlberraschendauf Zusammenhaumlnge und Widerspruumlche aufmerksam macht wieman auf den ersten Blick unerkannte Implikationen und Konsequen-zen herausarbeitet wie man unzureichend Bewiesenes als solchesidentifiziert wie man einmal erzielte Uumlbereinkuumlnfte stets im Ge-daumlchtnis praumlsent haumllt wie man seine Argumente durch Ruumlckfuumlhrungauf Gruumlnde und Ursachen als anerkannte Berufungsinstanzen uumlber-zeugend vortraumlgt

Zur gegenseitigen Wertschaumltzung aufgrund ihrer intellektuellenVorzuumlge gesellte sich die politische Uumlbereinstimmung beider Philoso-phen die neben der Sympathie fuumlr Makedonien die entschieden ab-lehnende Haltung gegenuumlber der attischen Demokratie betraf FuumlrPlaton fiel die Suche nach der gerechten Polis als dem hiesigen Kor-relat des absolut Guten mit entschiedener Demokratiekritik zusam-men Seine politische Leitidee bildete die Gerechtigkeit als Einheit derKardinaltugenden mit dem Ziel der Baumlndigung des sinnlichen Inte-resses (ἡδονήvoluptas) waumlhrend in seinen Augen die demokrati-schen Leitideen der Gleichheit und Freiheit lediglich auf eine Beschouml-nigung der voluptas als des wahren Bestimmungsgrundes der Mengehinausliefen Diesen von voluptas durchdrungenen Staat sah Platonals derart heillos verfahren an dass er anknuumlpfende Schritt-fuumlr-Schritt Reformen gar nicht erst in Betracht zog Stattdessen setzte

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Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

und wenn man Paradoxes vortragen wolle dies auch unmissverstaumlndlich zu sagen Sobliebe den Houmlrern die Enttaumluschung erspart wenn sie in Erwartung einer Belehrunguumlber Guumlter wie Reichtum Gesundheit Gluumlck am Ende lediglich die blasse Auskunfterhielten das Gute sei Eines6 Olympiodoros in Platonis Gorgiam XLI 10 ad p 515 C

Platons politische Opposition mit anderen Mitteln7 auf eine vomNullpunkt aus fehlerfrei in Gedanken durchkonstruierte Polis in derdie schon seit Kleisthenes bestehende Einheitlichkeit und Geschlos-senheit des Gemeinwesens gewahrt blieben aber konkrete demokra-tische Komponenten wie Rat und Volksversammlung Geschwore-nengericht und Flotte Panathenaumlen Dionysien und Eleusinien nichteinmal dem Namen nach vorkamen Bei dieser Konstellation gerietenSchule und Polis zwangslaumlufig in ein Verhaumlltnis sich gegenseitigenIgnorierens Die Schule fuumlhrte ihre Debatten als private Institutionohne Beruumlcksichtigung der Vorgaumlnge auf der Agoraacute und die Agoraacutemuumlhte sich mit den ihr eigenen Mitteln um eine Konsolidierung derdemokratischen Institutionen ohne die Einwaumlnde der Schule zurKenntnis zu nehmen Nun mag Platon einen offenbar unpolitischenweil von den Realitaumlten abgehobenen Ausgangspunkt gewaumlhlt unddamit seiner Weiterarbeit wie spaumlter die hermeneutisch argumentie-rende Kritik des Aristoteles zeigen sollte einen schlechten Dienst er-wiesen haben aber ihn leitete ohne jeden Zweifel ein handfestes Mo-tiv und eine daraus abgeleitete allgemeine bis in unsere Tage zubeherzigende Grundeinsicht

Platons Schluumlsselerlebnis war das Todesurteil gegen Sokratesdas eine Mehrheit unter fuumlnfhundert Geschworenen faumlllte obwohlsich Sokrates in allen Anklagepunkten ganz offenkundig als nichtschuldig erwiesen hatte Moumlglich wurde diese Gerichtsentscheidungweil es den Anklaumlgern wie routinierten Demagogen gelang mit ihrenUnwahrheiten eine ignorante Menge auf ihre Seite zu ziehen In derTat hatten sie wie Sokrates gleich im zweiten Satz der Apologie aus-ruft nicht ein einzigen wahren Satz vorgetragen (ἀληθές γε hellip οὐ-δὲν εἰρήκασιν) Der offenbar unausrottbaren Moumlglichkeit dass De-magogen gerade mit der Unwahrheit Mehrheiten fuumlr sich gewinnenkoumlnnen galt zeitlebens Platons kritische Aufmerksamkeit Tatort wa-ren nicht nur die Geschworenengerichte sondern nicht minder dieVolksversammlung in der interessierte Redner Mehrheitsbeschluumlsse(ψηφίσματα) herbeifuumlhrten mit denen sie bestehende Gesetze un-terliefen8 Auch fuumlr dieses Fehlverhalten gab es eine Schluumlsselszeneals naumlmlich im Zuge des Arginusenprozesses ein Mann aus der auf-gehetzten Menge rief es sei eine Ungeheuerlichkeit wenn man denDemos nicht tun lasse was er wolle und gleich darauf durchgesetzt

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Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

7 Platon VII Brief 325 Endash326 A8 Ebd 325 DndashE

wurde dass die angeklagten Seeoffiziere en bloc verurteilt wurdenund nicht wie es das Gesetz verlangte jeder einzeln Der Einzigeder sich diesem rechtswidrigen Beschluss widersetzte war Sokrates9

Dass dieser Staat ausgerechnet seinen gerechtesten Buumlrger zumTode verurteilt hatte hat Platon nie verziehen Da indes die aus-schlaggebende Mehrheit der Geschworenen ihr Urteil wohl kaumfuumlr ungerecht hielt sah Platon sich verpflichtet allen ebenso gesinn-ten Athenern vorzutragen was an und fuumlr sich Gerechtigkeit wirklichist und zwar in der Politeia aus dem Munde eben des Sokrates Danun der Staat fuumlr die Gerechtigkeit der groumlszligere und besser sichtbareBewaumlhrungsort ist als der Einzelne schlug Sokrates vor den Begriffvon Gerechtigkeit zunaumlchst im Blick auf den Staat zu entwickeln (Po-liteia 368 E 472 B) Die Frage nach der Gerechtigkeit konkretisiertesich auf diese Weise zur Frage nach dem gerechten Staat Folgerichtigsetzte Platon im Geist des Sokrates der attischen Demokratie mitihrem falschen Machtwillen einen auf reiner Vernunft beruhendenIdealstaat entgegen von dessen Vorzuumlgen er vielleicht schon dienaumlchste Generation der Athener zu uumlberzeugen hoffte10 anderenfallskoumlnne man nur noch auf einen Gluumlcksschlag von auszligen (τύχη) set-zen oder dass sich dank goumlttlicher Fuumlgung ein Staatenlenker mit derPhilosophie befasse11 Die Befuumlrchtung der Philosoph koumlnne in seinereigenen Stadt wenn uumlberhaupt dann nur dank goumlttlicher Fuumlgung po-litisch taumltig werden (Politeia 592 A) wollte Platon allerdings fuumlr sichnicht als Entschuldigung gelten lassen im Gegenteil Platon ver-sicherte er sei eigens nach Syrakus gereist damit man ihm nicht vor-halten koumlnne er sei nur im Felde der Theorie stark ziehe sich aberzuruumlck wenn es an die praktische Ausfuumlhrung gehe (VII Brief328 C) Vielmehr war fuumlr ihn der gerechte Staat Inhalt philosophi-scher Reflexion mit dem Ziel seiner Verwirklichung

Im idealen Staat darf die Entscheidungsbefugnis nur bei Buumlrgernliegen die allein durch philosophisch uumlberpruumlfte Qualifikation undnicht durch Loswahl in ihr Amt gelangt sind Nur wer die Houmlhle derdie Menge auszeichnenden Kurzsichtigkeit verlassen und dank uumlber-legener Vernuumlnftigkeit die Idee des Guten geschaut hat vermag pri-vat wie oumlffentlich vernuumlnftig zu handeln12 eben seitdem er sich von

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Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

9 Xenophon Hellenika 1 7 12ndash16 Vgl unten Anm 38 S 137 und Anm 17 S 14810 Platon Politeia 315 CndashD11 Platon VII Brief 326 A12 Platon Politeia 517 C

der Aussageabsicht der drei beruumlhmten Gleichnisse hat uumlberzeugenlassen dass naumlmlich das Gerechte das Gute ist und nicht das sinnlicheInteresse der auf den Schein fixierten Menge13 Entsprechend heiszligt esin Platons 8 Brief (355 A) Fuumlr besonnene Menschen ist Gott das Ge-setz fuumlr die unvernuumlnftigen ist es die Lust Das Gute hat also densel-ben Stellenwert wie Gott und bildet wie dieser insofern den Welt-grund als es weil jenseits (ἐπέκεινα) des daseienden Universumsangesiedelt im Rang noch uumlber dieses hinausragt und sich heilsambewaumlhrt indem es dank seinem Sproumlssling dem Sonnenlicht Orien-tierung durch Sichtbarkeit der Dinge sowie Leben Wachstum undGedeihen moumlglich macht14 Die Ausrichtung amGuten als Weltgrunderhebt das Gerechte zur unbedingten Handlungsnorm fordert abernicht nur sondern gewaumlhrt in einem damit den Buumlrgern auch wahr-haft praktischen Nutzen naumlmlich das Leben im sittlichen Gesetzes-staat ndash die Frucht eben der Herrschaft der Gerechtigkeit15 Damit istdie Frage zu deren Beantwortung Sokrates die drei beruumlhmtenGleichnisse vortrug naumlmlich ob Lust oder das Gerechte das wahreGut ist beantwortet und die implizit gegebene Antwort die auf derUnterscheidung der vier Erkenntnisstufen im Liniengleichnis beruhtbesagt dass die beschraumlnkten intellektuellen Moumlglichkeiten der Men-ge zu dieser Einsicht nicht ausreichen diese also fuumlglich zu entmuumln-digen ist schon um den Demagogen ein leichtglaumlubiges Publikum zuentziehen

Der Form nach stand bei aller Reserve Platon durchaus in derSchuld der Demokraten Sie waren es die unter Kleisthenes den atti-schen Staat als rational verwalteten Einheitsstaat geschaffen hattender nicht mehr nach Staumlmmen Sippen und oumlrtlich bedingten Loyali-taumlten fragmentiert war Unter Phylen verstand Kleisthenes nichtmehr den Oberbegriff vertikal strukturierter Personenverbaumlnde son-dern horizontal strukturierter einheitlich verwalteter Bezirke nachdem Territorialprinzip Das Volk der Athener (ὁ τῶν Ἀθηναίων δῆ-μος) trat an die Stelle der Klientel wie in Rom der populus Romanusan die Stelle der gentes Platon musste also das Prinzip staatlicherEinheit selbst nicht mehr erfinden wohl aber dem Inhalt nach fuumlr alleZukunft beschlieszligen dass nicht nur dieser sondern jeder Staat sei-nem Wesen gemaumlszlig in der Pflicht sei sich als raquoWirklichkeit der sitt-

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Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

13 Ebd 505 B14 Ebd 509 AndashB15 Ebd 505 A

lichen Ideelaquo (Hegel) zu bewaumlhren Uumlber diesen Beschluss hinausdachte Platon noch einen Schritt weiter denn es konnte nicht ge-nuumlgen einen Staat philosophischer Sittlichkeit lediglich zu gruumlndener musste auch erhalten werden ndash durch ein Kollegium integrer Ge-setzeshuumlter die das muumlhsam Erreichte unveraumlndert zu bewahren hat-ten16 Diese Position waumlre etwa im Arginusenprozess unbesetzt ge-wesen haumltte Sokrates sie nicht eingenommen und auf Einhaltungder Gesetze bestanden

Ebenso wie die vorgegebene Staatlichkeit hat auch das mit dieserverbundene demokratische System der Rechtspflege das das archai-sche Selbsthilfeprinzip abloumlste Eingang in Platons Philosophie gefun-den Die archaische Selbsthilfe bestand darin dass die durch einenUumlbergriff beleidigte Sippe der Sippe des Taumlters die Fehde ankuumlndigte(πρόρρησις) deren Beendigung durch Abschluss eines Suumlhnevertra-ges (αἴδεσις) erfolgte Dass bei dieser Form der Konfliktbeilegungdurch Aussoumlhnung die staumlrkere Sippe in der Regel ihre Loumlsungsvor-stellungen durchsetzte liegt auf der Hand Der Schritt fuumlr Schritterfolgte Gerichtszwang durch den der Staat erst allmaumlhlich das Mo-nopol der Rechtspflege uumlbernahm hatte zum Ziel dass anstelle zufaumll-liger Machtverhaumlltnisse die Systematik von Recht und Gesetz imStreit der Parteien entscheidet17 Diesen Sinn der nacharchaischenRechtsprechung hat Ovid mit dem Hexameter zusammengefasstinde datae leges ne firmior omnia posset (Fasten 3 279) Im Gor-gias-Dialog haumllt nun Platon der Rhetorik vor sie sei der methodischeVersuch gerade diese Errungenschaft der Rechtsprechung ruumlckgaumln-gig zu machen Kallikles ein Anhaumlnger des Rhetoriklehrers Gorgiasspricht unverhohlen aus dass Herakles voumlllig im Recht war Geryonesseine Rinder die er weder gekauft noch zum Geschenk erhalten hatteohne Bedenken zu stehlen da das von Natur Gerechte darin bestehedass alles Eigentum der Schwaumlcheren in Wahrheit dem Staumlrkeren ge-houmlre18 Sokrates haumllt Kallikles entgegen dass wahre Uumlberlegenheitnicht im Mehr-haben-Wollen sondern im Sittlich-besser-Sein be-stehe und beruft sich damit ebenso wie die Rechtsprechung auf ein

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Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

16 Platon Politeia 484 B Nomoi 752 DndashE 754 Dndash755 C 770 AndashD 847 AndashD 959 Dndash961 CIm Abschnitt zu raquoDemetrios Phalereus ndash oder die vierzehnte Wendelaquo wird diese pla-tonische Vorgabe noch eine wesentliche Rolle spielen17 Zu diesen nicht leicht zu rekonstruierenden Prozessen sei auf die im Literaturver-zeichnis genannten Aufsaumltze von E Ruschenbusch verwiesen18 Platon Gorgias 484 BndashC

systematisches Kriterium um die individuelle Machtperspektive inSchranken zu weisen Dass Sokrates bei seinem Gespraumlchspartnermit dieser Argumentation nicht durchdringt ist allein der Borniert-heit des Kallikles zuzuschreiben

Es ist nicht zu leugnen dass Platon ebenso wie der Oligarch Kal-likles den Besseren das Wort redete aber unter den Besseren wirklichBessere verstand die den Staat als sublimierte Oligarchie tragen soll-ten Von dieser Staatslehre gilt es also zu uumlberzeugen und das ver-suchte Platon auch ganz im Sinne des Sokrates zunaumlchst durch sach-liche Gespraumlchsfuumlhrung oder Dialektik (διαλέγεσθαι) die mitkurzen Saumltzen Rechenschaft fordert und gewaumlhrt Sokrates mochtekeine langen Reden die geeignet sind das Ausgangsthema nach eini-ger Zeit aus den Augen zu verlieren19 Auch mochte es Sokrates garnicht wenn Unterredner sich streitsuumlchtig (ἐρίζειν) an Worten fest-bissen statt am intendierten Inhalt20 Das richtet sich gegen Protago-ras der als Erfinder der Eristik Wortklauberei betrieb statt sich aufdie Bedeutung des Sachverhalts zu konzentrieren21 Insgesamt ist diesokratische Version von Dialektik ein Gegenentwurf zur raquosogenann-ten Kunst der Rhetoriklaquo22 die lediglich den Uumlberredungserfolg zumZiel hat und nicht etwa wohlbegruumlndete Wahrheiten herausarbeitenwill Nun musste Platon etwa im Gespraumlch mit Kallikles im Gorgiasoder mit Thrasymachos im ersten Buch der Politeia erkennen dassgerade seine Sachlichkeit bei Boumlswilligen auf taube Ohren stoumlszligt Erentwickelte daher noch in der Politeia einen uumlber Sokrates hinaus-gehenden Begriff von Dialektik die nicht diskutiert sondern dekre-tiert nachdem diese durch reines auf das Gespraumlch mit sich selbstkonzentriertes Durchdenken des Wesentlichen frei von sinnlichenEindruumlcken zum Ziel der Erkenntnis des Guten gelangt ist (532 AndashB) Weil somit Dialektik zustaumlndig wird fuumlr die Vergegenwaumlrtigungdes Guten in der politischen Welt darf auch nur der ausgewieseneDialektiker Staatenlenker werden (534 CndashD) der auf seinen Einsich-ten beharrt auch wenn ihm seine Mitbuumlrger die Zustimmung ver-weigern Gegen vordergruumlndige Rechthaberei von wem immer sieausgeht verteidigt Platon das Prinzip vernuumlnftiger Argumentationgegen die Kraumlfte ihrer Blockierung

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Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

19 Platon Protagoras 336 AndashC Gorgias 474 B20 Platon Politeia 454 A21 Diogenes Laertios 9 5222 Platon Gorgias 448 D

Page 8: Platon und Aristoteles als Wegbereiter der praktischen ... · Differenzen zwischen Platon und Aristoteles ins Auge fallen. Wer jedoch Platon und Aristoteles zusammen gegen die später

ner Henke und Dr Dr Karl Homann Zusaumltzlichen Dank schuldet derAutor Professor Henke der freundlicherweise das Korrekturlesen desManuskripts auf sich genommen hat

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Vorwort

Inhalt

Vorwort 5

Einleitung ndash zur Erlaumluterung der These 11

Hermeneutikgeleitete Chronik der Wege und Umwege derphilosophia practica universalis von den Anfaumlngen bis in dieGegenwart 19Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie 21Schluumlsse aus dem politischen Scheitern der Platonschuumller 35Die Vorarbeiten des Aristoteles fuumlr die Politik 54Die philosophischen Pflichten des Tages gegenuumlber dengriechischen Staumldten 62Die ideale Stadt des Aristoteles 72Das Ende der Freundschaft zwischen Alexander und Aristoteles 84Die Bedeutung der elf Wenden in der Athenaion Politeia ndashquid facti 100Die Legitimitaumlt der attischen Demokratie ndash quid iuris 107Das Ungluumlcksjahr 322 117Antipatros und Phokion ndash oder die zwoumllfte Wende (322) 121Kassandros und Polyperchon ndash oder die dreizehnte Wende(319) 125Demetrios Phalereus ndash oder die vierzehnte Wende (317) 128Die Sezession der Philosophie nach dem Sturz des DemetriosPhalereus (307) 146Demetrios Poliorketes und der Herrscherkult ndash oder diefuumlnfzehnte Wende (307) 163

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Die Tyrannei des Lachares ndash oder die sechzehnte Wende(um 300) 171Die Ruumlckkehr des Demetrios Poliorketes ndashoder die siebzehnte Wende (295) 174Der Siegeszug des Herrscherkults 187Die stoische Goumltterlehre als Antwort auf den Herrscherkult 193Lactantius uumlber die heidnische Entlastung der Goumltter 208Die wiederhergestellte Autoritaumlt Homers 214Platon und Chrysipp im Streit uumlber Homers theologia 227Die tragische Katharsis und die stoische Lehre von denAffekten 239Theodizee und Geschichtsphilosophie 258Die quaestio finita als Pruumlfstein originalitaumltsgerechterRezeption 276Hegels Ruumlckgriff auf die Lehre vom sittlichen Staat bei Platonund den Tragikern 282Aristoteles als Zeuge der praktischen Philosophie Hegels 288Joachim Ritters Erneuerung der Hegelschen Platon- undAristotelesrezeption 314Politik und Ethik als Bauglieder der philosophia practicauniversalis im Blickpunkt der Ritterschen MitteGuumlnther Bien Hermann Luumlbbe Odo Marquard 328Die Oumlkonomik oder der von der Ritterschen Mitte gesetzteSchlussstein der philosophia practica universalisKarl Homann 343

Verwendete Sigla 371

Literaturverzeichnis 372

Index nominum et rerum 383

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Inhalt

Einleitung ndash zur Erlaumluterung der These

Platons Akademie und das Lykeion des Aristoteles lagen zwar vor denMauern aber deshalb war die Stadt der Schule keineswegs gleichguumll-tig im Gegenteil die Stadt erfreute sich jederzeit intensiver Auf-merksamkeit durch die Schule Vorgegeben war diese Haltung durchden gemeinsamen Ahnherren Sokrates raquoden Landschaft und Baumlumewenig lehrten wohl aber die Menschen in der Stadtlaquo1 Buumlndig be-staumltigt das auf seine Weise Cicero Socrates autem primus philoso-phiam devocavit e caelo et in urbibus conlocavit2 Noch im Gefaumlngnisunterstreicht Sokrates er koumlnne unmoumlglich ohne Einverstaumlndnis derAthener fliehen wo er doch so bewusst und ausdruumlcklich sein ganzesLeben in ihrer Stadt verbracht habe dass er sie auszliger zu Feldzuumlgennur ein einziges Mal mit einer Festgesandtschaft zu den IsthmischenSpielen verlassen habe3 Sokrates war uumlberzeugt ein gelungenes Le-ben habe er nur als Buumlrger der Stadt Athen fuumlhren koumlnnen und mitdieser Bindung an die Polis identifizierten sich Platon und Aristotelesnicht minder

Das Verhaumlltnis von Schule und Stadt war laumlnger als ein halbesJahrhundert gepraumlgt von einer auf Unabhaumlngigkeit beider Seiten be-ruhenden Auseinandersetzung die im Jahre 322 zu Ende ging alswenige Wochen vor dem Tod des Aristoteles Athen mit der Nieder-lage im Lamischen Krieg unwiederbringlich die politische Autonomieeinbuumlszligte Wer nun die Philosophie der Epoche bis zu diesem Wende-jahr betrachtet dem werden unvermeidlich die nicht zu leugnendenDifferenzen zwischen Platon und Aristoteles ins Auge fallen Werjedoch Platon und Aristoteles zusammen gegen die spaumlter von derStoa gepraumlgte Epoche abhebt wird ihnen ebenso unvermeidlich alsganz wesentliches gemeinsames Merkmal den Umstand zuordnen

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1 Platon Phaidros 230 D2 Cicero Tusculanae disputationes 5 103 Platon Kriton 52 B

dass im Mittelpunkt ihrer philosophischen Aufmerksamkeit nicht dieSchule selbst sondern die politischeWelt auszligerhalb der Schule standIhre theoretische Arbeit endete nicht esoterisch mit Saumltzen zur inne-ren Sittlichkeit der Schule vielmehr uumlberschritt sie diese Schrankeund widmete sich eingehend den sittlichen Normen der Stadt ohneuumlbrigens daruumlber die Ordnung des fuumlr diese Normen keineswegsgleichguumlltigen Makrokosmos zu vernachlaumlssigen Ihre Politik ist in-stitutionelle Ethik und umgekehrt setzt ihre Ethik auf einen Staatder die Buumlrger tugendhaft macht

Bei weiter ausholendem Hinsehen erweist sich die vielbeschwo-rene Kritik des Aristoteles an Platon eher als dessen staumlndiges Be-muumlhen das gemeinsame Ziel den sittlichen Staat vor selbstverschul-detem Scheitern zu retten Aristoteles war nicht Gegner Platonssondern dessen dankbarer Erbe der der geistigen Hinterlassenschaftseines Lehrers das Uumlberleben zu sichern suchte In dieser Absicht aumln-derte er das methodische Vorgehen von Grund auf Er schrieb denBuumlrgern nicht mehr vor wie sie sein sollten sondern registrierte her-meneutisch wie sie sind um zu ergruumlnden was in diesem Ist-Bestandan vernuumlnftiger Vorleistung als dasWesentliche immer schon enthal-ten ist Als Hermeneutik lehrt praktische Philosophie dass die unsitt-liche Stadt sich nicht im Widerspruch zu einer aumluszligeren Instanz son-dern zu ihr selbst befindet Folgerichtig sah Aristoteles das Idealzieldes Philosophen auch nicht im Amt des Herrschers der aufgrundabsolutenWissens die Lebensordnung diktiert Vielmehr war er uumlber-zeugt sein Amt angemessen auszuuumlben wenn er darauf setzte zuwerben zu beraten und mit Argumenten zu uumlberzeugen und daseben nicht als philosophischer Herrscher sondern als Lehrer seinerSchuumller als Berater Philipps II als Prinzenerzieher Alexanders alsErmunterer der Buumlrger im Einklang mit Sitte Recht und Anstandihr Gluumlck zu suchen Aristoteles sah bessere Chancen fuumlr die plato-nische Substanz wenn er diese auf der institutionellen Basis der vitacontemplativa als bestimmter Lebensform neben und nicht uumlber dervita activa zu wahren suchte um die aktiv Taumltigen aus der damitimmer noch bestehenden Distanz vermoumlge hermeneutischen Vor-gehens daruumlber aufzuklaumlren dass die ethische Lebensfuumlhrung gelingtwenn sie im Einklang mit den bestehenden Sitten erfolgt

In der Politik des Aristoteles ist somit Platons Vernunftstaatdurchaus praumlsent allerdings eben nicht in Gestalt radikaler System-kritik sondern unter dem Oberbegriff einer raquoPolitielaquo den er in auf-klaumlrender und beratender Absicht ins Spiel bringt Im Blick auf aktu-

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Einleitung ndash zur Erlaumluterung der These

elle Probleme der Polis versteht Aristoteles die Politie zunaumlchst alsVerfassung die die Ursachen der oft blutigen Dauerkonflikte zwi-schen Oligarchen und Demokraten aufzuheben verspricht daruumlberhinaus entwickelt Aristoteles eine an Platons Idealstaat erinnerndezweite Version von Politie und zwar im Blick auf die Planungen Phi-lipps II mit einem panhellenischen Heer die Aumlgaumlis in ein makedo-nisches Meer zu verwandeln und die Jonier in Kleinasien von derPerserherrschaft zu befreien Die erstere Politie der Buumlcher IV bis VIbesteht in einem auf Aussoumlhnung der Konfliktparteien zielenden Ver-fassungsentwurf und entsprach somit der zum Schlagwort erhobenenWunschvorstellung der Zeit naumlmlich der inneren Eintracht (ὁμό-νοια) Die andere Politie in Buch VII enthielt die Grundlegung derLebensordnung griechischer Groszligbuumlrger die sich im befreiten Jonienansiedeln sollten Auch diese Verfassung kam zumindest indirekteiner Wunschvorstellung der Zeit entgegen naumlmlich dem Wunschnach gemeinsamem Frieden (κοινὴ εἰρήνη) der griechischen Staumldteuntereinander denn ehemalige Feinde koumlnnten umso leichter Friedenschlieszligen und Freunde werden wenn sie sich als Eroberer zum Kampfgegen einen gemeinsamen Gegner verbuumlnden Vorrangig angespro-chen sollten sich allerdings Groszligbuumlrger fuumlhlen die mit ihrem Lebenin den demokratischen Staumldten Griechenlands unzufrieden warenund einer auf oligarchischen Idealen gegruumlndeten Polis den Vorzuggaben

Obwohl Aristoteles dank seiner hermeneutischen Vorgehens-weise keineswegs an den Adressaten vorbeiredete sollte sich schonbald abzeichnen dass aus je verschiedenen Gruumlnden sowohl die prag-matische als auch die ideale Politie abgewiesen wurden Aristoteleswar daruumlber nicht entmutigt sondern verfolgte seinen hermeneuti-schen Ansatz nur noch strikter in dem was ist das Wesentliche zubegreifen Das was ist also das politisch Dominierende war nun un-bestritten die demokratische Verfassung der Athener denen dieSchule ndash und das durchaus auch den Tatsachen zuwider ndash die Ver-nachlaumlssigung ihrer eigenen Gesetze gleichsam als Erbuumlbel immerwieder vorgehalten hatte Die raquoVerfassung der Athenerlaquo (Ἀθηναίωνπολιτεία oder kurz AP) nimmt und sei es unausgesprochen dieeinst auch von Aristoteles selbst mitgetragene Kritik der Schule zu-ruumlck und bedeutet dieser implizit dass sie sich selbst um Glaub-wuumlrdigkeit und Uumlberzeugungskraft bringt wenn sie offen am Tageliegende Sachverhalte systematisch in Abrede stellt Die AP ist dieAnerkennung der Tatsache dass den Athener Demokraten im vierten

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Einleitung ndash zur Erlaumluterung der These

Jahrhundert die Vollendung eines widerspruchsfrei verfassten Geset-zesstaates gelungen ist der im Uumlbrigen nicht von einem kuumlnstlichgesetzten Nullpunkt ausgegangen ist sondern hermeneutisch rekon-struierbar sich in organischem Wachstum seit Ion und Theseus in elfWenden entwickelt hat Der Ton der AP liegt nicht darauf dass kom-promissbereite Philosophie die Welt vor der ihr sonst eigenen Radi-kalitaumlt verschonen will sondern auf der im theoretischen Zusehengewonnenen Einsicht dass die Stadt gerade das philosophische Ur-anliegen der Gesetzestreue immer schon als legitimierendes Prinzipihres Handelns befolgt hat Die hermeneutische Zirkelstruktur be-steht also darin dass die Philosophie der Stadt dies als das an ihrWesentliche erklaumlrt was sie selbst hervorgebracht hat

Der Einfluss der Akademie und des Lykeion endete aber keines-wegs abrupt mit dem Jahre 322 als die Athener ihre Souveraumlnitaumlteinbuumlszligten und damit die unumgehbare Voraussetzung einer auf Sitt-lichkeit bestehenden politischen Theorie Dank makedonischer Un-terstuumltzung erzielten die Schulen durch Phokion und Demetrios Pha-lereus in den folgenden Jahren sogar weitaus mehr politischeWirkung als die beiden Gruumlnder zu ihren Lebzeiten Ebendiesem Er-folg hatten indes im Jahre 307 die Schulen den entscheidenden Ruumlck-schlag zu verdanken als der aus ihren Reihen hervorgegangeneDemetrios Phalereus nach zehnjaumlhriger Herrschaft aus der Stadt ver-trieben wurde Rigide Entmuumlndigung der Buumlrger bei eigenem Nar-zissmus samt Selbstbereicherung brachten nicht nur Demetrios selbstum jeden Kredit sondern auch die Philosophie der Akademie und desLykeion nach deren Vorgaben er als ihr Angehoumlriger in Athen regierthatte Die empoumlrten Demokraten reagierten mit der Androhung derTodesstrafe und Verbannung der Philosophen und unter Philoso-phen verstanden sie unterschiedslos alle Platoniker und AristotelikerMit dieser harschen Reaktion laumluteten die Athener zugleich die Ge-burtsstunde der Stoiker ein die gleichsam in ihrer Gruumlndungsurkun-de festschrieben dass ihre Ethik die Sittlichkeit der Schule und nichtdie Sittlichkeit der Stadt zum Gegenstand habe Die Stoiker erkann-ten dass sie die Philosophie unter Wahrung ihrer Autonomie nurfortfuumlhren konnten wenn sie der Stadt versicherten dass sie andersals Platon und Aristoteles ihre Gesetzgebung ausschlieszliglich fuumlr ihreSchule als geschlossene secta erlieszligen Die erklaumlrtermaszligen der Poliszugewandte Philosophie die Platon und Aristoteles gemeinsam ver-treten hatten war ihnen nunmehr gemeinsam zum Verhaumlngnis ge-worden

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Einleitung ndash zur Erlaumluterung der These

Unter dem Druck der politischen Umstaumlnde beschlossen dieStoiker ihre Sezession und erklaumlrten die Beschaumlftigung mit der Polisals einst zentrales Thema der Philosophie fuumlr nichtig Daruumlber hinausdistanzierten sie sich ebenfalls noch in manch anderem Punkt vonPlaton und Aristoteles wenn sie etwa im Felde der theologia und derAffektlehre Theoreme vortrugen die erst angesichts der Lage seit 307auf die Tagesordnung gerieten So antworteten sie auf den Herrscher-kult der implizit die unsterblichen Goumltter zu zweitrangigen Groumlszligenherabstufte mit der providentia-Lehre um zu demonstrieren wessenFuumlrsorge in Wahrheit die Menschheit ihr Uumlberleben zu verdankenhabe Da aber die Goumltter bei rehabilitierender Bestaumltigung ihrer ndashden kultisch verehrten Diadochen uumlberlegenen ndash Allmacht zwingendauch fuumlr alle Uumlbel in derWelt verantwortlich waren musste Chrysippden Streit zwischen Homer und Platon ob die Goumltter fuumlr alles odernur fuumlr das Gute zustaumlndig seien erneut austragen Es war also letzt-lich das aumluszligere Phaumlnomen des Herrscherkultes der diesen Streit un-ter den Gelehrten ausloumlste Aumlhnlich lagen die Dinge beim Problemder Affekte Der dank der politischen Ereignisse des Jahres 307 er-zwungene Ruumlckzug der Philosophie auf sich selbst war nur unter derBedingung entschieden abschirmender Selbstbehauptung nach auszligenertraumlglich Dieselbe Bedingung der Autonomie musste aber auch nachinnen erfuumlllt sein und zwar gegen ein ganzes Buumlndel von denkbarenAffekten die bei Verzicht auf ihre Einhegung die muumlhsam nach au-szligen behauptete Souveraumlnitaumlt wieder untergraben haumltten Folgerichtigwar die Affektlosigkeit (ἀπάθεια) das zentrale Thema der stoischenEthik ndash mit dem Ziel der Wahrung der inneren Autonomie Die Stoi-ker konnten daher nicht das Risiko eingehen die Behandlung derAffekte wie Aristoteles wollte eher beilaumlufig den Nachwirkungender von der tragischen Dichtung ausgeloumlsten Katharsis zu uumlberlassenStattdessen mussten die Stoiker darauf bedacht sein eine spezielleTherapie fuumlr den Fall zu entwickeln dass wie zu befuumlrchten denAffekten katechismuswidrig hier und da eben doch ein Ausbruch ge-lingen sollte

Obwohl die Stoiker als die neuen Meinungsfuumlhrer Platon undAristoteles fuumlr Jahrhunderte in den Hintergrund zu draumlngen ver-mochten mussten sie am Ende doch erleben dass die beiden Arche-geten im Status von unangefochtenen Klassikern ihre Renaissanceerlebten Zwar sicherten die Stoiker durch ihren weisen Ruumlckzug derphilosophia perennis die Kontinuitaumlt duumlrften aber am Ende aus dem-selben Grund dem sie ihr Entstehen verdankten wieder von Platon

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Einleitung ndash zur Erlaumluterung der These

und Aristoteles in den Schatten gestellt worden sein Denn Lehrerwie Schuumller verstanden anders als die Stoiker unter Schule stets eineInstanz der systematischen Beschaumlftigung gerade auch mit der Au-szligenwelt Dieser erweiterte Argumentbereich konnte dem Kreis umPlaton und Aristoteles schlieszliglich nicht mehr schaden als es keinedirekt angesprochenen Zeitgenossen mehr gab die sich durch ihreLehren und das Handeln ihrer Schuumller provoziert fuumlhlten Von sol-chen Gefuumlhlen unberuumlhrt suchen hingegen spaumltere Generationen beiPlaton und Aristoteles gerade wegen ihres umfassenden Blickfeldesnach Belehrung und gegebenenfalls Bestaumltigung eigener Theorienund das sowohl im Grundsaumltzlichen als auch in Einzelfragen

Platons Philosophie nahm ihren Ausgang von der ganz be-stimmten Frage der Apologie wie Sokrates der gerechteste BuumlrgerAthens gegen die Asebieklage des Anytos Meletos und Lykon zuverteidigen sei In den Kategorien der Theorie der Rhetorik haumltte die-se Frage als eine quaestio finita gegolten die im Verfolg eine Fuumlllevon sich anschlieszligenden quaestiones infinitae ausloumlsen sollte wienaumlmlich ein gerechter Staat moumlglich sei der vom Geist seiner gerech-ten Buumlrger gepraumlgt waumlre Mit dem daraus erwachsenen Fundus vonFragen und erteilten Antworten haben Platon und entsprechend Aris-toteles der Nachwelt einen geistigen Reichtum hinterlassen dem sieschlieszliglich ndash nach zwischenzeitlicher Suspendierung ndash ihre Anerken-nung als unumstrittene Klassiker bis in unsere Tage zu verdankenhaben Angesichts solcher Hinterlassenschaft darf sich die Philo-sophie mit gutem Gewissen als Vergegenwaumlrtigung ihrer eigenen Ge-schichte definieren Vergegenwaumlrtigung wiederum ist im weitestenSinne das Gemeinschaftswerk der subtilitas intellegendi und der sub-tilitas applicandi und das so bestimmte Vorgehen ist auch dieVoraussetzung fuumlr die Zeugenrolle die Platon und Aristoteles beider philosophischen Begleitung der Preuszligischen Reformen durchG W F Hegel und erneut bei der geistigen Gruumlndung der Bundes-republik nach dem ZweitenWeltkrieg durch Joachim Ritter und seineSchuumller spielten Dass Platon und Aristoteles fuumlr den buumlrgerlichenRechtsstaat in den Zeugenstand traten setzt den hermeneutischenPhilosophiebegriff voraus demgemaumlszlig die Philosophie auf der Praumlsenzihrer eigenen Geschichte beruht Damit ist zugleich die Frage nachden Aussichten einer umfassenden Erneuerung der praktischen Phi-losophie gestellt der sich so lautet unsere These Joachim Ritter undseine Schuumller widmeten indem sie dem Primat der praktischen Ver-nunft die Ehre erweisend die klassischen Disziplinen der philosophia

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practica universalis ndash Ethik Politik Oumlkonomik ndash schrittweise auf-nahmen und in ein systematisches Verhaumlltnis zur modernen Weltsetzten

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Einleitung ndash zur Erlaumluterung der These

Hermeneutikgeleitete Chronikder Wege und Umwege derphilosophia practica universalisvon den Anfaumlngen bis in die Gegenwart

Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

Vom Ende her gesehen koumlnnte leicht der Eindruck entstehen Platon(42827ndash34847) habe sich von vornherein als Lebenswerk die Gruumln-dung einer philosophischen Schule zum Ziel gesetzt in deren Mittel-punkt die Ausbildung einer systematischen politischen Theoriestehen sollte Dieser Eindruck taumluscht indes Wie Platon selbst imVII Brief (324 Bndash326 D) seinen Werdegang darstellt hatte er ur-spruumlnglich gar nicht die Absicht eine Schule zu gruumlnden die sichphilosophisch mit dem Staat befasste Stattdessen draumlngte er zunaumlchstauf eigenes politisches Handeln als er in der Herrschaft der DreiszligigTyrannen (40403) eine Chance sah einen Staat zu errichten der freiwar von den Schwaumlchen der Demokratie Enttaumluscht musste er aberbald erkennen dass die fruumlheren Verhaumlltnisse in der Demokratie ver-glichen mit der Gegenwart unter den Dreiszligig Gold (sic) waren Fol-gerichtig wandte er sich von den Dreiszligig ab und war nach deren Sturzwiederum bereit zu politisch aktiver Taumltigkeit wurde aber erneut ent-taumluscht ndash durch das Todesurteil gegen Sokrates den Mangel an poli-tischen Freunden die grassierende Geringachtung der Gesetze unddie Inthronisierung der Lust (ἡδονή) als Maszlig der Dinge Erst darauf-hin widmete sich Platon der theoretischen Beschaumlftigung mit demwahren Staat nicht ohne fuumlr erneute praktische Taumltigkeit in der Poli-tik bessere Zeiten abzuwarten die dann eintraumlten wenn wahrhaftePhilosophen die Herrschaft im Staat uumlbernaumlhmen und nicht die durchdas Los ins Amt befoumlrderte Inkompetenz Seine Philosophie war alsoOpposition auszligerhalb der politischen Buumlhne gedacht als ungewollteZwischenphase die erst endete wenn die Staumldte nach philosophi-schen Grundsaumltzen verfasst waumlren Die Gruumlndung der Schule erfolgtealso eher aus Verlegenheit sie war nicht die erfolgreiche Ausfuumlhrungeiner urspruumlnglichen Absicht

Mit seinem Bericht im VII Brief laumlsst Platon also durchblickendass er gleichsam widerWillen die Akademie als Schule gruumlndete undderen erstes Schulhaupt wurde Die Schule galt Platon als Surrogateiner Polis der vollendeten Sittlichkeit Folgerichtig war das Leit-thema der Schule die Lehre vom wahren Staat der das bloszlige Surrogatwieder uumlberfluumlssig machen sollte Platon verschweigt auch nicht vonwelchem Standpunkt aus er die Grundzuumlge des idealen Staates ent-wickelte Waumlhrend er die Schwaumlchen der Demokratie eher in derenStrukturen suchte ortete er die Schwaumlchen der Oligarchie im persoumln-lichen Versagen insbesondere der Dreiszligig Tyrannen Demgemaumlszlig plauml-

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dierte er fuumlr eine zu wahrer Aristokratie veredelte Oligarchie die vonindividuellen und strukturellen Defiziten frei war Diese dem Best-moumlglichen verpflichtete Parteinahme erfuumlllte zugleich die Anforde-rungen einer auf Widerspruchsfreiheit bedachten Theorie sofernPlaton alle seine politischen Vorstellungen auf Vernunftbegriffe zu-ruumlckfuumlhrte und nie vergaszlig sie geltend zu machen wo immer ihreBeachtung zwingend geboten war Mag es Platon auch nicht gelungensein in Athen einen Wiedergaumlnger des Sokrates als philosophischenHerrscher zu bestallen und auf diese Weise sein praktisches Ziel zuerreichen so bleibt doch als Ergebnis seiner Anstrengungen zumin-dest als Fortschritt im Bewusstsein dies bestehen dass von nun anpolitische Vorgaumlnge unvermeidlich von der Aufmerksamkeit einerauszligerhalb der politischen Buumlhne angesiedelten Vernunftkritik beglei-tet wurden Insofern blieb Platons mutiger Schritt eine politischeEntitaumlt systematisch in Zweifel zu ziehen und sie auch noch miteinem Gegenmodell zu konfrontieren nicht ohne kuumlnftige Folgen

Einstweilen blieb aber Platons politische FundamentaloppositionSache der Schule deren Eigengesetzlichkeit sich auf die inhaltlicheWeiterarbeit spuumlrbar auswirken sollte Zur (nachsokratischen)Grund-ausstattung der Schule gehoumlrte die Schriftlichkeit die Platon in nichtgeringe Verlegenheit brachte weil er auf unmittelbare Praumlsenz derVernunft setzte und nicht auf eine mittelbare die sich auch nochdurch Ablage ins Buumlcherregal unschaumldlich machen lieszlig1 Zudemzeichnete sich uumlber das politische Kerninteresse hinaus eine durchschultypisches Weiterfragen ausgeloumlste Verfaumlcherung ab die Platonnoch identitaumltsphilosophisch aufzufangen vermochte die aber auflange Sicht jenseits der Politik zur Etablierung von Einzeldisziplinenwie Ontologie Kosmologie Mathematik und Erkenntnistheorie fuumlhr-te Den Sophisten ging es aumlhnlich wie Sokrates von Protagoras er-faumlhrt Nur bei ihm selbst erfuumlhren die Schuumller das Noumltige uumlber ihrKerngeschaumlft das Haus gut zu verwalten und sich auf der Agoraacute zubewaumlhren waumlhrend sie bei anderen Sophisten wie Hippias von Elisverdorben wuumlrden weil diese sie mit Unnuumltzem wie Arithmetik As-tronomie Geometrie und Dichtung traktierten2 So weitete also auchdie Schule Platons allmaumlhlich ihren Themenkreis immer weiter aus

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Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

1 Auf dieses Merkmal der Schule ist G Bien naumlher eingegangen Das Theorie-Praxis-Problem und die politische Philosophie bei Platon und Aristoteles in Phil Jb 76(196869) 264ndash314 hier S 307ndash3132 Platon Protagoras 318 Dndash319 A

je mehr ihre Vorlaumlufigkeit die mit einem politischen Erfolg der Fun-damentalopposition ihr Ende finden sollte in Vergessenheit gerietAristoteles sollte an seinem Lehrer in der Sache manche Kritik uumlbenaber die Regeln der Institution Schule ihre Hinwendung zur Schrift-lichkeit und ihre Etablierung von Einzeldisziplinen (Pragmatien) ver-standen sich fuumlr ihn schon von selbst

Aristoteles (384ndash322) hatte als Siebzehnjaumlhriger seine makedo-nische Heimat verlassen um sich im Jahre 36766 der Akademie an-zuschlieszligen Da war Platon schon uumlber fuumlnfzig Jahre alt und hatteseine philosophische Arbeit dogmatisch abgeschlossen Da er in die-sen Tagen kurz vor seiner zweiten Reise nach Syrakus stand hat ervielleicht erst nach seiner Ruumlckkehr erkannt wer von nun an seinbegabtester Schuumller war Als Aristoteles einmal bei einer Vorlesungfehlte rief Platon verzweifelt aus raquoDer Geist ist nicht zugegenstumpf ist da die Houmlrerschaftlaquo ndash im Original ein ausgefeilter jambi-scher Trimeter ὁ νοῦς ἄπεσ|τιν κωφὸν τἀκ|ροατήριον3 Aristote-les wird sich dieses Lob seines Lehrers gewiss bei vielen Gelegenhei-ten verdient haben nicht zuletzt aber dank der Art wie er sich beiPlatons beruumlhmter Altersvorlesung raquoUumlber das Gutelaquo4 bewaumlhrte Alsdieser das Gute kosmologisch im zahlhaft bestimmten Einen verorte-te blieben die Houmlrer einer nach dem anderen enttaumluscht der Vor-lesung fern weil sie Ausfuumlhrungen uumlber seelische koumlrperliche undaumluszligere Guumlter im gemeinen Verstande erwartet hatten Auf diese Re-aktion der Houmlrer hatte Platon nur gewartet er wollte wissen wer mitseinem Vorstellungshorizont uumlber den der Menge hinausging undsich damit als genuiner Philosoph erwies Tatsaumlchlich harrten nurwenige Houmlrer bis zum Ende aus und empfingen den Ritterschlageines wahren Philosophen darunter natuumlrlich Aristoteles Dieser er-klaumlrte allerdings spaumlter er werde sich an das allgemein Anerkanntehalten statt aus dem Satz dass das Eine ein Gut sei herzuleiten dassdie Gerechtigkeit ein Gut sei5

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Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

3 Zitiert nach V Rose Aristotelis qui ferebantur librorum fragmenta collegit V RLeipzig 18701886 repr Stuttgart 1967 S 4284 Das Vorlesungsmanuskript ist im Original nicht erhalten Die zahlreichen Para-phrasen bei anderen Autoren hat W D Ross Aristotelis Fragmenta Oxford 1935S 111ndash120 gesammelt5 Aristoteles Eudemische Ethik 1218 a 15ndash22 Der Aristotelesschuumller Aristoxenosbestaumltigte diese Reaktion seines Lehrers in seinen ἁρμονικὰ στοιχεῖα (ed P Mar-quard Die harmonischen Fragmente des Aristoxenos Berlin 1868 S 30) und fuumlgtehinzu es empfehle sich zu Beginn einer Vorlesung sein Thema genau anzukuumlndigen

Im Uumlbrigen sparte auch Aristoteles nicht mit Lob auf seinenLehrer Im Rahmen seiner Inschrift auf einem Altar der Freundschaftden Eudemos von Kypros von einer Reise nach Athen zuruumlckgekehrtgestiftet hatte ruumlhmt Aristoteles Platon als Mann den schlechteMenschen nicht einmal loben duumlrften und als Mann der als Ersterunter den Menschen durch eigene Lebensfuumlhrung und vorgetrageneGruumlnde demonstriert habe dass der gute Mann ebendeshalb auch dergluumlckliche Mann ist Zwar taucht im uumlberlieferten Text der Distichenweder der Name Platons noch der des Eudemos auf Olympiodor ver-sichert aber Aristoteles habe in seiner Widmung an den Stifter Eude-mos ebendieses Lob auf Platon ausgesprochen6 Bei welchem Lehrerhaumltte Aristoteles auch besser lernen koumlnnen wie man wesentlicheaber oft uumlbersehene Fragen stellt wie man fuumlr andere uumlberraschendauf Zusammenhaumlnge und Widerspruumlche aufmerksam macht wieman auf den ersten Blick unerkannte Implikationen und Konsequen-zen herausarbeitet wie man unzureichend Bewiesenes als solchesidentifiziert wie man einmal erzielte Uumlbereinkuumlnfte stets im Ge-daumlchtnis praumlsent haumllt wie man seine Argumente durch Ruumlckfuumlhrungauf Gruumlnde und Ursachen als anerkannte Berufungsinstanzen uumlber-zeugend vortraumlgt

Zur gegenseitigen Wertschaumltzung aufgrund ihrer intellektuellenVorzuumlge gesellte sich die politische Uumlbereinstimmung beider Philoso-phen die neben der Sympathie fuumlr Makedonien die entschieden ab-lehnende Haltung gegenuumlber der attischen Demokratie betraf FuumlrPlaton fiel die Suche nach der gerechten Polis als dem hiesigen Kor-relat des absolut Guten mit entschiedener Demokratiekritik zusam-men Seine politische Leitidee bildete die Gerechtigkeit als Einheit derKardinaltugenden mit dem Ziel der Baumlndigung des sinnlichen Inte-resses (ἡδονήvoluptas) waumlhrend in seinen Augen die demokrati-schen Leitideen der Gleichheit und Freiheit lediglich auf eine Beschouml-nigung der voluptas als des wahren Bestimmungsgrundes der Mengehinausliefen Diesen von voluptas durchdrungenen Staat sah Platonals derart heillos verfahren an dass er anknuumlpfende Schritt-fuumlr-Schritt Reformen gar nicht erst in Betracht zog Stattdessen setzte

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Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

und wenn man Paradoxes vortragen wolle dies auch unmissverstaumlndlich zu sagen Sobliebe den Houmlrern die Enttaumluschung erspart wenn sie in Erwartung einer Belehrunguumlber Guumlter wie Reichtum Gesundheit Gluumlck am Ende lediglich die blasse Auskunfterhielten das Gute sei Eines6 Olympiodoros in Platonis Gorgiam XLI 10 ad p 515 C

Platons politische Opposition mit anderen Mitteln7 auf eine vomNullpunkt aus fehlerfrei in Gedanken durchkonstruierte Polis in derdie schon seit Kleisthenes bestehende Einheitlichkeit und Geschlos-senheit des Gemeinwesens gewahrt blieben aber konkrete demokra-tische Komponenten wie Rat und Volksversammlung Geschwore-nengericht und Flotte Panathenaumlen Dionysien und Eleusinien nichteinmal dem Namen nach vorkamen Bei dieser Konstellation gerietenSchule und Polis zwangslaumlufig in ein Verhaumlltnis sich gegenseitigenIgnorierens Die Schule fuumlhrte ihre Debatten als private Institutionohne Beruumlcksichtigung der Vorgaumlnge auf der Agoraacute und die Agoraacutemuumlhte sich mit den ihr eigenen Mitteln um eine Konsolidierung derdemokratischen Institutionen ohne die Einwaumlnde der Schule zurKenntnis zu nehmen Nun mag Platon einen offenbar unpolitischenweil von den Realitaumlten abgehobenen Ausgangspunkt gewaumlhlt unddamit seiner Weiterarbeit wie spaumlter die hermeneutisch argumentie-rende Kritik des Aristoteles zeigen sollte einen schlechten Dienst er-wiesen haben aber ihn leitete ohne jeden Zweifel ein handfestes Mo-tiv und eine daraus abgeleitete allgemeine bis in unsere Tage zubeherzigende Grundeinsicht

Platons Schluumlsselerlebnis war das Todesurteil gegen Sokratesdas eine Mehrheit unter fuumlnfhundert Geschworenen faumlllte obwohlsich Sokrates in allen Anklagepunkten ganz offenkundig als nichtschuldig erwiesen hatte Moumlglich wurde diese Gerichtsentscheidungweil es den Anklaumlgern wie routinierten Demagogen gelang mit ihrenUnwahrheiten eine ignorante Menge auf ihre Seite zu ziehen In derTat hatten sie wie Sokrates gleich im zweiten Satz der Apologie aus-ruft nicht ein einzigen wahren Satz vorgetragen (ἀληθές γε hellip οὐ-δὲν εἰρήκασιν) Der offenbar unausrottbaren Moumlglichkeit dass De-magogen gerade mit der Unwahrheit Mehrheiten fuumlr sich gewinnenkoumlnnen galt zeitlebens Platons kritische Aufmerksamkeit Tatort wa-ren nicht nur die Geschworenengerichte sondern nicht minder dieVolksversammlung in der interessierte Redner Mehrheitsbeschluumlsse(ψηφίσματα) herbeifuumlhrten mit denen sie bestehende Gesetze un-terliefen8 Auch fuumlr dieses Fehlverhalten gab es eine Schluumlsselszeneals naumlmlich im Zuge des Arginusenprozesses ein Mann aus der auf-gehetzten Menge rief es sei eine Ungeheuerlichkeit wenn man denDemos nicht tun lasse was er wolle und gleich darauf durchgesetzt

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7 Platon VII Brief 325 Endash326 A8 Ebd 325 DndashE

wurde dass die angeklagten Seeoffiziere en bloc verurteilt wurdenund nicht wie es das Gesetz verlangte jeder einzeln Der Einzigeder sich diesem rechtswidrigen Beschluss widersetzte war Sokrates9

Dass dieser Staat ausgerechnet seinen gerechtesten Buumlrger zumTode verurteilt hatte hat Platon nie verziehen Da indes die aus-schlaggebende Mehrheit der Geschworenen ihr Urteil wohl kaumfuumlr ungerecht hielt sah Platon sich verpflichtet allen ebenso gesinn-ten Athenern vorzutragen was an und fuumlr sich Gerechtigkeit wirklichist und zwar in der Politeia aus dem Munde eben des Sokrates Danun der Staat fuumlr die Gerechtigkeit der groumlszligere und besser sichtbareBewaumlhrungsort ist als der Einzelne schlug Sokrates vor den Begriffvon Gerechtigkeit zunaumlchst im Blick auf den Staat zu entwickeln (Po-liteia 368 E 472 B) Die Frage nach der Gerechtigkeit konkretisiertesich auf diese Weise zur Frage nach dem gerechten Staat Folgerichtigsetzte Platon im Geist des Sokrates der attischen Demokratie mitihrem falschen Machtwillen einen auf reiner Vernunft beruhendenIdealstaat entgegen von dessen Vorzuumlgen er vielleicht schon dienaumlchste Generation der Athener zu uumlberzeugen hoffte10 anderenfallskoumlnne man nur noch auf einen Gluumlcksschlag von auszligen (τύχη) set-zen oder dass sich dank goumlttlicher Fuumlgung ein Staatenlenker mit derPhilosophie befasse11 Die Befuumlrchtung der Philosoph koumlnne in seinereigenen Stadt wenn uumlberhaupt dann nur dank goumlttlicher Fuumlgung po-litisch taumltig werden (Politeia 592 A) wollte Platon allerdings fuumlr sichnicht als Entschuldigung gelten lassen im Gegenteil Platon ver-sicherte er sei eigens nach Syrakus gereist damit man ihm nicht vor-halten koumlnne er sei nur im Felde der Theorie stark ziehe sich aberzuruumlck wenn es an die praktische Ausfuumlhrung gehe (VII Brief328 C) Vielmehr war fuumlr ihn der gerechte Staat Inhalt philosophi-scher Reflexion mit dem Ziel seiner Verwirklichung

Im idealen Staat darf die Entscheidungsbefugnis nur bei Buumlrgernliegen die allein durch philosophisch uumlberpruumlfte Qualifikation undnicht durch Loswahl in ihr Amt gelangt sind Nur wer die Houmlhle derdie Menge auszeichnenden Kurzsichtigkeit verlassen und dank uumlber-legener Vernuumlnftigkeit die Idee des Guten geschaut hat vermag pri-vat wie oumlffentlich vernuumlnftig zu handeln12 eben seitdem er sich von

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9 Xenophon Hellenika 1 7 12ndash16 Vgl unten Anm 38 S 137 und Anm 17 S 14810 Platon Politeia 315 CndashD11 Platon VII Brief 326 A12 Platon Politeia 517 C

der Aussageabsicht der drei beruumlhmten Gleichnisse hat uumlberzeugenlassen dass naumlmlich das Gerechte das Gute ist und nicht das sinnlicheInteresse der auf den Schein fixierten Menge13 Entsprechend heiszligt esin Platons 8 Brief (355 A) Fuumlr besonnene Menschen ist Gott das Ge-setz fuumlr die unvernuumlnftigen ist es die Lust Das Gute hat also densel-ben Stellenwert wie Gott und bildet wie dieser insofern den Welt-grund als es weil jenseits (ἐπέκεινα) des daseienden Universumsangesiedelt im Rang noch uumlber dieses hinausragt und sich heilsambewaumlhrt indem es dank seinem Sproumlssling dem Sonnenlicht Orien-tierung durch Sichtbarkeit der Dinge sowie Leben Wachstum undGedeihen moumlglich macht14 Die Ausrichtung amGuten als Weltgrunderhebt das Gerechte zur unbedingten Handlungsnorm fordert abernicht nur sondern gewaumlhrt in einem damit den Buumlrgern auch wahr-haft praktischen Nutzen naumlmlich das Leben im sittlichen Gesetzes-staat ndash die Frucht eben der Herrschaft der Gerechtigkeit15 Damit istdie Frage zu deren Beantwortung Sokrates die drei beruumlhmtenGleichnisse vortrug naumlmlich ob Lust oder das Gerechte das wahreGut ist beantwortet und die implizit gegebene Antwort die auf derUnterscheidung der vier Erkenntnisstufen im Liniengleichnis beruhtbesagt dass die beschraumlnkten intellektuellen Moumlglichkeiten der Men-ge zu dieser Einsicht nicht ausreichen diese also fuumlglich zu entmuumln-digen ist schon um den Demagogen ein leichtglaumlubiges Publikum zuentziehen

Der Form nach stand bei aller Reserve Platon durchaus in derSchuld der Demokraten Sie waren es die unter Kleisthenes den atti-schen Staat als rational verwalteten Einheitsstaat geschaffen hattender nicht mehr nach Staumlmmen Sippen und oumlrtlich bedingten Loyali-taumlten fragmentiert war Unter Phylen verstand Kleisthenes nichtmehr den Oberbegriff vertikal strukturierter Personenverbaumlnde son-dern horizontal strukturierter einheitlich verwalteter Bezirke nachdem Territorialprinzip Das Volk der Athener (ὁ τῶν Ἀθηναίων δῆ-μος) trat an die Stelle der Klientel wie in Rom der populus Romanusan die Stelle der gentes Platon musste also das Prinzip staatlicherEinheit selbst nicht mehr erfinden wohl aber dem Inhalt nach fuumlr alleZukunft beschlieszligen dass nicht nur dieser sondern jeder Staat sei-nem Wesen gemaumlszlig in der Pflicht sei sich als raquoWirklichkeit der sitt-

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Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

13 Ebd 505 B14 Ebd 509 AndashB15 Ebd 505 A

lichen Ideelaquo (Hegel) zu bewaumlhren Uumlber diesen Beschluss hinausdachte Platon noch einen Schritt weiter denn es konnte nicht ge-nuumlgen einen Staat philosophischer Sittlichkeit lediglich zu gruumlndener musste auch erhalten werden ndash durch ein Kollegium integrer Ge-setzeshuumlter die das muumlhsam Erreichte unveraumlndert zu bewahren hat-ten16 Diese Position waumlre etwa im Arginusenprozess unbesetzt ge-wesen haumltte Sokrates sie nicht eingenommen und auf Einhaltungder Gesetze bestanden

Ebenso wie die vorgegebene Staatlichkeit hat auch das mit dieserverbundene demokratische System der Rechtspflege das das archai-sche Selbsthilfeprinzip abloumlste Eingang in Platons Philosophie gefun-den Die archaische Selbsthilfe bestand darin dass die durch einenUumlbergriff beleidigte Sippe der Sippe des Taumlters die Fehde ankuumlndigte(πρόρρησις) deren Beendigung durch Abschluss eines Suumlhnevertra-ges (αἴδεσις) erfolgte Dass bei dieser Form der Konfliktbeilegungdurch Aussoumlhnung die staumlrkere Sippe in der Regel ihre Loumlsungsvor-stellungen durchsetzte liegt auf der Hand Der Schritt fuumlr Schritterfolgte Gerichtszwang durch den der Staat erst allmaumlhlich das Mo-nopol der Rechtspflege uumlbernahm hatte zum Ziel dass anstelle zufaumll-liger Machtverhaumlltnisse die Systematik von Recht und Gesetz imStreit der Parteien entscheidet17 Diesen Sinn der nacharchaischenRechtsprechung hat Ovid mit dem Hexameter zusammengefasstinde datae leges ne firmior omnia posset (Fasten 3 279) Im Gor-gias-Dialog haumllt nun Platon der Rhetorik vor sie sei der methodischeVersuch gerade diese Errungenschaft der Rechtsprechung ruumlckgaumln-gig zu machen Kallikles ein Anhaumlnger des Rhetoriklehrers Gorgiasspricht unverhohlen aus dass Herakles voumlllig im Recht war Geryonesseine Rinder die er weder gekauft noch zum Geschenk erhalten hatteohne Bedenken zu stehlen da das von Natur Gerechte darin bestehedass alles Eigentum der Schwaumlcheren in Wahrheit dem Staumlrkeren ge-houmlre18 Sokrates haumllt Kallikles entgegen dass wahre Uumlberlegenheitnicht im Mehr-haben-Wollen sondern im Sittlich-besser-Sein be-stehe und beruft sich damit ebenso wie die Rechtsprechung auf ein

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16 Platon Politeia 484 B Nomoi 752 DndashE 754 Dndash755 C 770 AndashD 847 AndashD 959 Dndash961 CIm Abschnitt zu raquoDemetrios Phalereus ndash oder die vierzehnte Wendelaquo wird diese pla-tonische Vorgabe noch eine wesentliche Rolle spielen17 Zu diesen nicht leicht zu rekonstruierenden Prozessen sei auf die im Literaturver-zeichnis genannten Aufsaumltze von E Ruschenbusch verwiesen18 Platon Gorgias 484 BndashC

systematisches Kriterium um die individuelle Machtperspektive inSchranken zu weisen Dass Sokrates bei seinem Gespraumlchspartnermit dieser Argumentation nicht durchdringt ist allein der Borniert-heit des Kallikles zuzuschreiben

Es ist nicht zu leugnen dass Platon ebenso wie der Oligarch Kal-likles den Besseren das Wort redete aber unter den Besseren wirklichBessere verstand die den Staat als sublimierte Oligarchie tragen soll-ten Von dieser Staatslehre gilt es also zu uumlberzeugen und das ver-suchte Platon auch ganz im Sinne des Sokrates zunaumlchst durch sach-liche Gespraumlchsfuumlhrung oder Dialektik (διαλέγεσθαι) die mitkurzen Saumltzen Rechenschaft fordert und gewaumlhrt Sokrates mochtekeine langen Reden die geeignet sind das Ausgangsthema nach eini-ger Zeit aus den Augen zu verlieren19 Auch mochte es Sokrates garnicht wenn Unterredner sich streitsuumlchtig (ἐρίζειν) an Worten fest-bissen statt am intendierten Inhalt20 Das richtet sich gegen Protago-ras der als Erfinder der Eristik Wortklauberei betrieb statt sich aufdie Bedeutung des Sachverhalts zu konzentrieren21 Insgesamt ist diesokratische Version von Dialektik ein Gegenentwurf zur raquosogenann-ten Kunst der Rhetoriklaquo22 die lediglich den Uumlberredungserfolg zumZiel hat und nicht etwa wohlbegruumlndete Wahrheiten herausarbeitenwill Nun musste Platon etwa im Gespraumlch mit Kallikles im Gorgiasoder mit Thrasymachos im ersten Buch der Politeia erkennen dassgerade seine Sachlichkeit bei Boumlswilligen auf taube Ohren stoumlszligt Erentwickelte daher noch in der Politeia einen uumlber Sokrates hinaus-gehenden Begriff von Dialektik die nicht diskutiert sondern dekre-tiert nachdem diese durch reines auf das Gespraumlch mit sich selbstkonzentriertes Durchdenken des Wesentlichen frei von sinnlichenEindruumlcken zum Ziel der Erkenntnis des Guten gelangt ist (532 AndashB) Weil somit Dialektik zustaumlndig wird fuumlr die Vergegenwaumlrtigungdes Guten in der politischen Welt darf auch nur der ausgewieseneDialektiker Staatenlenker werden (534 CndashD) der auf seinen Einsich-ten beharrt auch wenn ihm seine Mitbuumlrger die Zustimmung ver-weigern Gegen vordergruumlndige Rechthaberei von wem immer sieausgeht verteidigt Platon das Prinzip vernuumlnftiger Argumentationgegen die Kraumlfte ihrer Blockierung

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19 Platon Protagoras 336 AndashC Gorgias 474 B20 Platon Politeia 454 A21 Diogenes Laertios 9 5222 Platon Gorgias 448 D

Page 9: Platon und Aristoteles als Wegbereiter der praktischen ... · Differenzen zwischen Platon und Aristoteles ins Auge fallen. Wer jedoch Platon und Aristoteles zusammen gegen die später

Inhalt

Vorwort 5

Einleitung ndash zur Erlaumluterung der These 11

Hermeneutikgeleitete Chronik der Wege und Umwege derphilosophia practica universalis von den Anfaumlngen bis in dieGegenwart 19Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie 21Schluumlsse aus dem politischen Scheitern der Platonschuumller 35Die Vorarbeiten des Aristoteles fuumlr die Politik 54Die philosophischen Pflichten des Tages gegenuumlber dengriechischen Staumldten 62Die ideale Stadt des Aristoteles 72Das Ende der Freundschaft zwischen Alexander und Aristoteles 84Die Bedeutung der elf Wenden in der Athenaion Politeia ndashquid facti 100Die Legitimitaumlt der attischen Demokratie ndash quid iuris 107Das Ungluumlcksjahr 322 117Antipatros und Phokion ndash oder die zwoumllfte Wende (322) 121Kassandros und Polyperchon ndash oder die dreizehnte Wende(319) 125Demetrios Phalereus ndash oder die vierzehnte Wende (317) 128Die Sezession der Philosophie nach dem Sturz des DemetriosPhalereus (307) 146Demetrios Poliorketes und der Herrscherkult ndash oder diefuumlnfzehnte Wende (307) 163

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Die Tyrannei des Lachares ndash oder die sechzehnte Wende(um 300) 171Die Ruumlckkehr des Demetrios Poliorketes ndashoder die siebzehnte Wende (295) 174Der Siegeszug des Herrscherkults 187Die stoische Goumltterlehre als Antwort auf den Herrscherkult 193Lactantius uumlber die heidnische Entlastung der Goumltter 208Die wiederhergestellte Autoritaumlt Homers 214Platon und Chrysipp im Streit uumlber Homers theologia 227Die tragische Katharsis und die stoische Lehre von denAffekten 239Theodizee und Geschichtsphilosophie 258Die quaestio finita als Pruumlfstein originalitaumltsgerechterRezeption 276Hegels Ruumlckgriff auf die Lehre vom sittlichen Staat bei Platonund den Tragikern 282Aristoteles als Zeuge der praktischen Philosophie Hegels 288Joachim Ritters Erneuerung der Hegelschen Platon- undAristotelesrezeption 314Politik und Ethik als Bauglieder der philosophia practicauniversalis im Blickpunkt der Ritterschen MitteGuumlnther Bien Hermann Luumlbbe Odo Marquard 328Die Oumlkonomik oder der von der Ritterschen Mitte gesetzteSchlussstein der philosophia practica universalisKarl Homann 343

Verwendete Sigla 371

Literaturverzeichnis 372

Index nominum et rerum 383

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Inhalt

Einleitung ndash zur Erlaumluterung der These

Platons Akademie und das Lykeion des Aristoteles lagen zwar vor denMauern aber deshalb war die Stadt der Schule keineswegs gleichguumll-tig im Gegenteil die Stadt erfreute sich jederzeit intensiver Auf-merksamkeit durch die Schule Vorgegeben war diese Haltung durchden gemeinsamen Ahnherren Sokrates raquoden Landschaft und Baumlumewenig lehrten wohl aber die Menschen in der Stadtlaquo1 Buumlndig be-staumltigt das auf seine Weise Cicero Socrates autem primus philoso-phiam devocavit e caelo et in urbibus conlocavit2 Noch im Gefaumlngnisunterstreicht Sokrates er koumlnne unmoumlglich ohne Einverstaumlndnis derAthener fliehen wo er doch so bewusst und ausdruumlcklich sein ganzesLeben in ihrer Stadt verbracht habe dass er sie auszliger zu Feldzuumlgennur ein einziges Mal mit einer Festgesandtschaft zu den IsthmischenSpielen verlassen habe3 Sokrates war uumlberzeugt ein gelungenes Le-ben habe er nur als Buumlrger der Stadt Athen fuumlhren koumlnnen und mitdieser Bindung an die Polis identifizierten sich Platon und Aristotelesnicht minder

Das Verhaumlltnis von Schule und Stadt war laumlnger als ein halbesJahrhundert gepraumlgt von einer auf Unabhaumlngigkeit beider Seiten be-ruhenden Auseinandersetzung die im Jahre 322 zu Ende ging alswenige Wochen vor dem Tod des Aristoteles Athen mit der Nieder-lage im Lamischen Krieg unwiederbringlich die politische Autonomieeinbuumlszligte Wer nun die Philosophie der Epoche bis zu diesem Wende-jahr betrachtet dem werden unvermeidlich die nicht zu leugnendenDifferenzen zwischen Platon und Aristoteles ins Auge fallen Werjedoch Platon und Aristoteles zusammen gegen die spaumlter von derStoa gepraumlgte Epoche abhebt wird ihnen ebenso unvermeidlich alsganz wesentliches gemeinsames Merkmal den Umstand zuordnen

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1 Platon Phaidros 230 D2 Cicero Tusculanae disputationes 5 103 Platon Kriton 52 B

dass im Mittelpunkt ihrer philosophischen Aufmerksamkeit nicht dieSchule selbst sondern die politischeWelt auszligerhalb der Schule standIhre theoretische Arbeit endete nicht esoterisch mit Saumltzen zur inne-ren Sittlichkeit der Schule vielmehr uumlberschritt sie diese Schrankeund widmete sich eingehend den sittlichen Normen der Stadt ohneuumlbrigens daruumlber die Ordnung des fuumlr diese Normen keineswegsgleichguumlltigen Makrokosmos zu vernachlaumlssigen Ihre Politik ist in-stitutionelle Ethik und umgekehrt setzt ihre Ethik auf einen Staatder die Buumlrger tugendhaft macht

Bei weiter ausholendem Hinsehen erweist sich die vielbeschwo-rene Kritik des Aristoteles an Platon eher als dessen staumlndiges Be-muumlhen das gemeinsame Ziel den sittlichen Staat vor selbstverschul-detem Scheitern zu retten Aristoteles war nicht Gegner Platonssondern dessen dankbarer Erbe der der geistigen Hinterlassenschaftseines Lehrers das Uumlberleben zu sichern suchte In dieser Absicht aumln-derte er das methodische Vorgehen von Grund auf Er schrieb denBuumlrgern nicht mehr vor wie sie sein sollten sondern registrierte her-meneutisch wie sie sind um zu ergruumlnden was in diesem Ist-Bestandan vernuumlnftiger Vorleistung als dasWesentliche immer schon enthal-ten ist Als Hermeneutik lehrt praktische Philosophie dass die unsitt-liche Stadt sich nicht im Widerspruch zu einer aumluszligeren Instanz son-dern zu ihr selbst befindet Folgerichtig sah Aristoteles das Idealzieldes Philosophen auch nicht im Amt des Herrschers der aufgrundabsolutenWissens die Lebensordnung diktiert Vielmehr war er uumlber-zeugt sein Amt angemessen auszuuumlben wenn er darauf setzte zuwerben zu beraten und mit Argumenten zu uumlberzeugen und daseben nicht als philosophischer Herrscher sondern als Lehrer seinerSchuumller als Berater Philipps II als Prinzenerzieher Alexanders alsErmunterer der Buumlrger im Einklang mit Sitte Recht und Anstandihr Gluumlck zu suchen Aristoteles sah bessere Chancen fuumlr die plato-nische Substanz wenn er diese auf der institutionellen Basis der vitacontemplativa als bestimmter Lebensform neben und nicht uumlber dervita activa zu wahren suchte um die aktiv Taumltigen aus der damitimmer noch bestehenden Distanz vermoumlge hermeneutischen Vor-gehens daruumlber aufzuklaumlren dass die ethische Lebensfuumlhrung gelingtwenn sie im Einklang mit den bestehenden Sitten erfolgt

In der Politik des Aristoteles ist somit Platons Vernunftstaatdurchaus praumlsent allerdings eben nicht in Gestalt radikaler System-kritik sondern unter dem Oberbegriff einer raquoPolitielaquo den er in auf-klaumlrender und beratender Absicht ins Spiel bringt Im Blick auf aktu-

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Einleitung ndash zur Erlaumluterung der These

elle Probleme der Polis versteht Aristoteles die Politie zunaumlchst alsVerfassung die die Ursachen der oft blutigen Dauerkonflikte zwi-schen Oligarchen und Demokraten aufzuheben verspricht daruumlberhinaus entwickelt Aristoteles eine an Platons Idealstaat erinnerndezweite Version von Politie und zwar im Blick auf die Planungen Phi-lipps II mit einem panhellenischen Heer die Aumlgaumlis in ein makedo-nisches Meer zu verwandeln und die Jonier in Kleinasien von derPerserherrschaft zu befreien Die erstere Politie der Buumlcher IV bis VIbesteht in einem auf Aussoumlhnung der Konfliktparteien zielenden Ver-fassungsentwurf und entsprach somit der zum Schlagwort erhobenenWunschvorstellung der Zeit naumlmlich der inneren Eintracht (ὁμό-νοια) Die andere Politie in Buch VII enthielt die Grundlegung derLebensordnung griechischer Groszligbuumlrger die sich im befreiten Jonienansiedeln sollten Auch diese Verfassung kam zumindest indirekteiner Wunschvorstellung der Zeit entgegen naumlmlich dem Wunschnach gemeinsamem Frieden (κοινὴ εἰρήνη) der griechischen Staumldteuntereinander denn ehemalige Feinde koumlnnten umso leichter Friedenschlieszligen und Freunde werden wenn sie sich als Eroberer zum Kampfgegen einen gemeinsamen Gegner verbuumlnden Vorrangig angespro-chen sollten sich allerdings Groszligbuumlrger fuumlhlen die mit ihrem Lebenin den demokratischen Staumldten Griechenlands unzufrieden warenund einer auf oligarchischen Idealen gegruumlndeten Polis den Vorzuggaben

Obwohl Aristoteles dank seiner hermeneutischen Vorgehens-weise keineswegs an den Adressaten vorbeiredete sollte sich schonbald abzeichnen dass aus je verschiedenen Gruumlnden sowohl die prag-matische als auch die ideale Politie abgewiesen wurden Aristoteleswar daruumlber nicht entmutigt sondern verfolgte seinen hermeneuti-schen Ansatz nur noch strikter in dem was ist das Wesentliche zubegreifen Das was ist also das politisch Dominierende war nun un-bestritten die demokratische Verfassung der Athener denen dieSchule ndash und das durchaus auch den Tatsachen zuwider ndash die Ver-nachlaumlssigung ihrer eigenen Gesetze gleichsam als Erbuumlbel immerwieder vorgehalten hatte Die raquoVerfassung der Athenerlaquo (Ἀθηναίωνπολιτεία oder kurz AP) nimmt und sei es unausgesprochen dieeinst auch von Aristoteles selbst mitgetragene Kritik der Schule zu-ruumlck und bedeutet dieser implizit dass sie sich selbst um Glaub-wuumlrdigkeit und Uumlberzeugungskraft bringt wenn sie offen am Tageliegende Sachverhalte systematisch in Abrede stellt Die AP ist dieAnerkennung der Tatsache dass den Athener Demokraten im vierten

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Einleitung ndash zur Erlaumluterung der These

Jahrhundert die Vollendung eines widerspruchsfrei verfassten Geset-zesstaates gelungen ist der im Uumlbrigen nicht von einem kuumlnstlichgesetzten Nullpunkt ausgegangen ist sondern hermeneutisch rekon-struierbar sich in organischem Wachstum seit Ion und Theseus in elfWenden entwickelt hat Der Ton der AP liegt nicht darauf dass kom-promissbereite Philosophie die Welt vor der ihr sonst eigenen Radi-kalitaumlt verschonen will sondern auf der im theoretischen Zusehengewonnenen Einsicht dass die Stadt gerade das philosophische Ur-anliegen der Gesetzestreue immer schon als legitimierendes Prinzipihres Handelns befolgt hat Die hermeneutische Zirkelstruktur be-steht also darin dass die Philosophie der Stadt dies als das an ihrWesentliche erklaumlrt was sie selbst hervorgebracht hat

Der Einfluss der Akademie und des Lykeion endete aber keines-wegs abrupt mit dem Jahre 322 als die Athener ihre Souveraumlnitaumlteinbuumlszligten und damit die unumgehbare Voraussetzung einer auf Sitt-lichkeit bestehenden politischen Theorie Dank makedonischer Un-terstuumltzung erzielten die Schulen durch Phokion und Demetrios Pha-lereus in den folgenden Jahren sogar weitaus mehr politischeWirkung als die beiden Gruumlnder zu ihren Lebzeiten Ebendiesem Er-folg hatten indes im Jahre 307 die Schulen den entscheidenden Ruumlck-schlag zu verdanken als der aus ihren Reihen hervorgegangeneDemetrios Phalereus nach zehnjaumlhriger Herrschaft aus der Stadt ver-trieben wurde Rigide Entmuumlndigung der Buumlrger bei eigenem Nar-zissmus samt Selbstbereicherung brachten nicht nur Demetrios selbstum jeden Kredit sondern auch die Philosophie der Akademie und desLykeion nach deren Vorgaben er als ihr Angehoumlriger in Athen regierthatte Die empoumlrten Demokraten reagierten mit der Androhung derTodesstrafe und Verbannung der Philosophen und unter Philoso-phen verstanden sie unterschiedslos alle Platoniker und AristotelikerMit dieser harschen Reaktion laumluteten die Athener zugleich die Ge-burtsstunde der Stoiker ein die gleichsam in ihrer Gruumlndungsurkun-de festschrieben dass ihre Ethik die Sittlichkeit der Schule und nichtdie Sittlichkeit der Stadt zum Gegenstand habe Die Stoiker erkann-ten dass sie die Philosophie unter Wahrung ihrer Autonomie nurfortfuumlhren konnten wenn sie der Stadt versicherten dass sie andersals Platon und Aristoteles ihre Gesetzgebung ausschlieszliglich fuumlr ihreSchule als geschlossene secta erlieszligen Die erklaumlrtermaszligen der Poliszugewandte Philosophie die Platon und Aristoteles gemeinsam ver-treten hatten war ihnen nunmehr gemeinsam zum Verhaumlngnis ge-worden

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Einleitung ndash zur Erlaumluterung der These

Unter dem Druck der politischen Umstaumlnde beschlossen dieStoiker ihre Sezession und erklaumlrten die Beschaumlftigung mit der Polisals einst zentrales Thema der Philosophie fuumlr nichtig Daruumlber hinausdistanzierten sie sich ebenfalls noch in manch anderem Punkt vonPlaton und Aristoteles wenn sie etwa im Felde der theologia und derAffektlehre Theoreme vortrugen die erst angesichts der Lage seit 307auf die Tagesordnung gerieten So antworteten sie auf den Herrscher-kult der implizit die unsterblichen Goumltter zu zweitrangigen Groumlszligenherabstufte mit der providentia-Lehre um zu demonstrieren wessenFuumlrsorge in Wahrheit die Menschheit ihr Uumlberleben zu verdankenhabe Da aber die Goumltter bei rehabilitierender Bestaumltigung ihrer ndashden kultisch verehrten Diadochen uumlberlegenen ndash Allmacht zwingendauch fuumlr alle Uumlbel in derWelt verantwortlich waren musste Chrysippden Streit zwischen Homer und Platon ob die Goumltter fuumlr alles odernur fuumlr das Gute zustaumlndig seien erneut austragen Es war also letzt-lich das aumluszligere Phaumlnomen des Herrscherkultes der diesen Streit un-ter den Gelehrten ausloumlste Aumlhnlich lagen die Dinge beim Problemder Affekte Der dank der politischen Ereignisse des Jahres 307 er-zwungene Ruumlckzug der Philosophie auf sich selbst war nur unter derBedingung entschieden abschirmender Selbstbehauptung nach auszligenertraumlglich Dieselbe Bedingung der Autonomie musste aber auch nachinnen erfuumlllt sein und zwar gegen ein ganzes Buumlndel von denkbarenAffekten die bei Verzicht auf ihre Einhegung die muumlhsam nach au-szligen behauptete Souveraumlnitaumlt wieder untergraben haumltten Folgerichtigwar die Affektlosigkeit (ἀπάθεια) das zentrale Thema der stoischenEthik ndash mit dem Ziel der Wahrung der inneren Autonomie Die Stoi-ker konnten daher nicht das Risiko eingehen die Behandlung derAffekte wie Aristoteles wollte eher beilaumlufig den Nachwirkungender von der tragischen Dichtung ausgeloumlsten Katharsis zu uumlberlassenStattdessen mussten die Stoiker darauf bedacht sein eine spezielleTherapie fuumlr den Fall zu entwickeln dass wie zu befuumlrchten denAffekten katechismuswidrig hier und da eben doch ein Ausbruch ge-lingen sollte

Obwohl die Stoiker als die neuen Meinungsfuumlhrer Platon undAristoteles fuumlr Jahrhunderte in den Hintergrund zu draumlngen ver-mochten mussten sie am Ende doch erleben dass die beiden Arche-geten im Status von unangefochtenen Klassikern ihre Renaissanceerlebten Zwar sicherten die Stoiker durch ihren weisen Ruumlckzug derphilosophia perennis die Kontinuitaumlt duumlrften aber am Ende aus dem-selben Grund dem sie ihr Entstehen verdankten wieder von Platon

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Einleitung ndash zur Erlaumluterung der These

und Aristoteles in den Schatten gestellt worden sein Denn Lehrerwie Schuumller verstanden anders als die Stoiker unter Schule stets eineInstanz der systematischen Beschaumlftigung gerade auch mit der Au-szligenwelt Dieser erweiterte Argumentbereich konnte dem Kreis umPlaton und Aristoteles schlieszliglich nicht mehr schaden als es keinedirekt angesprochenen Zeitgenossen mehr gab die sich durch ihreLehren und das Handeln ihrer Schuumller provoziert fuumlhlten Von sol-chen Gefuumlhlen unberuumlhrt suchen hingegen spaumltere Generationen beiPlaton und Aristoteles gerade wegen ihres umfassenden Blickfeldesnach Belehrung und gegebenenfalls Bestaumltigung eigener Theorienund das sowohl im Grundsaumltzlichen als auch in Einzelfragen

Platons Philosophie nahm ihren Ausgang von der ganz be-stimmten Frage der Apologie wie Sokrates der gerechteste BuumlrgerAthens gegen die Asebieklage des Anytos Meletos und Lykon zuverteidigen sei In den Kategorien der Theorie der Rhetorik haumltte die-se Frage als eine quaestio finita gegolten die im Verfolg eine Fuumlllevon sich anschlieszligenden quaestiones infinitae ausloumlsen sollte wienaumlmlich ein gerechter Staat moumlglich sei der vom Geist seiner gerech-ten Buumlrger gepraumlgt waumlre Mit dem daraus erwachsenen Fundus vonFragen und erteilten Antworten haben Platon und entsprechend Aris-toteles der Nachwelt einen geistigen Reichtum hinterlassen dem sieschlieszliglich ndash nach zwischenzeitlicher Suspendierung ndash ihre Anerken-nung als unumstrittene Klassiker bis in unsere Tage zu verdankenhaben Angesichts solcher Hinterlassenschaft darf sich die Philo-sophie mit gutem Gewissen als Vergegenwaumlrtigung ihrer eigenen Ge-schichte definieren Vergegenwaumlrtigung wiederum ist im weitestenSinne das Gemeinschaftswerk der subtilitas intellegendi und der sub-tilitas applicandi und das so bestimmte Vorgehen ist auch dieVoraussetzung fuumlr die Zeugenrolle die Platon und Aristoteles beider philosophischen Begleitung der Preuszligischen Reformen durchG W F Hegel und erneut bei der geistigen Gruumlndung der Bundes-republik nach dem ZweitenWeltkrieg durch Joachim Ritter und seineSchuumller spielten Dass Platon und Aristoteles fuumlr den buumlrgerlichenRechtsstaat in den Zeugenstand traten setzt den hermeneutischenPhilosophiebegriff voraus demgemaumlszlig die Philosophie auf der Praumlsenzihrer eigenen Geschichte beruht Damit ist zugleich die Frage nachden Aussichten einer umfassenden Erneuerung der praktischen Phi-losophie gestellt der sich so lautet unsere These Joachim Ritter undseine Schuumller widmeten indem sie dem Primat der praktischen Ver-nunft die Ehre erweisend die klassischen Disziplinen der philosophia

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Einleitung ndash zur Erlaumluterung der These

practica universalis ndash Ethik Politik Oumlkonomik ndash schrittweise auf-nahmen und in ein systematisches Verhaumlltnis zur modernen Weltsetzten

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Einleitung ndash zur Erlaumluterung der These

Hermeneutikgeleitete Chronikder Wege und Umwege derphilosophia practica universalisvon den Anfaumlngen bis in die Gegenwart

Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

Vom Ende her gesehen koumlnnte leicht der Eindruck entstehen Platon(42827ndash34847) habe sich von vornherein als Lebenswerk die Gruumln-dung einer philosophischen Schule zum Ziel gesetzt in deren Mittel-punkt die Ausbildung einer systematischen politischen Theoriestehen sollte Dieser Eindruck taumluscht indes Wie Platon selbst imVII Brief (324 Bndash326 D) seinen Werdegang darstellt hatte er ur-spruumlnglich gar nicht die Absicht eine Schule zu gruumlnden die sichphilosophisch mit dem Staat befasste Stattdessen draumlngte er zunaumlchstauf eigenes politisches Handeln als er in der Herrschaft der DreiszligigTyrannen (40403) eine Chance sah einen Staat zu errichten der freiwar von den Schwaumlchen der Demokratie Enttaumluscht musste er aberbald erkennen dass die fruumlheren Verhaumlltnisse in der Demokratie ver-glichen mit der Gegenwart unter den Dreiszligig Gold (sic) waren Fol-gerichtig wandte er sich von den Dreiszligig ab und war nach deren Sturzwiederum bereit zu politisch aktiver Taumltigkeit wurde aber erneut ent-taumluscht ndash durch das Todesurteil gegen Sokrates den Mangel an poli-tischen Freunden die grassierende Geringachtung der Gesetze unddie Inthronisierung der Lust (ἡδονή) als Maszlig der Dinge Erst darauf-hin widmete sich Platon der theoretischen Beschaumlftigung mit demwahren Staat nicht ohne fuumlr erneute praktische Taumltigkeit in der Poli-tik bessere Zeiten abzuwarten die dann eintraumlten wenn wahrhaftePhilosophen die Herrschaft im Staat uumlbernaumlhmen und nicht die durchdas Los ins Amt befoumlrderte Inkompetenz Seine Philosophie war alsoOpposition auszligerhalb der politischen Buumlhne gedacht als ungewollteZwischenphase die erst endete wenn die Staumldte nach philosophi-schen Grundsaumltzen verfasst waumlren Die Gruumlndung der Schule erfolgtealso eher aus Verlegenheit sie war nicht die erfolgreiche Ausfuumlhrungeiner urspruumlnglichen Absicht

Mit seinem Bericht im VII Brief laumlsst Platon also durchblickendass er gleichsam widerWillen die Akademie als Schule gruumlndete undderen erstes Schulhaupt wurde Die Schule galt Platon als Surrogateiner Polis der vollendeten Sittlichkeit Folgerichtig war das Leit-thema der Schule die Lehre vom wahren Staat der das bloszlige Surrogatwieder uumlberfluumlssig machen sollte Platon verschweigt auch nicht vonwelchem Standpunkt aus er die Grundzuumlge des idealen Staates ent-wickelte Waumlhrend er die Schwaumlchen der Demokratie eher in derenStrukturen suchte ortete er die Schwaumlchen der Oligarchie im persoumln-lichen Versagen insbesondere der Dreiszligig Tyrannen Demgemaumlszlig plauml-

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dierte er fuumlr eine zu wahrer Aristokratie veredelte Oligarchie die vonindividuellen und strukturellen Defiziten frei war Diese dem Best-moumlglichen verpflichtete Parteinahme erfuumlllte zugleich die Anforde-rungen einer auf Widerspruchsfreiheit bedachten Theorie sofernPlaton alle seine politischen Vorstellungen auf Vernunftbegriffe zu-ruumlckfuumlhrte und nie vergaszlig sie geltend zu machen wo immer ihreBeachtung zwingend geboten war Mag es Platon auch nicht gelungensein in Athen einen Wiedergaumlnger des Sokrates als philosophischenHerrscher zu bestallen und auf diese Weise sein praktisches Ziel zuerreichen so bleibt doch als Ergebnis seiner Anstrengungen zumin-dest als Fortschritt im Bewusstsein dies bestehen dass von nun anpolitische Vorgaumlnge unvermeidlich von der Aufmerksamkeit einerauszligerhalb der politischen Buumlhne angesiedelten Vernunftkritik beglei-tet wurden Insofern blieb Platons mutiger Schritt eine politischeEntitaumlt systematisch in Zweifel zu ziehen und sie auch noch miteinem Gegenmodell zu konfrontieren nicht ohne kuumlnftige Folgen

Einstweilen blieb aber Platons politische FundamentaloppositionSache der Schule deren Eigengesetzlichkeit sich auf die inhaltlicheWeiterarbeit spuumlrbar auswirken sollte Zur (nachsokratischen)Grund-ausstattung der Schule gehoumlrte die Schriftlichkeit die Platon in nichtgeringe Verlegenheit brachte weil er auf unmittelbare Praumlsenz derVernunft setzte und nicht auf eine mittelbare die sich auch nochdurch Ablage ins Buumlcherregal unschaumldlich machen lieszlig1 Zudemzeichnete sich uumlber das politische Kerninteresse hinaus eine durchschultypisches Weiterfragen ausgeloumlste Verfaumlcherung ab die Platonnoch identitaumltsphilosophisch aufzufangen vermochte die aber auflange Sicht jenseits der Politik zur Etablierung von Einzeldisziplinenwie Ontologie Kosmologie Mathematik und Erkenntnistheorie fuumlhr-te Den Sophisten ging es aumlhnlich wie Sokrates von Protagoras er-faumlhrt Nur bei ihm selbst erfuumlhren die Schuumller das Noumltige uumlber ihrKerngeschaumlft das Haus gut zu verwalten und sich auf der Agoraacute zubewaumlhren waumlhrend sie bei anderen Sophisten wie Hippias von Elisverdorben wuumlrden weil diese sie mit Unnuumltzem wie Arithmetik As-tronomie Geometrie und Dichtung traktierten2 So weitete also auchdie Schule Platons allmaumlhlich ihren Themenkreis immer weiter aus

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Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

1 Auf dieses Merkmal der Schule ist G Bien naumlher eingegangen Das Theorie-Praxis-Problem und die politische Philosophie bei Platon und Aristoteles in Phil Jb 76(196869) 264ndash314 hier S 307ndash3132 Platon Protagoras 318 Dndash319 A

je mehr ihre Vorlaumlufigkeit die mit einem politischen Erfolg der Fun-damentalopposition ihr Ende finden sollte in Vergessenheit gerietAristoteles sollte an seinem Lehrer in der Sache manche Kritik uumlbenaber die Regeln der Institution Schule ihre Hinwendung zur Schrift-lichkeit und ihre Etablierung von Einzeldisziplinen (Pragmatien) ver-standen sich fuumlr ihn schon von selbst

Aristoteles (384ndash322) hatte als Siebzehnjaumlhriger seine makedo-nische Heimat verlassen um sich im Jahre 36766 der Akademie an-zuschlieszligen Da war Platon schon uumlber fuumlnfzig Jahre alt und hatteseine philosophische Arbeit dogmatisch abgeschlossen Da er in die-sen Tagen kurz vor seiner zweiten Reise nach Syrakus stand hat ervielleicht erst nach seiner Ruumlckkehr erkannt wer von nun an seinbegabtester Schuumller war Als Aristoteles einmal bei einer Vorlesungfehlte rief Platon verzweifelt aus raquoDer Geist ist nicht zugegenstumpf ist da die Houmlrerschaftlaquo ndash im Original ein ausgefeilter jambi-scher Trimeter ὁ νοῦς ἄπεσ|τιν κωφὸν τἀκ|ροατήριον3 Aristote-les wird sich dieses Lob seines Lehrers gewiss bei vielen Gelegenhei-ten verdient haben nicht zuletzt aber dank der Art wie er sich beiPlatons beruumlhmter Altersvorlesung raquoUumlber das Gutelaquo4 bewaumlhrte Alsdieser das Gute kosmologisch im zahlhaft bestimmten Einen verorte-te blieben die Houmlrer einer nach dem anderen enttaumluscht der Vor-lesung fern weil sie Ausfuumlhrungen uumlber seelische koumlrperliche undaumluszligere Guumlter im gemeinen Verstande erwartet hatten Auf diese Re-aktion der Houmlrer hatte Platon nur gewartet er wollte wissen wer mitseinem Vorstellungshorizont uumlber den der Menge hinausging undsich damit als genuiner Philosoph erwies Tatsaumlchlich harrten nurwenige Houmlrer bis zum Ende aus und empfingen den Ritterschlageines wahren Philosophen darunter natuumlrlich Aristoteles Dieser er-klaumlrte allerdings spaumlter er werde sich an das allgemein Anerkanntehalten statt aus dem Satz dass das Eine ein Gut sei herzuleiten dassdie Gerechtigkeit ein Gut sei5

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Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

3 Zitiert nach V Rose Aristotelis qui ferebantur librorum fragmenta collegit V RLeipzig 18701886 repr Stuttgart 1967 S 4284 Das Vorlesungsmanuskript ist im Original nicht erhalten Die zahlreichen Para-phrasen bei anderen Autoren hat W D Ross Aristotelis Fragmenta Oxford 1935S 111ndash120 gesammelt5 Aristoteles Eudemische Ethik 1218 a 15ndash22 Der Aristotelesschuumller Aristoxenosbestaumltigte diese Reaktion seines Lehrers in seinen ἁρμονικὰ στοιχεῖα (ed P Mar-quard Die harmonischen Fragmente des Aristoxenos Berlin 1868 S 30) und fuumlgtehinzu es empfehle sich zu Beginn einer Vorlesung sein Thema genau anzukuumlndigen

Im Uumlbrigen sparte auch Aristoteles nicht mit Lob auf seinenLehrer Im Rahmen seiner Inschrift auf einem Altar der Freundschaftden Eudemos von Kypros von einer Reise nach Athen zuruumlckgekehrtgestiftet hatte ruumlhmt Aristoteles Platon als Mann den schlechteMenschen nicht einmal loben duumlrften und als Mann der als Ersterunter den Menschen durch eigene Lebensfuumlhrung und vorgetrageneGruumlnde demonstriert habe dass der gute Mann ebendeshalb auch dergluumlckliche Mann ist Zwar taucht im uumlberlieferten Text der Distichenweder der Name Platons noch der des Eudemos auf Olympiodor ver-sichert aber Aristoteles habe in seiner Widmung an den Stifter Eude-mos ebendieses Lob auf Platon ausgesprochen6 Bei welchem Lehrerhaumltte Aristoteles auch besser lernen koumlnnen wie man wesentlicheaber oft uumlbersehene Fragen stellt wie man fuumlr andere uumlberraschendauf Zusammenhaumlnge und Widerspruumlche aufmerksam macht wieman auf den ersten Blick unerkannte Implikationen und Konsequen-zen herausarbeitet wie man unzureichend Bewiesenes als solchesidentifiziert wie man einmal erzielte Uumlbereinkuumlnfte stets im Ge-daumlchtnis praumlsent haumllt wie man seine Argumente durch Ruumlckfuumlhrungauf Gruumlnde und Ursachen als anerkannte Berufungsinstanzen uumlber-zeugend vortraumlgt

Zur gegenseitigen Wertschaumltzung aufgrund ihrer intellektuellenVorzuumlge gesellte sich die politische Uumlbereinstimmung beider Philoso-phen die neben der Sympathie fuumlr Makedonien die entschieden ab-lehnende Haltung gegenuumlber der attischen Demokratie betraf FuumlrPlaton fiel die Suche nach der gerechten Polis als dem hiesigen Kor-relat des absolut Guten mit entschiedener Demokratiekritik zusam-men Seine politische Leitidee bildete die Gerechtigkeit als Einheit derKardinaltugenden mit dem Ziel der Baumlndigung des sinnlichen Inte-resses (ἡδονήvoluptas) waumlhrend in seinen Augen die demokrati-schen Leitideen der Gleichheit und Freiheit lediglich auf eine Beschouml-nigung der voluptas als des wahren Bestimmungsgrundes der Mengehinausliefen Diesen von voluptas durchdrungenen Staat sah Platonals derart heillos verfahren an dass er anknuumlpfende Schritt-fuumlr-Schritt Reformen gar nicht erst in Betracht zog Stattdessen setzte

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Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

und wenn man Paradoxes vortragen wolle dies auch unmissverstaumlndlich zu sagen Sobliebe den Houmlrern die Enttaumluschung erspart wenn sie in Erwartung einer Belehrunguumlber Guumlter wie Reichtum Gesundheit Gluumlck am Ende lediglich die blasse Auskunfterhielten das Gute sei Eines6 Olympiodoros in Platonis Gorgiam XLI 10 ad p 515 C

Platons politische Opposition mit anderen Mitteln7 auf eine vomNullpunkt aus fehlerfrei in Gedanken durchkonstruierte Polis in derdie schon seit Kleisthenes bestehende Einheitlichkeit und Geschlos-senheit des Gemeinwesens gewahrt blieben aber konkrete demokra-tische Komponenten wie Rat und Volksversammlung Geschwore-nengericht und Flotte Panathenaumlen Dionysien und Eleusinien nichteinmal dem Namen nach vorkamen Bei dieser Konstellation gerietenSchule und Polis zwangslaumlufig in ein Verhaumlltnis sich gegenseitigenIgnorierens Die Schule fuumlhrte ihre Debatten als private Institutionohne Beruumlcksichtigung der Vorgaumlnge auf der Agoraacute und die Agoraacutemuumlhte sich mit den ihr eigenen Mitteln um eine Konsolidierung derdemokratischen Institutionen ohne die Einwaumlnde der Schule zurKenntnis zu nehmen Nun mag Platon einen offenbar unpolitischenweil von den Realitaumlten abgehobenen Ausgangspunkt gewaumlhlt unddamit seiner Weiterarbeit wie spaumlter die hermeneutisch argumentie-rende Kritik des Aristoteles zeigen sollte einen schlechten Dienst er-wiesen haben aber ihn leitete ohne jeden Zweifel ein handfestes Mo-tiv und eine daraus abgeleitete allgemeine bis in unsere Tage zubeherzigende Grundeinsicht

Platons Schluumlsselerlebnis war das Todesurteil gegen Sokratesdas eine Mehrheit unter fuumlnfhundert Geschworenen faumlllte obwohlsich Sokrates in allen Anklagepunkten ganz offenkundig als nichtschuldig erwiesen hatte Moumlglich wurde diese Gerichtsentscheidungweil es den Anklaumlgern wie routinierten Demagogen gelang mit ihrenUnwahrheiten eine ignorante Menge auf ihre Seite zu ziehen In derTat hatten sie wie Sokrates gleich im zweiten Satz der Apologie aus-ruft nicht ein einzigen wahren Satz vorgetragen (ἀληθές γε hellip οὐ-δὲν εἰρήκασιν) Der offenbar unausrottbaren Moumlglichkeit dass De-magogen gerade mit der Unwahrheit Mehrheiten fuumlr sich gewinnenkoumlnnen galt zeitlebens Platons kritische Aufmerksamkeit Tatort wa-ren nicht nur die Geschworenengerichte sondern nicht minder dieVolksversammlung in der interessierte Redner Mehrheitsbeschluumlsse(ψηφίσματα) herbeifuumlhrten mit denen sie bestehende Gesetze un-terliefen8 Auch fuumlr dieses Fehlverhalten gab es eine Schluumlsselszeneals naumlmlich im Zuge des Arginusenprozesses ein Mann aus der auf-gehetzten Menge rief es sei eine Ungeheuerlichkeit wenn man denDemos nicht tun lasse was er wolle und gleich darauf durchgesetzt

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Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

7 Platon VII Brief 325 Endash326 A8 Ebd 325 DndashE

wurde dass die angeklagten Seeoffiziere en bloc verurteilt wurdenund nicht wie es das Gesetz verlangte jeder einzeln Der Einzigeder sich diesem rechtswidrigen Beschluss widersetzte war Sokrates9

Dass dieser Staat ausgerechnet seinen gerechtesten Buumlrger zumTode verurteilt hatte hat Platon nie verziehen Da indes die aus-schlaggebende Mehrheit der Geschworenen ihr Urteil wohl kaumfuumlr ungerecht hielt sah Platon sich verpflichtet allen ebenso gesinn-ten Athenern vorzutragen was an und fuumlr sich Gerechtigkeit wirklichist und zwar in der Politeia aus dem Munde eben des Sokrates Danun der Staat fuumlr die Gerechtigkeit der groumlszligere und besser sichtbareBewaumlhrungsort ist als der Einzelne schlug Sokrates vor den Begriffvon Gerechtigkeit zunaumlchst im Blick auf den Staat zu entwickeln (Po-liteia 368 E 472 B) Die Frage nach der Gerechtigkeit konkretisiertesich auf diese Weise zur Frage nach dem gerechten Staat Folgerichtigsetzte Platon im Geist des Sokrates der attischen Demokratie mitihrem falschen Machtwillen einen auf reiner Vernunft beruhendenIdealstaat entgegen von dessen Vorzuumlgen er vielleicht schon dienaumlchste Generation der Athener zu uumlberzeugen hoffte10 anderenfallskoumlnne man nur noch auf einen Gluumlcksschlag von auszligen (τύχη) set-zen oder dass sich dank goumlttlicher Fuumlgung ein Staatenlenker mit derPhilosophie befasse11 Die Befuumlrchtung der Philosoph koumlnne in seinereigenen Stadt wenn uumlberhaupt dann nur dank goumlttlicher Fuumlgung po-litisch taumltig werden (Politeia 592 A) wollte Platon allerdings fuumlr sichnicht als Entschuldigung gelten lassen im Gegenteil Platon ver-sicherte er sei eigens nach Syrakus gereist damit man ihm nicht vor-halten koumlnne er sei nur im Felde der Theorie stark ziehe sich aberzuruumlck wenn es an die praktische Ausfuumlhrung gehe (VII Brief328 C) Vielmehr war fuumlr ihn der gerechte Staat Inhalt philosophi-scher Reflexion mit dem Ziel seiner Verwirklichung

Im idealen Staat darf die Entscheidungsbefugnis nur bei Buumlrgernliegen die allein durch philosophisch uumlberpruumlfte Qualifikation undnicht durch Loswahl in ihr Amt gelangt sind Nur wer die Houmlhle derdie Menge auszeichnenden Kurzsichtigkeit verlassen und dank uumlber-legener Vernuumlnftigkeit die Idee des Guten geschaut hat vermag pri-vat wie oumlffentlich vernuumlnftig zu handeln12 eben seitdem er sich von

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Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

9 Xenophon Hellenika 1 7 12ndash16 Vgl unten Anm 38 S 137 und Anm 17 S 14810 Platon Politeia 315 CndashD11 Platon VII Brief 326 A12 Platon Politeia 517 C

der Aussageabsicht der drei beruumlhmten Gleichnisse hat uumlberzeugenlassen dass naumlmlich das Gerechte das Gute ist und nicht das sinnlicheInteresse der auf den Schein fixierten Menge13 Entsprechend heiszligt esin Platons 8 Brief (355 A) Fuumlr besonnene Menschen ist Gott das Ge-setz fuumlr die unvernuumlnftigen ist es die Lust Das Gute hat also densel-ben Stellenwert wie Gott und bildet wie dieser insofern den Welt-grund als es weil jenseits (ἐπέκεινα) des daseienden Universumsangesiedelt im Rang noch uumlber dieses hinausragt und sich heilsambewaumlhrt indem es dank seinem Sproumlssling dem Sonnenlicht Orien-tierung durch Sichtbarkeit der Dinge sowie Leben Wachstum undGedeihen moumlglich macht14 Die Ausrichtung amGuten als Weltgrunderhebt das Gerechte zur unbedingten Handlungsnorm fordert abernicht nur sondern gewaumlhrt in einem damit den Buumlrgern auch wahr-haft praktischen Nutzen naumlmlich das Leben im sittlichen Gesetzes-staat ndash die Frucht eben der Herrschaft der Gerechtigkeit15 Damit istdie Frage zu deren Beantwortung Sokrates die drei beruumlhmtenGleichnisse vortrug naumlmlich ob Lust oder das Gerechte das wahreGut ist beantwortet und die implizit gegebene Antwort die auf derUnterscheidung der vier Erkenntnisstufen im Liniengleichnis beruhtbesagt dass die beschraumlnkten intellektuellen Moumlglichkeiten der Men-ge zu dieser Einsicht nicht ausreichen diese also fuumlglich zu entmuumln-digen ist schon um den Demagogen ein leichtglaumlubiges Publikum zuentziehen

Der Form nach stand bei aller Reserve Platon durchaus in derSchuld der Demokraten Sie waren es die unter Kleisthenes den atti-schen Staat als rational verwalteten Einheitsstaat geschaffen hattender nicht mehr nach Staumlmmen Sippen und oumlrtlich bedingten Loyali-taumlten fragmentiert war Unter Phylen verstand Kleisthenes nichtmehr den Oberbegriff vertikal strukturierter Personenverbaumlnde son-dern horizontal strukturierter einheitlich verwalteter Bezirke nachdem Territorialprinzip Das Volk der Athener (ὁ τῶν Ἀθηναίων δῆ-μος) trat an die Stelle der Klientel wie in Rom der populus Romanusan die Stelle der gentes Platon musste also das Prinzip staatlicherEinheit selbst nicht mehr erfinden wohl aber dem Inhalt nach fuumlr alleZukunft beschlieszligen dass nicht nur dieser sondern jeder Staat sei-nem Wesen gemaumlszlig in der Pflicht sei sich als raquoWirklichkeit der sitt-

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Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

13 Ebd 505 B14 Ebd 509 AndashB15 Ebd 505 A

lichen Ideelaquo (Hegel) zu bewaumlhren Uumlber diesen Beschluss hinausdachte Platon noch einen Schritt weiter denn es konnte nicht ge-nuumlgen einen Staat philosophischer Sittlichkeit lediglich zu gruumlndener musste auch erhalten werden ndash durch ein Kollegium integrer Ge-setzeshuumlter die das muumlhsam Erreichte unveraumlndert zu bewahren hat-ten16 Diese Position waumlre etwa im Arginusenprozess unbesetzt ge-wesen haumltte Sokrates sie nicht eingenommen und auf Einhaltungder Gesetze bestanden

Ebenso wie die vorgegebene Staatlichkeit hat auch das mit dieserverbundene demokratische System der Rechtspflege das das archai-sche Selbsthilfeprinzip abloumlste Eingang in Platons Philosophie gefun-den Die archaische Selbsthilfe bestand darin dass die durch einenUumlbergriff beleidigte Sippe der Sippe des Taumlters die Fehde ankuumlndigte(πρόρρησις) deren Beendigung durch Abschluss eines Suumlhnevertra-ges (αἴδεσις) erfolgte Dass bei dieser Form der Konfliktbeilegungdurch Aussoumlhnung die staumlrkere Sippe in der Regel ihre Loumlsungsvor-stellungen durchsetzte liegt auf der Hand Der Schritt fuumlr Schritterfolgte Gerichtszwang durch den der Staat erst allmaumlhlich das Mo-nopol der Rechtspflege uumlbernahm hatte zum Ziel dass anstelle zufaumll-liger Machtverhaumlltnisse die Systematik von Recht und Gesetz imStreit der Parteien entscheidet17 Diesen Sinn der nacharchaischenRechtsprechung hat Ovid mit dem Hexameter zusammengefasstinde datae leges ne firmior omnia posset (Fasten 3 279) Im Gor-gias-Dialog haumllt nun Platon der Rhetorik vor sie sei der methodischeVersuch gerade diese Errungenschaft der Rechtsprechung ruumlckgaumln-gig zu machen Kallikles ein Anhaumlnger des Rhetoriklehrers Gorgiasspricht unverhohlen aus dass Herakles voumlllig im Recht war Geryonesseine Rinder die er weder gekauft noch zum Geschenk erhalten hatteohne Bedenken zu stehlen da das von Natur Gerechte darin bestehedass alles Eigentum der Schwaumlcheren in Wahrheit dem Staumlrkeren ge-houmlre18 Sokrates haumllt Kallikles entgegen dass wahre Uumlberlegenheitnicht im Mehr-haben-Wollen sondern im Sittlich-besser-Sein be-stehe und beruft sich damit ebenso wie die Rechtsprechung auf ein

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Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

16 Platon Politeia 484 B Nomoi 752 DndashE 754 Dndash755 C 770 AndashD 847 AndashD 959 Dndash961 CIm Abschnitt zu raquoDemetrios Phalereus ndash oder die vierzehnte Wendelaquo wird diese pla-tonische Vorgabe noch eine wesentliche Rolle spielen17 Zu diesen nicht leicht zu rekonstruierenden Prozessen sei auf die im Literaturver-zeichnis genannten Aufsaumltze von E Ruschenbusch verwiesen18 Platon Gorgias 484 BndashC

systematisches Kriterium um die individuelle Machtperspektive inSchranken zu weisen Dass Sokrates bei seinem Gespraumlchspartnermit dieser Argumentation nicht durchdringt ist allein der Borniert-heit des Kallikles zuzuschreiben

Es ist nicht zu leugnen dass Platon ebenso wie der Oligarch Kal-likles den Besseren das Wort redete aber unter den Besseren wirklichBessere verstand die den Staat als sublimierte Oligarchie tragen soll-ten Von dieser Staatslehre gilt es also zu uumlberzeugen und das ver-suchte Platon auch ganz im Sinne des Sokrates zunaumlchst durch sach-liche Gespraumlchsfuumlhrung oder Dialektik (διαλέγεσθαι) die mitkurzen Saumltzen Rechenschaft fordert und gewaumlhrt Sokrates mochtekeine langen Reden die geeignet sind das Ausgangsthema nach eini-ger Zeit aus den Augen zu verlieren19 Auch mochte es Sokrates garnicht wenn Unterredner sich streitsuumlchtig (ἐρίζειν) an Worten fest-bissen statt am intendierten Inhalt20 Das richtet sich gegen Protago-ras der als Erfinder der Eristik Wortklauberei betrieb statt sich aufdie Bedeutung des Sachverhalts zu konzentrieren21 Insgesamt ist diesokratische Version von Dialektik ein Gegenentwurf zur raquosogenann-ten Kunst der Rhetoriklaquo22 die lediglich den Uumlberredungserfolg zumZiel hat und nicht etwa wohlbegruumlndete Wahrheiten herausarbeitenwill Nun musste Platon etwa im Gespraumlch mit Kallikles im Gorgiasoder mit Thrasymachos im ersten Buch der Politeia erkennen dassgerade seine Sachlichkeit bei Boumlswilligen auf taube Ohren stoumlszligt Erentwickelte daher noch in der Politeia einen uumlber Sokrates hinaus-gehenden Begriff von Dialektik die nicht diskutiert sondern dekre-tiert nachdem diese durch reines auf das Gespraumlch mit sich selbstkonzentriertes Durchdenken des Wesentlichen frei von sinnlichenEindruumlcken zum Ziel der Erkenntnis des Guten gelangt ist (532 AndashB) Weil somit Dialektik zustaumlndig wird fuumlr die Vergegenwaumlrtigungdes Guten in der politischen Welt darf auch nur der ausgewieseneDialektiker Staatenlenker werden (534 CndashD) der auf seinen Einsich-ten beharrt auch wenn ihm seine Mitbuumlrger die Zustimmung ver-weigern Gegen vordergruumlndige Rechthaberei von wem immer sieausgeht verteidigt Platon das Prinzip vernuumlnftiger Argumentationgegen die Kraumlfte ihrer Blockierung

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Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

19 Platon Protagoras 336 AndashC Gorgias 474 B20 Platon Politeia 454 A21 Diogenes Laertios 9 5222 Platon Gorgias 448 D

Page 10: Platon und Aristoteles als Wegbereiter der praktischen ... · Differenzen zwischen Platon und Aristoteles ins Auge fallen. Wer jedoch Platon und Aristoteles zusammen gegen die später

Die Tyrannei des Lachares ndash oder die sechzehnte Wende(um 300) 171Die Ruumlckkehr des Demetrios Poliorketes ndashoder die siebzehnte Wende (295) 174Der Siegeszug des Herrscherkults 187Die stoische Goumltterlehre als Antwort auf den Herrscherkult 193Lactantius uumlber die heidnische Entlastung der Goumltter 208Die wiederhergestellte Autoritaumlt Homers 214Platon und Chrysipp im Streit uumlber Homers theologia 227Die tragische Katharsis und die stoische Lehre von denAffekten 239Theodizee und Geschichtsphilosophie 258Die quaestio finita als Pruumlfstein originalitaumltsgerechterRezeption 276Hegels Ruumlckgriff auf die Lehre vom sittlichen Staat bei Platonund den Tragikern 282Aristoteles als Zeuge der praktischen Philosophie Hegels 288Joachim Ritters Erneuerung der Hegelschen Platon- undAristotelesrezeption 314Politik und Ethik als Bauglieder der philosophia practicauniversalis im Blickpunkt der Ritterschen MitteGuumlnther Bien Hermann Luumlbbe Odo Marquard 328Die Oumlkonomik oder der von der Ritterschen Mitte gesetzteSchlussstein der philosophia practica universalisKarl Homann 343

Verwendete Sigla 371

Literaturverzeichnis 372

Index nominum et rerum 383

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Inhalt

Einleitung ndash zur Erlaumluterung der These

Platons Akademie und das Lykeion des Aristoteles lagen zwar vor denMauern aber deshalb war die Stadt der Schule keineswegs gleichguumll-tig im Gegenteil die Stadt erfreute sich jederzeit intensiver Auf-merksamkeit durch die Schule Vorgegeben war diese Haltung durchden gemeinsamen Ahnherren Sokrates raquoden Landschaft und Baumlumewenig lehrten wohl aber die Menschen in der Stadtlaquo1 Buumlndig be-staumltigt das auf seine Weise Cicero Socrates autem primus philoso-phiam devocavit e caelo et in urbibus conlocavit2 Noch im Gefaumlngnisunterstreicht Sokrates er koumlnne unmoumlglich ohne Einverstaumlndnis derAthener fliehen wo er doch so bewusst und ausdruumlcklich sein ganzesLeben in ihrer Stadt verbracht habe dass er sie auszliger zu Feldzuumlgennur ein einziges Mal mit einer Festgesandtschaft zu den IsthmischenSpielen verlassen habe3 Sokrates war uumlberzeugt ein gelungenes Le-ben habe er nur als Buumlrger der Stadt Athen fuumlhren koumlnnen und mitdieser Bindung an die Polis identifizierten sich Platon und Aristotelesnicht minder

Das Verhaumlltnis von Schule und Stadt war laumlnger als ein halbesJahrhundert gepraumlgt von einer auf Unabhaumlngigkeit beider Seiten be-ruhenden Auseinandersetzung die im Jahre 322 zu Ende ging alswenige Wochen vor dem Tod des Aristoteles Athen mit der Nieder-lage im Lamischen Krieg unwiederbringlich die politische Autonomieeinbuumlszligte Wer nun die Philosophie der Epoche bis zu diesem Wende-jahr betrachtet dem werden unvermeidlich die nicht zu leugnendenDifferenzen zwischen Platon und Aristoteles ins Auge fallen Werjedoch Platon und Aristoteles zusammen gegen die spaumlter von derStoa gepraumlgte Epoche abhebt wird ihnen ebenso unvermeidlich alsganz wesentliches gemeinsames Merkmal den Umstand zuordnen

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1 Platon Phaidros 230 D2 Cicero Tusculanae disputationes 5 103 Platon Kriton 52 B

dass im Mittelpunkt ihrer philosophischen Aufmerksamkeit nicht dieSchule selbst sondern die politischeWelt auszligerhalb der Schule standIhre theoretische Arbeit endete nicht esoterisch mit Saumltzen zur inne-ren Sittlichkeit der Schule vielmehr uumlberschritt sie diese Schrankeund widmete sich eingehend den sittlichen Normen der Stadt ohneuumlbrigens daruumlber die Ordnung des fuumlr diese Normen keineswegsgleichguumlltigen Makrokosmos zu vernachlaumlssigen Ihre Politik ist in-stitutionelle Ethik und umgekehrt setzt ihre Ethik auf einen Staatder die Buumlrger tugendhaft macht

Bei weiter ausholendem Hinsehen erweist sich die vielbeschwo-rene Kritik des Aristoteles an Platon eher als dessen staumlndiges Be-muumlhen das gemeinsame Ziel den sittlichen Staat vor selbstverschul-detem Scheitern zu retten Aristoteles war nicht Gegner Platonssondern dessen dankbarer Erbe der der geistigen Hinterlassenschaftseines Lehrers das Uumlberleben zu sichern suchte In dieser Absicht aumln-derte er das methodische Vorgehen von Grund auf Er schrieb denBuumlrgern nicht mehr vor wie sie sein sollten sondern registrierte her-meneutisch wie sie sind um zu ergruumlnden was in diesem Ist-Bestandan vernuumlnftiger Vorleistung als dasWesentliche immer schon enthal-ten ist Als Hermeneutik lehrt praktische Philosophie dass die unsitt-liche Stadt sich nicht im Widerspruch zu einer aumluszligeren Instanz son-dern zu ihr selbst befindet Folgerichtig sah Aristoteles das Idealzieldes Philosophen auch nicht im Amt des Herrschers der aufgrundabsolutenWissens die Lebensordnung diktiert Vielmehr war er uumlber-zeugt sein Amt angemessen auszuuumlben wenn er darauf setzte zuwerben zu beraten und mit Argumenten zu uumlberzeugen und daseben nicht als philosophischer Herrscher sondern als Lehrer seinerSchuumller als Berater Philipps II als Prinzenerzieher Alexanders alsErmunterer der Buumlrger im Einklang mit Sitte Recht und Anstandihr Gluumlck zu suchen Aristoteles sah bessere Chancen fuumlr die plato-nische Substanz wenn er diese auf der institutionellen Basis der vitacontemplativa als bestimmter Lebensform neben und nicht uumlber dervita activa zu wahren suchte um die aktiv Taumltigen aus der damitimmer noch bestehenden Distanz vermoumlge hermeneutischen Vor-gehens daruumlber aufzuklaumlren dass die ethische Lebensfuumlhrung gelingtwenn sie im Einklang mit den bestehenden Sitten erfolgt

In der Politik des Aristoteles ist somit Platons Vernunftstaatdurchaus praumlsent allerdings eben nicht in Gestalt radikaler System-kritik sondern unter dem Oberbegriff einer raquoPolitielaquo den er in auf-klaumlrender und beratender Absicht ins Spiel bringt Im Blick auf aktu-

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Einleitung ndash zur Erlaumluterung der These

elle Probleme der Polis versteht Aristoteles die Politie zunaumlchst alsVerfassung die die Ursachen der oft blutigen Dauerkonflikte zwi-schen Oligarchen und Demokraten aufzuheben verspricht daruumlberhinaus entwickelt Aristoteles eine an Platons Idealstaat erinnerndezweite Version von Politie und zwar im Blick auf die Planungen Phi-lipps II mit einem panhellenischen Heer die Aumlgaumlis in ein makedo-nisches Meer zu verwandeln und die Jonier in Kleinasien von derPerserherrschaft zu befreien Die erstere Politie der Buumlcher IV bis VIbesteht in einem auf Aussoumlhnung der Konfliktparteien zielenden Ver-fassungsentwurf und entsprach somit der zum Schlagwort erhobenenWunschvorstellung der Zeit naumlmlich der inneren Eintracht (ὁμό-νοια) Die andere Politie in Buch VII enthielt die Grundlegung derLebensordnung griechischer Groszligbuumlrger die sich im befreiten Jonienansiedeln sollten Auch diese Verfassung kam zumindest indirekteiner Wunschvorstellung der Zeit entgegen naumlmlich dem Wunschnach gemeinsamem Frieden (κοινὴ εἰρήνη) der griechischen Staumldteuntereinander denn ehemalige Feinde koumlnnten umso leichter Friedenschlieszligen und Freunde werden wenn sie sich als Eroberer zum Kampfgegen einen gemeinsamen Gegner verbuumlnden Vorrangig angespro-chen sollten sich allerdings Groszligbuumlrger fuumlhlen die mit ihrem Lebenin den demokratischen Staumldten Griechenlands unzufrieden warenund einer auf oligarchischen Idealen gegruumlndeten Polis den Vorzuggaben

Obwohl Aristoteles dank seiner hermeneutischen Vorgehens-weise keineswegs an den Adressaten vorbeiredete sollte sich schonbald abzeichnen dass aus je verschiedenen Gruumlnden sowohl die prag-matische als auch die ideale Politie abgewiesen wurden Aristoteleswar daruumlber nicht entmutigt sondern verfolgte seinen hermeneuti-schen Ansatz nur noch strikter in dem was ist das Wesentliche zubegreifen Das was ist also das politisch Dominierende war nun un-bestritten die demokratische Verfassung der Athener denen dieSchule ndash und das durchaus auch den Tatsachen zuwider ndash die Ver-nachlaumlssigung ihrer eigenen Gesetze gleichsam als Erbuumlbel immerwieder vorgehalten hatte Die raquoVerfassung der Athenerlaquo (Ἀθηναίωνπολιτεία oder kurz AP) nimmt und sei es unausgesprochen dieeinst auch von Aristoteles selbst mitgetragene Kritik der Schule zu-ruumlck und bedeutet dieser implizit dass sie sich selbst um Glaub-wuumlrdigkeit und Uumlberzeugungskraft bringt wenn sie offen am Tageliegende Sachverhalte systematisch in Abrede stellt Die AP ist dieAnerkennung der Tatsache dass den Athener Demokraten im vierten

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Einleitung ndash zur Erlaumluterung der These

Jahrhundert die Vollendung eines widerspruchsfrei verfassten Geset-zesstaates gelungen ist der im Uumlbrigen nicht von einem kuumlnstlichgesetzten Nullpunkt ausgegangen ist sondern hermeneutisch rekon-struierbar sich in organischem Wachstum seit Ion und Theseus in elfWenden entwickelt hat Der Ton der AP liegt nicht darauf dass kom-promissbereite Philosophie die Welt vor der ihr sonst eigenen Radi-kalitaumlt verschonen will sondern auf der im theoretischen Zusehengewonnenen Einsicht dass die Stadt gerade das philosophische Ur-anliegen der Gesetzestreue immer schon als legitimierendes Prinzipihres Handelns befolgt hat Die hermeneutische Zirkelstruktur be-steht also darin dass die Philosophie der Stadt dies als das an ihrWesentliche erklaumlrt was sie selbst hervorgebracht hat

Der Einfluss der Akademie und des Lykeion endete aber keines-wegs abrupt mit dem Jahre 322 als die Athener ihre Souveraumlnitaumlteinbuumlszligten und damit die unumgehbare Voraussetzung einer auf Sitt-lichkeit bestehenden politischen Theorie Dank makedonischer Un-terstuumltzung erzielten die Schulen durch Phokion und Demetrios Pha-lereus in den folgenden Jahren sogar weitaus mehr politischeWirkung als die beiden Gruumlnder zu ihren Lebzeiten Ebendiesem Er-folg hatten indes im Jahre 307 die Schulen den entscheidenden Ruumlck-schlag zu verdanken als der aus ihren Reihen hervorgegangeneDemetrios Phalereus nach zehnjaumlhriger Herrschaft aus der Stadt ver-trieben wurde Rigide Entmuumlndigung der Buumlrger bei eigenem Nar-zissmus samt Selbstbereicherung brachten nicht nur Demetrios selbstum jeden Kredit sondern auch die Philosophie der Akademie und desLykeion nach deren Vorgaben er als ihr Angehoumlriger in Athen regierthatte Die empoumlrten Demokraten reagierten mit der Androhung derTodesstrafe und Verbannung der Philosophen und unter Philoso-phen verstanden sie unterschiedslos alle Platoniker und AristotelikerMit dieser harschen Reaktion laumluteten die Athener zugleich die Ge-burtsstunde der Stoiker ein die gleichsam in ihrer Gruumlndungsurkun-de festschrieben dass ihre Ethik die Sittlichkeit der Schule und nichtdie Sittlichkeit der Stadt zum Gegenstand habe Die Stoiker erkann-ten dass sie die Philosophie unter Wahrung ihrer Autonomie nurfortfuumlhren konnten wenn sie der Stadt versicherten dass sie andersals Platon und Aristoteles ihre Gesetzgebung ausschlieszliglich fuumlr ihreSchule als geschlossene secta erlieszligen Die erklaumlrtermaszligen der Poliszugewandte Philosophie die Platon und Aristoteles gemeinsam ver-treten hatten war ihnen nunmehr gemeinsam zum Verhaumlngnis ge-worden

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Einleitung ndash zur Erlaumluterung der These

Unter dem Druck der politischen Umstaumlnde beschlossen dieStoiker ihre Sezession und erklaumlrten die Beschaumlftigung mit der Polisals einst zentrales Thema der Philosophie fuumlr nichtig Daruumlber hinausdistanzierten sie sich ebenfalls noch in manch anderem Punkt vonPlaton und Aristoteles wenn sie etwa im Felde der theologia und derAffektlehre Theoreme vortrugen die erst angesichts der Lage seit 307auf die Tagesordnung gerieten So antworteten sie auf den Herrscher-kult der implizit die unsterblichen Goumltter zu zweitrangigen Groumlszligenherabstufte mit der providentia-Lehre um zu demonstrieren wessenFuumlrsorge in Wahrheit die Menschheit ihr Uumlberleben zu verdankenhabe Da aber die Goumltter bei rehabilitierender Bestaumltigung ihrer ndashden kultisch verehrten Diadochen uumlberlegenen ndash Allmacht zwingendauch fuumlr alle Uumlbel in derWelt verantwortlich waren musste Chrysippden Streit zwischen Homer und Platon ob die Goumltter fuumlr alles odernur fuumlr das Gute zustaumlndig seien erneut austragen Es war also letzt-lich das aumluszligere Phaumlnomen des Herrscherkultes der diesen Streit un-ter den Gelehrten ausloumlste Aumlhnlich lagen die Dinge beim Problemder Affekte Der dank der politischen Ereignisse des Jahres 307 er-zwungene Ruumlckzug der Philosophie auf sich selbst war nur unter derBedingung entschieden abschirmender Selbstbehauptung nach auszligenertraumlglich Dieselbe Bedingung der Autonomie musste aber auch nachinnen erfuumlllt sein und zwar gegen ein ganzes Buumlndel von denkbarenAffekten die bei Verzicht auf ihre Einhegung die muumlhsam nach au-szligen behauptete Souveraumlnitaumlt wieder untergraben haumltten Folgerichtigwar die Affektlosigkeit (ἀπάθεια) das zentrale Thema der stoischenEthik ndash mit dem Ziel der Wahrung der inneren Autonomie Die Stoi-ker konnten daher nicht das Risiko eingehen die Behandlung derAffekte wie Aristoteles wollte eher beilaumlufig den Nachwirkungender von der tragischen Dichtung ausgeloumlsten Katharsis zu uumlberlassenStattdessen mussten die Stoiker darauf bedacht sein eine spezielleTherapie fuumlr den Fall zu entwickeln dass wie zu befuumlrchten denAffekten katechismuswidrig hier und da eben doch ein Ausbruch ge-lingen sollte

Obwohl die Stoiker als die neuen Meinungsfuumlhrer Platon undAristoteles fuumlr Jahrhunderte in den Hintergrund zu draumlngen ver-mochten mussten sie am Ende doch erleben dass die beiden Arche-geten im Status von unangefochtenen Klassikern ihre Renaissanceerlebten Zwar sicherten die Stoiker durch ihren weisen Ruumlckzug derphilosophia perennis die Kontinuitaumlt duumlrften aber am Ende aus dem-selben Grund dem sie ihr Entstehen verdankten wieder von Platon

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Einleitung ndash zur Erlaumluterung der These

und Aristoteles in den Schatten gestellt worden sein Denn Lehrerwie Schuumller verstanden anders als die Stoiker unter Schule stets eineInstanz der systematischen Beschaumlftigung gerade auch mit der Au-szligenwelt Dieser erweiterte Argumentbereich konnte dem Kreis umPlaton und Aristoteles schlieszliglich nicht mehr schaden als es keinedirekt angesprochenen Zeitgenossen mehr gab die sich durch ihreLehren und das Handeln ihrer Schuumller provoziert fuumlhlten Von sol-chen Gefuumlhlen unberuumlhrt suchen hingegen spaumltere Generationen beiPlaton und Aristoteles gerade wegen ihres umfassenden Blickfeldesnach Belehrung und gegebenenfalls Bestaumltigung eigener Theorienund das sowohl im Grundsaumltzlichen als auch in Einzelfragen

Platons Philosophie nahm ihren Ausgang von der ganz be-stimmten Frage der Apologie wie Sokrates der gerechteste BuumlrgerAthens gegen die Asebieklage des Anytos Meletos und Lykon zuverteidigen sei In den Kategorien der Theorie der Rhetorik haumltte die-se Frage als eine quaestio finita gegolten die im Verfolg eine Fuumlllevon sich anschlieszligenden quaestiones infinitae ausloumlsen sollte wienaumlmlich ein gerechter Staat moumlglich sei der vom Geist seiner gerech-ten Buumlrger gepraumlgt waumlre Mit dem daraus erwachsenen Fundus vonFragen und erteilten Antworten haben Platon und entsprechend Aris-toteles der Nachwelt einen geistigen Reichtum hinterlassen dem sieschlieszliglich ndash nach zwischenzeitlicher Suspendierung ndash ihre Anerken-nung als unumstrittene Klassiker bis in unsere Tage zu verdankenhaben Angesichts solcher Hinterlassenschaft darf sich die Philo-sophie mit gutem Gewissen als Vergegenwaumlrtigung ihrer eigenen Ge-schichte definieren Vergegenwaumlrtigung wiederum ist im weitestenSinne das Gemeinschaftswerk der subtilitas intellegendi und der sub-tilitas applicandi und das so bestimmte Vorgehen ist auch dieVoraussetzung fuumlr die Zeugenrolle die Platon und Aristoteles beider philosophischen Begleitung der Preuszligischen Reformen durchG W F Hegel und erneut bei der geistigen Gruumlndung der Bundes-republik nach dem ZweitenWeltkrieg durch Joachim Ritter und seineSchuumller spielten Dass Platon und Aristoteles fuumlr den buumlrgerlichenRechtsstaat in den Zeugenstand traten setzt den hermeneutischenPhilosophiebegriff voraus demgemaumlszlig die Philosophie auf der Praumlsenzihrer eigenen Geschichte beruht Damit ist zugleich die Frage nachden Aussichten einer umfassenden Erneuerung der praktischen Phi-losophie gestellt der sich so lautet unsere These Joachim Ritter undseine Schuumller widmeten indem sie dem Primat der praktischen Ver-nunft die Ehre erweisend die klassischen Disziplinen der philosophia

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Einleitung ndash zur Erlaumluterung der These

practica universalis ndash Ethik Politik Oumlkonomik ndash schrittweise auf-nahmen und in ein systematisches Verhaumlltnis zur modernen Weltsetzten

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Einleitung ndash zur Erlaumluterung der These

Hermeneutikgeleitete Chronikder Wege und Umwege derphilosophia practica universalisvon den Anfaumlngen bis in die Gegenwart

Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

Vom Ende her gesehen koumlnnte leicht der Eindruck entstehen Platon(42827ndash34847) habe sich von vornherein als Lebenswerk die Gruumln-dung einer philosophischen Schule zum Ziel gesetzt in deren Mittel-punkt die Ausbildung einer systematischen politischen Theoriestehen sollte Dieser Eindruck taumluscht indes Wie Platon selbst imVII Brief (324 Bndash326 D) seinen Werdegang darstellt hatte er ur-spruumlnglich gar nicht die Absicht eine Schule zu gruumlnden die sichphilosophisch mit dem Staat befasste Stattdessen draumlngte er zunaumlchstauf eigenes politisches Handeln als er in der Herrschaft der DreiszligigTyrannen (40403) eine Chance sah einen Staat zu errichten der freiwar von den Schwaumlchen der Demokratie Enttaumluscht musste er aberbald erkennen dass die fruumlheren Verhaumlltnisse in der Demokratie ver-glichen mit der Gegenwart unter den Dreiszligig Gold (sic) waren Fol-gerichtig wandte er sich von den Dreiszligig ab und war nach deren Sturzwiederum bereit zu politisch aktiver Taumltigkeit wurde aber erneut ent-taumluscht ndash durch das Todesurteil gegen Sokrates den Mangel an poli-tischen Freunden die grassierende Geringachtung der Gesetze unddie Inthronisierung der Lust (ἡδονή) als Maszlig der Dinge Erst darauf-hin widmete sich Platon der theoretischen Beschaumlftigung mit demwahren Staat nicht ohne fuumlr erneute praktische Taumltigkeit in der Poli-tik bessere Zeiten abzuwarten die dann eintraumlten wenn wahrhaftePhilosophen die Herrschaft im Staat uumlbernaumlhmen und nicht die durchdas Los ins Amt befoumlrderte Inkompetenz Seine Philosophie war alsoOpposition auszligerhalb der politischen Buumlhne gedacht als ungewollteZwischenphase die erst endete wenn die Staumldte nach philosophi-schen Grundsaumltzen verfasst waumlren Die Gruumlndung der Schule erfolgtealso eher aus Verlegenheit sie war nicht die erfolgreiche Ausfuumlhrungeiner urspruumlnglichen Absicht

Mit seinem Bericht im VII Brief laumlsst Platon also durchblickendass er gleichsam widerWillen die Akademie als Schule gruumlndete undderen erstes Schulhaupt wurde Die Schule galt Platon als Surrogateiner Polis der vollendeten Sittlichkeit Folgerichtig war das Leit-thema der Schule die Lehre vom wahren Staat der das bloszlige Surrogatwieder uumlberfluumlssig machen sollte Platon verschweigt auch nicht vonwelchem Standpunkt aus er die Grundzuumlge des idealen Staates ent-wickelte Waumlhrend er die Schwaumlchen der Demokratie eher in derenStrukturen suchte ortete er die Schwaumlchen der Oligarchie im persoumln-lichen Versagen insbesondere der Dreiszligig Tyrannen Demgemaumlszlig plauml-

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dierte er fuumlr eine zu wahrer Aristokratie veredelte Oligarchie die vonindividuellen und strukturellen Defiziten frei war Diese dem Best-moumlglichen verpflichtete Parteinahme erfuumlllte zugleich die Anforde-rungen einer auf Widerspruchsfreiheit bedachten Theorie sofernPlaton alle seine politischen Vorstellungen auf Vernunftbegriffe zu-ruumlckfuumlhrte und nie vergaszlig sie geltend zu machen wo immer ihreBeachtung zwingend geboten war Mag es Platon auch nicht gelungensein in Athen einen Wiedergaumlnger des Sokrates als philosophischenHerrscher zu bestallen und auf diese Weise sein praktisches Ziel zuerreichen so bleibt doch als Ergebnis seiner Anstrengungen zumin-dest als Fortschritt im Bewusstsein dies bestehen dass von nun anpolitische Vorgaumlnge unvermeidlich von der Aufmerksamkeit einerauszligerhalb der politischen Buumlhne angesiedelten Vernunftkritik beglei-tet wurden Insofern blieb Platons mutiger Schritt eine politischeEntitaumlt systematisch in Zweifel zu ziehen und sie auch noch miteinem Gegenmodell zu konfrontieren nicht ohne kuumlnftige Folgen

Einstweilen blieb aber Platons politische FundamentaloppositionSache der Schule deren Eigengesetzlichkeit sich auf die inhaltlicheWeiterarbeit spuumlrbar auswirken sollte Zur (nachsokratischen)Grund-ausstattung der Schule gehoumlrte die Schriftlichkeit die Platon in nichtgeringe Verlegenheit brachte weil er auf unmittelbare Praumlsenz derVernunft setzte und nicht auf eine mittelbare die sich auch nochdurch Ablage ins Buumlcherregal unschaumldlich machen lieszlig1 Zudemzeichnete sich uumlber das politische Kerninteresse hinaus eine durchschultypisches Weiterfragen ausgeloumlste Verfaumlcherung ab die Platonnoch identitaumltsphilosophisch aufzufangen vermochte die aber auflange Sicht jenseits der Politik zur Etablierung von Einzeldisziplinenwie Ontologie Kosmologie Mathematik und Erkenntnistheorie fuumlhr-te Den Sophisten ging es aumlhnlich wie Sokrates von Protagoras er-faumlhrt Nur bei ihm selbst erfuumlhren die Schuumller das Noumltige uumlber ihrKerngeschaumlft das Haus gut zu verwalten und sich auf der Agoraacute zubewaumlhren waumlhrend sie bei anderen Sophisten wie Hippias von Elisverdorben wuumlrden weil diese sie mit Unnuumltzem wie Arithmetik As-tronomie Geometrie und Dichtung traktierten2 So weitete also auchdie Schule Platons allmaumlhlich ihren Themenkreis immer weiter aus

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Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

1 Auf dieses Merkmal der Schule ist G Bien naumlher eingegangen Das Theorie-Praxis-Problem und die politische Philosophie bei Platon und Aristoteles in Phil Jb 76(196869) 264ndash314 hier S 307ndash3132 Platon Protagoras 318 Dndash319 A

je mehr ihre Vorlaumlufigkeit die mit einem politischen Erfolg der Fun-damentalopposition ihr Ende finden sollte in Vergessenheit gerietAristoteles sollte an seinem Lehrer in der Sache manche Kritik uumlbenaber die Regeln der Institution Schule ihre Hinwendung zur Schrift-lichkeit und ihre Etablierung von Einzeldisziplinen (Pragmatien) ver-standen sich fuumlr ihn schon von selbst

Aristoteles (384ndash322) hatte als Siebzehnjaumlhriger seine makedo-nische Heimat verlassen um sich im Jahre 36766 der Akademie an-zuschlieszligen Da war Platon schon uumlber fuumlnfzig Jahre alt und hatteseine philosophische Arbeit dogmatisch abgeschlossen Da er in die-sen Tagen kurz vor seiner zweiten Reise nach Syrakus stand hat ervielleicht erst nach seiner Ruumlckkehr erkannt wer von nun an seinbegabtester Schuumller war Als Aristoteles einmal bei einer Vorlesungfehlte rief Platon verzweifelt aus raquoDer Geist ist nicht zugegenstumpf ist da die Houmlrerschaftlaquo ndash im Original ein ausgefeilter jambi-scher Trimeter ὁ νοῦς ἄπεσ|τιν κωφὸν τἀκ|ροατήριον3 Aristote-les wird sich dieses Lob seines Lehrers gewiss bei vielen Gelegenhei-ten verdient haben nicht zuletzt aber dank der Art wie er sich beiPlatons beruumlhmter Altersvorlesung raquoUumlber das Gutelaquo4 bewaumlhrte Alsdieser das Gute kosmologisch im zahlhaft bestimmten Einen verorte-te blieben die Houmlrer einer nach dem anderen enttaumluscht der Vor-lesung fern weil sie Ausfuumlhrungen uumlber seelische koumlrperliche undaumluszligere Guumlter im gemeinen Verstande erwartet hatten Auf diese Re-aktion der Houmlrer hatte Platon nur gewartet er wollte wissen wer mitseinem Vorstellungshorizont uumlber den der Menge hinausging undsich damit als genuiner Philosoph erwies Tatsaumlchlich harrten nurwenige Houmlrer bis zum Ende aus und empfingen den Ritterschlageines wahren Philosophen darunter natuumlrlich Aristoteles Dieser er-klaumlrte allerdings spaumlter er werde sich an das allgemein Anerkanntehalten statt aus dem Satz dass das Eine ein Gut sei herzuleiten dassdie Gerechtigkeit ein Gut sei5

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3 Zitiert nach V Rose Aristotelis qui ferebantur librorum fragmenta collegit V RLeipzig 18701886 repr Stuttgart 1967 S 4284 Das Vorlesungsmanuskript ist im Original nicht erhalten Die zahlreichen Para-phrasen bei anderen Autoren hat W D Ross Aristotelis Fragmenta Oxford 1935S 111ndash120 gesammelt5 Aristoteles Eudemische Ethik 1218 a 15ndash22 Der Aristotelesschuumller Aristoxenosbestaumltigte diese Reaktion seines Lehrers in seinen ἁρμονικὰ στοιχεῖα (ed P Mar-quard Die harmonischen Fragmente des Aristoxenos Berlin 1868 S 30) und fuumlgtehinzu es empfehle sich zu Beginn einer Vorlesung sein Thema genau anzukuumlndigen

Im Uumlbrigen sparte auch Aristoteles nicht mit Lob auf seinenLehrer Im Rahmen seiner Inschrift auf einem Altar der Freundschaftden Eudemos von Kypros von einer Reise nach Athen zuruumlckgekehrtgestiftet hatte ruumlhmt Aristoteles Platon als Mann den schlechteMenschen nicht einmal loben duumlrften und als Mann der als Ersterunter den Menschen durch eigene Lebensfuumlhrung und vorgetrageneGruumlnde demonstriert habe dass der gute Mann ebendeshalb auch dergluumlckliche Mann ist Zwar taucht im uumlberlieferten Text der Distichenweder der Name Platons noch der des Eudemos auf Olympiodor ver-sichert aber Aristoteles habe in seiner Widmung an den Stifter Eude-mos ebendieses Lob auf Platon ausgesprochen6 Bei welchem Lehrerhaumltte Aristoteles auch besser lernen koumlnnen wie man wesentlicheaber oft uumlbersehene Fragen stellt wie man fuumlr andere uumlberraschendauf Zusammenhaumlnge und Widerspruumlche aufmerksam macht wieman auf den ersten Blick unerkannte Implikationen und Konsequen-zen herausarbeitet wie man unzureichend Bewiesenes als solchesidentifiziert wie man einmal erzielte Uumlbereinkuumlnfte stets im Ge-daumlchtnis praumlsent haumllt wie man seine Argumente durch Ruumlckfuumlhrungauf Gruumlnde und Ursachen als anerkannte Berufungsinstanzen uumlber-zeugend vortraumlgt

Zur gegenseitigen Wertschaumltzung aufgrund ihrer intellektuellenVorzuumlge gesellte sich die politische Uumlbereinstimmung beider Philoso-phen die neben der Sympathie fuumlr Makedonien die entschieden ab-lehnende Haltung gegenuumlber der attischen Demokratie betraf FuumlrPlaton fiel die Suche nach der gerechten Polis als dem hiesigen Kor-relat des absolut Guten mit entschiedener Demokratiekritik zusam-men Seine politische Leitidee bildete die Gerechtigkeit als Einheit derKardinaltugenden mit dem Ziel der Baumlndigung des sinnlichen Inte-resses (ἡδονήvoluptas) waumlhrend in seinen Augen die demokrati-schen Leitideen der Gleichheit und Freiheit lediglich auf eine Beschouml-nigung der voluptas als des wahren Bestimmungsgrundes der Mengehinausliefen Diesen von voluptas durchdrungenen Staat sah Platonals derart heillos verfahren an dass er anknuumlpfende Schritt-fuumlr-Schritt Reformen gar nicht erst in Betracht zog Stattdessen setzte

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und wenn man Paradoxes vortragen wolle dies auch unmissverstaumlndlich zu sagen Sobliebe den Houmlrern die Enttaumluschung erspart wenn sie in Erwartung einer Belehrunguumlber Guumlter wie Reichtum Gesundheit Gluumlck am Ende lediglich die blasse Auskunfterhielten das Gute sei Eines6 Olympiodoros in Platonis Gorgiam XLI 10 ad p 515 C

Platons politische Opposition mit anderen Mitteln7 auf eine vomNullpunkt aus fehlerfrei in Gedanken durchkonstruierte Polis in derdie schon seit Kleisthenes bestehende Einheitlichkeit und Geschlos-senheit des Gemeinwesens gewahrt blieben aber konkrete demokra-tische Komponenten wie Rat und Volksversammlung Geschwore-nengericht und Flotte Panathenaumlen Dionysien und Eleusinien nichteinmal dem Namen nach vorkamen Bei dieser Konstellation gerietenSchule und Polis zwangslaumlufig in ein Verhaumlltnis sich gegenseitigenIgnorierens Die Schule fuumlhrte ihre Debatten als private Institutionohne Beruumlcksichtigung der Vorgaumlnge auf der Agoraacute und die Agoraacutemuumlhte sich mit den ihr eigenen Mitteln um eine Konsolidierung derdemokratischen Institutionen ohne die Einwaumlnde der Schule zurKenntnis zu nehmen Nun mag Platon einen offenbar unpolitischenweil von den Realitaumlten abgehobenen Ausgangspunkt gewaumlhlt unddamit seiner Weiterarbeit wie spaumlter die hermeneutisch argumentie-rende Kritik des Aristoteles zeigen sollte einen schlechten Dienst er-wiesen haben aber ihn leitete ohne jeden Zweifel ein handfestes Mo-tiv und eine daraus abgeleitete allgemeine bis in unsere Tage zubeherzigende Grundeinsicht

Platons Schluumlsselerlebnis war das Todesurteil gegen Sokratesdas eine Mehrheit unter fuumlnfhundert Geschworenen faumlllte obwohlsich Sokrates in allen Anklagepunkten ganz offenkundig als nichtschuldig erwiesen hatte Moumlglich wurde diese Gerichtsentscheidungweil es den Anklaumlgern wie routinierten Demagogen gelang mit ihrenUnwahrheiten eine ignorante Menge auf ihre Seite zu ziehen In derTat hatten sie wie Sokrates gleich im zweiten Satz der Apologie aus-ruft nicht ein einzigen wahren Satz vorgetragen (ἀληθές γε hellip οὐ-δὲν εἰρήκασιν) Der offenbar unausrottbaren Moumlglichkeit dass De-magogen gerade mit der Unwahrheit Mehrheiten fuumlr sich gewinnenkoumlnnen galt zeitlebens Platons kritische Aufmerksamkeit Tatort wa-ren nicht nur die Geschworenengerichte sondern nicht minder dieVolksversammlung in der interessierte Redner Mehrheitsbeschluumlsse(ψηφίσματα) herbeifuumlhrten mit denen sie bestehende Gesetze un-terliefen8 Auch fuumlr dieses Fehlverhalten gab es eine Schluumlsselszeneals naumlmlich im Zuge des Arginusenprozesses ein Mann aus der auf-gehetzten Menge rief es sei eine Ungeheuerlichkeit wenn man denDemos nicht tun lasse was er wolle und gleich darauf durchgesetzt

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7 Platon VII Brief 325 Endash326 A8 Ebd 325 DndashE

wurde dass die angeklagten Seeoffiziere en bloc verurteilt wurdenund nicht wie es das Gesetz verlangte jeder einzeln Der Einzigeder sich diesem rechtswidrigen Beschluss widersetzte war Sokrates9

Dass dieser Staat ausgerechnet seinen gerechtesten Buumlrger zumTode verurteilt hatte hat Platon nie verziehen Da indes die aus-schlaggebende Mehrheit der Geschworenen ihr Urteil wohl kaumfuumlr ungerecht hielt sah Platon sich verpflichtet allen ebenso gesinn-ten Athenern vorzutragen was an und fuumlr sich Gerechtigkeit wirklichist und zwar in der Politeia aus dem Munde eben des Sokrates Danun der Staat fuumlr die Gerechtigkeit der groumlszligere und besser sichtbareBewaumlhrungsort ist als der Einzelne schlug Sokrates vor den Begriffvon Gerechtigkeit zunaumlchst im Blick auf den Staat zu entwickeln (Po-liteia 368 E 472 B) Die Frage nach der Gerechtigkeit konkretisiertesich auf diese Weise zur Frage nach dem gerechten Staat Folgerichtigsetzte Platon im Geist des Sokrates der attischen Demokratie mitihrem falschen Machtwillen einen auf reiner Vernunft beruhendenIdealstaat entgegen von dessen Vorzuumlgen er vielleicht schon dienaumlchste Generation der Athener zu uumlberzeugen hoffte10 anderenfallskoumlnne man nur noch auf einen Gluumlcksschlag von auszligen (τύχη) set-zen oder dass sich dank goumlttlicher Fuumlgung ein Staatenlenker mit derPhilosophie befasse11 Die Befuumlrchtung der Philosoph koumlnne in seinereigenen Stadt wenn uumlberhaupt dann nur dank goumlttlicher Fuumlgung po-litisch taumltig werden (Politeia 592 A) wollte Platon allerdings fuumlr sichnicht als Entschuldigung gelten lassen im Gegenteil Platon ver-sicherte er sei eigens nach Syrakus gereist damit man ihm nicht vor-halten koumlnne er sei nur im Felde der Theorie stark ziehe sich aberzuruumlck wenn es an die praktische Ausfuumlhrung gehe (VII Brief328 C) Vielmehr war fuumlr ihn der gerechte Staat Inhalt philosophi-scher Reflexion mit dem Ziel seiner Verwirklichung

Im idealen Staat darf die Entscheidungsbefugnis nur bei Buumlrgernliegen die allein durch philosophisch uumlberpruumlfte Qualifikation undnicht durch Loswahl in ihr Amt gelangt sind Nur wer die Houmlhle derdie Menge auszeichnenden Kurzsichtigkeit verlassen und dank uumlber-legener Vernuumlnftigkeit die Idee des Guten geschaut hat vermag pri-vat wie oumlffentlich vernuumlnftig zu handeln12 eben seitdem er sich von

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9 Xenophon Hellenika 1 7 12ndash16 Vgl unten Anm 38 S 137 und Anm 17 S 14810 Platon Politeia 315 CndashD11 Platon VII Brief 326 A12 Platon Politeia 517 C

der Aussageabsicht der drei beruumlhmten Gleichnisse hat uumlberzeugenlassen dass naumlmlich das Gerechte das Gute ist und nicht das sinnlicheInteresse der auf den Schein fixierten Menge13 Entsprechend heiszligt esin Platons 8 Brief (355 A) Fuumlr besonnene Menschen ist Gott das Ge-setz fuumlr die unvernuumlnftigen ist es die Lust Das Gute hat also densel-ben Stellenwert wie Gott und bildet wie dieser insofern den Welt-grund als es weil jenseits (ἐπέκεινα) des daseienden Universumsangesiedelt im Rang noch uumlber dieses hinausragt und sich heilsambewaumlhrt indem es dank seinem Sproumlssling dem Sonnenlicht Orien-tierung durch Sichtbarkeit der Dinge sowie Leben Wachstum undGedeihen moumlglich macht14 Die Ausrichtung amGuten als Weltgrunderhebt das Gerechte zur unbedingten Handlungsnorm fordert abernicht nur sondern gewaumlhrt in einem damit den Buumlrgern auch wahr-haft praktischen Nutzen naumlmlich das Leben im sittlichen Gesetzes-staat ndash die Frucht eben der Herrschaft der Gerechtigkeit15 Damit istdie Frage zu deren Beantwortung Sokrates die drei beruumlhmtenGleichnisse vortrug naumlmlich ob Lust oder das Gerechte das wahreGut ist beantwortet und die implizit gegebene Antwort die auf derUnterscheidung der vier Erkenntnisstufen im Liniengleichnis beruhtbesagt dass die beschraumlnkten intellektuellen Moumlglichkeiten der Men-ge zu dieser Einsicht nicht ausreichen diese also fuumlglich zu entmuumln-digen ist schon um den Demagogen ein leichtglaumlubiges Publikum zuentziehen

Der Form nach stand bei aller Reserve Platon durchaus in derSchuld der Demokraten Sie waren es die unter Kleisthenes den atti-schen Staat als rational verwalteten Einheitsstaat geschaffen hattender nicht mehr nach Staumlmmen Sippen und oumlrtlich bedingten Loyali-taumlten fragmentiert war Unter Phylen verstand Kleisthenes nichtmehr den Oberbegriff vertikal strukturierter Personenverbaumlnde son-dern horizontal strukturierter einheitlich verwalteter Bezirke nachdem Territorialprinzip Das Volk der Athener (ὁ τῶν Ἀθηναίων δῆ-μος) trat an die Stelle der Klientel wie in Rom der populus Romanusan die Stelle der gentes Platon musste also das Prinzip staatlicherEinheit selbst nicht mehr erfinden wohl aber dem Inhalt nach fuumlr alleZukunft beschlieszligen dass nicht nur dieser sondern jeder Staat sei-nem Wesen gemaumlszlig in der Pflicht sei sich als raquoWirklichkeit der sitt-

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Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

13 Ebd 505 B14 Ebd 509 AndashB15 Ebd 505 A

lichen Ideelaquo (Hegel) zu bewaumlhren Uumlber diesen Beschluss hinausdachte Platon noch einen Schritt weiter denn es konnte nicht ge-nuumlgen einen Staat philosophischer Sittlichkeit lediglich zu gruumlndener musste auch erhalten werden ndash durch ein Kollegium integrer Ge-setzeshuumlter die das muumlhsam Erreichte unveraumlndert zu bewahren hat-ten16 Diese Position waumlre etwa im Arginusenprozess unbesetzt ge-wesen haumltte Sokrates sie nicht eingenommen und auf Einhaltungder Gesetze bestanden

Ebenso wie die vorgegebene Staatlichkeit hat auch das mit dieserverbundene demokratische System der Rechtspflege das das archai-sche Selbsthilfeprinzip abloumlste Eingang in Platons Philosophie gefun-den Die archaische Selbsthilfe bestand darin dass die durch einenUumlbergriff beleidigte Sippe der Sippe des Taumlters die Fehde ankuumlndigte(πρόρρησις) deren Beendigung durch Abschluss eines Suumlhnevertra-ges (αἴδεσις) erfolgte Dass bei dieser Form der Konfliktbeilegungdurch Aussoumlhnung die staumlrkere Sippe in der Regel ihre Loumlsungsvor-stellungen durchsetzte liegt auf der Hand Der Schritt fuumlr Schritterfolgte Gerichtszwang durch den der Staat erst allmaumlhlich das Mo-nopol der Rechtspflege uumlbernahm hatte zum Ziel dass anstelle zufaumll-liger Machtverhaumlltnisse die Systematik von Recht und Gesetz imStreit der Parteien entscheidet17 Diesen Sinn der nacharchaischenRechtsprechung hat Ovid mit dem Hexameter zusammengefasstinde datae leges ne firmior omnia posset (Fasten 3 279) Im Gor-gias-Dialog haumllt nun Platon der Rhetorik vor sie sei der methodischeVersuch gerade diese Errungenschaft der Rechtsprechung ruumlckgaumln-gig zu machen Kallikles ein Anhaumlnger des Rhetoriklehrers Gorgiasspricht unverhohlen aus dass Herakles voumlllig im Recht war Geryonesseine Rinder die er weder gekauft noch zum Geschenk erhalten hatteohne Bedenken zu stehlen da das von Natur Gerechte darin bestehedass alles Eigentum der Schwaumlcheren in Wahrheit dem Staumlrkeren ge-houmlre18 Sokrates haumllt Kallikles entgegen dass wahre Uumlberlegenheitnicht im Mehr-haben-Wollen sondern im Sittlich-besser-Sein be-stehe und beruft sich damit ebenso wie die Rechtsprechung auf ein

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Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

16 Platon Politeia 484 B Nomoi 752 DndashE 754 Dndash755 C 770 AndashD 847 AndashD 959 Dndash961 CIm Abschnitt zu raquoDemetrios Phalereus ndash oder die vierzehnte Wendelaquo wird diese pla-tonische Vorgabe noch eine wesentliche Rolle spielen17 Zu diesen nicht leicht zu rekonstruierenden Prozessen sei auf die im Literaturver-zeichnis genannten Aufsaumltze von E Ruschenbusch verwiesen18 Platon Gorgias 484 BndashC

systematisches Kriterium um die individuelle Machtperspektive inSchranken zu weisen Dass Sokrates bei seinem Gespraumlchspartnermit dieser Argumentation nicht durchdringt ist allein der Borniert-heit des Kallikles zuzuschreiben

Es ist nicht zu leugnen dass Platon ebenso wie der Oligarch Kal-likles den Besseren das Wort redete aber unter den Besseren wirklichBessere verstand die den Staat als sublimierte Oligarchie tragen soll-ten Von dieser Staatslehre gilt es also zu uumlberzeugen und das ver-suchte Platon auch ganz im Sinne des Sokrates zunaumlchst durch sach-liche Gespraumlchsfuumlhrung oder Dialektik (διαλέγεσθαι) die mitkurzen Saumltzen Rechenschaft fordert und gewaumlhrt Sokrates mochtekeine langen Reden die geeignet sind das Ausgangsthema nach eini-ger Zeit aus den Augen zu verlieren19 Auch mochte es Sokrates garnicht wenn Unterredner sich streitsuumlchtig (ἐρίζειν) an Worten fest-bissen statt am intendierten Inhalt20 Das richtet sich gegen Protago-ras der als Erfinder der Eristik Wortklauberei betrieb statt sich aufdie Bedeutung des Sachverhalts zu konzentrieren21 Insgesamt ist diesokratische Version von Dialektik ein Gegenentwurf zur raquosogenann-ten Kunst der Rhetoriklaquo22 die lediglich den Uumlberredungserfolg zumZiel hat und nicht etwa wohlbegruumlndete Wahrheiten herausarbeitenwill Nun musste Platon etwa im Gespraumlch mit Kallikles im Gorgiasoder mit Thrasymachos im ersten Buch der Politeia erkennen dassgerade seine Sachlichkeit bei Boumlswilligen auf taube Ohren stoumlszligt Erentwickelte daher noch in der Politeia einen uumlber Sokrates hinaus-gehenden Begriff von Dialektik die nicht diskutiert sondern dekre-tiert nachdem diese durch reines auf das Gespraumlch mit sich selbstkonzentriertes Durchdenken des Wesentlichen frei von sinnlichenEindruumlcken zum Ziel der Erkenntnis des Guten gelangt ist (532 AndashB) Weil somit Dialektik zustaumlndig wird fuumlr die Vergegenwaumlrtigungdes Guten in der politischen Welt darf auch nur der ausgewieseneDialektiker Staatenlenker werden (534 CndashD) der auf seinen Einsich-ten beharrt auch wenn ihm seine Mitbuumlrger die Zustimmung ver-weigern Gegen vordergruumlndige Rechthaberei von wem immer sieausgeht verteidigt Platon das Prinzip vernuumlnftiger Argumentationgegen die Kraumlfte ihrer Blockierung

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Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

19 Platon Protagoras 336 AndashC Gorgias 474 B20 Platon Politeia 454 A21 Diogenes Laertios 9 5222 Platon Gorgias 448 D

Page 11: Platon und Aristoteles als Wegbereiter der praktischen ... · Differenzen zwischen Platon und Aristoteles ins Auge fallen. Wer jedoch Platon und Aristoteles zusammen gegen die später

Einleitung ndash zur Erlaumluterung der These

Platons Akademie und das Lykeion des Aristoteles lagen zwar vor denMauern aber deshalb war die Stadt der Schule keineswegs gleichguumll-tig im Gegenteil die Stadt erfreute sich jederzeit intensiver Auf-merksamkeit durch die Schule Vorgegeben war diese Haltung durchden gemeinsamen Ahnherren Sokrates raquoden Landschaft und Baumlumewenig lehrten wohl aber die Menschen in der Stadtlaquo1 Buumlndig be-staumltigt das auf seine Weise Cicero Socrates autem primus philoso-phiam devocavit e caelo et in urbibus conlocavit2 Noch im Gefaumlngnisunterstreicht Sokrates er koumlnne unmoumlglich ohne Einverstaumlndnis derAthener fliehen wo er doch so bewusst und ausdruumlcklich sein ganzesLeben in ihrer Stadt verbracht habe dass er sie auszliger zu Feldzuumlgennur ein einziges Mal mit einer Festgesandtschaft zu den IsthmischenSpielen verlassen habe3 Sokrates war uumlberzeugt ein gelungenes Le-ben habe er nur als Buumlrger der Stadt Athen fuumlhren koumlnnen und mitdieser Bindung an die Polis identifizierten sich Platon und Aristotelesnicht minder

Das Verhaumlltnis von Schule und Stadt war laumlnger als ein halbesJahrhundert gepraumlgt von einer auf Unabhaumlngigkeit beider Seiten be-ruhenden Auseinandersetzung die im Jahre 322 zu Ende ging alswenige Wochen vor dem Tod des Aristoteles Athen mit der Nieder-lage im Lamischen Krieg unwiederbringlich die politische Autonomieeinbuumlszligte Wer nun die Philosophie der Epoche bis zu diesem Wende-jahr betrachtet dem werden unvermeidlich die nicht zu leugnendenDifferenzen zwischen Platon und Aristoteles ins Auge fallen Werjedoch Platon und Aristoteles zusammen gegen die spaumlter von derStoa gepraumlgte Epoche abhebt wird ihnen ebenso unvermeidlich alsganz wesentliches gemeinsames Merkmal den Umstand zuordnen

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1 Platon Phaidros 230 D2 Cicero Tusculanae disputationes 5 103 Platon Kriton 52 B

dass im Mittelpunkt ihrer philosophischen Aufmerksamkeit nicht dieSchule selbst sondern die politischeWelt auszligerhalb der Schule standIhre theoretische Arbeit endete nicht esoterisch mit Saumltzen zur inne-ren Sittlichkeit der Schule vielmehr uumlberschritt sie diese Schrankeund widmete sich eingehend den sittlichen Normen der Stadt ohneuumlbrigens daruumlber die Ordnung des fuumlr diese Normen keineswegsgleichguumlltigen Makrokosmos zu vernachlaumlssigen Ihre Politik ist in-stitutionelle Ethik und umgekehrt setzt ihre Ethik auf einen Staatder die Buumlrger tugendhaft macht

Bei weiter ausholendem Hinsehen erweist sich die vielbeschwo-rene Kritik des Aristoteles an Platon eher als dessen staumlndiges Be-muumlhen das gemeinsame Ziel den sittlichen Staat vor selbstverschul-detem Scheitern zu retten Aristoteles war nicht Gegner Platonssondern dessen dankbarer Erbe der der geistigen Hinterlassenschaftseines Lehrers das Uumlberleben zu sichern suchte In dieser Absicht aumln-derte er das methodische Vorgehen von Grund auf Er schrieb denBuumlrgern nicht mehr vor wie sie sein sollten sondern registrierte her-meneutisch wie sie sind um zu ergruumlnden was in diesem Ist-Bestandan vernuumlnftiger Vorleistung als dasWesentliche immer schon enthal-ten ist Als Hermeneutik lehrt praktische Philosophie dass die unsitt-liche Stadt sich nicht im Widerspruch zu einer aumluszligeren Instanz son-dern zu ihr selbst befindet Folgerichtig sah Aristoteles das Idealzieldes Philosophen auch nicht im Amt des Herrschers der aufgrundabsolutenWissens die Lebensordnung diktiert Vielmehr war er uumlber-zeugt sein Amt angemessen auszuuumlben wenn er darauf setzte zuwerben zu beraten und mit Argumenten zu uumlberzeugen und daseben nicht als philosophischer Herrscher sondern als Lehrer seinerSchuumller als Berater Philipps II als Prinzenerzieher Alexanders alsErmunterer der Buumlrger im Einklang mit Sitte Recht und Anstandihr Gluumlck zu suchen Aristoteles sah bessere Chancen fuumlr die plato-nische Substanz wenn er diese auf der institutionellen Basis der vitacontemplativa als bestimmter Lebensform neben und nicht uumlber dervita activa zu wahren suchte um die aktiv Taumltigen aus der damitimmer noch bestehenden Distanz vermoumlge hermeneutischen Vor-gehens daruumlber aufzuklaumlren dass die ethische Lebensfuumlhrung gelingtwenn sie im Einklang mit den bestehenden Sitten erfolgt

In der Politik des Aristoteles ist somit Platons Vernunftstaatdurchaus praumlsent allerdings eben nicht in Gestalt radikaler System-kritik sondern unter dem Oberbegriff einer raquoPolitielaquo den er in auf-klaumlrender und beratender Absicht ins Spiel bringt Im Blick auf aktu-

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Einleitung ndash zur Erlaumluterung der These

elle Probleme der Polis versteht Aristoteles die Politie zunaumlchst alsVerfassung die die Ursachen der oft blutigen Dauerkonflikte zwi-schen Oligarchen und Demokraten aufzuheben verspricht daruumlberhinaus entwickelt Aristoteles eine an Platons Idealstaat erinnerndezweite Version von Politie und zwar im Blick auf die Planungen Phi-lipps II mit einem panhellenischen Heer die Aumlgaumlis in ein makedo-nisches Meer zu verwandeln und die Jonier in Kleinasien von derPerserherrschaft zu befreien Die erstere Politie der Buumlcher IV bis VIbesteht in einem auf Aussoumlhnung der Konfliktparteien zielenden Ver-fassungsentwurf und entsprach somit der zum Schlagwort erhobenenWunschvorstellung der Zeit naumlmlich der inneren Eintracht (ὁμό-νοια) Die andere Politie in Buch VII enthielt die Grundlegung derLebensordnung griechischer Groszligbuumlrger die sich im befreiten Jonienansiedeln sollten Auch diese Verfassung kam zumindest indirekteiner Wunschvorstellung der Zeit entgegen naumlmlich dem Wunschnach gemeinsamem Frieden (κοινὴ εἰρήνη) der griechischen Staumldteuntereinander denn ehemalige Feinde koumlnnten umso leichter Friedenschlieszligen und Freunde werden wenn sie sich als Eroberer zum Kampfgegen einen gemeinsamen Gegner verbuumlnden Vorrangig angespro-chen sollten sich allerdings Groszligbuumlrger fuumlhlen die mit ihrem Lebenin den demokratischen Staumldten Griechenlands unzufrieden warenund einer auf oligarchischen Idealen gegruumlndeten Polis den Vorzuggaben

Obwohl Aristoteles dank seiner hermeneutischen Vorgehens-weise keineswegs an den Adressaten vorbeiredete sollte sich schonbald abzeichnen dass aus je verschiedenen Gruumlnden sowohl die prag-matische als auch die ideale Politie abgewiesen wurden Aristoteleswar daruumlber nicht entmutigt sondern verfolgte seinen hermeneuti-schen Ansatz nur noch strikter in dem was ist das Wesentliche zubegreifen Das was ist also das politisch Dominierende war nun un-bestritten die demokratische Verfassung der Athener denen dieSchule ndash und das durchaus auch den Tatsachen zuwider ndash die Ver-nachlaumlssigung ihrer eigenen Gesetze gleichsam als Erbuumlbel immerwieder vorgehalten hatte Die raquoVerfassung der Athenerlaquo (Ἀθηναίωνπολιτεία oder kurz AP) nimmt und sei es unausgesprochen dieeinst auch von Aristoteles selbst mitgetragene Kritik der Schule zu-ruumlck und bedeutet dieser implizit dass sie sich selbst um Glaub-wuumlrdigkeit und Uumlberzeugungskraft bringt wenn sie offen am Tageliegende Sachverhalte systematisch in Abrede stellt Die AP ist dieAnerkennung der Tatsache dass den Athener Demokraten im vierten

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Einleitung ndash zur Erlaumluterung der These

Jahrhundert die Vollendung eines widerspruchsfrei verfassten Geset-zesstaates gelungen ist der im Uumlbrigen nicht von einem kuumlnstlichgesetzten Nullpunkt ausgegangen ist sondern hermeneutisch rekon-struierbar sich in organischem Wachstum seit Ion und Theseus in elfWenden entwickelt hat Der Ton der AP liegt nicht darauf dass kom-promissbereite Philosophie die Welt vor der ihr sonst eigenen Radi-kalitaumlt verschonen will sondern auf der im theoretischen Zusehengewonnenen Einsicht dass die Stadt gerade das philosophische Ur-anliegen der Gesetzestreue immer schon als legitimierendes Prinzipihres Handelns befolgt hat Die hermeneutische Zirkelstruktur be-steht also darin dass die Philosophie der Stadt dies als das an ihrWesentliche erklaumlrt was sie selbst hervorgebracht hat

Der Einfluss der Akademie und des Lykeion endete aber keines-wegs abrupt mit dem Jahre 322 als die Athener ihre Souveraumlnitaumlteinbuumlszligten und damit die unumgehbare Voraussetzung einer auf Sitt-lichkeit bestehenden politischen Theorie Dank makedonischer Un-terstuumltzung erzielten die Schulen durch Phokion und Demetrios Pha-lereus in den folgenden Jahren sogar weitaus mehr politischeWirkung als die beiden Gruumlnder zu ihren Lebzeiten Ebendiesem Er-folg hatten indes im Jahre 307 die Schulen den entscheidenden Ruumlck-schlag zu verdanken als der aus ihren Reihen hervorgegangeneDemetrios Phalereus nach zehnjaumlhriger Herrschaft aus der Stadt ver-trieben wurde Rigide Entmuumlndigung der Buumlrger bei eigenem Nar-zissmus samt Selbstbereicherung brachten nicht nur Demetrios selbstum jeden Kredit sondern auch die Philosophie der Akademie und desLykeion nach deren Vorgaben er als ihr Angehoumlriger in Athen regierthatte Die empoumlrten Demokraten reagierten mit der Androhung derTodesstrafe und Verbannung der Philosophen und unter Philoso-phen verstanden sie unterschiedslos alle Platoniker und AristotelikerMit dieser harschen Reaktion laumluteten die Athener zugleich die Ge-burtsstunde der Stoiker ein die gleichsam in ihrer Gruumlndungsurkun-de festschrieben dass ihre Ethik die Sittlichkeit der Schule und nichtdie Sittlichkeit der Stadt zum Gegenstand habe Die Stoiker erkann-ten dass sie die Philosophie unter Wahrung ihrer Autonomie nurfortfuumlhren konnten wenn sie der Stadt versicherten dass sie andersals Platon und Aristoteles ihre Gesetzgebung ausschlieszliglich fuumlr ihreSchule als geschlossene secta erlieszligen Die erklaumlrtermaszligen der Poliszugewandte Philosophie die Platon und Aristoteles gemeinsam ver-treten hatten war ihnen nunmehr gemeinsam zum Verhaumlngnis ge-worden

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Einleitung ndash zur Erlaumluterung der These

Unter dem Druck der politischen Umstaumlnde beschlossen dieStoiker ihre Sezession und erklaumlrten die Beschaumlftigung mit der Polisals einst zentrales Thema der Philosophie fuumlr nichtig Daruumlber hinausdistanzierten sie sich ebenfalls noch in manch anderem Punkt vonPlaton und Aristoteles wenn sie etwa im Felde der theologia und derAffektlehre Theoreme vortrugen die erst angesichts der Lage seit 307auf die Tagesordnung gerieten So antworteten sie auf den Herrscher-kult der implizit die unsterblichen Goumltter zu zweitrangigen Groumlszligenherabstufte mit der providentia-Lehre um zu demonstrieren wessenFuumlrsorge in Wahrheit die Menschheit ihr Uumlberleben zu verdankenhabe Da aber die Goumltter bei rehabilitierender Bestaumltigung ihrer ndashden kultisch verehrten Diadochen uumlberlegenen ndash Allmacht zwingendauch fuumlr alle Uumlbel in derWelt verantwortlich waren musste Chrysippden Streit zwischen Homer und Platon ob die Goumltter fuumlr alles odernur fuumlr das Gute zustaumlndig seien erneut austragen Es war also letzt-lich das aumluszligere Phaumlnomen des Herrscherkultes der diesen Streit un-ter den Gelehrten ausloumlste Aumlhnlich lagen die Dinge beim Problemder Affekte Der dank der politischen Ereignisse des Jahres 307 er-zwungene Ruumlckzug der Philosophie auf sich selbst war nur unter derBedingung entschieden abschirmender Selbstbehauptung nach auszligenertraumlglich Dieselbe Bedingung der Autonomie musste aber auch nachinnen erfuumlllt sein und zwar gegen ein ganzes Buumlndel von denkbarenAffekten die bei Verzicht auf ihre Einhegung die muumlhsam nach au-szligen behauptete Souveraumlnitaumlt wieder untergraben haumltten Folgerichtigwar die Affektlosigkeit (ἀπάθεια) das zentrale Thema der stoischenEthik ndash mit dem Ziel der Wahrung der inneren Autonomie Die Stoi-ker konnten daher nicht das Risiko eingehen die Behandlung derAffekte wie Aristoteles wollte eher beilaumlufig den Nachwirkungender von der tragischen Dichtung ausgeloumlsten Katharsis zu uumlberlassenStattdessen mussten die Stoiker darauf bedacht sein eine spezielleTherapie fuumlr den Fall zu entwickeln dass wie zu befuumlrchten denAffekten katechismuswidrig hier und da eben doch ein Ausbruch ge-lingen sollte

Obwohl die Stoiker als die neuen Meinungsfuumlhrer Platon undAristoteles fuumlr Jahrhunderte in den Hintergrund zu draumlngen ver-mochten mussten sie am Ende doch erleben dass die beiden Arche-geten im Status von unangefochtenen Klassikern ihre Renaissanceerlebten Zwar sicherten die Stoiker durch ihren weisen Ruumlckzug derphilosophia perennis die Kontinuitaumlt duumlrften aber am Ende aus dem-selben Grund dem sie ihr Entstehen verdankten wieder von Platon

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Einleitung ndash zur Erlaumluterung der These

und Aristoteles in den Schatten gestellt worden sein Denn Lehrerwie Schuumller verstanden anders als die Stoiker unter Schule stets eineInstanz der systematischen Beschaumlftigung gerade auch mit der Au-szligenwelt Dieser erweiterte Argumentbereich konnte dem Kreis umPlaton und Aristoteles schlieszliglich nicht mehr schaden als es keinedirekt angesprochenen Zeitgenossen mehr gab die sich durch ihreLehren und das Handeln ihrer Schuumller provoziert fuumlhlten Von sol-chen Gefuumlhlen unberuumlhrt suchen hingegen spaumltere Generationen beiPlaton und Aristoteles gerade wegen ihres umfassenden Blickfeldesnach Belehrung und gegebenenfalls Bestaumltigung eigener Theorienund das sowohl im Grundsaumltzlichen als auch in Einzelfragen

Platons Philosophie nahm ihren Ausgang von der ganz be-stimmten Frage der Apologie wie Sokrates der gerechteste BuumlrgerAthens gegen die Asebieklage des Anytos Meletos und Lykon zuverteidigen sei In den Kategorien der Theorie der Rhetorik haumltte die-se Frage als eine quaestio finita gegolten die im Verfolg eine Fuumlllevon sich anschlieszligenden quaestiones infinitae ausloumlsen sollte wienaumlmlich ein gerechter Staat moumlglich sei der vom Geist seiner gerech-ten Buumlrger gepraumlgt waumlre Mit dem daraus erwachsenen Fundus vonFragen und erteilten Antworten haben Platon und entsprechend Aris-toteles der Nachwelt einen geistigen Reichtum hinterlassen dem sieschlieszliglich ndash nach zwischenzeitlicher Suspendierung ndash ihre Anerken-nung als unumstrittene Klassiker bis in unsere Tage zu verdankenhaben Angesichts solcher Hinterlassenschaft darf sich die Philo-sophie mit gutem Gewissen als Vergegenwaumlrtigung ihrer eigenen Ge-schichte definieren Vergegenwaumlrtigung wiederum ist im weitestenSinne das Gemeinschaftswerk der subtilitas intellegendi und der sub-tilitas applicandi und das so bestimmte Vorgehen ist auch dieVoraussetzung fuumlr die Zeugenrolle die Platon und Aristoteles beider philosophischen Begleitung der Preuszligischen Reformen durchG W F Hegel und erneut bei der geistigen Gruumlndung der Bundes-republik nach dem ZweitenWeltkrieg durch Joachim Ritter und seineSchuumller spielten Dass Platon und Aristoteles fuumlr den buumlrgerlichenRechtsstaat in den Zeugenstand traten setzt den hermeneutischenPhilosophiebegriff voraus demgemaumlszlig die Philosophie auf der Praumlsenzihrer eigenen Geschichte beruht Damit ist zugleich die Frage nachden Aussichten einer umfassenden Erneuerung der praktischen Phi-losophie gestellt der sich so lautet unsere These Joachim Ritter undseine Schuumller widmeten indem sie dem Primat der praktischen Ver-nunft die Ehre erweisend die klassischen Disziplinen der philosophia

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Einleitung ndash zur Erlaumluterung der These

practica universalis ndash Ethik Politik Oumlkonomik ndash schrittweise auf-nahmen und in ein systematisches Verhaumlltnis zur modernen Weltsetzten

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Einleitung ndash zur Erlaumluterung der These

Hermeneutikgeleitete Chronikder Wege und Umwege derphilosophia practica universalisvon den Anfaumlngen bis in die Gegenwart

Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

Vom Ende her gesehen koumlnnte leicht der Eindruck entstehen Platon(42827ndash34847) habe sich von vornherein als Lebenswerk die Gruumln-dung einer philosophischen Schule zum Ziel gesetzt in deren Mittel-punkt die Ausbildung einer systematischen politischen Theoriestehen sollte Dieser Eindruck taumluscht indes Wie Platon selbst imVII Brief (324 Bndash326 D) seinen Werdegang darstellt hatte er ur-spruumlnglich gar nicht die Absicht eine Schule zu gruumlnden die sichphilosophisch mit dem Staat befasste Stattdessen draumlngte er zunaumlchstauf eigenes politisches Handeln als er in der Herrschaft der DreiszligigTyrannen (40403) eine Chance sah einen Staat zu errichten der freiwar von den Schwaumlchen der Demokratie Enttaumluscht musste er aberbald erkennen dass die fruumlheren Verhaumlltnisse in der Demokratie ver-glichen mit der Gegenwart unter den Dreiszligig Gold (sic) waren Fol-gerichtig wandte er sich von den Dreiszligig ab und war nach deren Sturzwiederum bereit zu politisch aktiver Taumltigkeit wurde aber erneut ent-taumluscht ndash durch das Todesurteil gegen Sokrates den Mangel an poli-tischen Freunden die grassierende Geringachtung der Gesetze unddie Inthronisierung der Lust (ἡδονή) als Maszlig der Dinge Erst darauf-hin widmete sich Platon der theoretischen Beschaumlftigung mit demwahren Staat nicht ohne fuumlr erneute praktische Taumltigkeit in der Poli-tik bessere Zeiten abzuwarten die dann eintraumlten wenn wahrhaftePhilosophen die Herrschaft im Staat uumlbernaumlhmen und nicht die durchdas Los ins Amt befoumlrderte Inkompetenz Seine Philosophie war alsoOpposition auszligerhalb der politischen Buumlhne gedacht als ungewollteZwischenphase die erst endete wenn die Staumldte nach philosophi-schen Grundsaumltzen verfasst waumlren Die Gruumlndung der Schule erfolgtealso eher aus Verlegenheit sie war nicht die erfolgreiche Ausfuumlhrungeiner urspruumlnglichen Absicht

Mit seinem Bericht im VII Brief laumlsst Platon also durchblickendass er gleichsam widerWillen die Akademie als Schule gruumlndete undderen erstes Schulhaupt wurde Die Schule galt Platon als Surrogateiner Polis der vollendeten Sittlichkeit Folgerichtig war das Leit-thema der Schule die Lehre vom wahren Staat der das bloszlige Surrogatwieder uumlberfluumlssig machen sollte Platon verschweigt auch nicht vonwelchem Standpunkt aus er die Grundzuumlge des idealen Staates ent-wickelte Waumlhrend er die Schwaumlchen der Demokratie eher in derenStrukturen suchte ortete er die Schwaumlchen der Oligarchie im persoumln-lichen Versagen insbesondere der Dreiszligig Tyrannen Demgemaumlszlig plauml-

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dierte er fuumlr eine zu wahrer Aristokratie veredelte Oligarchie die vonindividuellen und strukturellen Defiziten frei war Diese dem Best-moumlglichen verpflichtete Parteinahme erfuumlllte zugleich die Anforde-rungen einer auf Widerspruchsfreiheit bedachten Theorie sofernPlaton alle seine politischen Vorstellungen auf Vernunftbegriffe zu-ruumlckfuumlhrte und nie vergaszlig sie geltend zu machen wo immer ihreBeachtung zwingend geboten war Mag es Platon auch nicht gelungensein in Athen einen Wiedergaumlnger des Sokrates als philosophischenHerrscher zu bestallen und auf diese Weise sein praktisches Ziel zuerreichen so bleibt doch als Ergebnis seiner Anstrengungen zumin-dest als Fortschritt im Bewusstsein dies bestehen dass von nun anpolitische Vorgaumlnge unvermeidlich von der Aufmerksamkeit einerauszligerhalb der politischen Buumlhne angesiedelten Vernunftkritik beglei-tet wurden Insofern blieb Platons mutiger Schritt eine politischeEntitaumlt systematisch in Zweifel zu ziehen und sie auch noch miteinem Gegenmodell zu konfrontieren nicht ohne kuumlnftige Folgen

Einstweilen blieb aber Platons politische FundamentaloppositionSache der Schule deren Eigengesetzlichkeit sich auf die inhaltlicheWeiterarbeit spuumlrbar auswirken sollte Zur (nachsokratischen)Grund-ausstattung der Schule gehoumlrte die Schriftlichkeit die Platon in nichtgeringe Verlegenheit brachte weil er auf unmittelbare Praumlsenz derVernunft setzte und nicht auf eine mittelbare die sich auch nochdurch Ablage ins Buumlcherregal unschaumldlich machen lieszlig1 Zudemzeichnete sich uumlber das politische Kerninteresse hinaus eine durchschultypisches Weiterfragen ausgeloumlste Verfaumlcherung ab die Platonnoch identitaumltsphilosophisch aufzufangen vermochte die aber auflange Sicht jenseits der Politik zur Etablierung von Einzeldisziplinenwie Ontologie Kosmologie Mathematik und Erkenntnistheorie fuumlhr-te Den Sophisten ging es aumlhnlich wie Sokrates von Protagoras er-faumlhrt Nur bei ihm selbst erfuumlhren die Schuumller das Noumltige uumlber ihrKerngeschaumlft das Haus gut zu verwalten und sich auf der Agoraacute zubewaumlhren waumlhrend sie bei anderen Sophisten wie Hippias von Elisverdorben wuumlrden weil diese sie mit Unnuumltzem wie Arithmetik As-tronomie Geometrie und Dichtung traktierten2 So weitete also auchdie Schule Platons allmaumlhlich ihren Themenkreis immer weiter aus

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Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

1 Auf dieses Merkmal der Schule ist G Bien naumlher eingegangen Das Theorie-Praxis-Problem und die politische Philosophie bei Platon und Aristoteles in Phil Jb 76(196869) 264ndash314 hier S 307ndash3132 Platon Protagoras 318 Dndash319 A

je mehr ihre Vorlaumlufigkeit die mit einem politischen Erfolg der Fun-damentalopposition ihr Ende finden sollte in Vergessenheit gerietAristoteles sollte an seinem Lehrer in der Sache manche Kritik uumlbenaber die Regeln der Institution Schule ihre Hinwendung zur Schrift-lichkeit und ihre Etablierung von Einzeldisziplinen (Pragmatien) ver-standen sich fuumlr ihn schon von selbst

Aristoteles (384ndash322) hatte als Siebzehnjaumlhriger seine makedo-nische Heimat verlassen um sich im Jahre 36766 der Akademie an-zuschlieszligen Da war Platon schon uumlber fuumlnfzig Jahre alt und hatteseine philosophische Arbeit dogmatisch abgeschlossen Da er in die-sen Tagen kurz vor seiner zweiten Reise nach Syrakus stand hat ervielleicht erst nach seiner Ruumlckkehr erkannt wer von nun an seinbegabtester Schuumller war Als Aristoteles einmal bei einer Vorlesungfehlte rief Platon verzweifelt aus raquoDer Geist ist nicht zugegenstumpf ist da die Houmlrerschaftlaquo ndash im Original ein ausgefeilter jambi-scher Trimeter ὁ νοῦς ἄπεσ|τιν κωφὸν τἀκ|ροατήριον3 Aristote-les wird sich dieses Lob seines Lehrers gewiss bei vielen Gelegenhei-ten verdient haben nicht zuletzt aber dank der Art wie er sich beiPlatons beruumlhmter Altersvorlesung raquoUumlber das Gutelaquo4 bewaumlhrte Alsdieser das Gute kosmologisch im zahlhaft bestimmten Einen verorte-te blieben die Houmlrer einer nach dem anderen enttaumluscht der Vor-lesung fern weil sie Ausfuumlhrungen uumlber seelische koumlrperliche undaumluszligere Guumlter im gemeinen Verstande erwartet hatten Auf diese Re-aktion der Houmlrer hatte Platon nur gewartet er wollte wissen wer mitseinem Vorstellungshorizont uumlber den der Menge hinausging undsich damit als genuiner Philosoph erwies Tatsaumlchlich harrten nurwenige Houmlrer bis zum Ende aus und empfingen den Ritterschlageines wahren Philosophen darunter natuumlrlich Aristoteles Dieser er-klaumlrte allerdings spaumlter er werde sich an das allgemein Anerkanntehalten statt aus dem Satz dass das Eine ein Gut sei herzuleiten dassdie Gerechtigkeit ein Gut sei5

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Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

3 Zitiert nach V Rose Aristotelis qui ferebantur librorum fragmenta collegit V RLeipzig 18701886 repr Stuttgart 1967 S 4284 Das Vorlesungsmanuskript ist im Original nicht erhalten Die zahlreichen Para-phrasen bei anderen Autoren hat W D Ross Aristotelis Fragmenta Oxford 1935S 111ndash120 gesammelt5 Aristoteles Eudemische Ethik 1218 a 15ndash22 Der Aristotelesschuumller Aristoxenosbestaumltigte diese Reaktion seines Lehrers in seinen ἁρμονικὰ στοιχεῖα (ed P Mar-quard Die harmonischen Fragmente des Aristoxenos Berlin 1868 S 30) und fuumlgtehinzu es empfehle sich zu Beginn einer Vorlesung sein Thema genau anzukuumlndigen

Im Uumlbrigen sparte auch Aristoteles nicht mit Lob auf seinenLehrer Im Rahmen seiner Inschrift auf einem Altar der Freundschaftden Eudemos von Kypros von einer Reise nach Athen zuruumlckgekehrtgestiftet hatte ruumlhmt Aristoteles Platon als Mann den schlechteMenschen nicht einmal loben duumlrften und als Mann der als Ersterunter den Menschen durch eigene Lebensfuumlhrung und vorgetrageneGruumlnde demonstriert habe dass der gute Mann ebendeshalb auch dergluumlckliche Mann ist Zwar taucht im uumlberlieferten Text der Distichenweder der Name Platons noch der des Eudemos auf Olympiodor ver-sichert aber Aristoteles habe in seiner Widmung an den Stifter Eude-mos ebendieses Lob auf Platon ausgesprochen6 Bei welchem Lehrerhaumltte Aristoteles auch besser lernen koumlnnen wie man wesentlicheaber oft uumlbersehene Fragen stellt wie man fuumlr andere uumlberraschendauf Zusammenhaumlnge und Widerspruumlche aufmerksam macht wieman auf den ersten Blick unerkannte Implikationen und Konsequen-zen herausarbeitet wie man unzureichend Bewiesenes als solchesidentifiziert wie man einmal erzielte Uumlbereinkuumlnfte stets im Ge-daumlchtnis praumlsent haumllt wie man seine Argumente durch Ruumlckfuumlhrungauf Gruumlnde und Ursachen als anerkannte Berufungsinstanzen uumlber-zeugend vortraumlgt

Zur gegenseitigen Wertschaumltzung aufgrund ihrer intellektuellenVorzuumlge gesellte sich die politische Uumlbereinstimmung beider Philoso-phen die neben der Sympathie fuumlr Makedonien die entschieden ab-lehnende Haltung gegenuumlber der attischen Demokratie betraf FuumlrPlaton fiel die Suche nach der gerechten Polis als dem hiesigen Kor-relat des absolut Guten mit entschiedener Demokratiekritik zusam-men Seine politische Leitidee bildete die Gerechtigkeit als Einheit derKardinaltugenden mit dem Ziel der Baumlndigung des sinnlichen Inte-resses (ἡδονήvoluptas) waumlhrend in seinen Augen die demokrati-schen Leitideen der Gleichheit und Freiheit lediglich auf eine Beschouml-nigung der voluptas als des wahren Bestimmungsgrundes der Mengehinausliefen Diesen von voluptas durchdrungenen Staat sah Platonals derart heillos verfahren an dass er anknuumlpfende Schritt-fuumlr-Schritt Reformen gar nicht erst in Betracht zog Stattdessen setzte

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Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

und wenn man Paradoxes vortragen wolle dies auch unmissverstaumlndlich zu sagen Sobliebe den Houmlrern die Enttaumluschung erspart wenn sie in Erwartung einer Belehrunguumlber Guumlter wie Reichtum Gesundheit Gluumlck am Ende lediglich die blasse Auskunfterhielten das Gute sei Eines6 Olympiodoros in Platonis Gorgiam XLI 10 ad p 515 C

Platons politische Opposition mit anderen Mitteln7 auf eine vomNullpunkt aus fehlerfrei in Gedanken durchkonstruierte Polis in derdie schon seit Kleisthenes bestehende Einheitlichkeit und Geschlos-senheit des Gemeinwesens gewahrt blieben aber konkrete demokra-tische Komponenten wie Rat und Volksversammlung Geschwore-nengericht und Flotte Panathenaumlen Dionysien und Eleusinien nichteinmal dem Namen nach vorkamen Bei dieser Konstellation gerietenSchule und Polis zwangslaumlufig in ein Verhaumlltnis sich gegenseitigenIgnorierens Die Schule fuumlhrte ihre Debatten als private Institutionohne Beruumlcksichtigung der Vorgaumlnge auf der Agoraacute und die Agoraacutemuumlhte sich mit den ihr eigenen Mitteln um eine Konsolidierung derdemokratischen Institutionen ohne die Einwaumlnde der Schule zurKenntnis zu nehmen Nun mag Platon einen offenbar unpolitischenweil von den Realitaumlten abgehobenen Ausgangspunkt gewaumlhlt unddamit seiner Weiterarbeit wie spaumlter die hermeneutisch argumentie-rende Kritik des Aristoteles zeigen sollte einen schlechten Dienst er-wiesen haben aber ihn leitete ohne jeden Zweifel ein handfestes Mo-tiv und eine daraus abgeleitete allgemeine bis in unsere Tage zubeherzigende Grundeinsicht

Platons Schluumlsselerlebnis war das Todesurteil gegen Sokratesdas eine Mehrheit unter fuumlnfhundert Geschworenen faumlllte obwohlsich Sokrates in allen Anklagepunkten ganz offenkundig als nichtschuldig erwiesen hatte Moumlglich wurde diese Gerichtsentscheidungweil es den Anklaumlgern wie routinierten Demagogen gelang mit ihrenUnwahrheiten eine ignorante Menge auf ihre Seite zu ziehen In derTat hatten sie wie Sokrates gleich im zweiten Satz der Apologie aus-ruft nicht ein einzigen wahren Satz vorgetragen (ἀληθές γε hellip οὐ-δὲν εἰρήκασιν) Der offenbar unausrottbaren Moumlglichkeit dass De-magogen gerade mit der Unwahrheit Mehrheiten fuumlr sich gewinnenkoumlnnen galt zeitlebens Platons kritische Aufmerksamkeit Tatort wa-ren nicht nur die Geschworenengerichte sondern nicht minder dieVolksversammlung in der interessierte Redner Mehrheitsbeschluumlsse(ψηφίσματα) herbeifuumlhrten mit denen sie bestehende Gesetze un-terliefen8 Auch fuumlr dieses Fehlverhalten gab es eine Schluumlsselszeneals naumlmlich im Zuge des Arginusenprozesses ein Mann aus der auf-gehetzten Menge rief es sei eine Ungeheuerlichkeit wenn man denDemos nicht tun lasse was er wolle und gleich darauf durchgesetzt

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Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

7 Platon VII Brief 325 Endash326 A8 Ebd 325 DndashE

wurde dass die angeklagten Seeoffiziere en bloc verurteilt wurdenund nicht wie es das Gesetz verlangte jeder einzeln Der Einzigeder sich diesem rechtswidrigen Beschluss widersetzte war Sokrates9

Dass dieser Staat ausgerechnet seinen gerechtesten Buumlrger zumTode verurteilt hatte hat Platon nie verziehen Da indes die aus-schlaggebende Mehrheit der Geschworenen ihr Urteil wohl kaumfuumlr ungerecht hielt sah Platon sich verpflichtet allen ebenso gesinn-ten Athenern vorzutragen was an und fuumlr sich Gerechtigkeit wirklichist und zwar in der Politeia aus dem Munde eben des Sokrates Danun der Staat fuumlr die Gerechtigkeit der groumlszligere und besser sichtbareBewaumlhrungsort ist als der Einzelne schlug Sokrates vor den Begriffvon Gerechtigkeit zunaumlchst im Blick auf den Staat zu entwickeln (Po-liteia 368 E 472 B) Die Frage nach der Gerechtigkeit konkretisiertesich auf diese Weise zur Frage nach dem gerechten Staat Folgerichtigsetzte Platon im Geist des Sokrates der attischen Demokratie mitihrem falschen Machtwillen einen auf reiner Vernunft beruhendenIdealstaat entgegen von dessen Vorzuumlgen er vielleicht schon dienaumlchste Generation der Athener zu uumlberzeugen hoffte10 anderenfallskoumlnne man nur noch auf einen Gluumlcksschlag von auszligen (τύχη) set-zen oder dass sich dank goumlttlicher Fuumlgung ein Staatenlenker mit derPhilosophie befasse11 Die Befuumlrchtung der Philosoph koumlnne in seinereigenen Stadt wenn uumlberhaupt dann nur dank goumlttlicher Fuumlgung po-litisch taumltig werden (Politeia 592 A) wollte Platon allerdings fuumlr sichnicht als Entschuldigung gelten lassen im Gegenteil Platon ver-sicherte er sei eigens nach Syrakus gereist damit man ihm nicht vor-halten koumlnne er sei nur im Felde der Theorie stark ziehe sich aberzuruumlck wenn es an die praktische Ausfuumlhrung gehe (VII Brief328 C) Vielmehr war fuumlr ihn der gerechte Staat Inhalt philosophi-scher Reflexion mit dem Ziel seiner Verwirklichung

Im idealen Staat darf die Entscheidungsbefugnis nur bei Buumlrgernliegen die allein durch philosophisch uumlberpruumlfte Qualifikation undnicht durch Loswahl in ihr Amt gelangt sind Nur wer die Houmlhle derdie Menge auszeichnenden Kurzsichtigkeit verlassen und dank uumlber-legener Vernuumlnftigkeit die Idee des Guten geschaut hat vermag pri-vat wie oumlffentlich vernuumlnftig zu handeln12 eben seitdem er sich von

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Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

9 Xenophon Hellenika 1 7 12ndash16 Vgl unten Anm 38 S 137 und Anm 17 S 14810 Platon Politeia 315 CndashD11 Platon VII Brief 326 A12 Platon Politeia 517 C

der Aussageabsicht der drei beruumlhmten Gleichnisse hat uumlberzeugenlassen dass naumlmlich das Gerechte das Gute ist und nicht das sinnlicheInteresse der auf den Schein fixierten Menge13 Entsprechend heiszligt esin Platons 8 Brief (355 A) Fuumlr besonnene Menschen ist Gott das Ge-setz fuumlr die unvernuumlnftigen ist es die Lust Das Gute hat also densel-ben Stellenwert wie Gott und bildet wie dieser insofern den Welt-grund als es weil jenseits (ἐπέκεινα) des daseienden Universumsangesiedelt im Rang noch uumlber dieses hinausragt und sich heilsambewaumlhrt indem es dank seinem Sproumlssling dem Sonnenlicht Orien-tierung durch Sichtbarkeit der Dinge sowie Leben Wachstum undGedeihen moumlglich macht14 Die Ausrichtung amGuten als Weltgrunderhebt das Gerechte zur unbedingten Handlungsnorm fordert abernicht nur sondern gewaumlhrt in einem damit den Buumlrgern auch wahr-haft praktischen Nutzen naumlmlich das Leben im sittlichen Gesetzes-staat ndash die Frucht eben der Herrschaft der Gerechtigkeit15 Damit istdie Frage zu deren Beantwortung Sokrates die drei beruumlhmtenGleichnisse vortrug naumlmlich ob Lust oder das Gerechte das wahreGut ist beantwortet und die implizit gegebene Antwort die auf derUnterscheidung der vier Erkenntnisstufen im Liniengleichnis beruhtbesagt dass die beschraumlnkten intellektuellen Moumlglichkeiten der Men-ge zu dieser Einsicht nicht ausreichen diese also fuumlglich zu entmuumln-digen ist schon um den Demagogen ein leichtglaumlubiges Publikum zuentziehen

Der Form nach stand bei aller Reserve Platon durchaus in derSchuld der Demokraten Sie waren es die unter Kleisthenes den atti-schen Staat als rational verwalteten Einheitsstaat geschaffen hattender nicht mehr nach Staumlmmen Sippen und oumlrtlich bedingten Loyali-taumlten fragmentiert war Unter Phylen verstand Kleisthenes nichtmehr den Oberbegriff vertikal strukturierter Personenverbaumlnde son-dern horizontal strukturierter einheitlich verwalteter Bezirke nachdem Territorialprinzip Das Volk der Athener (ὁ τῶν Ἀθηναίων δῆ-μος) trat an die Stelle der Klientel wie in Rom der populus Romanusan die Stelle der gentes Platon musste also das Prinzip staatlicherEinheit selbst nicht mehr erfinden wohl aber dem Inhalt nach fuumlr alleZukunft beschlieszligen dass nicht nur dieser sondern jeder Staat sei-nem Wesen gemaumlszlig in der Pflicht sei sich als raquoWirklichkeit der sitt-

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Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

13 Ebd 505 B14 Ebd 509 AndashB15 Ebd 505 A

lichen Ideelaquo (Hegel) zu bewaumlhren Uumlber diesen Beschluss hinausdachte Platon noch einen Schritt weiter denn es konnte nicht ge-nuumlgen einen Staat philosophischer Sittlichkeit lediglich zu gruumlndener musste auch erhalten werden ndash durch ein Kollegium integrer Ge-setzeshuumlter die das muumlhsam Erreichte unveraumlndert zu bewahren hat-ten16 Diese Position waumlre etwa im Arginusenprozess unbesetzt ge-wesen haumltte Sokrates sie nicht eingenommen und auf Einhaltungder Gesetze bestanden

Ebenso wie die vorgegebene Staatlichkeit hat auch das mit dieserverbundene demokratische System der Rechtspflege das das archai-sche Selbsthilfeprinzip abloumlste Eingang in Platons Philosophie gefun-den Die archaische Selbsthilfe bestand darin dass die durch einenUumlbergriff beleidigte Sippe der Sippe des Taumlters die Fehde ankuumlndigte(πρόρρησις) deren Beendigung durch Abschluss eines Suumlhnevertra-ges (αἴδεσις) erfolgte Dass bei dieser Form der Konfliktbeilegungdurch Aussoumlhnung die staumlrkere Sippe in der Regel ihre Loumlsungsvor-stellungen durchsetzte liegt auf der Hand Der Schritt fuumlr Schritterfolgte Gerichtszwang durch den der Staat erst allmaumlhlich das Mo-nopol der Rechtspflege uumlbernahm hatte zum Ziel dass anstelle zufaumll-liger Machtverhaumlltnisse die Systematik von Recht und Gesetz imStreit der Parteien entscheidet17 Diesen Sinn der nacharchaischenRechtsprechung hat Ovid mit dem Hexameter zusammengefasstinde datae leges ne firmior omnia posset (Fasten 3 279) Im Gor-gias-Dialog haumllt nun Platon der Rhetorik vor sie sei der methodischeVersuch gerade diese Errungenschaft der Rechtsprechung ruumlckgaumln-gig zu machen Kallikles ein Anhaumlnger des Rhetoriklehrers Gorgiasspricht unverhohlen aus dass Herakles voumlllig im Recht war Geryonesseine Rinder die er weder gekauft noch zum Geschenk erhalten hatteohne Bedenken zu stehlen da das von Natur Gerechte darin bestehedass alles Eigentum der Schwaumlcheren in Wahrheit dem Staumlrkeren ge-houmlre18 Sokrates haumllt Kallikles entgegen dass wahre Uumlberlegenheitnicht im Mehr-haben-Wollen sondern im Sittlich-besser-Sein be-stehe und beruft sich damit ebenso wie die Rechtsprechung auf ein

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Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

16 Platon Politeia 484 B Nomoi 752 DndashE 754 Dndash755 C 770 AndashD 847 AndashD 959 Dndash961 CIm Abschnitt zu raquoDemetrios Phalereus ndash oder die vierzehnte Wendelaquo wird diese pla-tonische Vorgabe noch eine wesentliche Rolle spielen17 Zu diesen nicht leicht zu rekonstruierenden Prozessen sei auf die im Literaturver-zeichnis genannten Aufsaumltze von E Ruschenbusch verwiesen18 Platon Gorgias 484 BndashC

systematisches Kriterium um die individuelle Machtperspektive inSchranken zu weisen Dass Sokrates bei seinem Gespraumlchspartnermit dieser Argumentation nicht durchdringt ist allein der Borniert-heit des Kallikles zuzuschreiben

Es ist nicht zu leugnen dass Platon ebenso wie der Oligarch Kal-likles den Besseren das Wort redete aber unter den Besseren wirklichBessere verstand die den Staat als sublimierte Oligarchie tragen soll-ten Von dieser Staatslehre gilt es also zu uumlberzeugen und das ver-suchte Platon auch ganz im Sinne des Sokrates zunaumlchst durch sach-liche Gespraumlchsfuumlhrung oder Dialektik (διαλέγεσθαι) die mitkurzen Saumltzen Rechenschaft fordert und gewaumlhrt Sokrates mochtekeine langen Reden die geeignet sind das Ausgangsthema nach eini-ger Zeit aus den Augen zu verlieren19 Auch mochte es Sokrates garnicht wenn Unterredner sich streitsuumlchtig (ἐρίζειν) an Worten fest-bissen statt am intendierten Inhalt20 Das richtet sich gegen Protago-ras der als Erfinder der Eristik Wortklauberei betrieb statt sich aufdie Bedeutung des Sachverhalts zu konzentrieren21 Insgesamt ist diesokratische Version von Dialektik ein Gegenentwurf zur raquosogenann-ten Kunst der Rhetoriklaquo22 die lediglich den Uumlberredungserfolg zumZiel hat und nicht etwa wohlbegruumlndete Wahrheiten herausarbeitenwill Nun musste Platon etwa im Gespraumlch mit Kallikles im Gorgiasoder mit Thrasymachos im ersten Buch der Politeia erkennen dassgerade seine Sachlichkeit bei Boumlswilligen auf taube Ohren stoumlszligt Erentwickelte daher noch in der Politeia einen uumlber Sokrates hinaus-gehenden Begriff von Dialektik die nicht diskutiert sondern dekre-tiert nachdem diese durch reines auf das Gespraumlch mit sich selbstkonzentriertes Durchdenken des Wesentlichen frei von sinnlichenEindruumlcken zum Ziel der Erkenntnis des Guten gelangt ist (532 AndashB) Weil somit Dialektik zustaumlndig wird fuumlr die Vergegenwaumlrtigungdes Guten in der politischen Welt darf auch nur der ausgewieseneDialektiker Staatenlenker werden (534 CndashD) der auf seinen Einsich-ten beharrt auch wenn ihm seine Mitbuumlrger die Zustimmung ver-weigern Gegen vordergruumlndige Rechthaberei von wem immer sieausgeht verteidigt Platon das Prinzip vernuumlnftiger Argumentationgegen die Kraumlfte ihrer Blockierung

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Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

19 Platon Protagoras 336 AndashC Gorgias 474 B20 Platon Politeia 454 A21 Diogenes Laertios 9 5222 Platon Gorgias 448 D

Page 12: Platon und Aristoteles als Wegbereiter der praktischen ... · Differenzen zwischen Platon und Aristoteles ins Auge fallen. Wer jedoch Platon und Aristoteles zusammen gegen die später

dass im Mittelpunkt ihrer philosophischen Aufmerksamkeit nicht dieSchule selbst sondern die politischeWelt auszligerhalb der Schule standIhre theoretische Arbeit endete nicht esoterisch mit Saumltzen zur inne-ren Sittlichkeit der Schule vielmehr uumlberschritt sie diese Schrankeund widmete sich eingehend den sittlichen Normen der Stadt ohneuumlbrigens daruumlber die Ordnung des fuumlr diese Normen keineswegsgleichguumlltigen Makrokosmos zu vernachlaumlssigen Ihre Politik ist in-stitutionelle Ethik und umgekehrt setzt ihre Ethik auf einen Staatder die Buumlrger tugendhaft macht

Bei weiter ausholendem Hinsehen erweist sich die vielbeschwo-rene Kritik des Aristoteles an Platon eher als dessen staumlndiges Be-muumlhen das gemeinsame Ziel den sittlichen Staat vor selbstverschul-detem Scheitern zu retten Aristoteles war nicht Gegner Platonssondern dessen dankbarer Erbe der der geistigen Hinterlassenschaftseines Lehrers das Uumlberleben zu sichern suchte In dieser Absicht aumln-derte er das methodische Vorgehen von Grund auf Er schrieb denBuumlrgern nicht mehr vor wie sie sein sollten sondern registrierte her-meneutisch wie sie sind um zu ergruumlnden was in diesem Ist-Bestandan vernuumlnftiger Vorleistung als dasWesentliche immer schon enthal-ten ist Als Hermeneutik lehrt praktische Philosophie dass die unsitt-liche Stadt sich nicht im Widerspruch zu einer aumluszligeren Instanz son-dern zu ihr selbst befindet Folgerichtig sah Aristoteles das Idealzieldes Philosophen auch nicht im Amt des Herrschers der aufgrundabsolutenWissens die Lebensordnung diktiert Vielmehr war er uumlber-zeugt sein Amt angemessen auszuuumlben wenn er darauf setzte zuwerben zu beraten und mit Argumenten zu uumlberzeugen und daseben nicht als philosophischer Herrscher sondern als Lehrer seinerSchuumller als Berater Philipps II als Prinzenerzieher Alexanders alsErmunterer der Buumlrger im Einklang mit Sitte Recht und Anstandihr Gluumlck zu suchen Aristoteles sah bessere Chancen fuumlr die plato-nische Substanz wenn er diese auf der institutionellen Basis der vitacontemplativa als bestimmter Lebensform neben und nicht uumlber dervita activa zu wahren suchte um die aktiv Taumltigen aus der damitimmer noch bestehenden Distanz vermoumlge hermeneutischen Vor-gehens daruumlber aufzuklaumlren dass die ethische Lebensfuumlhrung gelingtwenn sie im Einklang mit den bestehenden Sitten erfolgt

In der Politik des Aristoteles ist somit Platons Vernunftstaatdurchaus praumlsent allerdings eben nicht in Gestalt radikaler System-kritik sondern unter dem Oberbegriff einer raquoPolitielaquo den er in auf-klaumlrender und beratender Absicht ins Spiel bringt Im Blick auf aktu-

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Einleitung ndash zur Erlaumluterung der These

elle Probleme der Polis versteht Aristoteles die Politie zunaumlchst alsVerfassung die die Ursachen der oft blutigen Dauerkonflikte zwi-schen Oligarchen und Demokraten aufzuheben verspricht daruumlberhinaus entwickelt Aristoteles eine an Platons Idealstaat erinnerndezweite Version von Politie und zwar im Blick auf die Planungen Phi-lipps II mit einem panhellenischen Heer die Aumlgaumlis in ein makedo-nisches Meer zu verwandeln und die Jonier in Kleinasien von derPerserherrschaft zu befreien Die erstere Politie der Buumlcher IV bis VIbesteht in einem auf Aussoumlhnung der Konfliktparteien zielenden Ver-fassungsentwurf und entsprach somit der zum Schlagwort erhobenenWunschvorstellung der Zeit naumlmlich der inneren Eintracht (ὁμό-νοια) Die andere Politie in Buch VII enthielt die Grundlegung derLebensordnung griechischer Groszligbuumlrger die sich im befreiten Jonienansiedeln sollten Auch diese Verfassung kam zumindest indirekteiner Wunschvorstellung der Zeit entgegen naumlmlich dem Wunschnach gemeinsamem Frieden (κοινὴ εἰρήνη) der griechischen Staumldteuntereinander denn ehemalige Feinde koumlnnten umso leichter Friedenschlieszligen und Freunde werden wenn sie sich als Eroberer zum Kampfgegen einen gemeinsamen Gegner verbuumlnden Vorrangig angespro-chen sollten sich allerdings Groszligbuumlrger fuumlhlen die mit ihrem Lebenin den demokratischen Staumldten Griechenlands unzufrieden warenund einer auf oligarchischen Idealen gegruumlndeten Polis den Vorzuggaben

Obwohl Aristoteles dank seiner hermeneutischen Vorgehens-weise keineswegs an den Adressaten vorbeiredete sollte sich schonbald abzeichnen dass aus je verschiedenen Gruumlnden sowohl die prag-matische als auch die ideale Politie abgewiesen wurden Aristoteleswar daruumlber nicht entmutigt sondern verfolgte seinen hermeneuti-schen Ansatz nur noch strikter in dem was ist das Wesentliche zubegreifen Das was ist also das politisch Dominierende war nun un-bestritten die demokratische Verfassung der Athener denen dieSchule ndash und das durchaus auch den Tatsachen zuwider ndash die Ver-nachlaumlssigung ihrer eigenen Gesetze gleichsam als Erbuumlbel immerwieder vorgehalten hatte Die raquoVerfassung der Athenerlaquo (Ἀθηναίωνπολιτεία oder kurz AP) nimmt und sei es unausgesprochen dieeinst auch von Aristoteles selbst mitgetragene Kritik der Schule zu-ruumlck und bedeutet dieser implizit dass sie sich selbst um Glaub-wuumlrdigkeit und Uumlberzeugungskraft bringt wenn sie offen am Tageliegende Sachverhalte systematisch in Abrede stellt Die AP ist dieAnerkennung der Tatsache dass den Athener Demokraten im vierten

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Einleitung ndash zur Erlaumluterung der These

Jahrhundert die Vollendung eines widerspruchsfrei verfassten Geset-zesstaates gelungen ist der im Uumlbrigen nicht von einem kuumlnstlichgesetzten Nullpunkt ausgegangen ist sondern hermeneutisch rekon-struierbar sich in organischem Wachstum seit Ion und Theseus in elfWenden entwickelt hat Der Ton der AP liegt nicht darauf dass kom-promissbereite Philosophie die Welt vor der ihr sonst eigenen Radi-kalitaumlt verschonen will sondern auf der im theoretischen Zusehengewonnenen Einsicht dass die Stadt gerade das philosophische Ur-anliegen der Gesetzestreue immer schon als legitimierendes Prinzipihres Handelns befolgt hat Die hermeneutische Zirkelstruktur be-steht also darin dass die Philosophie der Stadt dies als das an ihrWesentliche erklaumlrt was sie selbst hervorgebracht hat

Der Einfluss der Akademie und des Lykeion endete aber keines-wegs abrupt mit dem Jahre 322 als die Athener ihre Souveraumlnitaumlteinbuumlszligten und damit die unumgehbare Voraussetzung einer auf Sitt-lichkeit bestehenden politischen Theorie Dank makedonischer Un-terstuumltzung erzielten die Schulen durch Phokion und Demetrios Pha-lereus in den folgenden Jahren sogar weitaus mehr politischeWirkung als die beiden Gruumlnder zu ihren Lebzeiten Ebendiesem Er-folg hatten indes im Jahre 307 die Schulen den entscheidenden Ruumlck-schlag zu verdanken als der aus ihren Reihen hervorgegangeneDemetrios Phalereus nach zehnjaumlhriger Herrschaft aus der Stadt ver-trieben wurde Rigide Entmuumlndigung der Buumlrger bei eigenem Nar-zissmus samt Selbstbereicherung brachten nicht nur Demetrios selbstum jeden Kredit sondern auch die Philosophie der Akademie und desLykeion nach deren Vorgaben er als ihr Angehoumlriger in Athen regierthatte Die empoumlrten Demokraten reagierten mit der Androhung derTodesstrafe und Verbannung der Philosophen und unter Philoso-phen verstanden sie unterschiedslos alle Platoniker und AristotelikerMit dieser harschen Reaktion laumluteten die Athener zugleich die Ge-burtsstunde der Stoiker ein die gleichsam in ihrer Gruumlndungsurkun-de festschrieben dass ihre Ethik die Sittlichkeit der Schule und nichtdie Sittlichkeit der Stadt zum Gegenstand habe Die Stoiker erkann-ten dass sie die Philosophie unter Wahrung ihrer Autonomie nurfortfuumlhren konnten wenn sie der Stadt versicherten dass sie andersals Platon und Aristoteles ihre Gesetzgebung ausschlieszliglich fuumlr ihreSchule als geschlossene secta erlieszligen Die erklaumlrtermaszligen der Poliszugewandte Philosophie die Platon und Aristoteles gemeinsam ver-treten hatten war ihnen nunmehr gemeinsam zum Verhaumlngnis ge-worden

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Einleitung ndash zur Erlaumluterung der These

Unter dem Druck der politischen Umstaumlnde beschlossen dieStoiker ihre Sezession und erklaumlrten die Beschaumlftigung mit der Polisals einst zentrales Thema der Philosophie fuumlr nichtig Daruumlber hinausdistanzierten sie sich ebenfalls noch in manch anderem Punkt vonPlaton und Aristoteles wenn sie etwa im Felde der theologia und derAffektlehre Theoreme vortrugen die erst angesichts der Lage seit 307auf die Tagesordnung gerieten So antworteten sie auf den Herrscher-kult der implizit die unsterblichen Goumltter zu zweitrangigen Groumlszligenherabstufte mit der providentia-Lehre um zu demonstrieren wessenFuumlrsorge in Wahrheit die Menschheit ihr Uumlberleben zu verdankenhabe Da aber die Goumltter bei rehabilitierender Bestaumltigung ihrer ndashden kultisch verehrten Diadochen uumlberlegenen ndash Allmacht zwingendauch fuumlr alle Uumlbel in derWelt verantwortlich waren musste Chrysippden Streit zwischen Homer und Platon ob die Goumltter fuumlr alles odernur fuumlr das Gute zustaumlndig seien erneut austragen Es war also letzt-lich das aumluszligere Phaumlnomen des Herrscherkultes der diesen Streit un-ter den Gelehrten ausloumlste Aumlhnlich lagen die Dinge beim Problemder Affekte Der dank der politischen Ereignisse des Jahres 307 er-zwungene Ruumlckzug der Philosophie auf sich selbst war nur unter derBedingung entschieden abschirmender Selbstbehauptung nach auszligenertraumlglich Dieselbe Bedingung der Autonomie musste aber auch nachinnen erfuumlllt sein und zwar gegen ein ganzes Buumlndel von denkbarenAffekten die bei Verzicht auf ihre Einhegung die muumlhsam nach au-szligen behauptete Souveraumlnitaumlt wieder untergraben haumltten Folgerichtigwar die Affektlosigkeit (ἀπάθεια) das zentrale Thema der stoischenEthik ndash mit dem Ziel der Wahrung der inneren Autonomie Die Stoi-ker konnten daher nicht das Risiko eingehen die Behandlung derAffekte wie Aristoteles wollte eher beilaumlufig den Nachwirkungender von der tragischen Dichtung ausgeloumlsten Katharsis zu uumlberlassenStattdessen mussten die Stoiker darauf bedacht sein eine spezielleTherapie fuumlr den Fall zu entwickeln dass wie zu befuumlrchten denAffekten katechismuswidrig hier und da eben doch ein Ausbruch ge-lingen sollte

Obwohl die Stoiker als die neuen Meinungsfuumlhrer Platon undAristoteles fuumlr Jahrhunderte in den Hintergrund zu draumlngen ver-mochten mussten sie am Ende doch erleben dass die beiden Arche-geten im Status von unangefochtenen Klassikern ihre Renaissanceerlebten Zwar sicherten die Stoiker durch ihren weisen Ruumlckzug derphilosophia perennis die Kontinuitaumlt duumlrften aber am Ende aus dem-selben Grund dem sie ihr Entstehen verdankten wieder von Platon

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Einleitung ndash zur Erlaumluterung der These

und Aristoteles in den Schatten gestellt worden sein Denn Lehrerwie Schuumller verstanden anders als die Stoiker unter Schule stets eineInstanz der systematischen Beschaumlftigung gerade auch mit der Au-szligenwelt Dieser erweiterte Argumentbereich konnte dem Kreis umPlaton und Aristoteles schlieszliglich nicht mehr schaden als es keinedirekt angesprochenen Zeitgenossen mehr gab die sich durch ihreLehren und das Handeln ihrer Schuumller provoziert fuumlhlten Von sol-chen Gefuumlhlen unberuumlhrt suchen hingegen spaumltere Generationen beiPlaton und Aristoteles gerade wegen ihres umfassenden Blickfeldesnach Belehrung und gegebenenfalls Bestaumltigung eigener Theorienund das sowohl im Grundsaumltzlichen als auch in Einzelfragen

Platons Philosophie nahm ihren Ausgang von der ganz be-stimmten Frage der Apologie wie Sokrates der gerechteste BuumlrgerAthens gegen die Asebieklage des Anytos Meletos und Lykon zuverteidigen sei In den Kategorien der Theorie der Rhetorik haumltte die-se Frage als eine quaestio finita gegolten die im Verfolg eine Fuumlllevon sich anschlieszligenden quaestiones infinitae ausloumlsen sollte wienaumlmlich ein gerechter Staat moumlglich sei der vom Geist seiner gerech-ten Buumlrger gepraumlgt waumlre Mit dem daraus erwachsenen Fundus vonFragen und erteilten Antworten haben Platon und entsprechend Aris-toteles der Nachwelt einen geistigen Reichtum hinterlassen dem sieschlieszliglich ndash nach zwischenzeitlicher Suspendierung ndash ihre Anerken-nung als unumstrittene Klassiker bis in unsere Tage zu verdankenhaben Angesichts solcher Hinterlassenschaft darf sich die Philo-sophie mit gutem Gewissen als Vergegenwaumlrtigung ihrer eigenen Ge-schichte definieren Vergegenwaumlrtigung wiederum ist im weitestenSinne das Gemeinschaftswerk der subtilitas intellegendi und der sub-tilitas applicandi und das so bestimmte Vorgehen ist auch dieVoraussetzung fuumlr die Zeugenrolle die Platon und Aristoteles beider philosophischen Begleitung der Preuszligischen Reformen durchG W F Hegel und erneut bei der geistigen Gruumlndung der Bundes-republik nach dem ZweitenWeltkrieg durch Joachim Ritter und seineSchuumller spielten Dass Platon und Aristoteles fuumlr den buumlrgerlichenRechtsstaat in den Zeugenstand traten setzt den hermeneutischenPhilosophiebegriff voraus demgemaumlszlig die Philosophie auf der Praumlsenzihrer eigenen Geschichte beruht Damit ist zugleich die Frage nachden Aussichten einer umfassenden Erneuerung der praktischen Phi-losophie gestellt der sich so lautet unsere These Joachim Ritter undseine Schuumller widmeten indem sie dem Primat der praktischen Ver-nunft die Ehre erweisend die klassischen Disziplinen der philosophia

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practica universalis ndash Ethik Politik Oumlkonomik ndash schrittweise auf-nahmen und in ein systematisches Verhaumlltnis zur modernen Weltsetzten

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Einleitung ndash zur Erlaumluterung der These

Hermeneutikgeleitete Chronikder Wege und Umwege derphilosophia practica universalisvon den Anfaumlngen bis in die Gegenwart

Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

Vom Ende her gesehen koumlnnte leicht der Eindruck entstehen Platon(42827ndash34847) habe sich von vornherein als Lebenswerk die Gruumln-dung einer philosophischen Schule zum Ziel gesetzt in deren Mittel-punkt die Ausbildung einer systematischen politischen Theoriestehen sollte Dieser Eindruck taumluscht indes Wie Platon selbst imVII Brief (324 Bndash326 D) seinen Werdegang darstellt hatte er ur-spruumlnglich gar nicht die Absicht eine Schule zu gruumlnden die sichphilosophisch mit dem Staat befasste Stattdessen draumlngte er zunaumlchstauf eigenes politisches Handeln als er in der Herrschaft der DreiszligigTyrannen (40403) eine Chance sah einen Staat zu errichten der freiwar von den Schwaumlchen der Demokratie Enttaumluscht musste er aberbald erkennen dass die fruumlheren Verhaumlltnisse in der Demokratie ver-glichen mit der Gegenwart unter den Dreiszligig Gold (sic) waren Fol-gerichtig wandte er sich von den Dreiszligig ab und war nach deren Sturzwiederum bereit zu politisch aktiver Taumltigkeit wurde aber erneut ent-taumluscht ndash durch das Todesurteil gegen Sokrates den Mangel an poli-tischen Freunden die grassierende Geringachtung der Gesetze unddie Inthronisierung der Lust (ἡδονή) als Maszlig der Dinge Erst darauf-hin widmete sich Platon der theoretischen Beschaumlftigung mit demwahren Staat nicht ohne fuumlr erneute praktische Taumltigkeit in der Poli-tik bessere Zeiten abzuwarten die dann eintraumlten wenn wahrhaftePhilosophen die Herrschaft im Staat uumlbernaumlhmen und nicht die durchdas Los ins Amt befoumlrderte Inkompetenz Seine Philosophie war alsoOpposition auszligerhalb der politischen Buumlhne gedacht als ungewollteZwischenphase die erst endete wenn die Staumldte nach philosophi-schen Grundsaumltzen verfasst waumlren Die Gruumlndung der Schule erfolgtealso eher aus Verlegenheit sie war nicht die erfolgreiche Ausfuumlhrungeiner urspruumlnglichen Absicht

Mit seinem Bericht im VII Brief laumlsst Platon also durchblickendass er gleichsam widerWillen die Akademie als Schule gruumlndete undderen erstes Schulhaupt wurde Die Schule galt Platon als Surrogateiner Polis der vollendeten Sittlichkeit Folgerichtig war das Leit-thema der Schule die Lehre vom wahren Staat der das bloszlige Surrogatwieder uumlberfluumlssig machen sollte Platon verschweigt auch nicht vonwelchem Standpunkt aus er die Grundzuumlge des idealen Staates ent-wickelte Waumlhrend er die Schwaumlchen der Demokratie eher in derenStrukturen suchte ortete er die Schwaumlchen der Oligarchie im persoumln-lichen Versagen insbesondere der Dreiszligig Tyrannen Demgemaumlszlig plauml-

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dierte er fuumlr eine zu wahrer Aristokratie veredelte Oligarchie die vonindividuellen und strukturellen Defiziten frei war Diese dem Best-moumlglichen verpflichtete Parteinahme erfuumlllte zugleich die Anforde-rungen einer auf Widerspruchsfreiheit bedachten Theorie sofernPlaton alle seine politischen Vorstellungen auf Vernunftbegriffe zu-ruumlckfuumlhrte und nie vergaszlig sie geltend zu machen wo immer ihreBeachtung zwingend geboten war Mag es Platon auch nicht gelungensein in Athen einen Wiedergaumlnger des Sokrates als philosophischenHerrscher zu bestallen und auf diese Weise sein praktisches Ziel zuerreichen so bleibt doch als Ergebnis seiner Anstrengungen zumin-dest als Fortschritt im Bewusstsein dies bestehen dass von nun anpolitische Vorgaumlnge unvermeidlich von der Aufmerksamkeit einerauszligerhalb der politischen Buumlhne angesiedelten Vernunftkritik beglei-tet wurden Insofern blieb Platons mutiger Schritt eine politischeEntitaumlt systematisch in Zweifel zu ziehen und sie auch noch miteinem Gegenmodell zu konfrontieren nicht ohne kuumlnftige Folgen

Einstweilen blieb aber Platons politische FundamentaloppositionSache der Schule deren Eigengesetzlichkeit sich auf die inhaltlicheWeiterarbeit spuumlrbar auswirken sollte Zur (nachsokratischen)Grund-ausstattung der Schule gehoumlrte die Schriftlichkeit die Platon in nichtgeringe Verlegenheit brachte weil er auf unmittelbare Praumlsenz derVernunft setzte und nicht auf eine mittelbare die sich auch nochdurch Ablage ins Buumlcherregal unschaumldlich machen lieszlig1 Zudemzeichnete sich uumlber das politische Kerninteresse hinaus eine durchschultypisches Weiterfragen ausgeloumlste Verfaumlcherung ab die Platonnoch identitaumltsphilosophisch aufzufangen vermochte die aber auflange Sicht jenseits der Politik zur Etablierung von Einzeldisziplinenwie Ontologie Kosmologie Mathematik und Erkenntnistheorie fuumlhr-te Den Sophisten ging es aumlhnlich wie Sokrates von Protagoras er-faumlhrt Nur bei ihm selbst erfuumlhren die Schuumller das Noumltige uumlber ihrKerngeschaumlft das Haus gut zu verwalten und sich auf der Agoraacute zubewaumlhren waumlhrend sie bei anderen Sophisten wie Hippias von Elisverdorben wuumlrden weil diese sie mit Unnuumltzem wie Arithmetik As-tronomie Geometrie und Dichtung traktierten2 So weitete also auchdie Schule Platons allmaumlhlich ihren Themenkreis immer weiter aus

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Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

1 Auf dieses Merkmal der Schule ist G Bien naumlher eingegangen Das Theorie-Praxis-Problem und die politische Philosophie bei Platon und Aristoteles in Phil Jb 76(196869) 264ndash314 hier S 307ndash3132 Platon Protagoras 318 Dndash319 A

je mehr ihre Vorlaumlufigkeit die mit einem politischen Erfolg der Fun-damentalopposition ihr Ende finden sollte in Vergessenheit gerietAristoteles sollte an seinem Lehrer in der Sache manche Kritik uumlbenaber die Regeln der Institution Schule ihre Hinwendung zur Schrift-lichkeit und ihre Etablierung von Einzeldisziplinen (Pragmatien) ver-standen sich fuumlr ihn schon von selbst

Aristoteles (384ndash322) hatte als Siebzehnjaumlhriger seine makedo-nische Heimat verlassen um sich im Jahre 36766 der Akademie an-zuschlieszligen Da war Platon schon uumlber fuumlnfzig Jahre alt und hatteseine philosophische Arbeit dogmatisch abgeschlossen Da er in die-sen Tagen kurz vor seiner zweiten Reise nach Syrakus stand hat ervielleicht erst nach seiner Ruumlckkehr erkannt wer von nun an seinbegabtester Schuumller war Als Aristoteles einmal bei einer Vorlesungfehlte rief Platon verzweifelt aus raquoDer Geist ist nicht zugegenstumpf ist da die Houmlrerschaftlaquo ndash im Original ein ausgefeilter jambi-scher Trimeter ὁ νοῦς ἄπεσ|τιν κωφὸν τἀκ|ροατήριον3 Aristote-les wird sich dieses Lob seines Lehrers gewiss bei vielen Gelegenhei-ten verdient haben nicht zuletzt aber dank der Art wie er sich beiPlatons beruumlhmter Altersvorlesung raquoUumlber das Gutelaquo4 bewaumlhrte Alsdieser das Gute kosmologisch im zahlhaft bestimmten Einen verorte-te blieben die Houmlrer einer nach dem anderen enttaumluscht der Vor-lesung fern weil sie Ausfuumlhrungen uumlber seelische koumlrperliche undaumluszligere Guumlter im gemeinen Verstande erwartet hatten Auf diese Re-aktion der Houmlrer hatte Platon nur gewartet er wollte wissen wer mitseinem Vorstellungshorizont uumlber den der Menge hinausging undsich damit als genuiner Philosoph erwies Tatsaumlchlich harrten nurwenige Houmlrer bis zum Ende aus und empfingen den Ritterschlageines wahren Philosophen darunter natuumlrlich Aristoteles Dieser er-klaumlrte allerdings spaumlter er werde sich an das allgemein Anerkanntehalten statt aus dem Satz dass das Eine ein Gut sei herzuleiten dassdie Gerechtigkeit ein Gut sei5

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Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

3 Zitiert nach V Rose Aristotelis qui ferebantur librorum fragmenta collegit V RLeipzig 18701886 repr Stuttgart 1967 S 4284 Das Vorlesungsmanuskript ist im Original nicht erhalten Die zahlreichen Para-phrasen bei anderen Autoren hat W D Ross Aristotelis Fragmenta Oxford 1935S 111ndash120 gesammelt5 Aristoteles Eudemische Ethik 1218 a 15ndash22 Der Aristotelesschuumller Aristoxenosbestaumltigte diese Reaktion seines Lehrers in seinen ἁρμονικὰ στοιχεῖα (ed P Mar-quard Die harmonischen Fragmente des Aristoxenos Berlin 1868 S 30) und fuumlgtehinzu es empfehle sich zu Beginn einer Vorlesung sein Thema genau anzukuumlndigen

Im Uumlbrigen sparte auch Aristoteles nicht mit Lob auf seinenLehrer Im Rahmen seiner Inschrift auf einem Altar der Freundschaftden Eudemos von Kypros von einer Reise nach Athen zuruumlckgekehrtgestiftet hatte ruumlhmt Aristoteles Platon als Mann den schlechteMenschen nicht einmal loben duumlrften und als Mann der als Ersterunter den Menschen durch eigene Lebensfuumlhrung und vorgetrageneGruumlnde demonstriert habe dass der gute Mann ebendeshalb auch dergluumlckliche Mann ist Zwar taucht im uumlberlieferten Text der Distichenweder der Name Platons noch der des Eudemos auf Olympiodor ver-sichert aber Aristoteles habe in seiner Widmung an den Stifter Eude-mos ebendieses Lob auf Platon ausgesprochen6 Bei welchem Lehrerhaumltte Aristoteles auch besser lernen koumlnnen wie man wesentlicheaber oft uumlbersehene Fragen stellt wie man fuumlr andere uumlberraschendauf Zusammenhaumlnge und Widerspruumlche aufmerksam macht wieman auf den ersten Blick unerkannte Implikationen und Konsequen-zen herausarbeitet wie man unzureichend Bewiesenes als solchesidentifiziert wie man einmal erzielte Uumlbereinkuumlnfte stets im Ge-daumlchtnis praumlsent haumllt wie man seine Argumente durch Ruumlckfuumlhrungauf Gruumlnde und Ursachen als anerkannte Berufungsinstanzen uumlber-zeugend vortraumlgt

Zur gegenseitigen Wertschaumltzung aufgrund ihrer intellektuellenVorzuumlge gesellte sich die politische Uumlbereinstimmung beider Philoso-phen die neben der Sympathie fuumlr Makedonien die entschieden ab-lehnende Haltung gegenuumlber der attischen Demokratie betraf FuumlrPlaton fiel die Suche nach der gerechten Polis als dem hiesigen Kor-relat des absolut Guten mit entschiedener Demokratiekritik zusam-men Seine politische Leitidee bildete die Gerechtigkeit als Einheit derKardinaltugenden mit dem Ziel der Baumlndigung des sinnlichen Inte-resses (ἡδονήvoluptas) waumlhrend in seinen Augen die demokrati-schen Leitideen der Gleichheit und Freiheit lediglich auf eine Beschouml-nigung der voluptas als des wahren Bestimmungsgrundes der Mengehinausliefen Diesen von voluptas durchdrungenen Staat sah Platonals derart heillos verfahren an dass er anknuumlpfende Schritt-fuumlr-Schritt Reformen gar nicht erst in Betracht zog Stattdessen setzte

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Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

und wenn man Paradoxes vortragen wolle dies auch unmissverstaumlndlich zu sagen Sobliebe den Houmlrern die Enttaumluschung erspart wenn sie in Erwartung einer Belehrunguumlber Guumlter wie Reichtum Gesundheit Gluumlck am Ende lediglich die blasse Auskunfterhielten das Gute sei Eines6 Olympiodoros in Platonis Gorgiam XLI 10 ad p 515 C

Platons politische Opposition mit anderen Mitteln7 auf eine vomNullpunkt aus fehlerfrei in Gedanken durchkonstruierte Polis in derdie schon seit Kleisthenes bestehende Einheitlichkeit und Geschlos-senheit des Gemeinwesens gewahrt blieben aber konkrete demokra-tische Komponenten wie Rat und Volksversammlung Geschwore-nengericht und Flotte Panathenaumlen Dionysien und Eleusinien nichteinmal dem Namen nach vorkamen Bei dieser Konstellation gerietenSchule und Polis zwangslaumlufig in ein Verhaumlltnis sich gegenseitigenIgnorierens Die Schule fuumlhrte ihre Debatten als private Institutionohne Beruumlcksichtigung der Vorgaumlnge auf der Agoraacute und die Agoraacutemuumlhte sich mit den ihr eigenen Mitteln um eine Konsolidierung derdemokratischen Institutionen ohne die Einwaumlnde der Schule zurKenntnis zu nehmen Nun mag Platon einen offenbar unpolitischenweil von den Realitaumlten abgehobenen Ausgangspunkt gewaumlhlt unddamit seiner Weiterarbeit wie spaumlter die hermeneutisch argumentie-rende Kritik des Aristoteles zeigen sollte einen schlechten Dienst er-wiesen haben aber ihn leitete ohne jeden Zweifel ein handfestes Mo-tiv und eine daraus abgeleitete allgemeine bis in unsere Tage zubeherzigende Grundeinsicht

Platons Schluumlsselerlebnis war das Todesurteil gegen Sokratesdas eine Mehrheit unter fuumlnfhundert Geschworenen faumlllte obwohlsich Sokrates in allen Anklagepunkten ganz offenkundig als nichtschuldig erwiesen hatte Moumlglich wurde diese Gerichtsentscheidungweil es den Anklaumlgern wie routinierten Demagogen gelang mit ihrenUnwahrheiten eine ignorante Menge auf ihre Seite zu ziehen In derTat hatten sie wie Sokrates gleich im zweiten Satz der Apologie aus-ruft nicht ein einzigen wahren Satz vorgetragen (ἀληθές γε hellip οὐ-δὲν εἰρήκασιν) Der offenbar unausrottbaren Moumlglichkeit dass De-magogen gerade mit der Unwahrheit Mehrheiten fuumlr sich gewinnenkoumlnnen galt zeitlebens Platons kritische Aufmerksamkeit Tatort wa-ren nicht nur die Geschworenengerichte sondern nicht minder dieVolksversammlung in der interessierte Redner Mehrheitsbeschluumlsse(ψηφίσματα) herbeifuumlhrten mit denen sie bestehende Gesetze un-terliefen8 Auch fuumlr dieses Fehlverhalten gab es eine Schluumlsselszeneals naumlmlich im Zuge des Arginusenprozesses ein Mann aus der auf-gehetzten Menge rief es sei eine Ungeheuerlichkeit wenn man denDemos nicht tun lasse was er wolle und gleich darauf durchgesetzt

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7 Platon VII Brief 325 Endash326 A8 Ebd 325 DndashE

wurde dass die angeklagten Seeoffiziere en bloc verurteilt wurdenund nicht wie es das Gesetz verlangte jeder einzeln Der Einzigeder sich diesem rechtswidrigen Beschluss widersetzte war Sokrates9

Dass dieser Staat ausgerechnet seinen gerechtesten Buumlrger zumTode verurteilt hatte hat Platon nie verziehen Da indes die aus-schlaggebende Mehrheit der Geschworenen ihr Urteil wohl kaumfuumlr ungerecht hielt sah Platon sich verpflichtet allen ebenso gesinn-ten Athenern vorzutragen was an und fuumlr sich Gerechtigkeit wirklichist und zwar in der Politeia aus dem Munde eben des Sokrates Danun der Staat fuumlr die Gerechtigkeit der groumlszligere und besser sichtbareBewaumlhrungsort ist als der Einzelne schlug Sokrates vor den Begriffvon Gerechtigkeit zunaumlchst im Blick auf den Staat zu entwickeln (Po-liteia 368 E 472 B) Die Frage nach der Gerechtigkeit konkretisiertesich auf diese Weise zur Frage nach dem gerechten Staat Folgerichtigsetzte Platon im Geist des Sokrates der attischen Demokratie mitihrem falschen Machtwillen einen auf reiner Vernunft beruhendenIdealstaat entgegen von dessen Vorzuumlgen er vielleicht schon dienaumlchste Generation der Athener zu uumlberzeugen hoffte10 anderenfallskoumlnne man nur noch auf einen Gluumlcksschlag von auszligen (τύχη) set-zen oder dass sich dank goumlttlicher Fuumlgung ein Staatenlenker mit derPhilosophie befasse11 Die Befuumlrchtung der Philosoph koumlnne in seinereigenen Stadt wenn uumlberhaupt dann nur dank goumlttlicher Fuumlgung po-litisch taumltig werden (Politeia 592 A) wollte Platon allerdings fuumlr sichnicht als Entschuldigung gelten lassen im Gegenteil Platon ver-sicherte er sei eigens nach Syrakus gereist damit man ihm nicht vor-halten koumlnne er sei nur im Felde der Theorie stark ziehe sich aberzuruumlck wenn es an die praktische Ausfuumlhrung gehe (VII Brief328 C) Vielmehr war fuumlr ihn der gerechte Staat Inhalt philosophi-scher Reflexion mit dem Ziel seiner Verwirklichung

Im idealen Staat darf die Entscheidungsbefugnis nur bei Buumlrgernliegen die allein durch philosophisch uumlberpruumlfte Qualifikation undnicht durch Loswahl in ihr Amt gelangt sind Nur wer die Houmlhle derdie Menge auszeichnenden Kurzsichtigkeit verlassen und dank uumlber-legener Vernuumlnftigkeit die Idee des Guten geschaut hat vermag pri-vat wie oumlffentlich vernuumlnftig zu handeln12 eben seitdem er sich von

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9 Xenophon Hellenika 1 7 12ndash16 Vgl unten Anm 38 S 137 und Anm 17 S 14810 Platon Politeia 315 CndashD11 Platon VII Brief 326 A12 Platon Politeia 517 C

der Aussageabsicht der drei beruumlhmten Gleichnisse hat uumlberzeugenlassen dass naumlmlich das Gerechte das Gute ist und nicht das sinnlicheInteresse der auf den Schein fixierten Menge13 Entsprechend heiszligt esin Platons 8 Brief (355 A) Fuumlr besonnene Menschen ist Gott das Ge-setz fuumlr die unvernuumlnftigen ist es die Lust Das Gute hat also densel-ben Stellenwert wie Gott und bildet wie dieser insofern den Welt-grund als es weil jenseits (ἐπέκεινα) des daseienden Universumsangesiedelt im Rang noch uumlber dieses hinausragt und sich heilsambewaumlhrt indem es dank seinem Sproumlssling dem Sonnenlicht Orien-tierung durch Sichtbarkeit der Dinge sowie Leben Wachstum undGedeihen moumlglich macht14 Die Ausrichtung amGuten als Weltgrunderhebt das Gerechte zur unbedingten Handlungsnorm fordert abernicht nur sondern gewaumlhrt in einem damit den Buumlrgern auch wahr-haft praktischen Nutzen naumlmlich das Leben im sittlichen Gesetzes-staat ndash die Frucht eben der Herrschaft der Gerechtigkeit15 Damit istdie Frage zu deren Beantwortung Sokrates die drei beruumlhmtenGleichnisse vortrug naumlmlich ob Lust oder das Gerechte das wahreGut ist beantwortet und die implizit gegebene Antwort die auf derUnterscheidung der vier Erkenntnisstufen im Liniengleichnis beruhtbesagt dass die beschraumlnkten intellektuellen Moumlglichkeiten der Men-ge zu dieser Einsicht nicht ausreichen diese also fuumlglich zu entmuumln-digen ist schon um den Demagogen ein leichtglaumlubiges Publikum zuentziehen

Der Form nach stand bei aller Reserve Platon durchaus in derSchuld der Demokraten Sie waren es die unter Kleisthenes den atti-schen Staat als rational verwalteten Einheitsstaat geschaffen hattender nicht mehr nach Staumlmmen Sippen und oumlrtlich bedingten Loyali-taumlten fragmentiert war Unter Phylen verstand Kleisthenes nichtmehr den Oberbegriff vertikal strukturierter Personenverbaumlnde son-dern horizontal strukturierter einheitlich verwalteter Bezirke nachdem Territorialprinzip Das Volk der Athener (ὁ τῶν Ἀθηναίων δῆ-μος) trat an die Stelle der Klientel wie in Rom der populus Romanusan die Stelle der gentes Platon musste also das Prinzip staatlicherEinheit selbst nicht mehr erfinden wohl aber dem Inhalt nach fuumlr alleZukunft beschlieszligen dass nicht nur dieser sondern jeder Staat sei-nem Wesen gemaumlszlig in der Pflicht sei sich als raquoWirklichkeit der sitt-

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13 Ebd 505 B14 Ebd 509 AndashB15 Ebd 505 A

lichen Ideelaquo (Hegel) zu bewaumlhren Uumlber diesen Beschluss hinausdachte Platon noch einen Schritt weiter denn es konnte nicht ge-nuumlgen einen Staat philosophischer Sittlichkeit lediglich zu gruumlndener musste auch erhalten werden ndash durch ein Kollegium integrer Ge-setzeshuumlter die das muumlhsam Erreichte unveraumlndert zu bewahren hat-ten16 Diese Position waumlre etwa im Arginusenprozess unbesetzt ge-wesen haumltte Sokrates sie nicht eingenommen und auf Einhaltungder Gesetze bestanden

Ebenso wie die vorgegebene Staatlichkeit hat auch das mit dieserverbundene demokratische System der Rechtspflege das das archai-sche Selbsthilfeprinzip abloumlste Eingang in Platons Philosophie gefun-den Die archaische Selbsthilfe bestand darin dass die durch einenUumlbergriff beleidigte Sippe der Sippe des Taumlters die Fehde ankuumlndigte(πρόρρησις) deren Beendigung durch Abschluss eines Suumlhnevertra-ges (αἴδεσις) erfolgte Dass bei dieser Form der Konfliktbeilegungdurch Aussoumlhnung die staumlrkere Sippe in der Regel ihre Loumlsungsvor-stellungen durchsetzte liegt auf der Hand Der Schritt fuumlr Schritterfolgte Gerichtszwang durch den der Staat erst allmaumlhlich das Mo-nopol der Rechtspflege uumlbernahm hatte zum Ziel dass anstelle zufaumll-liger Machtverhaumlltnisse die Systematik von Recht und Gesetz imStreit der Parteien entscheidet17 Diesen Sinn der nacharchaischenRechtsprechung hat Ovid mit dem Hexameter zusammengefasstinde datae leges ne firmior omnia posset (Fasten 3 279) Im Gor-gias-Dialog haumllt nun Platon der Rhetorik vor sie sei der methodischeVersuch gerade diese Errungenschaft der Rechtsprechung ruumlckgaumln-gig zu machen Kallikles ein Anhaumlnger des Rhetoriklehrers Gorgiasspricht unverhohlen aus dass Herakles voumlllig im Recht war Geryonesseine Rinder die er weder gekauft noch zum Geschenk erhalten hatteohne Bedenken zu stehlen da das von Natur Gerechte darin bestehedass alles Eigentum der Schwaumlcheren in Wahrheit dem Staumlrkeren ge-houmlre18 Sokrates haumllt Kallikles entgegen dass wahre Uumlberlegenheitnicht im Mehr-haben-Wollen sondern im Sittlich-besser-Sein be-stehe und beruft sich damit ebenso wie die Rechtsprechung auf ein

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16 Platon Politeia 484 B Nomoi 752 DndashE 754 Dndash755 C 770 AndashD 847 AndashD 959 Dndash961 CIm Abschnitt zu raquoDemetrios Phalereus ndash oder die vierzehnte Wendelaquo wird diese pla-tonische Vorgabe noch eine wesentliche Rolle spielen17 Zu diesen nicht leicht zu rekonstruierenden Prozessen sei auf die im Literaturver-zeichnis genannten Aufsaumltze von E Ruschenbusch verwiesen18 Platon Gorgias 484 BndashC

systematisches Kriterium um die individuelle Machtperspektive inSchranken zu weisen Dass Sokrates bei seinem Gespraumlchspartnermit dieser Argumentation nicht durchdringt ist allein der Borniert-heit des Kallikles zuzuschreiben

Es ist nicht zu leugnen dass Platon ebenso wie der Oligarch Kal-likles den Besseren das Wort redete aber unter den Besseren wirklichBessere verstand die den Staat als sublimierte Oligarchie tragen soll-ten Von dieser Staatslehre gilt es also zu uumlberzeugen und das ver-suchte Platon auch ganz im Sinne des Sokrates zunaumlchst durch sach-liche Gespraumlchsfuumlhrung oder Dialektik (διαλέγεσθαι) die mitkurzen Saumltzen Rechenschaft fordert und gewaumlhrt Sokrates mochtekeine langen Reden die geeignet sind das Ausgangsthema nach eini-ger Zeit aus den Augen zu verlieren19 Auch mochte es Sokrates garnicht wenn Unterredner sich streitsuumlchtig (ἐρίζειν) an Worten fest-bissen statt am intendierten Inhalt20 Das richtet sich gegen Protago-ras der als Erfinder der Eristik Wortklauberei betrieb statt sich aufdie Bedeutung des Sachverhalts zu konzentrieren21 Insgesamt ist diesokratische Version von Dialektik ein Gegenentwurf zur raquosogenann-ten Kunst der Rhetoriklaquo22 die lediglich den Uumlberredungserfolg zumZiel hat und nicht etwa wohlbegruumlndete Wahrheiten herausarbeitenwill Nun musste Platon etwa im Gespraumlch mit Kallikles im Gorgiasoder mit Thrasymachos im ersten Buch der Politeia erkennen dassgerade seine Sachlichkeit bei Boumlswilligen auf taube Ohren stoumlszligt Erentwickelte daher noch in der Politeia einen uumlber Sokrates hinaus-gehenden Begriff von Dialektik die nicht diskutiert sondern dekre-tiert nachdem diese durch reines auf das Gespraumlch mit sich selbstkonzentriertes Durchdenken des Wesentlichen frei von sinnlichenEindruumlcken zum Ziel der Erkenntnis des Guten gelangt ist (532 AndashB) Weil somit Dialektik zustaumlndig wird fuumlr die Vergegenwaumlrtigungdes Guten in der politischen Welt darf auch nur der ausgewieseneDialektiker Staatenlenker werden (534 CndashD) der auf seinen Einsich-ten beharrt auch wenn ihm seine Mitbuumlrger die Zustimmung ver-weigern Gegen vordergruumlndige Rechthaberei von wem immer sieausgeht verteidigt Platon das Prinzip vernuumlnftiger Argumentationgegen die Kraumlfte ihrer Blockierung

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19 Platon Protagoras 336 AndashC Gorgias 474 B20 Platon Politeia 454 A21 Diogenes Laertios 9 5222 Platon Gorgias 448 D

Page 13: Platon und Aristoteles als Wegbereiter der praktischen ... · Differenzen zwischen Platon und Aristoteles ins Auge fallen. Wer jedoch Platon und Aristoteles zusammen gegen die später

elle Probleme der Polis versteht Aristoteles die Politie zunaumlchst alsVerfassung die die Ursachen der oft blutigen Dauerkonflikte zwi-schen Oligarchen und Demokraten aufzuheben verspricht daruumlberhinaus entwickelt Aristoteles eine an Platons Idealstaat erinnerndezweite Version von Politie und zwar im Blick auf die Planungen Phi-lipps II mit einem panhellenischen Heer die Aumlgaumlis in ein makedo-nisches Meer zu verwandeln und die Jonier in Kleinasien von derPerserherrschaft zu befreien Die erstere Politie der Buumlcher IV bis VIbesteht in einem auf Aussoumlhnung der Konfliktparteien zielenden Ver-fassungsentwurf und entsprach somit der zum Schlagwort erhobenenWunschvorstellung der Zeit naumlmlich der inneren Eintracht (ὁμό-νοια) Die andere Politie in Buch VII enthielt die Grundlegung derLebensordnung griechischer Groszligbuumlrger die sich im befreiten Jonienansiedeln sollten Auch diese Verfassung kam zumindest indirekteiner Wunschvorstellung der Zeit entgegen naumlmlich dem Wunschnach gemeinsamem Frieden (κοινὴ εἰρήνη) der griechischen Staumldteuntereinander denn ehemalige Feinde koumlnnten umso leichter Friedenschlieszligen und Freunde werden wenn sie sich als Eroberer zum Kampfgegen einen gemeinsamen Gegner verbuumlnden Vorrangig angespro-chen sollten sich allerdings Groszligbuumlrger fuumlhlen die mit ihrem Lebenin den demokratischen Staumldten Griechenlands unzufrieden warenund einer auf oligarchischen Idealen gegruumlndeten Polis den Vorzuggaben

Obwohl Aristoteles dank seiner hermeneutischen Vorgehens-weise keineswegs an den Adressaten vorbeiredete sollte sich schonbald abzeichnen dass aus je verschiedenen Gruumlnden sowohl die prag-matische als auch die ideale Politie abgewiesen wurden Aristoteleswar daruumlber nicht entmutigt sondern verfolgte seinen hermeneuti-schen Ansatz nur noch strikter in dem was ist das Wesentliche zubegreifen Das was ist also das politisch Dominierende war nun un-bestritten die demokratische Verfassung der Athener denen dieSchule ndash und das durchaus auch den Tatsachen zuwider ndash die Ver-nachlaumlssigung ihrer eigenen Gesetze gleichsam als Erbuumlbel immerwieder vorgehalten hatte Die raquoVerfassung der Athenerlaquo (Ἀθηναίωνπολιτεία oder kurz AP) nimmt und sei es unausgesprochen dieeinst auch von Aristoteles selbst mitgetragene Kritik der Schule zu-ruumlck und bedeutet dieser implizit dass sie sich selbst um Glaub-wuumlrdigkeit und Uumlberzeugungskraft bringt wenn sie offen am Tageliegende Sachverhalte systematisch in Abrede stellt Die AP ist dieAnerkennung der Tatsache dass den Athener Demokraten im vierten

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Einleitung ndash zur Erlaumluterung der These

Jahrhundert die Vollendung eines widerspruchsfrei verfassten Geset-zesstaates gelungen ist der im Uumlbrigen nicht von einem kuumlnstlichgesetzten Nullpunkt ausgegangen ist sondern hermeneutisch rekon-struierbar sich in organischem Wachstum seit Ion und Theseus in elfWenden entwickelt hat Der Ton der AP liegt nicht darauf dass kom-promissbereite Philosophie die Welt vor der ihr sonst eigenen Radi-kalitaumlt verschonen will sondern auf der im theoretischen Zusehengewonnenen Einsicht dass die Stadt gerade das philosophische Ur-anliegen der Gesetzestreue immer schon als legitimierendes Prinzipihres Handelns befolgt hat Die hermeneutische Zirkelstruktur be-steht also darin dass die Philosophie der Stadt dies als das an ihrWesentliche erklaumlrt was sie selbst hervorgebracht hat

Der Einfluss der Akademie und des Lykeion endete aber keines-wegs abrupt mit dem Jahre 322 als die Athener ihre Souveraumlnitaumlteinbuumlszligten und damit die unumgehbare Voraussetzung einer auf Sitt-lichkeit bestehenden politischen Theorie Dank makedonischer Un-terstuumltzung erzielten die Schulen durch Phokion und Demetrios Pha-lereus in den folgenden Jahren sogar weitaus mehr politischeWirkung als die beiden Gruumlnder zu ihren Lebzeiten Ebendiesem Er-folg hatten indes im Jahre 307 die Schulen den entscheidenden Ruumlck-schlag zu verdanken als der aus ihren Reihen hervorgegangeneDemetrios Phalereus nach zehnjaumlhriger Herrschaft aus der Stadt ver-trieben wurde Rigide Entmuumlndigung der Buumlrger bei eigenem Nar-zissmus samt Selbstbereicherung brachten nicht nur Demetrios selbstum jeden Kredit sondern auch die Philosophie der Akademie und desLykeion nach deren Vorgaben er als ihr Angehoumlriger in Athen regierthatte Die empoumlrten Demokraten reagierten mit der Androhung derTodesstrafe und Verbannung der Philosophen und unter Philoso-phen verstanden sie unterschiedslos alle Platoniker und AristotelikerMit dieser harschen Reaktion laumluteten die Athener zugleich die Ge-burtsstunde der Stoiker ein die gleichsam in ihrer Gruumlndungsurkun-de festschrieben dass ihre Ethik die Sittlichkeit der Schule und nichtdie Sittlichkeit der Stadt zum Gegenstand habe Die Stoiker erkann-ten dass sie die Philosophie unter Wahrung ihrer Autonomie nurfortfuumlhren konnten wenn sie der Stadt versicherten dass sie andersals Platon und Aristoteles ihre Gesetzgebung ausschlieszliglich fuumlr ihreSchule als geschlossene secta erlieszligen Die erklaumlrtermaszligen der Poliszugewandte Philosophie die Platon und Aristoteles gemeinsam ver-treten hatten war ihnen nunmehr gemeinsam zum Verhaumlngnis ge-worden

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Einleitung ndash zur Erlaumluterung der These

Unter dem Druck der politischen Umstaumlnde beschlossen dieStoiker ihre Sezession und erklaumlrten die Beschaumlftigung mit der Polisals einst zentrales Thema der Philosophie fuumlr nichtig Daruumlber hinausdistanzierten sie sich ebenfalls noch in manch anderem Punkt vonPlaton und Aristoteles wenn sie etwa im Felde der theologia und derAffektlehre Theoreme vortrugen die erst angesichts der Lage seit 307auf die Tagesordnung gerieten So antworteten sie auf den Herrscher-kult der implizit die unsterblichen Goumltter zu zweitrangigen Groumlszligenherabstufte mit der providentia-Lehre um zu demonstrieren wessenFuumlrsorge in Wahrheit die Menschheit ihr Uumlberleben zu verdankenhabe Da aber die Goumltter bei rehabilitierender Bestaumltigung ihrer ndashden kultisch verehrten Diadochen uumlberlegenen ndash Allmacht zwingendauch fuumlr alle Uumlbel in derWelt verantwortlich waren musste Chrysippden Streit zwischen Homer und Platon ob die Goumltter fuumlr alles odernur fuumlr das Gute zustaumlndig seien erneut austragen Es war also letzt-lich das aumluszligere Phaumlnomen des Herrscherkultes der diesen Streit un-ter den Gelehrten ausloumlste Aumlhnlich lagen die Dinge beim Problemder Affekte Der dank der politischen Ereignisse des Jahres 307 er-zwungene Ruumlckzug der Philosophie auf sich selbst war nur unter derBedingung entschieden abschirmender Selbstbehauptung nach auszligenertraumlglich Dieselbe Bedingung der Autonomie musste aber auch nachinnen erfuumlllt sein und zwar gegen ein ganzes Buumlndel von denkbarenAffekten die bei Verzicht auf ihre Einhegung die muumlhsam nach au-szligen behauptete Souveraumlnitaumlt wieder untergraben haumltten Folgerichtigwar die Affektlosigkeit (ἀπάθεια) das zentrale Thema der stoischenEthik ndash mit dem Ziel der Wahrung der inneren Autonomie Die Stoi-ker konnten daher nicht das Risiko eingehen die Behandlung derAffekte wie Aristoteles wollte eher beilaumlufig den Nachwirkungender von der tragischen Dichtung ausgeloumlsten Katharsis zu uumlberlassenStattdessen mussten die Stoiker darauf bedacht sein eine spezielleTherapie fuumlr den Fall zu entwickeln dass wie zu befuumlrchten denAffekten katechismuswidrig hier und da eben doch ein Ausbruch ge-lingen sollte

Obwohl die Stoiker als die neuen Meinungsfuumlhrer Platon undAristoteles fuumlr Jahrhunderte in den Hintergrund zu draumlngen ver-mochten mussten sie am Ende doch erleben dass die beiden Arche-geten im Status von unangefochtenen Klassikern ihre Renaissanceerlebten Zwar sicherten die Stoiker durch ihren weisen Ruumlckzug derphilosophia perennis die Kontinuitaumlt duumlrften aber am Ende aus dem-selben Grund dem sie ihr Entstehen verdankten wieder von Platon

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Einleitung ndash zur Erlaumluterung der These

und Aristoteles in den Schatten gestellt worden sein Denn Lehrerwie Schuumller verstanden anders als die Stoiker unter Schule stets eineInstanz der systematischen Beschaumlftigung gerade auch mit der Au-szligenwelt Dieser erweiterte Argumentbereich konnte dem Kreis umPlaton und Aristoteles schlieszliglich nicht mehr schaden als es keinedirekt angesprochenen Zeitgenossen mehr gab die sich durch ihreLehren und das Handeln ihrer Schuumller provoziert fuumlhlten Von sol-chen Gefuumlhlen unberuumlhrt suchen hingegen spaumltere Generationen beiPlaton und Aristoteles gerade wegen ihres umfassenden Blickfeldesnach Belehrung und gegebenenfalls Bestaumltigung eigener Theorienund das sowohl im Grundsaumltzlichen als auch in Einzelfragen

Platons Philosophie nahm ihren Ausgang von der ganz be-stimmten Frage der Apologie wie Sokrates der gerechteste BuumlrgerAthens gegen die Asebieklage des Anytos Meletos und Lykon zuverteidigen sei In den Kategorien der Theorie der Rhetorik haumltte die-se Frage als eine quaestio finita gegolten die im Verfolg eine Fuumlllevon sich anschlieszligenden quaestiones infinitae ausloumlsen sollte wienaumlmlich ein gerechter Staat moumlglich sei der vom Geist seiner gerech-ten Buumlrger gepraumlgt waumlre Mit dem daraus erwachsenen Fundus vonFragen und erteilten Antworten haben Platon und entsprechend Aris-toteles der Nachwelt einen geistigen Reichtum hinterlassen dem sieschlieszliglich ndash nach zwischenzeitlicher Suspendierung ndash ihre Anerken-nung als unumstrittene Klassiker bis in unsere Tage zu verdankenhaben Angesichts solcher Hinterlassenschaft darf sich die Philo-sophie mit gutem Gewissen als Vergegenwaumlrtigung ihrer eigenen Ge-schichte definieren Vergegenwaumlrtigung wiederum ist im weitestenSinne das Gemeinschaftswerk der subtilitas intellegendi und der sub-tilitas applicandi und das so bestimmte Vorgehen ist auch dieVoraussetzung fuumlr die Zeugenrolle die Platon und Aristoteles beider philosophischen Begleitung der Preuszligischen Reformen durchG W F Hegel und erneut bei der geistigen Gruumlndung der Bundes-republik nach dem ZweitenWeltkrieg durch Joachim Ritter und seineSchuumller spielten Dass Platon und Aristoteles fuumlr den buumlrgerlichenRechtsstaat in den Zeugenstand traten setzt den hermeneutischenPhilosophiebegriff voraus demgemaumlszlig die Philosophie auf der Praumlsenzihrer eigenen Geschichte beruht Damit ist zugleich die Frage nachden Aussichten einer umfassenden Erneuerung der praktischen Phi-losophie gestellt der sich so lautet unsere These Joachim Ritter undseine Schuumller widmeten indem sie dem Primat der praktischen Ver-nunft die Ehre erweisend die klassischen Disziplinen der philosophia

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Einleitung ndash zur Erlaumluterung der These

practica universalis ndash Ethik Politik Oumlkonomik ndash schrittweise auf-nahmen und in ein systematisches Verhaumlltnis zur modernen Weltsetzten

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Einleitung ndash zur Erlaumluterung der These

Hermeneutikgeleitete Chronikder Wege und Umwege derphilosophia practica universalisvon den Anfaumlngen bis in die Gegenwart

Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

Vom Ende her gesehen koumlnnte leicht der Eindruck entstehen Platon(42827ndash34847) habe sich von vornherein als Lebenswerk die Gruumln-dung einer philosophischen Schule zum Ziel gesetzt in deren Mittel-punkt die Ausbildung einer systematischen politischen Theoriestehen sollte Dieser Eindruck taumluscht indes Wie Platon selbst imVII Brief (324 Bndash326 D) seinen Werdegang darstellt hatte er ur-spruumlnglich gar nicht die Absicht eine Schule zu gruumlnden die sichphilosophisch mit dem Staat befasste Stattdessen draumlngte er zunaumlchstauf eigenes politisches Handeln als er in der Herrschaft der DreiszligigTyrannen (40403) eine Chance sah einen Staat zu errichten der freiwar von den Schwaumlchen der Demokratie Enttaumluscht musste er aberbald erkennen dass die fruumlheren Verhaumlltnisse in der Demokratie ver-glichen mit der Gegenwart unter den Dreiszligig Gold (sic) waren Fol-gerichtig wandte er sich von den Dreiszligig ab und war nach deren Sturzwiederum bereit zu politisch aktiver Taumltigkeit wurde aber erneut ent-taumluscht ndash durch das Todesurteil gegen Sokrates den Mangel an poli-tischen Freunden die grassierende Geringachtung der Gesetze unddie Inthronisierung der Lust (ἡδονή) als Maszlig der Dinge Erst darauf-hin widmete sich Platon der theoretischen Beschaumlftigung mit demwahren Staat nicht ohne fuumlr erneute praktische Taumltigkeit in der Poli-tik bessere Zeiten abzuwarten die dann eintraumlten wenn wahrhaftePhilosophen die Herrschaft im Staat uumlbernaumlhmen und nicht die durchdas Los ins Amt befoumlrderte Inkompetenz Seine Philosophie war alsoOpposition auszligerhalb der politischen Buumlhne gedacht als ungewollteZwischenphase die erst endete wenn die Staumldte nach philosophi-schen Grundsaumltzen verfasst waumlren Die Gruumlndung der Schule erfolgtealso eher aus Verlegenheit sie war nicht die erfolgreiche Ausfuumlhrungeiner urspruumlnglichen Absicht

Mit seinem Bericht im VII Brief laumlsst Platon also durchblickendass er gleichsam widerWillen die Akademie als Schule gruumlndete undderen erstes Schulhaupt wurde Die Schule galt Platon als Surrogateiner Polis der vollendeten Sittlichkeit Folgerichtig war das Leit-thema der Schule die Lehre vom wahren Staat der das bloszlige Surrogatwieder uumlberfluumlssig machen sollte Platon verschweigt auch nicht vonwelchem Standpunkt aus er die Grundzuumlge des idealen Staates ent-wickelte Waumlhrend er die Schwaumlchen der Demokratie eher in derenStrukturen suchte ortete er die Schwaumlchen der Oligarchie im persoumln-lichen Versagen insbesondere der Dreiszligig Tyrannen Demgemaumlszlig plauml-

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dierte er fuumlr eine zu wahrer Aristokratie veredelte Oligarchie die vonindividuellen und strukturellen Defiziten frei war Diese dem Best-moumlglichen verpflichtete Parteinahme erfuumlllte zugleich die Anforde-rungen einer auf Widerspruchsfreiheit bedachten Theorie sofernPlaton alle seine politischen Vorstellungen auf Vernunftbegriffe zu-ruumlckfuumlhrte und nie vergaszlig sie geltend zu machen wo immer ihreBeachtung zwingend geboten war Mag es Platon auch nicht gelungensein in Athen einen Wiedergaumlnger des Sokrates als philosophischenHerrscher zu bestallen und auf diese Weise sein praktisches Ziel zuerreichen so bleibt doch als Ergebnis seiner Anstrengungen zumin-dest als Fortschritt im Bewusstsein dies bestehen dass von nun anpolitische Vorgaumlnge unvermeidlich von der Aufmerksamkeit einerauszligerhalb der politischen Buumlhne angesiedelten Vernunftkritik beglei-tet wurden Insofern blieb Platons mutiger Schritt eine politischeEntitaumlt systematisch in Zweifel zu ziehen und sie auch noch miteinem Gegenmodell zu konfrontieren nicht ohne kuumlnftige Folgen

Einstweilen blieb aber Platons politische FundamentaloppositionSache der Schule deren Eigengesetzlichkeit sich auf die inhaltlicheWeiterarbeit spuumlrbar auswirken sollte Zur (nachsokratischen)Grund-ausstattung der Schule gehoumlrte die Schriftlichkeit die Platon in nichtgeringe Verlegenheit brachte weil er auf unmittelbare Praumlsenz derVernunft setzte und nicht auf eine mittelbare die sich auch nochdurch Ablage ins Buumlcherregal unschaumldlich machen lieszlig1 Zudemzeichnete sich uumlber das politische Kerninteresse hinaus eine durchschultypisches Weiterfragen ausgeloumlste Verfaumlcherung ab die Platonnoch identitaumltsphilosophisch aufzufangen vermochte die aber auflange Sicht jenseits der Politik zur Etablierung von Einzeldisziplinenwie Ontologie Kosmologie Mathematik und Erkenntnistheorie fuumlhr-te Den Sophisten ging es aumlhnlich wie Sokrates von Protagoras er-faumlhrt Nur bei ihm selbst erfuumlhren die Schuumller das Noumltige uumlber ihrKerngeschaumlft das Haus gut zu verwalten und sich auf der Agoraacute zubewaumlhren waumlhrend sie bei anderen Sophisten wie Hippias von Elisverdorben wuumlrden weil diese sie mit Unnuumltzem wie Arithmetik As-tronomie Geometrie und Dichtung traktierten2 So weitete also auchdie Schule Platons allmaumlhlich ihren Themenkreis immer weiter aus

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Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

1 Auf dieses Merkmal der Schule ist G Bien naumlher eingegangen Das Theorie-Praxis-Problem und die politische Philosophie bei Platon und Aristoteles in Phil Jb 76(196869) 264ndash314 hier S 307ndash3132 Platon Protagoras 318 Dndash319 A

je mehr ihre Vorlaumlufigkeit die mit einem politischen Erfolg der Fun-damentalopposition ihr Ende finden sollte in Vergessenheit gerietAristoteles sollte an seinem Lehrer in der Sache manche Kritik uumlbenaber die Regeln der Institution Schule ihre Hinwendung zur Schrift-lichkeit und ihre Etablierung von Einzeldisziplinen (Pragmatien) ver-standen sich fuumlr ihn schon von selbst

Aristoteles (384ndash322) hatte als Siebzehnjaumlhriger seine makedo-nische Heimat verlassen um sich im Jahre 36766 der Akademie an-zuschlieszligen Da war Platon schon uumlber fuumlnfzig Jahre alt und hatteseine philosophische Arbeit dogmatisch abgeschlossen Da er in die-sen Tagen kurz vor seiner zweiten Reise nach Syrakus stand hat ervielleicht erst nach seiner Ruumlckkehr erkannt wer von nun an seinbegabtester Schuumller war Als Aristoteles einmal bei einer Vorlesungfehlte rief Platon verzweifelt aus raquoDer Geist ist nicht zugegenstumpf ist da die Houmlrerschaftlaquo ndash im Original ein ausgefeilter jambi-scher Trimeter ὁ νοῦς ἄπεσ|τιν κωφὸν τἀκ|ροατήριον3 Aristote-les wird sich dieses Lob seines Lehrers gewiss bei vielen Gelegenhei-ten verdient haben nicht zuletzt aber dank der Art wie er sich beiPlatons beruumlhmter Altersvorlesung raquoUumlber das Gutelaquo4 bewaumlhrte Alsdieser das Gute kosmologisch im zahlhaft bestimmten Einen verorte-te blieben die Houmlrer einer nach dem anderen enttaumluscht der Vor-lesung fern weil sie Ausfuumlhrungen uumlber seelische koumlrperliche undaumluszligere Guumlter im gemeinen Verstande erwartet hatten Auf diese Re-aktion der Houmlrer hatte Platon nur gewartet er wollte wissen wer mitseinem Vorstellungshorizont uumlber den der Menge hinausging undsich damit als genuiner Philosoph erwies Tatsaumlchlich harrten nurwenige Houmlrer bis zum Ende aus und empfingen den Ritterschlageines wahren Philosophen darunter natuumlrlich Aristoteles Dieser er-klaumlrte allerdings spaumlter er werde sich an das allgemein Anerkanntehalten statt aus dem Satz dass das Eine ein Gut sei herzuleiten dassdie Gerechtigkeit ein Gut sei5

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Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

3 Zitiert nach V Rose Aristotelis qui ferebantur librorum fragmenta collegit V RLeipzig 18701886 repr Stuttgart 1967 S 4284 Das Vorlesungsmanuskript ist im Original nicht erhalten Die zahlreichen Para-phrasen bei anderen Autoren hat W D Ross Aristotelis Fragmenta Oxford 1935S 111ndash120 gesammelt5 Aristoteles Eudemische Ethik 1218 a 15ndash22 Der Aristotelesschuumller Aristoxenosbestaumltigte diese Reaktion seines Lehrers in seinen ἁρμονικὰ στοιχεῖα (ed P Mar-quard Die harmonischen Fragmente des Aristoxenos Berlin 1868 S 30) und fuumlgtehinzu es empfehle sich zu Beginn einer Vorlesung sein Thema genau anzukuumlndigen

Im Uumlbrigen sparte auch Aristoteles nicht mit Lob auf seinenLehrer Im Rahmen seiner Inschrift auf einem Altar der Freundschaftden Eudemos von Kypros von einer Reise nach Athen zuruumlckgekehrtgestiftet hatte ruumlhmt Aristoteles Platon als Mann den schlechteMenschen nicht einmal loben duumlrften und als Mann der als Ersterunter den Menschen durch eigene Lebensfuumlhrung und vorgetrageneGruumlnde demonstriert habe dass der gute Mann ebendeshalb auch dergluumlckliche Mann ist Zwar taucht im uumlberlieferten Text der Distichenweder der Name Platons noch der des Eudemos auf Olympiodor ver-sichert aber Aristoteles habe in seiner Widmung an den Stifter Eude-mos ebendieses Lob auf Platon ausgesprochen6 Bei welchem Lehrerhaumltte Aristoteles auch besser lernen koumlnnen wie man wesentlicheaber oft uumlbersehene Fragen stellt wie man fuumlr andere uumlberraschendauf Zusammenhaumlnge und Widerspruumlche aufmerksam macht wieman auf den ersten Blick unerkannte Implikationen und Konsequen-zen herausarbeitet wie man unzureichend Bewiesenes als solchesidentifiziert wie man einmal erzielte Uumlbereinkuumlnfte stets im Ge-daumlchtnis praumlsent haumllt wie man seine Argumente durch Ruumlckfuumlhrungauf Gruumlnde und Ursachen als anerkannte Berufungsinstanzen uumlber-zeugend vortraumlgt

Zur gegenseitigen Wertschaumltzung aufgrund ihrer intellektuellenVorzuumlge gesellte sich die politische Uumlbereinstimmung beider Philoso-phen die neben der Sympathie fuumlr Makedonien die entschieden ab-lehnende Haltung gegenuumlber der attischen Demokratie betraf FuumlrPlaton fiel die Suche nach der gerechten Polis als dem hiesigen Kor-relat des absolut Guten mit entschiedener Demokratiekritik zusam-men Seine politische Leitidee bildete die Gerechtigkeit als Einheit derKardinaltugenden mit dem Ziel der Baumlndigung des sinnlichen Inte-resses (ἡδονήvoluptas) waumlhrend in seinen Augen die demokrati-schen Leitideen der Gleichheit und Freiheit lediglich auf eine Beschouml-nigung der voluptas als des wahren Bestimmungsgrundes der Mengehinausliefen Diesen von voluptas durchdrungenen Staat sah Platonals derart heillos verfahren an dass er anknuumlpfende Schritt-fuumlr-Schritt Reformen gar nicht erst in Betracht zog Stattdessen setzte

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Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

und wenn man Paradoxes vortragen wolle dies auch unmissverstaumlndlich zu sagen Sobliebe den Houmlrern die Enttaumluschung erspart wenn sie in Erwartung einer Belehrunguumlber Guumlter wie Reichtum Gesundheit Gluumlck am Ende lediglich die blasse Auskunfterhielten das Gute sei Eines6 Olympiodoros in Platonis Gorgiam XLI 10 ad p 515 C

Platons politische Opposition mit anderen Mitteln7 auf eine vomNullpunkt aus fehlerfrei in Gedanken durchkonstruierte Polis in derdie schon seit Kleisthenes bestehende Einheitlichkeit und Geschlos-senheit des Gemeinwesens gewahrt blieben aber konkrete demokra-tische Komponenten wie Rat und Volksversammlung Geschwore-nengericht und Flotte Panathenaumlen Dionysien und Eleusinien nichteinmal dem Namen nach vorkamen Bei dieser Konstellation gerietenSchule und Polis zwangslaumlufig in ein Verhaumlltnis sich gegenseitigenIgnorierens Die Schule fuumlhrte ihre Debatten als private Institutionohne Beruumlcksichtigung der Vorgaumlnge auf der Agoraacute und die Agoraacutemuumlhte sich mit den ihr eigenen Mitteln um eine Konsolidierung derdemokratischen Institutionen ohne die Einwaumlnde der Schule zurKenntnis zu nehmen Nun mag Platon einen offenbar unpolitischenweil von den Realitaumlten abgehobenen Ausgangspunkt gewaumlhlt unddamit seiner Weiterarbeit wie spaumlter die hermeneutisch argumentie-rende Kritik des Aristoteles zeigen sollte einen schlechten Dienst er-wiesen haben aber ihn leitete ohne jeden Zweifel ein handfestes Mo-tiv und eine daraus abgeleitete allgemeine bis in unsere Tage zubeherzigende Grundeinsicht

Platons Schluumlsselerlebnis war das Todesurteil gegen Sokratesdas eine Mehrheit unter fuumlnfhundert Geschworenen faumlllte obwohlsich Sokrates in allen Anklagepunkten ganz offenkundig als nichtschuldig erwiesen hatte Moumlglich wurde diese Gerichtsentscheidungweil es den Anklaumlgern wie routinierten Demagogen gelang mit ihrenUnwahrheiten eine ignorante Menge auf ihre Seite zu ziehen In derTat hatten sie wie Sokrates gleich im zweiten Satz der Apologie aus-ruft nicht ein einzigen wahren Satz vorgetragen (ἀληθές γε hellip οὐ-δὲν εἰρήκασιν) Der offenbar unausrottbaren Moumlglichkeit dass De-magogen gerade mit der Unwahrheit Mehrheiten fuumlr sich gewinnenkoumlnnen galt zeitlebens Platons kritische Aufmerksamkeit Tatort wa-ren nicht nur die Geschworenengerichte sondern nicht minder dieVolksversammlung in der interessierte Redner Mehrheitsbeschluumlsse(ψηφίσματα) herbeifuumlhrten mit denen sie bestehende Gesetze un-terliefen8 Auch fuumlr dieses Fehlverhalten gab es eine Schluumlsselszeneals naumlmlich im Zuge des Arginusenprozesses ein Mann aus der auf-gehetzten Menge rief es sei eine Ungeheuerlichkeit wenn man denDemos nicht tun lasse was er wolle und gleich darauf durchgesetzt

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7 Platon VII Brief 325 Endash326 A8 Ebd 325 DndashE

wurde dass die angeklagten Seeoffiziere en bloc verurteilt wurdenund nicht wie es das Gesetz verlangte jeder einzeln Der Einzigeder sich diesem rechtswidrigen Beschluss widersetzte war Sokrates9

Dass dieser Staat ausgerechnet seinen gerechtesten Buumlrger zumTode verurteilt hatte hat Platon nie verziehen Da indes die aus-schlaggebende Mehrheit der Geschworenen ihr Urteil wohl kaumfuumlr ungerecht hielt sah Platon sich verpflichtet allen ebenso gesinn-ten Athenern vorzutragen was an und fuumlr sich Gerechtigkeit wirklichist und zwar in der Politeia aus dem Munde eben des Sokrates Danun der Staat fuumlr die Gerechtigkeit der groumlszligere und besser sichtbareBewaumlhrungsort ist als der Einzelne schlug Sokrates vor den Begriffvon Gerechtigkeit zunaumlchst im Blick auf den Staat zu entwickeln (Po-liteia 368 E 472 B) Die Frage nach der Gerechtigkeit konkretisiertesich auf diese Weise zur Frage nach dem gerechten Staat Folgerichtigsetzte Platon im Geist des Sokrates der attischen Demokratie mitihrem falschen Machtwillen einen auf reiner Vernunft beruhendenIdealstaat entgegen von dessen Vorzuumlgen er vielleicht schon dienaumlchste Generation der Athener zu uumlberzeugen hoffte10 anderenfallskoumlnne man nur noch auf einen Gluumlcksschlag von auszligen (τύχη) set-zen oder dass sich dank goumlttlicher Fuumlgung ein Staatenlenker mit derPhilosophie befasse11 Die Befuumlrchtung der Philosoph koumlnne in seinereigenen Stadt wenn uumlberhaupt dann nur dank goumlttlicher Fuumlgung po-litisch taumltig werden (Politeia 592 A) wollte Platon allerdings fuumlr sichnicht als Entschuldigung gelten lassen im Gegenteil Platon ver-sicherte er sei eigens nach Syrakus gereist damit man ihm nicht vor-halten koumlnne er sei nur im Felde der Theorie stark ziehe sich aberzuruumlck wenn es an die praktische Ausfuumlhrung gehe (VII Brief328 C) Vielmehr war fuumlr ihn der gerechte Staat Inhalt philosophi-scher Reflexion mit dem Ziel seiner Verwirklichung

Im idealen Staat darf die Entscheidungsbefugnis nur bei Buumlrgernliegen die allein durch philosophisch uumlberpruumlfte Qualifikation undnicht durch Loswahl in ihr Amt gelangt sind Nur wer die Houmlhle derdie Menge auszeichnenden Kurzsichtigkeit verlassen und dank uumlber-legener Vernuumlnftigkeit die Idee des Guten geschaut hat vermag pri-vat wie oumlffentlich vernuumlnftig zu handeln12 eben seitdem er sich von

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9 Xenophon Hellenika 1 7 12ndash16 Vgl unten Anm 38 S 137 und Anm 17 S 14810 Platon Politeia 315 CndashD11 Platon VII Brief 326 A12 Platon Politeia 517 C

der Aussageabsicht der drei beruumlhmten Gleichnisse hat uumlberzeugenlassen dass naumlmlich das Gerechte das Gute ist und nicht das sinnlicheInteresse der auf den Schein fixierten Menge13 Entsprechend heiszligt esin Platons 8 Brief (355 A) Fuumlr besonnene Menschen ist Gott das Ge-setz fuumlr die unvernuumlnftigen ist es die Lust Das Gute hat also densel-ben Stellenwert wie Gott und bildet wie dieser insofern den Welt-grund als es weil jenseits (ἐπέκεινα) des daseienden Universumsangesiedelt im Rang noch uumlber dieses hinausragt und sich heilsambewaumlhrt indem es dank seinem Sproumlssling dem Sonnenlicht Orien-tierung durch Sichtbarkeit der Dinge sowie Leben Wachstum undGedeihen moumlglich macht14 Die Ausrichtung amGuten als Weltgrunderhebt das Gerechte zur unbedingten Handlungsnorm fordert abernicht nur sondern gewaumlhrt in einem damit den Buumlrgern auch wahr-haft praktischen Nutzen naumlmlich das Leben im sittlichen Gesetzes-staat ndash die Frucht eben der Herrschaft der Gerechtigkeit15 Damit istdie Frage zu deren Beantwortung Sokrates die drei beruumlhmtenGleichnisse vortrug naumlmlich ob Lust oder das Gerechte das wahreGut ist beantwortet und die implizit gegebene Antwort die auf derUnterscheidung der vier Erkenntnisstufen im Liniengleichnis beruhtbesagt dass die beschraumlnkten intellektuellen Moumlglichkeiten der Men-ge zu dieser Einsicht nicht ausreichen diese also fuumlglich zu entmuumln-digen ist schon um den Demagogen ein leichtglaumlubiges Publikum zuentziehen

Der Form nach stand bei aller Reserve Platon durchaus in derSchuld der Demokraten Sie waren es die unter Kleisthenes den atti-schen Staat als rational verwalteten Einheitsstaat geschaffen hattender nicht mehr nach Staumlmmen Sippen und oumlrtlich bedingten Loyali-taumlten fragmentiert war Unter Phylen verstand Kleisthenes nichtmehr den Oberbegriff vertikal strukturierter Personenverbaumlnde son-dern horizontal strukturierter einheitlich verwalteter Bezirke nachdem Territorialprinzip Das Volk der Athener (ὁ τῶν Ἀθηναίων δῆ-μος) trat an die Stelle der Klientel wie in Rom der populus Romanusan die Stelle der gentes Platon musste also das Prinzip staatlicherEinheit selbst nicht mehr erfinden wohl aber dem Inhalt nach fuumlr alleZukunft beschlieszligen dass nicht nur dieser sondern jeder Staat sei-nem Wesen gemaumlszlig in der Pflicht sei sich als raquoWirklichkeit der sitt-

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Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

13 Ebd 505 B14 Ebd 509 AndashB15 Ebd 505 A

lichen Ideelaquo (Hegel) zu bewaumlhren Uumlber diesen Beschluss hinausdachte Platon noch einen Schritt weiter denn es konnte nicht ge-nuumlgen einen Staat philosophischer Sittlichkeit lediglich zu gruumlndener musste auch erhalten werden ndash durch ein Kollegium integrer Ge-setzeshuumlter die das muumlhsam Erreichte unveraumlndert zu bewahren hat-ten16 Diese Position waumlre etwa im Arginusenprozess unbesetzt ge-wesen haumltte Sokrates sie nicht eingenommen und auf Einhaltungder Gesetze bestanden

Ebenso wie die vorgegebene Staatlichkeit hat auch das mit dieserverbundene demokratische System der Rechtspflege das das archai-sche Selbsthilfeprinzip abloumlste Eingang in Platons Philosophie gefun-den Die archaische Selbsthilfe bestand darin dass die durch einenUumlbergriff beleidigte Sippe der Sippe des Taumlters die Fehde ankuumlndigte(πρόρρησις) deren Beendigung durch Abschluss eines Suumlhnevertra-ges (αἴδεσις) erfolgte Dass bei dieser Form der Konfliktbeilegungdurch Aussoumlhnung die staumlrkere Sippe in der Regel ihre Loumlsungsvor-stellungen durchsetzte liegt auf der Hand Der Schritt fuumlr Schritterfolgte Gerichtszwang durch den der Staat erst allmaumlhlich das Mo-nopol der Rechtspflege uumlbernahm hatte zum Ziel dass anstelle zufaumll-liger Machtverhaumlltnisse die Systematik von Recht und Gesetz imStreit der Parteien entscheidet17 Diesen Sinn der nacharchaischenRechtsprechung hat Ovid mit dem Hexameter zusammengefasstinde datae leges ne firmior omnia posset (Fasten 3 279) Im Gor-gias-Dialog haumllt nun Platon der Rhetorik vor sie sei der methodischeVersuch gerade diese Errungenschaft der Rechtsprechung ruumlckgaumln-gig zu machen Kallikles ein Anhaumlnger des Rhetoriklehrers Gorgiasspricht unverhohlen aus dass Herakles voumlllig im Recht war Geryonesseine Rinder die er weder gekauft noch zum Geschenk erhalten hatteohne Bedenken zu stehlen da das von Natur Gerechte darin bestehedass alles Eigentum der Schwaumlcheren in Wahrheit dem Staumlrkeren ge-houmlre18 Sokrates haumllt Kallikles entgegen dass wahre Uumlberlegenheitnicht im Mehr-haben-Wollen sondern im Sittlich-besser-Sein be-stehe und beruft sich damit ebenso wie die Rechtsprechung auf ein

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16 Platon Politeia 484 B Nomoi 752 DndashE 754 Dndash755 C 770 AndashD 847 AndashD 959 Dndash961 CIm Abschnitt zu raquoDemetrios Phalereus ndash oder die vierzehnte Wendelaquo wird diese pla-tonische Vorgabe noch eine wesentliche Rolle spielen17 Zu diesen nicht leicht zu rekonstruierenden Prozessen sei auf die im Literaturver-zeichnis genannten Aufsaumltze von E Ruschenbusch verwiesen18 Platon Gorgias 484 BndashC

systematisches Kriterium um die individuelle Machtperspektive inSchranken zu weisen Dass Sokrates bei seinem Gespraumlchspartnermit dieser Argumentation nicht durchdringt ist allein der Borniert-heit des Kallikles zuzuschreiben

Es ist nicht zu leugnen dass Platon ebenso wie der Oligarch Kal-likles den Besseren das Wort redete aber unter den Besseren wirklichBessere verstand die den Staat als sublimierte Oligarchie tragen soll-ten Von dieser Staatslehre gilt es also zu uumlberzeugen und das ver-suchte Platon auch ganz im Sinne des Sokrates zunaumlchst durch sach-liche Gespraumlchsfuumlhrung oder Dialektik (διαλέγεσθαι) die mitkurzen Saumltzen Rechenschaft fordert und gewaumlhrt Sokrates mochtekeine langen Reden die geeignet sind das Ausgangsthema nach eini-ger Zeit aus den Augen zu verlieren19 Auch mochte es Sokrates garnicht wenn Unterredner sich streitsuumlchtig (ἐρίζειν) an Worten fest-bissen statt am intendierten Inhalt20 Das richtet sich gegen Protago-ras der als Erfinder der Eristik Wortklauberei betrieb statt sich aufdie Bedeutung des Sachverhalts zu konzentrieren21 Insgesamt ist diesokratische Version von Dialektik ein Gegenentwurf zur raquosogenann-ten Kunst der Rhetoriklaquo22 die lediglich den Uumlberredungserfolg zumZiel hat und nicht etwa wohlbegruumlndete Wahrheiten herausarbeitenwill Nun musste Platon etwa im Gespraumlch mit Kallikles im Gorgiasoder mit Thrasymachos im ersten Buch der Politeia erkennen dassgerade seine Sachlichkeit bei Boumlswilligen auf taube Ohren stoumlszligt Erentwickelte daher noch in der Politeia einen uumlber Sokrates hinaus-gehenden Begriff von Dialektik die nicht diskutiert sondern dekre-tiert nachdem diese durch reines auf das Gespraumlch mit sich selbstkonzentriertes Durchdenken des Wesentlichen frei von sinnlichenEindruumlcken zum Ziel der Erkenntnis des Guten gelangt ist (532 AndashB) Weil somit Dialektik zustaumlndig wird fuumlr die Vergegenwaumlrtigungdes Guten in der politischen Welt darf auch nur der ausgewieseneDialektiker Staatenlenker werden (534 CndashD) der auf seinen Einsich-ten beharrt auch wenn ihm seine Mitbuumlrger die Zustimmung ver-weigern Gegen vordergruumlndige Rechthaberei von wem immer sieausgeht verteidigt Platon das Prinzip vernuumlnftiger Argumentationgegen die Kraumlfte ihrer Blockierung

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Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

19 Platon Protagoras 336 AndashC Gorgias 474 B20 Platon Politeia 454 A21 Diogenes Laertios 9 5222 Platon Gorgias 448 D

Page 14: Platon und Aristoteles als Wegbereiter der praktischen ... · Differenzen zwischen Platon und Aristoteles ins Auge fallen. Wer jedoch Platon und Aristoteles zusammen gegen die später

Jahrhundert die Vollendung eines widerspruchsfrei verfassten Geset-zesstaates gelungen ist der im Uumlbrigen nicht von einem kuumlnstlichgesetzten Nullpunkt ausgegangen ist sondern hermeneutisch rekon-struierbar sich in organischem Wachstum seit Ion und Theseus in elfWenden entwickelt hat Der Ton der AP liegt nicht darauf dass kom-promissbereite Philosophie die Welt vor der ihr sonst eigenen Radi-kalitaumlt verschonen will sondern auf der im theoretischen Zusehengewonnenen Einsicht dass die Stadt gerade das philosophische Ur-anliegen der Gesetzestreue immer schon als legitimierendes Prinzipihres Handelns befolgt hat Die hermeneutische Zirkelstruktur be-steht also darin dass die Philosophie der Stadt dies als das an ihrWesentliche erklaumlrt was sie selbst hervorgebracht hat

Der Einfluss der Akademie und des Lykeion endete aber keines-wegs abrupt mit dem Jahre 322 als die Athener ihre Souveraumlnitaumlteinbuumlszligten und damit die unumgehbare Voraussetzung einer auf Sitt-lichkeit bestehenden politischen Theorie Dank makedonischer Un-terstuumltzung erzielten die Schulen durch Phokion und Demetrios Pha-lereus in den folgenden Jahren sogar weitaus mehr politischeWirkung als die beiden Gruumlnder zu ihren Lebzeiten Ebendiesem Er-folg hatten indes im Jahre 307 die Schulen den entscheidenden Ruumlck-schlag zu verdanken als der aus ihren Reihen hervorgegangeneDemetrios Phalereus nach zehnjaumlhriger Herrschaft aus der Stadt ver-trieben wurde Rigide Entmuumlndigung der Buumlrger bei eigenem Nar-zissmus samt Selbstbereicherung brachten nicht nur Demetrios selbstum jeden Kredit sondern auch die Philosophie der Akademie und desLykeion nach deren Vorgaben er als ihr Angehoumlriger in Athen regierthatte Die empoumlrten Demokraten reagierten mit der Androhung derTodesstrafe und Verbannung der Philosophen und unter Philoso-phen verstanden sie unterschiedslos alle Platoniker und AristotelikerMit dieser harschen Reaktion laumluteten die Athener zugleich die Ge-burtsstunde der Stoiker ein die gleichsam in ihrer Gruumlndungsurkun-de festschrieben dass ihre Ethik die Sittlichkeit der Schule und nichtdie Sittlichkeit der Stadt zum Gegenstand habe Die Stoiker erkann-ten dass sie die Philosophie unter Wahrung ihrer Autonomie nurfortfuumlhren konnten wenn sie der Stadt versicherten dass sie andersals Platon und Aristoteles ihre Gesetzgebung ausschlieszliglich fuumlr ihreSchule als geschlossene secta erlieszligen Die erklaumlrtermaszligen der Poliszugewandte Philosophie die Platon und Aristoteles gemeinsam ver-treten hatten war ihnen nunmehr gemeinsam zum Verhaumlngnis ge-worden

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Einleitung ndash zur Erlaumluterung der These

Unter dem Druck der politischen Umstaumlnde beschlossen dieStoiker ihre Sezession und erklaumlrten die Beschaumlftigung mit der Polisals einst zentrales Thema der Philosophie fuumlr nichtig Daruumlber hinausdistanzierten sie sich ebenfalls noch in manch anderem Punkt vonPlaton und Aristoteles wenn sie etwa im Felde der theologia und derAffektlehre Theoreme vortrugen die erst angesichts der Lage seit 307auf die Tagesordnung gerieten So antworteten sie auf den Herrscher-kult der implizit die unsterblichen Goumltter zu zweitrangigen Groumlszligenherabstufte mit der providentia-Lehre um zu demonstrieren wessenFuumlrsorge in Wahrheit die Menschheit ihr Uumlberleben zu verdankenhabe Da aber die Goumltter bei rehabilitierender Bestaumltigung ihrer ndashden kultisch verehrten Diadochen uumlberlegenen ndash Allmacht zwingendauch fuumlr alle Uumlbel in derWelt verantwortlich waren musste Chrysippden Streit zwischen Homer und Platon ob die Goumltter fuumlr alles odernur fuumlr das Gute zustaumlndig seien erneut austragen Es war also letzt-lich das aumluszligere Phaumlnomen des Herrscherkultes der diesen Streit un-ter den Gelehrten ausloumlste Aumlhnlich lagen die Dinge beim Problemder Affekte Der dank der politischen Ereignisse des Jahres 307 er-zwungene Ruumlckzug der Philosophie auf sich selbst war nur unter derBedingung entschieden abschirmender Selbstbehauptung nach auszligenertraumlglich Dieselbe Bedingung der Autonomie musste aber auch nachinnen erfuumlllt sein und zwar gegen ein ganzes Buumlndel von denkbarenAffekten die bei Verzicht auf ihre Einhegung die muumlhsam nach au-szligen behauptete Souveraumlnitaumlt wieder untergraben haumltten Folgerichtigwar die Affektlosigkeit (ἀπάθεια) das zentrale Thema der stoischenEthik ndash mit dem Ziel der Wahrung der inneren Autonomie Die Stoi-ker konnten daher nicht das Risiko eingehen die Behandlung derAffekte wie Aristoteles wollte eher beilaumlufig den Nachwirkungender von der tragischen Dichtung ausgeloumlsten Katharsis zu uumlberlassenStattdessen mussten die Stoiker darauf bedacht sein eine spezielleTherapie fuumlr den Fall zu entwickeln dass wie zu befuumlrchten denAffekten katechismuswidrig hier und da eben doch ein Ausbruch ge-lingen sollte

Obwohl die Stoiker als die neuen Meinungsfuumlhrer Platon undAristoteles fuumlr Jahrhunderte in den Hintergrund zu draumlngen ver-mochten mussten sie am Ende doch erleben dass die beiden Arche-geten im Status von unangefochtenen Klassikern ihre Renaissanceerlebten Zwar sicherten die Stoiker durch ihren weisen Ruumlckzug derphilosophia perennis die Kontinuitaumlt duumlrften aber am Ende aus dem-selben Grund dem sie ihr Entstehen verdankten wieder von Platon

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Einleitung ndash zur Erlaumluterung der These

und Aristoteles in den Schatten gestellt worden sein Denn Lehrerwie Schuumller verstanden anders als die Stoiker unter Schule stets eineInstanz der systematischen Beschaumlftigung gerade auch mit der Au-szligenwelt Dieser erweiterte Argumentbereich konnte dem Kreis umPlaton und Aristoteles schlieszliglich nicht mehr schaden als es keinedirekt angesprochenen Zeitgenossen mehr gab die sich durch ihreLehren und das Handeln ihrer Schuumller provoziert fuumlhlten Von sol-chen Gefuumlhlen unberuumlhrt suchen hingegen spaumltere Generationen beiPlaton und Aristoteles gerade wegen ihres umfassenden Blickfeldesnach Belehrung und gegebenenfalls Bestaumltigung eigener Theorienund das sowohl im Grundsaumltzlichen als auch in Einzelfragen

Platons Philosophie nahm ihren Ausgang von der ganz be-stimmten Frage der Apologie wie Sokrates der gerechteste BuumlrgerAthens gegen die Asebieklage des Anytos Meletos und Lykon zuverteidigen sei In den Kategorien der Theorie der Rhetorik haumltte die-se Frage als eine quaestio finita gegolten die im Verfolg eine Fuumlllevon sich anschlieszligenden quaestiones infinitae ausloumlsen sollte wienaumlmlich ein gerechter Staat moumlglich sei der vom Geist seiner gerech-ten Buumlrger gepraumlgt waumlre Mit dem daraus erwachsenen Fundus vonFragen und erteilten Antworten haben Platon und entsprechend Aris-toteles der Nachwelt einen geistigen Reichtum hinterlassen dem sieschlieszliglich ndash nach zwischenzeitlicher Suspendierung ndash ihre Anerken-nung als unumstrittene Klassiker bis in unsere Tage zu verdankenhaben Angesichts solcher Hinterlassenschaft darf sich die Philo-sophie mit gutem Gewissen als Vergegenwaumlrtigung ihrer eigenen Ge-schichte definieren Vergegenwaumlrtigung wiederum ist im weitestenSinne das Gemeinschaftswerk der subtilitas intellegendi und der sub-tilitas applicandi und das so bestimmte Vorgehen ist auch dieVoraussetzung fuumlr die Zeugenrolle die Platon und Aristoteles beider philosophischen Begleitung der Preuszligischen Reformen durchG W F Hegel und erneut bei der geistigen Gruumlndung der Bundes-republik nach dem ZweitenWeltkrieg durch Joachim Ritter und seineSchuumller spielten Dass Platon und Aristoteles fuumlr den buumlrgerlichenRechtsstaat in den Zeugenstand traten setzt den hermeneutischenPhilosophiebegriff voraus demgemaumlszlig die Philosophie auf der Praumlsenzihrer eigenen Geschichte beruht Damit ist zugleich die Frage nachden Aussichten einer umfassenden Erneuerung der praktischen Phi-losophie gestellt der sich so lautet unsere These Joachim Ritter undseine Schuumller widmeten indem sie dem Primat der praktischen Ver-nunft die Ehre erweisend die klassischen Disziplinen der philosophia

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Einleitung ndash zur Erlaumluterung der These

practica universalis ndash Ethik Politik Oumlkonomik ndash schrittweise auf-nahmen und in ein systematisches Verhaumlltnis zur modernen Weltsetzten

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Einleitung ndash zur Erlaumluterung der These

Hermeneutikgeleitete Chronikder Wege und Umwege derphilosophia practica universalisvon den Anfaumlngen bis in die Gegenwart

Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

Vom Ende her gesehen koumlnnte leicht der Eindruck entstehen Platon(42827ndash34847) habe sich von vornherein als Lebenswerk die Gruumln-dung einer philosophischen Schule zum Ziel gesetzt in deren Mittel-punkt die Ausbildung einer systematischen politischen Theoriestehen sollte Dieser Eindruck taumluscht indes Wie Platon selbst imVII Brief (324 Bndash326 D) seinen Werdegang darstellt hatte er ur-spruumlnglich gar nicht die Absicht eine Schule zu gruumlnden die sichphilosophisch mit dem Staat befasste Stattdessen draumlngte er zunaumlchstauf eigenes politisches Handeln als er in der Herrschaft der DreiszligigTyrannen (40403) eine Chance sah einen Staat zu errichten der freiwar von den Schwaumlchen der Demokratie Enttaumluscht musste er aberbald erkennen dass die fruumlheren Verhaumlltnisse in der Demokratie ver-glichen mit der Gegenwart unter den Dreiszligig Gold (sic) waren Fol-gerichtig wandte er sich von den Dreiszligig ab und war nach deren Sturzwiederum bereit zu politisch aktiver Taumltigkeit wurde aber erneut ent-taumluscht ndash durch das Todesurteil gegen Sokrates den Mangel an poli-tischen Freunden die grassierende Geringachtung der Gesetze unddie Inthronisierung der Lust (ἡδονή) als Maszlig der Dinge Erst darauf-hin widmete sich Platon der theoretischen Beschaumlftigung mit demwahren Staat nicht ohne fuumlr erneute praktische Taumltigkeit in der Poli-tik bessere Zeiten abzuwarten die dann eintraumlten wenn wahrhaftePhilosophen die Herrschaft im Staat uumlbernaumlhmen und nicht die durchdas Los ins Amt befoumlrderte Inkompetenz Seine Philosophie war alsoOpposition auszligerhalb der politischen Buumlhne gedacht als ungewollteZwischenphase die erst endete wenn die Staumldte nach philosophi-schen Grundsaumltzen verfasst waumlren Die Gruumlndung der Schule erfolgtealso eher aus Verlegenheit sie war nicht die erfolgreiche Ausfuumlhrungeiner urspruumlnglichen Absicht

Mit seinem Bericht im VII Brief laumlsst Platon also durchblickendass er gleichsam widerWillen die Akademie als Schule gruumlndete undderen erstes Schulhaupt wurde Die Schule galt Platon als Surrogateiner Polis der vollendeten Sittlichkeit Folgerichtig war das Leit-thema der Schule die Lehre vom wahren Staat der das bloszlige Surrogatwieder uumlberfluumlssig machen sollte Platon verschweigt auch nicht vonwelchem Standpunkt aus er die Grundzuumlge des idealen Staates ent-wickelte Waumlhrend er die Schwaumlchen der Demokratie eher in derenStrukturen suchte ortete er die Schwaumlchen der Oligarchie im persoumln-lichen Versagen insbesondere der Dreiszligig Tyrannen Demgemaumlszlig plauml-

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dierte er fuumlr eine zu wahrer Aristokratie veredelte Oligarchie die vonindividuellen und strukturellen Defiziten frei war Diese dem Best-moumlglichen verpflichtete Parteinahme erfuumlllte zugleich die Anforde-rungen einer auf Widerspruchsfreiheit bedachten Theorie sofernPlaton alle seine politischen Vorstellungen auf Vernunftbegriffe zu-ruumlckfuumlhrte und nie vergaszlig sie geltend zu machen wo immer ihreBeachtung zwingend geboten war Mag es Platon auch nicht gelungensein in Athen einen Wiedergaumlnger des Sokrates als philosophischenHerrscher zu bestallen und auf diese Weise sein praktisches Ziel zuerreichen so bleibt doch als Ergebnis seiner Anstrengungen zumin-dest als Fortschritt im Bewusstsein dies bestehen dass von nun anpolitische Vorgaumlnge unvermeidlich von der Aufmerksamkeit einerauszligerhalb der politischen Buumlhne angesiedelten Vernunftkritik beglei-tet wurden Insofern blieb Platons mutiger Schritt eine politischeEntitaumlt systematisch in Zweifel zu ziehen und sie auch noch miteinem Gegenmodell zu konfrontieren nicht ohne kuumlnftige Folgen

Einstweilen blieb aber Platons politische FundamentaloppositionSache der Schule deren Eigengesetzlichkeit sich auf die inhaltlicheWeiterarbeit spuumlrbar auswirken sollte Zur (nachsokratischen)Grund-ausstattung der Schule gehoumlrte die Schriftlichkeit die Platon in nichtgeringe Verlegenheit brachte weil er auf unmittelbare Praumlsenz derVernunft setzte und nicht auf eine mittelbare die sich auch nochdurch Ablage ins Buumlcherregal unschaumldlich machen lieszlig1 Zudemzeichnete sich uumlber das politische Kerninteresse hinaus eine durchschultypisches Weiterfragen ausgeloumlste Verfaumlcherung ab die Platonnoch identitaumltsphilosophisch aufzufangen vermochte die aber auflange Sicht jenseits der Politik zur Etablierung von Einzeldisziplinenwie Ontologie Kosmologie Mathematik und Erkenntnistheorie fuumlhr-te Den Sophisten ging es aumlhnlich wie Sokrates von Protagoras er-faumlhrt Nur bei ihm selbst erfuumlhren die Schuumller das Noumltige uumlber ihrKerngeschaumlft das Haus gut zu verwalten und sich auf der Agoraacute zubewaumlhren waumlhrend sie bei anderen Sophisten wie Hippias von Elisverdorben wuumlrden weil diese sie mit Unnuumltzem wie Arithmetik As-tronomie Geometrie und Dichtung traktierten2 So weitete also auchdie Schule Platons allmaumlhlich ihren Themenkreis immer weiter aus

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Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

1 Auf dieses Merkmal der Schule ist G Bien naumlher eingegangen Das Theorie-Praxis-Problem und die politische Philosophie bei Platon und Aristoteles in Phil Jb 76(196869) 264ndash314 hier S 307ndash3132 Platon Protagoras 318 Dndash319 A

je mehr ihre Vorlaumlufigkeit die mit einem politischen Erfolg der Fun-damentalopposition ihr Ende finden sollte in Vergessenheit gerietAristoteles sollte an seinem Lehrer in der Sache manche Kritik uumlbenaber die Regeln der Institution Schule ihre Hinwendung zur Schrift-lichkeit und ihre Etablierung von Einzeldisziplinen (Pragmatien) ver-standen sich fuumlr ihn schon von selbst

Aristoteles (384ndash322) hatte als Siebzehnjaumlhriger seine makedo-nische Heimat verlassen um sich im Jahre 36766 der Akademie an-zuschlieszligen Da war Platon schon uumlber fuumlnfzig Jahre alt und hatteseine philosophische Arbeit dogmatisch abgeschlossen Da er in die-sen Tagen kurz vor seiner zweiten Reise nach Syrakus stand hat ervielleicht erst nach seiner Ruumlckkehr erkannt wer von nun an seinbegabtester Schuumller war Als Aristoteles einmal bei einer Vorlesungfehlte rief Platon verzweifelt aus raquoDer Geist ist nicht zugegenstumpf ist da die Houmlrerschaftlaquo ndash im Original ein ausgefeilter jambi-scher Trimeter ὁ νοῦς ἄπεσ|τιν κωφὸν τἀκ|ροατήριον3 Aristote-les wird sich dieses Lob seines Lehrers gewiss bei vielen Gelegenhei-ten verdient haben nicht zuletzt aber dank der Art wie er sich beiPlatons beruumlhmter Altersvorlesung raquoUumlber das Gutelaquo4 bewaumlhrte Alsdieser das Gute kosmologisch im zahlhaft bestimmten Einen verorte-te blieben die Houmlrer einer nach dem anderen enttaumluscht der Vor-lesung fern weil sie Ausfuumlhrungen uumlber seelische koumlrperliche undaumluszligere Guumlter im gemeinen Verstande erwartet hatten Auf diese Re-aktion der Houmlrer hatte Platon nur gewartet er wollte wissen wer mitseinem Vorstellungshorizont uumlber den der Menge hinausging undsich damit als genuiner Philosoph erwies Tatsaumlchlich harrten nurwenige Houmlrer bis zum Ende aus und empfingen den Ritterschlageines wahren Philosophen darunter natuumlrlich Aristoteles Dieser er-klaumlrte allerdings spaumlter er werde sich an das allgemein Anerkanntehalten statt aus dem Satz dass das Eine ein Gut sei herzuleiten dassdie Gerechtigkeit ein Gut sei5

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Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

3 Zitiert nach V Rose Aristotelis qui ferebantur librorum fragmenta collegit V RLeipzig 18701886 repr Stuttgart 1967 S 4284 Das Vorlesungsmanuskript ist im Original nicht erhalten Die zahlreichen Para-phrasen bei anderen Autoren hat W D Ross Aristotelis Fragmenta Oxford 1935S 111ndash120 gesammelt5 Aristoteles Eudemische Ethik 1218 a 15ndash22 Der Aristotelesschuumller Aristoxenosbestaumltigte diese Reaktion seines Lehrers in seinen ἁρμονικὰ στοιχεῖα (ed P Mar-quard Die harmonischen Fragmente des Aristoxenos Berlin 1868 S 30) und fuumlgtehinzu es empfehle sich zu Beginn einer Vorlesung sein Thema genau anzukuumlndigen

Im Uumlbrigen sparte auch Aristoteles nicht mit Lob auf seinenLehrer Im Rahmen seiner Inschrift auf einem Altar der Freundschaftden Eudemos von Kypros von einer Reise nach Athen zuruumlckgekehrtgestiftet hatte ruumlhmt Aristoteles Platon als Mann den schlechteMenschen nicht einmal loben duumlrften und als Mann der als Ersterunter den Menschen durch eigene Lebensfuumlhrung und vorgetrageneGruumlnde demonstriert habe dass der gute Mann ebendeshalb auch dergluumlckliche Mann ist Zwar taucht im uumlberlieferten Text der Distichenweder der Name Platons noch der des Eudemos auf Olympiodor ver-sichert aber Aristoteles habe in seiner Widmung an den Stifter Eude-mos ebendieses Lob auf Platon ausgesprochen6 Bei welchem Lehrerhaumltte Aristoteles auch besser lernen koumlnnen wie man wesentlicheaber oft uumlbersehene Fragen stellt wie man fuumlr andere uumlberraschendauf Zusammenhaumlnge und Widerspruumlche aufmerksam macht wieman auf den ersten Blick unerkannte Implikationen und Konsequen-zen herausarbeitet wie man unzureichend Bewiesenes als solchesidentifiziert wie man einmal erzielte Uumlbereinkuumlnfte stets im Ge-daumlchtnis praumlsent haumllt wie man seine Argumente durch Ruumlckfuumlhrungauf Gruumlnde und Ursachen als anerkannte Berufungsinstanzen uumlber-zeugend vortraumlgt

Zur gegenseitigen Wertschaumltzung aufgrund ihrer intellektuellenVorzuumlge gesellte sich die politische Uumlbereinstimmung beider Philoso-phen die neben der Sympathie fuumlr Makedonien die entschieden ab-lehnende Haltung gegenuumlber der attischen Demokratie betraf FuumlrPlaton fiel die Suche nach der gerechten Polis als dem hiesigen Kor-relat des absolut Guten mit entschiedener Demokratiekritik zusam-men Seine politische Leitidee bildete die Gerechtigkeit als Einheit derKardinaltugenden mit dem Ziel der Baumlndigung des sinnlichen Inte-resses (ἡδονήvoluptas) waumlhrend in seinen Augen die demokrati-schen Leitideen der Gleichheit und Freiheit lediglich auf eine Beschouml-nigung der voluptas als des wahren Bestimmungsgrundes der Mengehinausliefen Diesen von voluptas durchdrungenen Staat sah Platonals derart heillos verfahren an dass er anknuumlpfende Schritt-fuumlr-Schritt Reformen gar nicht erst in Betracht zog Stattdessen setzte

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Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

und wenn man Paradoxes vortragen wolle dies auch unmissverstaumlndlich zu sagen Sobliebe den Houmlrern die Enttaumluschung erspart wenn sie in Erwartung einer Belehrunguumlber Guumlter wie Reichtum Gesundheit Gluumlck am Ende lediglich die blasse Auskunfterhielten das Gute sei Eines6 Olympiodoros in Platonis Gorgiam XLI 10 ad p 515 C

Platons politische Opposition mit anderen Mitteln7 auf eine vomNullpunkt aus fehlerfrei in Gedanken durchkonstruierte Polis in derdie schon seit Kleisthenes bestehende Einheitlichkeit und Geschlos-senheit des Gemeinwesens gewahrt blieben aber konkrete demokra-tische Komponenten wie Rat und Volksversammlung Geschwore-nengericht und Flotte Panathenaumlen Dionysien und Eleusinien nichteinmal dem Namen nach vorkamen Bei dieser Konstellation gerietenSchule und Polis zwangslaumlufig in ein Verhaumlltnis sich gegenseitigenIgnorierens Die Schule fuumlhrte ihre Debatten als private Institutionohne Beruumlcksichtigung der Vorgaumlnge auf der Agoraacute und die Agoraacutemuumlhte sich mit den ihr eigenen Mitteln um eine Konsolidierung derdemokratischen Institutionen ohne die Einwaumlnde der Schule zurKenntnis zu nehmen Nun mag Platon einen offenbar unpolitischenweil von den Realitaumlten abgehobenen Ausgangspunkt gewaumlhlt unddamit seiner Weiterarbeit wie spaumlter die hermeneutisch argumentie-rende Kritik des Aristoteles zeigen sollte einen schlechten Dienst er-wiesen haben aber ihn leitete ohne jeden Zweifel ein handfestes Mo-tiv und eine daraus abgeleitete allgemeine bis in unsere Tage zubeherzigende Grundeinsicht

Platons Schluumlsselerlebnis war das Todesurteil gegen Sokratesdas eine Mehrheit unter fuumlnfhundert Geschworenen faumlllte obwohlsich Sokrates in allen Anklagepunkten ganz offenkundig als nichtschuldig erwiesen hatte Moumlglich wurde diese Gerichtsentscheidungweil es den Anklaumlgern wie routinierten Demagogen gelang mit ihrenUnwahrheiten eine ignorante Menge auf ihre Seite zu ziehen In derTat hatten sie wie Sokrates gleich im zweiten Satz der Apologie aus-ruft nicht ein einzigen wahren Satz vorgetragen (ἀληθές γε hellip οὐ-δὲν εἰρήκασιν) Der offenbar unausrottbaren Moumlglichkeit dass De-magogen gerade mit der Unwahrheit Mehrheiten fuumlr sich gewinnenkoumlnnen galt zeitlebens Platons kritische Aufmerksamkeit Tatort wa-ren nicht nur die Geschworenengerichte sondern nicht minder dieVolksversammlung in der interessierte Redner Mehrheitsbeschluumlsse(ψηφίσματα) herbeifuumlhrten mit denen sie bestehende Gesetze un-terliefen8 Auch fuumlr dieses Fehlverhalten gab es eine Schluumlsselszeneals naumlmlich im Zuge des Arginusenprozesses ein Mann aus der auf-gehetzten Menge rief es sei eine Ungeheuerlichkeit wenn man denDemos nicht tun lasse was er wolle und gleich darauf durchgesetzt

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Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

7 Platon VII Brief 325 Endash326 A8 Ebd 325 DndashE

wurde dass die angeklagten Seeoffiziere en bloc verurteilt wurdenund nicht wie es das Gesetz verlangte jeder einzeln Der Einzigeder sich diesem rechtswidrigen Beschluss widersetzte war Sokrates9

Dass dieser Staat ausgerechnet seinen gerechtesten Buumlrger zumTode verurteilt hatte hat Platon nie verziehen Da indes die aus-schlaggebende Mehrheit der Geschworenen ihr Urteil wohl kaumfuumlr ungerecht hielt sah Platon sich verpflichtet allen ebenso gesinn-ten Athenern vorzutragen was an und fuumlr sich Gerechtigkeit wirklichist und zwar in der Politeia aus dem Munde eben des Sokrates Danun der Staat fuumlr die Gerechtigkeit der groumlszligere und besser sichtbareBewaumlhrungsort ist als der Einzelne schlug Sokrates vor den Begriffvon Gerechtigkeit zunaumlchst im Blick auf den Staat zu entwickeln (Po-liteia 368 E 472 B) Die Frage nach der Gerechtigkeit konkretisiertesich auf diese Weise zur Frage nach dem gerechten Staat Folgerichtigsetzte Platon im Geist des Sokrates der attischen Demokratie mitihrem falschen Machtwillen einen auf reiner Vernunft beruhendenIdealstaat entgegen von dessen Vorzuumlgen er vielleicht schon dienaumlchste Generation der Athener zu uumlberzeugen hoffte10 anderenfallskoumlnne man nur noch auf einen Gluumlcksschlag von auszligen (τύχη) set-zen oder dass sich dank goumlttlicher Fuumlgung ein Staatenlenker mit derPhilosophie befasse11 Die Befuumlrchtung der Philosoph koumlnne in seinereigenen Stadt wenn uumlberhaupt dann nur dank goumlttlicher Fuumlgung po-litisch taumltig werden (Politeia 592 A) wollte Platon allerdings fuumlr sichnicht als Entschuldigung gelten lassen im Gegenteil Platon ver-sicherte er sei eigens nach Syrakus gereist damit man ihm nicht vor-halten koumlnne er sei nur im Felde der Theorie stark ziehe sich aberzuruumlck wenn es an die praktische Ausfuumlhrung gehe (VII Brief328 C) Vielmehr war fuumlr ihn der gerechte Staat Inhalt philosophi-scher Reflexion mit dem Ziel seiner Verwirklichung

Im idealen Staat darf die Entscheidungsbefugnis nur bei Buumlrgernliegen die allein durch philosophisch uumlberpruumlfte Qualifikation undnicht durch Loswahl in ihr Amt gelangt sind Nur wer die Houmlhle derdie Menge auszeichnenden Kurzsichtigkeit verlassen und dank uumlber-legener Vernuumlnftigkeit die Idee des Guten geschaut hat vermag pri-vat wie oumlffentlich vernuumlnftig zu handeln12 eben seitdem er sich von

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Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

9 Xenophon Hellenika 1 7 12ndash16 Vgl unten Anm 38 S 137 und Anm 17 S 14810 Platon Politeia 315 CndashD11 Platon VII Brief 326 A12 Platon Politeia 517 C

der Aussageabsicht der drei beruumlhmten Gleichnisse hat uumlberzeugenlassen dass naumlmlich das Gerechte das Gute ist und nicht das sinnlicheInteresse der auf den Schein fixierten Menge13 Entsprechend heiszligt esin Platons 8 Brief (355 A) Fuumlr besonnene Menschen ist Gott das Ge-setz fuumlr die unvernuumlnftigen ist es die Lust Das Gute hat also densel-ben Stellenwert wie Gott und bildet wie dieser insofern den Welt-grund als es weil jenseits (ἐπέκεινα) des daseienden Universumsangesiedelt im Rang noch uumlber dieses hinausragt und sich heilsambewaumlhrt indem es dank seinem Sproumlssling dem Sonnenlicht Orien-tierung durch Sichtbarkeit der Dinge sowie Leben Wachstum undGedeihen moumlglich macht14 Die Ausrichtung amGuten als Weltgrunderhebt das Gerechte zur unbedingten Handlungsnorm fordert abernicht nur sondern gewaumlhrt in einem damit den Buumlrgern auch wahr-haft praktischen Nutzen naumlmlich das Leben im sittlichen Gesetzes-staat ndash die Frucht eben der Herrschaft der Gerechtigkeit15 Damit istdie Frage zu deren Beantwortung Sokrates die drei beruumlhmtenGleichnisse vortrug naumlmlich ob Lust oder das Gerechte das wahreGut ist beantwortet und die implizit gegebene Antwort die auf derUnterscheidung der vier Erkenntnisstufen im Liniengleichnis beruhtbesagt dass die beschraumlnkten intellektuellen Moumlglichkeiten der Men-ge zu dieser Einsicht nicht ausreichen diese also fuumlglich zu entmuumln-digen ist schon um den Demagogen ein leichtglaumlubiges Publikum zuentziehen

Der Form nach stand bei aller Reserve Platon durchaus in derSchuld der Demokraten Sie waren es die unter Kleisthenes den atti-schen Staat als rational verwalteten Einheitsstaat geschaffen hattender nicht mehr nach Staumlmmen Sippen und oumlrtlich bedingten Loyali-taumlten fragmentiert war Unter Phylen verstand Kleisthenes nichtmehr den Oberbegriff vertikal strukturierter Personenverbaumlnde son-dern horizontal strukturierter einheitlich verwalteter Bezirke nachdem Territorialprinzip Das Volk der Athener (ὁ τῶν Ἀθηναίων δῆ-μος) trat an die Stelle der Klientel wie in Rom der populus Romanusan die Stelle der gentes Platon musste also das Prinzip staatlicherEinheit selbst nicht mehr erfinden wohl aber dem Inhalt nach fuumlr alleZukunft beschlieszligen dass nicht nur dieser sondern jeder Staat sei-nem Wesen gemaumlszlig in der Pflicht sei sich als raquoWirklichkeit der sitt-

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Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

13 Ebd 505 B14 Ebd 509 AndashB15 Ebd 505 A

lichen Ideelaquo (Hegel) zu bewaumlhren Uumlber diesen Beschluss hinausdachte Platon noch einen Schritt weiter denn es konnte nicht ge-nuumlgen einen Staat philosophischer Sittlichkeit lediglich zu gruumlndener musste auch erhalten werden ndash durch ein Kollegium integrer Ge-setzeshuumlter die das muumlhsam Erreichte unveraumlndert zu bewahren hat-ten16 Diese Position waumlre etwa im Arginusenprozess unbesetzt ge-wesen haumltte Sokrates sie nicht eingenommen und auf Einhaltungder Gesetze bestanden

Ebenso wie die vorgegebene Staatlichkeit hat auch das mit dieserverbundene demokratische System der Rechtspflege das das archai-sche Selbsthilfeprinzip abloumlste Eingang in Platons Philosophie gefun-den Die archaische Selbsthilfe bestand darin dass die durch einenUumlbergriff beleidigte Sippe der Sippe des Taumlters die Fehde ankuumlndigte(πρόρρησις) deren Beendigung durch Abschluss eines Suumlhnevertra-ges (αἴδεσις) erfolgte Dass bei dieser Form der Konfliktbeilegungdurch Aussoumlhnung die staumlrkere Sippe in der Regel ihre Loumlsungsvor-stellungen durchsetzte liegt auf der Hand Der Schritt fuumlr Schritterfolgte Gerichtszwang durch den der Staat erst allmaumlhlich das Mo-nopol der Rechtspflege uumlbernahm hatte zum Ziel dass anstelle zufaumll-liger Machtverhaumlltnisse die Systematik von Recht und Gesetz imStreit der Parteien entscheidet17 Diesen Sinn der nacharchaischenRechtsprechung hat Ovid mit dem Hexameter zusammengefasstinde datae leges ne firmior omnia posset (Fasten 3 279) Im Gor-gias-Dialog haumllt nun Platon der Rhetorik vor sie sei der methodischeVersuch gerade diese Errungenschaft der Rechtsprechung ruumlckgaumln-gig zu machen Kallikles ein Anhaumlnger des Rhetoriklehrers Gorgiasspricht unverhohlen aus dass Herakles voumlllig im Recht war Geryonesseine Rinder die er weder gekauft noch zum Geschenk erhalten hatteohne Bedenken zu stehlen da das von Natur Gerechte darin bestehedass alles Eigentum der Schwaumlcheren in Wahrheit dem Staumlrkeren ge-houmlre18 Sokrates haumllt Kallikles entgegen dass wahre Uumlberlegenheitnicht im Mehr-haben-Wollen sondern im Sittlich-besser-Sein be-stehe und beruft sich damit ebenso wie die Rechtsprechung auf ein

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16 Platon Politeia 484 B Nomoi 752 DndashE 754 Dndash755 C 770 AndashD 847 AndashD 959 Dndash961 CIm Abschnitt zu raquoDemetrios Phalereus ndash oder die vierzehnte Wendelaquo wird diese pla-tonische Vorgabe noch eine wesentliche Rolle spielen17 Zu diesen nicht leicht zu rekonstruierenden Prozessen sei auf die im Literaturver-zeichnis genannten Aufsaumltze von E Ruschenbusch verwiesen18 Platon Gorgias 484 BndashC

systematisches Kriterium um die individuelle Machtperspektive inSchranken zu weisen Dass Sokrates bei seinem Gespraumlchspartnermit dieser Argumentation nicht durchdringt ist allein der Borniert-heit des Kallikles zuzuschreiben

Es ist nicht zu leugnen dass Platon ebenso wie der Oligarch Kal-likles den Besseren das Wort redete aber unter den Besseren wirklichBessere verstand die den Staat als sublimierte Oligarchie tragen soll-ten Von dieser Staatslehre gilt es also zu uumlberzeugen und das ver-suchte Platon auch ganz im Sinne des Sokrates zunaumlchst durch sach-liche Gespraumlchsfuumlhrung oder Dialektik (διαλέγεσθαι) die mitkurzen Saumltzen Rechenschaft fordert und gewaumlhrt Sokrates mochtekeine langen Reden die geeignet sind das Ausgangsthema nach eini-ger Zeit aus den Augen zu verlieren19 Auch mochte es Sokrates garnicht wenn Unterredner sich streitsuumlchtig (ἐρίζειν) an Worten fest-bissen statt am intendierten Inhalt20 Das richtet sich gegen Protago-ras der als Erfinder der Eristik Wortklauberei betrieb statt sich aufdie Bedeutung des Sachverhalts zu konzentrieren21 Insgesamt ist diesokratische Version von Dialektik ein Gegenentwurf zur raquosogenann-ten Kunst der Rhetoriklaquo22 die lediglich den Uumlberredungserfolg zumZiel hat und nicht etwa wohlbegruumlndete Wahrheiten herausarbeitenwill Nun musste Platon etwa im Gespraumlch mit Kallikles im Gorgiasoder mit Thrasymachos im ersten Buch der Politeia erkennen dassgerade seine Sachlichkeit bei Boumlswilligen auf taube Ohren stoumlszligt Erentwickelte daher noch in der Politeia einen uumlber Sokrates hinaus-gehenden Begriff von Dialektik die nicht diskutiert sondern dekre-tiert nachdem diese durch reines auf das Gespraumlch mit sich selbstkonzentriertes Durchdenken des Wesentlichen frei von sinnlichenEindruumlcken zum Ziel der Erkenntnis des Guten gelangt ist (532 AndashB) Weil somit Dialektik zustaumlndig wird fuumlr die Vergegenwaumlrtigungdes Guten in der politischen Welt darf auch nur der ausgewieseneDialektiker Staatenlenker werden (534 CndashD) der auf seinen Einsich-ten beharrt auch wenn ihm seine Mitbuumlrger die Zustimmung ver-weigern Gegen vordergruumlndige Rechthaberei von wem immer sieausgeht verteidigt Platon das Prinzip vernuumlnftiger Argumentationgegen die Kraumlfte ihrer Blockierung

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Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

19 Platon Protagoras 336 AndashC Gorgias 474 B20 Platon Politeia 454 A21 Diogenes Laertios 9 5222 Platon Gorgias 448 D

Page 15: Platon und Aristoteles als Wegbereiter der praktischen ... · Differenzen zwischen Platon und Aristoteles ins Auge fallen. Wer jedoch Platon und Aristoteles zusammen gegen die später

Unter dem Druck der politischen Umstaumlnde beschlossen dieStoiker ihre Sezession und erklaumlrten die Beschaumlftigung mit der Polisals einst zentrales Thema der Philosophie fuumlr nichtig Daruumlber hinausdistanzierten sie sich ebenfalls noch in manch anderem Punkt vonPlaton und Aristoteles wenn sie etwa im Felde der theologia und derAffektlehre Theoreme vortrugen die erst angesichts der Lage seit 307auf die Tagesordnung gerieten So antworteten sie auf den Herrscher-kult der implizit die unsterblichen Goumltter zu zweitrangigen Groumlszligenherabstufte mit der providentia-Lehre um zu demonstrieren wessenFuumlrsorge in Wahrheit die Menschheit ihr Uumlberleben zu verdankenhabe Da aber die Goumltter bei rehabilitierender Bestaumltigung ihrer ndashden kultisch verehrten Diadochen uumlberlegenen ndash Allmacht zwingendauch fuumlr alle Uumlbel in derWelt verantwortlich waren musste Chrysippden Streit zwischen Homer und Platon ob die Goumltter fuumlr alles odernur fuumlr das Gute zustaumlndig seien erneut austragen Es war also letzt-lich das aumluszligere Phaumlnomen des Herrscherkultes der diesen Streit un-ter den Gelehrten ausloumlste Aumlhnlich lagen die Dinge beim Problemder Affekte Der dank der politischen Ereignisse des Jahres 307 er-zwungene Ruumlckzug der Philosophie auf sich selbst war nur unter derBedingung entschieden abschirmender Selbstbehauptung nach auszligenertraumlglich Dieselbe Bedingung der Autonomie musste aber auch nachinnen erfuumlllt sein und zwar gegen ein ganzes Buumlndel von denkbarenAffekten die bei Verzicht auf ihre Einhegung die muumlhsam nach au-szligen behauptete Souveraumlnitaumlt wieder untergraben haumltten Folgerichtigwar die Affektlosigkeit (ἀπάθεια) das zentrale Thema der stoischenEthik ndash mit dem Ziel der Wahrung der inneren Autonomie Die Stoi-ker konnten daher nicht das Risiko eingehen die Behandlung derAffekte wie Aristoteles wollte eher beilaumlufig den Nachwirkungender von der tragischen Dichtung ausgeloumlsten Katharsis zu uumlberlassenStattdessen mussten die Stoiker darauf bedacht sein eine spezielleTherapie fuumlr den Fall zu entwickeln dass wie zu befuumlrchten denAffekten katechismuswidrig hier und da eben doch ein Ausbruch ge-lingen sollte

Obwohl die Stoiker als die neuen Meinungsfuumlhrer Platon undAristoteles fuumlr Jahrhunderte in den Hintergrund zu draumlngen ver-mochten mussten sie am Ende doch erleben dass die beiden Arche-geten im Status von unangefochtenen Klassikern ihre Renaissanceerlebten Zwar sicherten die Stoiker durch ihren weisen Ruumlckzug derphilosophia perennis die Kontinuitaumlt duumlrften aber am Ende aus dem-selben Grund dem sie ihr Entstehen verdankten wieder von Platon

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Einleitung ndash zur Erlaumluterung der These

und Aristoteles in den Schatten gestellt worden sein Denn Lehrerwie Schuumller verstanden anders als die Stoiker unter Schule stets eineInstanz der systematischen Beschaumlftigung gerade auch mit der Au-szligenwelt Dieser erweiterte Argumentbereich konnte dem Kreis umPlaton und Aristoteles schlieszliglich nicht mehr schaden als es keinedirekt angesprochenen Zeitgenossen mehr gab die sich durch ihreLehren und das Handeln ihrer Schuumller provoziert fuumlhlten Von sol-chen Gefuumlhlen unberuumlhrt suchen hingegen spaumltere Generationen beiPlaton und Aristoteles gerade wegen ihres umfassenden Blickfeldesnach Belehrung und gegebenenfalls Bestaumltigung eigener Theorienund das sowohl im Grundsaumltzlichen als auch in Einzelfragen

Platons Philosophie nahm ihren Ausgang von der ganz be-stimmten Frage der Apologie wie Sokrates der gerechteste BuumlrgerAthens gegen die Asebieklage des Anytos Meletos und Lykon zuverteidigen sei In den Kategorien der Theorie der Rhetorik haumltte die-se Frage als eine quaestio finita gegolten die im Verfolg eine Fuumlllevon sich anschlieszligenden quaestiones infinitae ausloumlsen sollte wienaumlmlich ein gerechter Staat moumlglich sei der vom Geist seiner gerech-ten Buumlrger gepraumlgt waumlre Mit dem daraus erwachsenen Fundus vonFragen und erteilten Antworten haben Platon und entsprechend Aris-toteles der Nachwelt einen geistigen Reichtum hinterlassen dem sieschlieszliglich ndash nach zwischenzeitlicher Suspendierung ndash ihre Anerken-nung als unumstrittene Klassiker bis in unsere Tage zu verdankenhaben Angesichts solcher Hinterlassenschaft darf sich die Philo-sophie mit gutem Gewissen als Vergegenwaumlrtigung ihrer eigenen Ge-schichte definieren Vergegenwaumlrtigung wiederum ist im weitestenSinne das Gemeinschaftswerk der subtilitas intellegendi und der sub-tilitas applicandi und das so bestimmte Vorgehen ist auch dieVoraussetzung fuumlr die Zeugenrolle die Platon und Aristoteles beider philosophischen Begleitung der Preuszligischen Reformen durchG W F Hegel und erneut bei der geistigen Gruumlndung der Bundes-republik nach dem ZweitenWeltkrieg durch Joachim Ritter und seineSchuumller spielten Dass Platon und Aristoteles fuumlr den buumlrgerlichenRechtsstaat in den Zeugenstand traten setzt den hermeneutischenPhilosophiebegriff voraus demgemaumlszlig die Philosophie auf der Praumlsenzihrer eigenen Geschichte beruht Damit ist zugleich die Frage nachden Aussichten einer umfassenden Erneuerung der praktischen Phi-losophie gestellt der sich so lautet unsere These Joachim Ritter undseine Schuumller widmeten indem sie dem Primat der praktischen Ver-nunft die Ehre erweisend die klassischen Disziplinen der philosophia

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Einleitung ndash zur Erlaumluterung der These

practica universalis ndash Ethik Politik Oumlkonomik ndash schrittweise auf-nahmen und in ein systematisches Verhaumlltnis zur modernen Weltsetzten

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Einleitung ndash zur Erlaumluterung der These

Hermeneutikgeleitete Chronikder Wege und Umwege derphilosophia practica universalisvon den Anfaumlngen bis in die Gegenwart

Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

Vom Ende her gesehen koumlnnte leicht der Eindruck entstehen Platon(42827ndash34847) habe sich von vornherein als Lebenswerk die Gruumln-dung einer philosophischen Schule zum Ziel gesetzt in deren Mittel-punkt die Ausbildung einer systematischen politischen Theoriestehen sollte Dieser Eindruck taumluscht indes Wie Platon selbst imVII Brief (324 Bndash326 D) seinen Werdegang darstellt hatte er ur-spruumlnglich gar nicht die Absicht eine Schule zu gruumlnden die sichphilosophisch mit dem Staat befasste Stattdessen draumlngte er zunaumlchstauf eigenes politisches Handeln als er in der Herrschaft der DreiszligigTyrannen (40403) eine Chance sah einen Staat zu errichten der freiwar von den Schwaumlchen der Demokratie Enttaumluscht musste er aberbald erkennen dass die fruumlheren Verhaumlltnisse in der Demokratie ver-glichen mit der Gegenwart unter den Dreiszligig Gold (sic) waren Fol-gerichtig wandte er sich von den Dreiszligig ab und war nach deren Sturzwiederum bereit zu politisch aktiver Taumltigkeit wurde aber erneut ent-taumluscht ndash durch das Todesurteil gegen Sokrates den Mangel an poli-tischen Freunden die grassierende Geringachtung der Gesetze unddie Inthronisierung der Lust (ἡδονή) als Maszlig der Dinge Erst darauf-hin widmete sich Platon der theoretischen Beschaumlftigung mit demwahren Staat nicht ohne fuumlr erneute praktische Taumltigkeit in der Poli-tik bessere Zeiten abzuwarten die dann eintraumlten wenn wahrhaftePhilosophen die Herrschaft im Staat uumlbernaumlhmen und nicht die durchdas Los ins Amt befoumlrderte Inkompetenz Seine Philosophie war alsoOpposition auszligerhalb der politischen Buumlhne gedacht als ungewollteZwischenphase die erst endete wenn die Staumldte nach philosophi-schen Grundsaumltzen verfasst waumlren Die Gruumlndung der Schule erfolgtealso eher aus Verlegenheit sie war nicht die erfolgreiche Ausfuumlhrungeiner urspruumlnglichen Absicht

Mit seinem Bericht im VII Brief laumlsst Platon also durchblickendass er gleichsam widerWillen die Akademie als Schule gruumlndete undderen erstes Schulhaupt wurde Die Schule galt Platon als Surrogateiner Polis der vollendeten Sittlichkeit Folgerichtig war das Leit-thema der Schule die Lehre vom wahren Staat der das bloszlige Surrogatwieder uumlberfluumlssig machen sollte Platon verschweigt auch nicht vonwelchem Standpunkt aus er die Grundzuumlge des idealen Staates ent-wickelte Waumlhrend er die Schwaumlchen der Demokratie eher in derenStrukturen suchte ortete er die Schwaumlchen der Oligarchie im persoumln-lichen Versagen insbesondere der Dreiszligig Tyrannen Demgemaumlszlig plauml-

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dierte er fuumlr eine zu wahrer Aristokratie veredelte Oligarchie die vonindividuellen und strukturellen Defiziten frei war Diese dem Best-moumlglichen verpflichtete Parteinahme erfuumlllte zugleich die Anforde-rungen einer auf Widerspruchsfreiheit bedachten Theorie sofernPlaton alle seine politischen Vorstellungen auf Vernunftbegriffe zu-ruumlckfuumlhrte und nie vergaszlig sie geltend zu machen wo immer ihreBeachtung zwingend geboten war Mag es Platon auch nicht gelungensein in Athen einen Wiedergaumlnger des Sokrates als philosophischenHerrscher zu bestallen und auf diese Weise sein praktisches Ziel zuerreichen so bleibt doch als Ergebnis seiner Anstrengungen zumin-dest als Fortschritt im Bewusstsein dies bestehen dass von nun anpolitische Vorgaumlnge unvermeidlich von der Aufmerksamkeit einerauszligerhalb der politischen Buumlhne angesiedelten Vernunftkritik beglei-tet wurden Insofern blieb Platons mutiger Schritt eine politischeEntitaumlt systematisch in Zweifel zu ziehen und sie auch noch miteinem Gegenmodell zu konfrontieren nicht ohne kuumlnftige Folgen

Einstweilen blieb aber Platons politische FundamentaloppositionSache der Schule deren Eigengesetzlichkeit sich auf die inhaltlicheWeiterarbeit spuumlrbar auswirken sollte Zur (nachsokratischen)Grund-ausstattung der Schule gehoumlrte die Schriftlichkeit die Platon in nichtgeringe Verlegenheit brachte weil er auf unmittelbare Praumlsenz derVernunft setzte und nicht auf eine mittelbare die sich auch nochdurch Ablage ins Buumlcherregal unschaumldlich machen lieszlig1 Zudemzeichnete sich uumlber das politische Kerninteresse hinaus eine durchschultypisches Weiterfragen ausgeloumlste Verfaumlcherung ab die Platonnoch identitaumltsphilosophisch aufzufangen vermochte die aber auflange Sicht jenseits der Politik zur Etablierung von Einzeldisziplinenwie Ontologie Kosmologie Mathematik und Erkenntnistheorie fuumlhr-te Den Sophisten ging es aumlhnlich wie Sokrates von Protagoras er-faumlhrt Nur bei ihm selbst erfuumlhren die Schuumller das Noumltige uumlber ihrKerngeschaumlft das Haus gut zu verwalten und sich auf der Agoraacute zubewaumlhren waumlhrend sie bei anderen Sophisten wie Hippias von Elisverdorben wuumlrden weil diese sie mit Unnuumltzem wie Arithmetik As-tronomie Geometrie und Dichtung traktierten2 So weitete also auchdie Schule Platons allmaumlhlich ihren Themenkreis immer weiter aus

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Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

1 Auf dieses Merkmal der Schule ist G Bien naumlher eingegangen Das Theorie-Praxis-Problem und die politische Philosophie bei Platon und Aristoteles in Phil Jb 76(196869) 264ndash314 hier S 307ndash3132 Platon Protagoras 318 Dndash319 A

je mehr ihre Vorlaumlufigkeit die mit einem politischen Erfolg der Fun-damentalopposition ihr Ende finden sollte in Vergessenheit gerietAristoteles sollte an seinem Lehrer in der Sache manche Kritik uumlbenaber die Regeln der Institution Schule ihre Hinwendung zur Schrift-lichkeit und ihre Etablierung von Einzeldisziplinen (Pragmatien) ver-standen sich fuumlr ihn schon von selbst

Aristoteles (384ndash322) hatte als Siebzehnjaumlhriger seine makedo-nische Heimat verlassen um sich im Jahre 36766 der Akademie an-zuschlieszligen Da war Platon schon uumlber fuumlnfzig Jahre alt und hatteseine philosophische Arbeit dogmatisch abgeschlossen Da er in die-sen Tagen kurz vor seiner zweiten Reise nach Syrakus stand hat ervielleicht erst nach seiner Ruumlckkehr erkannt wer von nun an seinbegabtester Schuumller war Als Aristoteles einmal bei einer Vorlesungfehlte rief Platon verzweifelt aus raquoDer Geist ist nicht zugegenstumpf ist da die Houmlrerschaftlaquo ndash im Original ein ausgefeilter jambi-scher Trimeter ὁ νοῦς ἄπεσ|τιν κωφὸν τἀκ|ροατήριον3 Aristote-les wird sich dieses Lob seines Lehrers gewiss bei vielen Gelegenhei-ten verdient haben nicht zuletzt aber dank der Art wie er sich beiPlatons beruumlhmter Altersvorlesung raquoUumlber das Gutelaquo4 bewaumlhrte Alsdieser das Gute kosmologisch im zahlhaft bestimmten Einen verorte-te blieben die Houmlrer einer nach dem anderen enttaumluscht der Vor-lesung fern weil sie Ausfuumlhrungen uumlber seelische koumlrperliche undaumluszligere Guumlter im gemeinen Verstande erwartet hatten Auf diese Re-aktion der Houmlrer hatte Platon nur gewartet er wollte wissen wer mitseinem Vorstellungshorizont uumlber den der Menge hinausging undsich damit als genuiner Philosoph erwies Tatsaumlchlich harrten nurwenige Houmlrer bis zum Ende aus und empfingen den Ritterschlageines wahren Philosophen darunter natuumlrlich Aristoteles Dieser er-klaumlrte allerdings spaumlter er werde sich an das allgemein Anerkanntehalten statt aus dem Satz dass das Eine ein Gut sei herzuleiten dassdie Gerechtigkeit ein Gut sei5

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Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

3 Zitiert nach V Rose Aristotelis qui ferebantur librorum fragmenta collegit V RLeipzig 18701886 repr Stuttgart 1967 S 4284 Das Vorlesungsmanuskript ist im Original nicht erhalten Die zahlreichen Para-phrasen bei anderen Autoren hat W D Ross Aristotelis Fragmenta Oxford 1935S 111ndash120 gesammelt5 Aristoteles Eudemische Ethik 1218 a 15ndash22 Der Aristotelesschuumller Aristoxenosbestaumltigte diese Reaktion seines Lehrers in seinen ἁρμονικὰ στοιχεῖα (ed P Mar-quard Die harmonischen Fragmente des Aristoxenos Berlin 1868 S 30) und fuumlgtehinzu es empfehle sich zu Beginn einer Vorlesung sein Thema genau anzukuumlndigen

Im Uumlbrigen sparte auch Aristoteles nicht mit Lob auf seinenLehrer Im Rahmen seiner Inschrift auf einem Altar der Freundschaftden Eudemos von Kypros von einer Reise nach Athen zuruumlckgekehrtgestiftet hatte ruumlhmt Aristoteles Platon als Mann den schlechteMenschen nicht einmal loben duumlrften und als Mann der als Ersterunter den Menschen durch eigene Lebensfuumlhrung und vorgetrageneGruumlnde demonstriert habe dass der gute Mann ebendeshalb auch dergluumlckliche Mann ist Zwar taucht im uumlberlieferten Text der Distichenweder der Name Platons noch der des Eudemos auf Olympiodor ver-sichert aber Aristoteles habe in seiner Widmung an den Stifter Eude-mos ebendieses Lob auf Platon ausgesprochen6 Bei welchem Lehrerhaumltte Aristoteles auch besser lernen koumlnnen wie man wesentlicheaber oft uumlbersehene Fragen stellt wie man fuumlr andere uumlberraschendauf Zusammenhaumlnge und Widerspruumlche aufmerksam macht wieman auf den ersten Blick unerkannte Implikationen und Konsequen-zen herausarbeitet wie man unzureichend Bewiesenes als solchesidentifiziert wie man einmal erzielte Uumlbereinkuumlnfte stets im Ge-daumlchtnis praumlsent haumllt wie man seine Argumente durch Ruumlckfuumlhrungauf Gruumlnde und Ursachen als anerkannte Berufungsinstanzen uumlber-zeugend vortraumlgt

Zur gegenseitigen Wertschaumltzung aufgrund ihrer intellektuellenVorzuumlge gesellte sich die politische Uumlbereinstimmung beider Philoso-phen die neben der Sympathie fuumlr Makedonien die entschieden ab-lehnende Haltung gegenuumlber der attischen Demokratie betraf FuumlrPlaton fiel die Suche nach der gerechten Polis als dem hiesigen Kor-relat des absolut Guten mit entschiedener Demokratiekritik zusam-men Seine politische Leitidee bildete die Gerechtigkeit als Einheit derKardinaltugenden mit dem Ziel der Baumlndigung des sinnlichen Inte-resses (ἡδονήvoluptas) waumlhrend in seinen Augen die demokrati-schen Leitideen der Gleichheit und Freiheit lediglich auf eine Beschouml-nigung der voluptas als des wahren Bestimmungsgrundes der Mengehinausliefen Diesen von voluptas durchdrungenen Staat sah Platonals derart heillos verfahren an dass er anknuumlpfende Schritt-fuumlr-Schritt Reformen gar nicht erst in Betracht zog Stattdessen setzte

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Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

und wenn man Paradoxes vortragen wolle dies auch unmissverstaumlndlich zu sagen Sobliebe den Houmlrern die Enttaumluschung erspart wenn sie in Erwartung einer Belehrunguumlber Guumlter wie Reichtum Gesundheit Gluumlck am Ende lediglich die blasse Auskunfterhielten das Gute sei Eines6 Olympiodoros in Platonis Gorgiam XLI 10 ad p 515 C

Platons politische Opposition mit anderen Mitteln7 auf eine vomNullpunkt aus fehlerfrei in Gedanken durchkonstruierte Polis in derdie schon seit Kleisthenes bestehende Einheitlichkeit und Geschlos-senheit des Gemeinwesens gewahrt blieben aber konkrete demokra-tische Komponenten wie Rat und Volksversammlung Geschwore-nengericht und Flotte Panathenaumlen Dionysien und Eleusinien nichteinmal dem Namen nach vorkamen Bei dieser Konstellation gerietenSchule und Polis zwangslaumlufig in ein Verhaumlltnis sich gegenseitigenIgnorierens Die Schule fuumlhrte ihre Debatten als private Institutionohne Beruumlcksichtigung der Vorgaumlnge auf der Agoraacute und die Agoraacutemuumlhte sich mit den ihr eigenen Mitteln um eine Konsolidierung derdemokratischen Institutionen ohne die Einwaumlnde der Schule zurKenntnis zu nehmen Nun mag Platon einen offenbar unpolitischenweil von den Realitaumlten abgehobenen Ausgangspunkt gewaumlhlt unddamit seiner Weiterarbeit wie spaumlter die hermeneutisch argumentie-rende Kritik des Aristoteles zeigen sollte einen schlechten Dienst er-wiesen haben aber ihn leitete ohne jeden Zweifel ein handfestes Mo-tiv und eine daraus abgeleitete allgemeine bis in unsere Tage zubeherzigende Grundeinsicht

Platons Schluumlsselerlebnis war das Todesurteil gegen Sokratesdas eine Mehrheit unter fuumlnfhundert Geschworenen faumlllte obwohlsich Sokrates in allen Anklagepunkten ganz offenkundig als nichtschuldig erwiesen hatte Moumlglich wurde diese Gerichtsentscheidungweil es den Anklaumlgern wie routinierten Demagogen gelang mit ihrenUnwahrheiten eine ignorante Menge auf ihre Seite zu ziehen In derTat hatten sie wie Sokrates gleich im zweiten Satz der Apologie aus-ruft nicht ein einzigen wahren Satz vorgetragen (ἀληθές γε hellip οὐ-δὲν εἰρήκασιν) Der offenbar unausrottbaren Moumlglichkeit dass De-magogen gerade mit der Unwahrheit Mehrheiten fuumlr sich gewinnenkoumlnnen galt zeitlebens Platons kritische Aufmerksamkeit Tatort wa-ren nicht nur die Geschworenengerichte sondern nicht minder dieVolksversammlung in der interessierte Redner Mehrheitsbeschluumlsse(ψηφίσματα) herbeifuumlhrten mit denen sie bestehende Gesetze un-terliefen8 Auch fuumlr dieses Fehlverhalten gab es eine Schluumlsselszeneals naumlmlich im Zuge des Arginusenprozesses ein Mann aus der auf-gehetzten Menge rief es sei eine Ungeheuerlichkeit wenn man denDemos nicht tun lasse was er wolle und gleich darauf durchgesetzt

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Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

7 Platon VII Brief 325 Endash326 A8 Ebd 325 DndashE

wurde dass die angeklagten Seeoffiziere en bloc verurteilt wurdenund nicht wie es das Gesetz verlangte jeder einzeln Der Einzigeder sich diesem rechtswidrigen Beschluss widersetzte war Sokrates9

Dass dieser Staat ausgerechnet seinen gerechtesten Buumlrger zumTode verurteilt hatte hat Platon nie verziehen Da indes die aus-schlaggebende Mehrheit der Geschworenen ihr Urteil wohl kaumfuumlr ungerecht hielt sah Platon sich verpflichtet allen ebenso gesinn-ten Athenern vorzutragen was an und fuumlr sich Gerechtigkeit wirklichist und zwar in der Politeia aus dem Munde eben des Sokrates Danun der Staat fuumlr die Gerechtigkeit der groumlszligere und besser sichtbareBewaumlhrungsort ist als der Einzelne schlug Sokrates vor den Begriffvon Gerechtigkeit zunaumlchst im Blick auf den Staat zu entwickeln (Po-liteia 368 E 472 B) Die Frage nach der Gerechtigkeit konkretisiertesich auf diese Weise zur Frage nach dem gerechten Staat Folgerichtigsetzte Platon im Geist des Sokrates der attischen Demokratie mitihrem falschen Machtwillen einen auf reiner Vernunft beruhendenIdealstaat entgegen von dessen Vorzuumlgen er vielleicht schon dienaumlchste Generation der Athener zu uumlberzeugen hoffte10 anderenfallskoumlnne man nur noch auf einen Gluumlcksschlag von auszligen (τύχη) set-zen oder dass sich dank goumlttlicher Fuumlgung ein Staatenlenker mit derPhilosophie befasse11 Die Befuumlrchtung der Philosoph koumlnne in seinereigenen Stadt wenn uumlberhaupt dann nur dank goumlttlicher Fuumlgung po-litisch taumltig werden (Politeia 592 A) wollte Platon allerdings fuumlr sichnicht als Entschuldigung gelten lassen im Gegenteil Platon ver-sicherte er sei eigens nach Syrakus gereist damit man ihm nicht vor-halten koumlnne er sei nur im Felde der Theorie stark ziehe sich aberzuruumlck wenn es an die praktische Ausfuumlhrung gehe (VII Brief328 C) Vielmehr war fuumlr ihn der gerechte Staat Inhalt philosophi-scher Reflexion mit dem Ziel seiner Verwirklichung

Im idealen Staat darf die Entscheidungsbefugnis nur bei Buumlrgernliegen die allein durch philosophisch uumlberpruumlfte Qualifikation undnicht durch Loswahl in ihr Amt gelangt sind Nur wer die Houmlhle derdie Menge auszeichnenden Kurzsichtigkeit verlassen und dank uumlber-legener Vernuumlnftigkeit die Idee des Guten geschaut hat vermag pri-vat wie oumlffentlich vernuumlnftig zu handeln12 eben seitdem er sich von

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9 Xenophon Hellenika 1 7 12ndash16 Vgl unten Anm 38 S 137 und Anm 17 S 14810 Platon Politeia 315 CndashD11 Platon VII Brief 326 A12 Platon Politeia 517 C

der Aussageabsicht der drei beruumlhmten Gleichnisse hat uumlberzeugenlassen dass naumlmlich das Gerechte das Gute ist und nicht das sinnlicheInteresse der auf den Schein fixierten Menge13 Entsprechend heiszligt esin Platons 8 Brief (355 A) Fuumlr besonnene Menschen ist Gott das Ge-setz fuumlr die unvernuumlnftigen ist es die Lust Das Gute hat also densel-ben Stellenwert wie Gott und bildet wie dieser insofern den Welt-grund als es weil jenseits (ἐπέκεινα) des daseienden Universumsangesiedelt im Rang noch uumlber dieses hinausragt und sich heilsambewaumlhrt indem es dank seinem Sproumlssling dem Sonnenlicht Orien-tierung durch Sichtbarkeit der Dinge sowie Leben Wachstum undGedeihen moumlglich macht14 Die Ausrichtung amGuten als Weltgrunderhebt das Gerechte zur unbedingten Handlungsnorm fordert abernicht nur sondern gewaumlhrt in einem damit den Buumlrgern auch wahr-haft praktischen Nutzen naumlmlich das Leben im sittlichen Gesetzes-staat ndash die Frucht eben der Herrschaft der Gerechtigkeit15 Damit istdie Frage zu deren Beantwortung Sokrates die drei beruumlhmtenGleichnisse vortrug naumlmlich ob Lust oder das Gerechte das wahreGut ist beantwortet und die implizit gegebene Antwort die auf derUnterscheidung der vier Erkenntnisstufen im Liniengleichnis beruhtbesagt dass die beschraumlnkten intellektuellen Moumlglichkeiten der Men-ge zu dieser Einsicht nicht ausreichen diese also fuumlglich zu entmuumln-digen ist schon um den Demagogen ein leichtglaumlubiges Publikum zuentziehen

Der Form nach stand bei aller Reserve Platon durchaus in derSchuld der Demokraten Sie waren es die unter Kleisthenes den atti-schen Staat als rational verwalteten Einheitsstaat geschaffen hattender nicht mehr nach Staumlmmen Sippen und oumlrtlich bedingten Loyali-taumlten fragmentiert war Unter Phylen verstand Kleisthenes nichtmehr den Oberbegriff vertikal strukturierter Personenverbaumlnde son-dern horizontal strukturierter einheitlich verwalteter Bezirke nachdem Territorialprinzip Das Volk der Athener (ὁ τῶν Ἀθηναίων δῆ-μος) trat an die Stelle der Klientel wie in Rom der populus Romanusan die Stelle der gentes Platon musste also das Prinzip staatlicherEinheit selbst nicht mehr erfinden wohl aber dem Inhalt nach fuumlr alleZukunft beschlieszligen dass nicht nur dieser sondern jeder Staat sei-nem Wesen gemaumlszlig in der Pflicht sei sich als raquoWirklichkeit der sitt-

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Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

13 Ebd 505 B14 Ebd 509 AndashB15 Ebd 505 A

lichen Ideelaquo (Hegel) zu bewaumlhren Uumlber diesen Beschluss hinausdachte Platon noch einen Schritt weiter denn es konnte nicht ge-nuumlgen einen Staat philosophischer Sittlichkeit lediglich zu gruumlndener musste auch erhalten werden ndash durch ein Kollegium integrer Ge-setzeshuumlter die das muumlhsam Erreichte unveraumlndert zu bewahren hat-ten16 Diese Position waumlre etwa im Arginusenprozess unbesetzt ge-wesen haumltte Sokrates sie nicht eingenommen und auf Einhaltungder Gesetze bestanden

Ebenso wie die vorgegebene Staatlichkeit hat auch das mit dieserverbundene demokratische System der Rechtspflege das das archai-sche Selbsthilfeprinzip abloumlste Eingang in Platons Philosophie gefun-den Die archaische Selbsthilfe bestand darin dass die durch einenUumlbergriff beleidigte Sippe der Sippe des Taumlters die Fehde ankuumlndigte(πρόρρησις) deren Beendigung durch Abschluss eines Suumlhnevertra-ges (αἴδεσις) erfolgte Dass bei dieser Form der Konfliktbeilegungdurch Aussoumlhnung die staumlrkere Sippe in der Regel ihre Loumlsungsvor-stellungen durchsetzte liegt auf der Hand Der Schritt fuumlr Schritterfolgte Gerichtszwang durch den der Staat erst allmaumlhlich das Mo-nopol der Rechtspflege uumlbernahm hatte zum Ziel dass anstelle zufaumll-liger Machtverhaumlltnisse die Systematik von Recht und Gesetz imStreit der Parteien entscheidet17 Diesen Sinn der nacharchaischenRechtsprechung hat Ovid mit dem Hexameter zusammengefasstinde datae leges ne firmior omnia posset (Fasten 3 279) Im Gor-gias-Dialog haumllt nun Platon der Rhetorik vor sie sei der methodischeVersuch gerade diese Errungenschaft der Rechtsprechung ruumlckgaumln-gig zu machen Kallikles ein Anhaumlnger des Rhetoriklehrers Gorgiasspricht unverhohlen aus dass Herakles voumlllig im Recht war Geryonesseine Rinder die er weder gekauft noch zum Geschenk erhalten hatteohne Bedenken zu stehlen da das von Natur Gerechte darin bestehedass alles Eigentum der Schwaumlcheren in Wahrheit dem Staumlrkeren ge-houmlre18 Sokrates haumllt Kallikles entgegen dass wahre Uumlberlegenheitnicht im Mehr-haben-Wollen sondern im Sittlich-besser-Sein be-stehe und beruft sich damit ebenso wie die Rechtsprechung auf ein

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16 Platon Politeia 484 B Nomoi 752 DndashE 754 Dndash755 C 770 AndashD 847 AndashD 959 Dndash961 CIm Abschnitt zu raquoDemetrios Phalereus ndash oder die vierzehnte Wendelaquo wird diese pla-tonische Vorgabe noch eine wesentliche Rolle spielen17 Zu diesen nicht leicht zu rekonstruierenden Prozessen sei auf die im Literaturver-zeichnis genannten Aufsaumltze von E Ruschenbusch verwiesen18 Platon Gorgias 484 BndashC

systematisches Kriterium um die individuelle Machtperspektive inSchranken zu weisen Dass Sokrates bei seinem Gespraumlchspartnermit dieser Argumentation nicht durchdringt ist allein der Borniert-heit des Kallikles zuzuschreiben

Es ist nicht zu leugnen dass Platon ebenso wie der Oligarch Kal-likles den Besseren das Wort redete aber unter den Besseren wirklichBessere verstand die den Staat als sublimierte Oligarchie tragen soll-ten Von dieser Staatslehre gilt es also zu uumlberzeugen und das ver-suchte Platon auch ganz im Sinne des Sokrates zunaumlchst durch sach-liche Gespraumlchsfuumlhrung oder Dialektik (διαλέγεσθαι) die mitkurzen Saumltzen Rechenschaft fordert und gewaumlhrt Sokrates mochtekeine langen Reden die geeignet sind das Ausgangsthema nach eini-ger Zeit aus den Augen zu verlieren19 Auch mochte es Sokrates garnicht wenn Unterredner sich streitsuumlchtig (ἐρίζειν) an Worten fest-bissen statt am intendierten Inhalt20 Das richtet sich gegen Protago-ras der als Erfinder der Eristik Wortklauberei betrieb statt sich aufdie Bedeutung des Sachverhalts zu konzentrieren21 Insgesamt ist diesokratische Version von Dialektik ein Gegenentwurf zur raquosogenann-ten Kunst der Rhetoriklaquo22 die lediglich den Uumlberredungserfolg zumZiel hat und nicht etwa wohlbegruumlndete Wahrheiten herausarbeitenwill Nun musste Platon etwa im Gespraumlch mit Kallikles im Gorgiasoder mit Thrasymachos im ersten Buch der Politeia erkennen dassgerade seine Sachlichkeit bei Boumlswilligen auf taube Ohren stoumlszligt Erentwickelte daher noch in der Politeia einen uumlber Sokrates hinaus-gehenden Begriff von Dialektik die nicht diskutiert sondern dekre-tiert nachdem diese durch reines auf das Gespraumlch mit sich selbstkonzentriertes Durchdenken des Wesentlichen frei von sinnlichenEindruumlcken zum Ziel der Erkenntnis des Guten gelangt ist (532 AndashB) Weil somit Dialektik zustaumlndig wird fuumlr die Vergegenwaumlrtigungdes Guten in der politischen Welt darf auch nur der ausgewieseneDialektiker Staatenlenker werden (534 CndashD) der auf seinen Einsich-ten beharrt auch wenn ihm seine Mitbuumlrger die Zustimmung ver-weigern Gegen vordergruumlndige Rechthaberei von wem immer sieausgeht verteidigt Platon das Prinzip vernuumlnftiger Argumentationgegen die Kraumlfte ihrer Blockierung

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Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

19 Platon Protagoras 336 AndashC Gorgias 474 B20 Platon Politeia 454 A21 Diogenes Laertios 9 5222 Platon Gorgias 448 D

Page 16: Platon und Aristoteles als Wegbereiter der praktischen ... · Differenzen zwischen Platon und Aristoteles ins Auge fallen. Wer jedoch Platon und Aristoteles zusammen gegen die später

und Aristoteles in den Schatten gestellt worden sein Denn Lehrerwie Schuumller verstanden anders als die Stoiker unter Schule stets eineInstanz der systematischen Beschaumlftigung gerade auch mit der Au-szligenwelt Dieser erweiterte Argumentbereich konnte dem Kreis umPlaton und Aristoteles schlieszliglich nicht mehr schaden als es keinedirekt angesprochenen Zeitgenossen mehr gab die sich durch ihreLehren und das Handeln ihrer Schuumller provoziert fuumlhlten Von sol-chen Gefuumlhlen unberuumlhrt suchen hingegen spaumltere Generationen beiPlaton und Aristoteles gerade wegen ihres umfassenden Blickfeldesnach Belehrung und gegebenenfalls Bestaumltigung eigener Theorienund das sowohl im Grundsaumltzlichen als auch in Einzelfragen

Platons Philosophie nahm ihren Ausgang von der ganz be-stimmten Frage der Apologie wie Sokrates der gerechteste BuumlrgerAthens gegen die Asebieklage des Anytos Meletos und Lykon zuverteidigen sei In den Kategorien der Theorie der Rhetorik haumltte die-se Frage als eine quaestio finita gegolten die im Verfolg eine Fuumlllevon sich anschlieszligenden quaestiones infinitae ausloumlsen sollte wienaumlmlich ein gerechter Staat moumlglich sei der vom Geist seiner gerech-ten Buumlrger gepraumlgt waumlre Mit dem daraus erwachsenen Fundus vonFragen und erteilten Antworten haben Platon und entsprechend Aris-toteles der Nachwelt einen geistigen Reichtum hinterlassen dem sieschlieszliglich ndash nach zwischenzeitlicher Suspendierung ndash ihre Anerken-nung als unumstrittene Klassiker bis in unsere Tage zu verdankenhaben Angesichts solcher Hinterlassenschaft darf sich die Philo-sophie mit gutem Gewissen als Vergegenwaumlrtigung ihrer eigenen Ge-schichte definieren Vergegenwaumlrtigung wiederum ist im weitestenSinne das Gemeinschaftswerk der subtilitas intellegendi und der sub-tilitas applicandi und das so bestimmte Vorgehen ist auch dieVoraussetzung fuumlr die Zeugenrolle die Platon und Aristoteles beider philosophischen Begleitung der Preuszligischen Reformen durchG W F Hegel und erneut bei der geistigen Gruumlndung der Bundes-republik nach dem ZweitenWeltkrieg durch Joachim Ritter und seineSchuumller spielten Dass Platon und Aristoteles fuumlr den buumlrgerlichenRechtsstaat in den Zeugenstand traten setzt den hermeneutischenPhilosophiebegriff voraus demgemaumlszlig die Philosophie auf der Praumlsenzihrer eigenen Geschichte beruht Damit ist zugleich die Frage nachden Aussichten einer umfassenden Erneuerung der praktischen Phi-losophie gestellt der sich so lautet unsere These Joachim Ritter undseine Schuumller widmeten indem sie dem Primat der praktischen Ver-nunft die Ehre erweisend die klassischen Disziplinen der philosophia

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Einleitung ndash zur Erlaumluterung der These

practica universalis ndash Ethik Politik Oumlkonomik ndash schrittweise auf-nahmen und in ein systematisches Verhaumlltnis zur modernen Weltsetzten

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Einleitung ndash zur Erlaumluterung der These

Hermeneutikgeleitete Chronikder Wege und Umwege derphilosophia practica universalisvon den Anfaumlngen bis in die Gegenwart

Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

Vom Ende her gesehen koumlnnte leicht der Eindruck entstehen Platon(42827ndash34847) habe sich von vornherein als Lebenswerk die Gruumln-dung einer philosophischen Schule zum Ziel gesetzt in deren Mittel-punkt die Ausbildung einer systematischen politischen Theoriestehen sollte Dieser Eindruck taumluscht indes Wie Platon selbst imVII Brief (324 Bndash326 D) seinen Werdegang darstellt hatte er ur-spruumlnglich gar nicht die Absicht eine Schule zu gruumlnden die sichphilosophisch mit dem Staat befasste Stattdessen draumlngte er zunaumlchstauf eigenes politisches Handeln als er in der Herrschaft der DreiszligigTyrannen (40403) eine Chance sah einen Staat zu errichten der freiwar von den Schwaumlchen der Demokratie Enttaumluscht musste er aberbald erkennen dass die fruumlheren Verhaumlltnisse in der Demokratie ver-glichen mit der Gegenwart unter den Dreiszligig Gold (sic) waren Fol-gerichtig wandte er sich von den Dreiszligig ab und war nach deren Sturzwiederum bereit zu politisch aktiver Taumltigkeit wurde aber erneut ent-taumluscht ndash durch das Todesurteil gegen Sokrates den Mangel an poli-tischen Freunden die grassierende Geringachtung der Gesetze unddie Inthronisierung der Lust (ἡδονή) als Maszlig der Dinge Erst darauf-hin widmete sich Platon der theoretischen Beschaumlftigung mit demwahren Staat nicht ohne fuumlr erneute praktische Taumltigkeit in der Poli-tik bessere Zeiten abzuwarten die dann eintraumlten wenn wahrhaftePhilosophen die Herrschaft im Staat uumlbernaumlhmen und nicht die durchdas Los ins Amt befoumlrderte Inkompetenz Seine Philosophie war alsoOpposition auszligerhalb der politischen Buumlhne gedacht als ungewollteZwischenphase die erst endete wenn die Staumldte nach philosophi-schen Grundsaumltzen verfasst waumlren Die Gruumlndung der Schule erfolgtealso eher aus Verlegenheit sie war nicht die erfolgreiche Ausfuumlhrungeiner urspruumlnglichen Absicht

Mit seinem Bericht im VII Brief laumlsst Platon also durchblickendass er gleichsam widerWillen die Akademie als Schule gruumlndete undderen erstes Schulhaupt wurde Die Schule galt Platon als Surrogateiner Polis der vollendeten Sittlichkeit Folgerichtig war das Leit-thema der Schule die Lehre vom wahren Staat der das bloszlige Surrogatwieder uumlberfluumlssig machen sollte Platon verschweigt auch nicht vonwelchem Standpunkt aus er die Grundzuumlge des idealen Staates ent-wickelte Waumlhrend er die Schwaumlchen der Demokratie eher in derenStrukturen suchte ortete er die Schwaumlchen der Oligarchie im persoumln-lichen Versagen insbesondere der Dreiszligig Tyrannen Demgemaumlszlig plauml-

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dierte er fuumlr eine zu wahrer Aristokratie veredelte Oligarchie die vonindividuellen und strukturellen Defiziten frei war Diese dem Best-moumlglichen verpflichtete Parteinahme erfuumlllte zugleich die Anforde-rungen einer auf Widerspruchsfreiheit bedachten Theorie sofernPlaton alle seine politischen Vorstellungen auf Vernunftbegriffe zu-ruumlckfuumlhrte und nie vergaszlig sie geltend zu machen wo immer ihreBeachtung zwingend geboten war Mag es Platon auch nicht gelungensein in Athen einen Wiedergaumlnger des Sokrates als philosophischenHerrscher zu bestallen und auf diese Weise sein praktisches Ziel zuerreichen so bleibt doch als Ergebnis seiner Anstrengungen zumin-dest als Fortschritt im Bewusstsein dies bestehen dass von nun anpolitische Vorgaumlnge unvermeidlich von der Aufmerksamkeit einerauszligerhalb der politischen Buumlhne angesiedelten Vernunftkritik beglei-tet wurden Insofern blieb Platons mutiger Schritt eine politischeEntitaumlt systematisch in Zweifel zu ziehen und sie auch noch miteinem Gegenmodell zu konfrontieren nicht ohne kuumlnftige Folgen

Einstweilen blieb aber Platons politische FundamentaloppositionSache der Schule deren Eigengesetzlichkeit sich auf die inhaltlicheWeiterarbeit spuumlrbar auswirken sollte Zur (nachsokratischen)Grund-ausstattung der Schule gehoumlrte die Schriftlichkeit die Platon in nichtgeringe Verlegenheit brachte weil er auf unmittelbare Praumlsenz derVernunft setzte und nicht auf eine mittelbare die sich auch nochdurch Ablage ins Buumlcherregal unschaumldlich machen lieszlig1 Zudemzeichnete sich uumlber das politische Kerninteresse hinaus eine durchschultypisches Weiterfragen ausgeloumlste Verfaumlcherung ab die Platonnoch identitaumltsphilosophisch aufzufangen vermochte die aber auflange Sicht jenseits der Politik zur Etablierung von Einzeldisziplinenwie Ontologie Kosmologie Mathematik und Erkenntnistheorie fuumlhr-te Den Sophisten ging es aumlhnlich wie Sokrates von Protagoras er-faumlhrt Nur bei ihm selbst erfuumlhren die Schuumller das Noumltige uumlber ihrKerngeschaumlft das Haus gut zu verwalten und sich auf der Agoraacute zubewaumlhren waumlhrend sie bei anderen Sophisten wie Hippias von Elisverdorben wuumlrden weil diese sie mit Unnuumltzem wie Arithmetik As-tronomie Geometrie und Dichtung traktierten2 So weitete also auchdie Schule Platons allmaumlhlich ihren Themenkreis immer weiter aus

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1 Auf dieses Merkmal der Schule ist G Bien naumlher eingegangen Das Theorie-Praxis-Problem und die politische Philosophie bei Platon und Aristoteles in Phil Jb 76(196869) 264ndash314 hier S 307ndash3132 Platon Protagoras 318 Dndash319 A

je mehr ihre Vorlaumlufigkeit die mit einem politischen Erfolg der Fun-damentalopposition ihr Ende finden sollte in Vergessenheit gerietAristoteles sollte an seinem Lehrer in der Sache manche Kritik uumlbenaber die Regeln der Institution Schule ihre Hinwendung zur Schrift-lichkeit und ihre Etablierung von Einzeldisziplinen (Pragmatien) ver-standen sich fuumlr ihn schon von selbst

Aristoteles (384ndash322) hatte als Siebzehnjaumlhriger seine makedo-nische Heimat verlassen um sich im Jahre 36766 der Akademie an-zuschlieszligen Da war Platon schon uumlber fuumlnfzig Jahre alt und hatteseine philosophische Arbeit dogmatisch abgeschlossen Da er in die-sen Tagen kurz vor seiner zweiten Reise nach Syrakus stand hat ervielleicht erst nach seiner Ruumlckkehr erkannt wer von nun an seinbegabtester Schuumller war Als Aristoteles einmal bei einer Vorlesungfehlte rief Platon verzweifelt aus raquoDer Geist ist nicht zugegenstumpf ist da die Houmlrerschaftlaquo ndash im Original ein ausgefeilter jambi-scher Trimeter ὁ νοῦς ἄπεσ|τιν κωφὸν τἀκ|ροατήριον3 Aristote-les wird sich dieses Lob seines Lehrers gewiss bei vielen Gelegenhei-ten verdient haben nicht zuletzt aber dank der Art wie er sich beiPlatons beruumlhmter Altersvorlesung raquoUumlber das Gutelaquo4 bewaumlhrte Alsdieser das Gute kosmologisch im zahlhaft bestimmten Einen verorte-te blieben die Houmlrer einer nach dem anderen enttaumluscht der Vor-lesung fern weil sie Ausfuumlhrungen uumlber seelische koumlrperliche undaumluszligere Guumlter im gemeinen Verstande erwartet hatten Auf diese Re-aktion der Houmlrer hatte Platon nur gewartet er wollte wissen wer mitseinem Vorstellungshorizont uumlber den der Menge hinausging undsich damit als genuiner Philosoph erwies Tatsaumlchlich harrten nurwenige Houmlrer bis zum Ende aus und empfingen den Ritterschlageines wahren Philosophen darunter natuumlrlich Aristoteles Dieser er-klaumlrte allerdings spaumlter er werde sich an das allgemein Anerkanntehalten statt aus dem Satz dass das Eine ein Gut sei herzuleiten dassdie Gerechtigkeit ein Gut sei5

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3 Zitiert nach V Rose Aristotelis qui ferebantur librorum fragmenta collegit V RLeipzig 18701886 repr Stuttgart 1967 S 4284 Das Vorlesungsmanuskript ist im Original nicht erhalten Die zahlreichen Para-phrasen bei anderen Autoren hat W D Ross Aristotelis Fragmenta Oxford 1935S 111ndash120 gesammelt5 Aristoteles Eudemische Ethik 1218 a 15ndash22 Der Aristotelesschuumller Aristoxenosbestaumltigte diese Reaktion seines Lehrers in seinen ἁρμονικὰ στοιχεῖα (ed P Mar-quard Die harmonischen Fragmente des Aristoxenos Berlin 1868 S 30) und fuumlgtehinzu es empfehle sich zu Beginn einer Vorlesung sein Thema genau anzukuumlndigen

Im Uumlbrigen sparte auch Aristoteles nicht mit Lob auf seinenLehrer Im Rahmen seiner Inschrift auf einem Altar der Freundschaftden Eudemos von Kypros von einer Reise nach Athen zuruumlckgekehrtgestiftet hatte ruumlhmt Aristoteles Platon als Mann den schlechteMenschen nicht einmal loben duumlrften und als Mann der als Ersterunter den Menschen durch eigene Lebensfuumlhrung und vorgetrageneGruumlnde demonstriert habe dass der gute Mann ebendeshalb auch dergluumlckliche Mann ist Zwar taucht im uumlberlieferten Text der Distichenweder der Name Platons noch der des Eudemos auf Olympiodor ver-sichert aber Aristoteles habe in seiner Widmung an den Stifter Eude-mos ebendieses Lob auf Platon ausgesprochen6 Bei welchem Lehrerhaumltte Aristoteles auch besser lernen koumlnnen wie man wesentlicheaber oft uumlbersehene Fragen stellt wie man fuumlr andere uumlberraschendauf Zusammenhaumlnge und Widerspruumlche aufmerksam macht wieman auf den ersten Blick unerkannte Implikationen und Konsequen-zen herausarbeitet wie man unzureichend Bewiesenes als solchesidentifiziert wie man einmal erzielte Uumlbereinkuumlnfte stets im Ge-daumlchtnis praumlsent haumllt wie man seine Argumente durch Ruumlckfuumlhrungauf Gruumlnde und Ursachen als anerkannte Berufungsinstanzen uumlber-zeugend vortraumlgt

Zur gegenseitigen Wertschaumltzung aufgrund ihrer intellektuellenVorzuumlge gesellte sich die politische Uumlbereinstimmung beider Philoso-phen die neben der Sympathie fuumlr Makedonien die entschieden ab-lehnende Haltung gegenuumlber der attischen Demokratie betraf FuumlrPlaton fiel die Suche nach der gerechten Polis als dem hiesigen Kor-relat des absolut Guten mit entschiedener Demokratiekritik zusam-men Seine politische Leitidee bildete die Gerechtigkeit als Einheit derKardinaltugenden mit dem Ziel der Baumlndigung des sinnlichen Inte-resses (ἡδονήvoluptas) waumlhrend in seinen Augen die demokrati-schen Leitideen der Gleichheit und Freiheit lediglich auf eine Beschouml-nigung der voluptas als des wahren Bestimmungsgrundes der Mengehinausliefen Diesen von voluptas durchdrungenen Staat sah Platonals derart heillos verfahren an dass er anknuumlpfende Schritt-fuumlr-Schritt Reformen gar nicht erst in Betracht zog Stattdessen setzte

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und wenn man Paradoxes vortragen wolle dies auch unmissverstaumlndlich zu sagen Sobliebe den Houmlrern die Enttaumluschung erspart wenn sie in Erwartung einer Belehrunguumlber Guumlter wie Reichtum Gesundheit Gluumlck am Ende lediglich die blasse Auskunfterhielten das Gute sei Eines6 Olympiodoros in Platonis Gorgiam XLI 10 ad p 515 C

Platons politische Opposition mit anderen Mitteln7 auf eine vomNullpunkt aus fehlerfrei in Gedanken durchkonstruierte Polis in derdie schon seit Kleisthenes bestehende Einheitlichkeit und Geschlos-senheit des Gemeinwesens gewahrt blieben aber konkrete demokra-tische Komponenten wie Rat und Volksversammlung Geschwore-nengericht und Flotte Panathenaumlen Dionysien und Eleusinien nichteinmal dem Namen nach vorkamen Bei dieser Konstellation gerietenSchule und Polis zwangslaumlufig in ein Verhaumlltnis sich gegenseitigenIgnorierens Die Schule fuumlhrte ihre Debatten als private Institutionohne Beruumlcksichtigung der Vorgaumlnge auf der Agoraacute und die Agoraacutemuumlhte sich mit den ihr eigenen Mitteln um eine Konsolidierung derdemokratischen Institutionen ohne die Einwaumlnde der Schule zurKenntnis zu nehmen Nun mag Platon einen offenbar unpolitischenweil von den Realitaumlten abgehobenen Ausgangspunkt gewaumlhlt unddamit seiner Weiterarbeit wie spaumlter die hermeneutisch argumentie-rende Kritik des Aristoteles zeigen sollte einen schlechten Dienst er-wiesen haben aber ihn leitete ohne jeden Zweifel ein handfestes Mo-tiv und eine daraus abgeleitete allgemeine bis in unsere Tage zubeherzigende Grundeinsicht

Platons Schluumlsselerlebnis war das Todesurteil gegen Sokratesdas eine Mehrheit unter fuumlnfhundert Geschworenen faumlllte obwohlsich Sokrates in allen Anklagepunkten ganz offenkundig als nichtschuldig erwiesen hatte Moumlglich wurde diese Gerichtsentscheidungweil es den Anklaumlgern wie routinierten Demagogen gelang mit ihrenUnwahrheiten eine ignorante Menge auf ihre Seite zu ziehen In derTat hatten sie wie Sokrates gleich im zweiten Satz der Apologie aus-ruft nicht ein einzigen wahren Satz vorgetragen (ἀληθές γε hellip οὐ-δὲν εἰρήκασιν) Der offenbar unausrottbaren Moumlglichkeit dass De-magogen gerade mit der Unwahrheit Mehrheiten fuumlr sich gewinnenkoumlnnen galt zeitlebens Platons kritische Aufmerksamkeit Tatort wa-ren nicht nur die Geschworenengerichte sondern nicht minder dieVolksversammlung in der interessierte Redner Mehrheitsbeschluumlsse(ψηφίσματα) herbeifuumlhrten mit denen sie bestehende Gesetze un-terliefen8 Auch fuumlr dieses Fehlverhalten gab es eine Schluumlsselszeneals naumlmlich im Zuge des Arginusenprozesses ein Mann aus der auf-gehetzten Menge rief es sei eine Ungeheuerlichkeit wenn man denDemos nicht tun lasse was er wolle und gleich darauf durchgesetzt

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7 Platon VII Brief 325 Endash326 A8 Ebd 325 DndashE

wurde dass die angeklagten Seeoffiziere en bloc verurteilt wurdenund nicht wie es das Gesetz verlangte jeder einzeln Der Einzigeder sich diesem rechtswidrigen Beschluss widersetzte war Sokrates9

Dass dieser Staat ausgerechnet seinen gerechtesten Buumlrger zumTode verurteilt hatte hat Platon nie verziehen Da indes die aus-schlaggebende Mehrheit der Geschworenen ihr Urteil wohl kaumfuumlr ungerecht hielt sah Platon sich verpflichtet allen ebenso gesinn-ten Athenern vorzutragen was an und fuumlr sich Gerechtigkeit wirklichist und zwar in der Politeia aus dem Munde eben des Sokrates Danun der Staat fuumlr die Gerechtigkeit der groumlszligere und besser sichtbareBewaumlhrungsort ist als der Einzelne schlug Sokrates vor den Begriffvon Gerechtigkeit zunaumlchst im Blick auf den Staat zu entwickeln (Po-liteia 368 E 472 B) Die Frage nach der Gerechtigkeit konkretisiertesich auf diese Weise zur Frage nach dem gerechten Staat Folgerichtigsetzte Platon im Geist des Sokrates der attischen Demokratie mitihrem falschen Machtwillen einen auf reiner Vernunft beruhendenIdealstaat entgegen von dessen Vorzuumlgen er vielleicht schon dienaumlchste Generation der Athener zu uumlberzeugen hoffte10 anderenfallskoumlnne man nur noch auf einen Gluumlcksschlag von auszligen (τύχη) set-zen oder dass sich dank goumlttlicher Fuumlgung ein Staatenlenker mit derPhilosophie befasse11 Die Befuumlrchtung der Philosoph koumlnne in seinereigenen Stadt wenn uumlberhaupt dann nur dank goumlttlicher Fuumlgung po-litisch taumltig werden (Politeia 592 A) wollte Platon allerdings fuumlr sichnicht als Entschuldigung gelten lassen im Gegenteil Platon ver-sicherte er sei eigens nach Syrakus gereist damit man ihm nicht vor-halten koumlnne er sei nur im Felde der Theorie stark ziehe sich aberzuruumlck wenn es an die praktische Ausfuumlhrung gehe (VII Brief328 C) Vielmehr war fuumlr ihn der gerechte Staat Inhalt philosophi-scher Reflexion mit dem Ziel seiner Verwirklichung

Im idealen Staat darf die Entscheidungsbefugnis nur bei Buumlrgernliegen die allein durch philosophisch uumlberpruumlfte Qualifikation undnicht durch Loswahl in ihr Amt gelangt sind Nur wer die Houmlhle derdie Menge auszeichnenden Kurzsichtigkeit verlassen und dank uumlber-legener Vernuumlnftigkeit die Idee des Guten geschaut hat vermag pri-vat wie oumlffentlich vernuumlnftig zu handeln12 eben seitdem er sich von

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9 Xenophon Hellenika 1 7 12ndash16 Vgl unten Anm 38 S 137 und Anm 17 S 14810 Platon Politeia 315 CndashD11 Platon VII Brief 326 A12 Platon Politeia 517 C

der Aussageabsicht der drei beruumlhmten Gleichnisse hat uumlberzeugenlassen dass naumlmlich das Gerechte das Gute ist und nicht das sinnlicheInteresse der auf den Schein fixierten Menge13 Entsprechend heiszligt esin Platons 8 Brief (355 A) Fuumlr besonnene Menschen ist Gott das Ge-setz fuumlr die unvernuumlnftigen ist es die Lust Das Gute hat also densel-ben Stellenwert wie Gott und bildet wie dieser insofern den Welt-grund als es weil jenseits (ἐπέκεινα) des daseienden Universumsangesiedelt im Rang noch uumlber dieses hinausragt und sich heilsambewaumlhrt indem es dank seinem Sproumlssling dem Sonnenlicht Orien-tierung durch Sichtbarkeit der Dinge sowie Leben Wachstum undGedeihen moumlglich macht14 Die Ausrichtung amGuten als Weltgrunderhebt das Gerechte zur unbedingten Handlungsnorm fordert abernicht nur sondern gewaumlhrt in einem damit den Buumlrgern auch wahr-haft praktischen Nutzen naumlmlich das Leben im sittlichen Gesetzes-staat ndash die Frucht eben der Herrschaft der Gerechtigkeit15 Damit istdie Frage zu deren Beantwortung Sokrates die drei beruumlhmtenGleichnisse vortrug naumlmlich ob Lust oder das Gerechte das wahreGut ist beantwortet und die implizit gegebene Antwort die auf derUnterscheidung der vier Erkenntnisstufen im Liniengleichnis beruhtbesagt dass die beschraumlnkten intellektuellen Moumlglichkeiten der Men-ge zu dieser Einsicht nicht ausreichen diese also fuumlglich zu entmuumln-digen ist schon um den Demagogen ein leichtglaumlubiges Publikum zuentziehen

Der Form nach stand bei aller Reserve Platon durchaus in derSchuld der Demokraten Sie waren es die unter Kleisthenes den atti-schen Staat als rational verwalteten Einheitsstaat geschaffen hattender nicht mehr nach Staumlmmen Sippen und oumlrtlich bedingten Loyali-taumlten fragmentiert war Unter Phylen verstand Kleisthenes nichtmehr den Oberbegriff vertikal strukturierter Personenverbaumlnde son-dern horizontal strukturierter einheitlich verwalteter Bezirke nachdem Territorialprinzip Das Volk der Athener (ὁ τῶν Ἀθηναίων δῆ-μος) trat an die Stelle der Klientel wie in Rom der populus Romanusan die Stelle der gentes Platon musste also das Prinzip staatlicherEinheit selbst nicht mehr erfinden wohl aber dem Inhalt nach fuumlr alleZukunft beschlieszligen dass nicht nur dieser sondern jeder Staat sei-nem Wesen gemaumlszlig in der Pflicht sei sich als raquoWirklichkeit der sitt-

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13 Ebd 505 B14 Ebd 509 AndashB15 Ebd 505 A

lichen Ideelaquo (Hegel) zu bewaumlhren Uumlber diesen Beschluss hinausdachte Platon noch einen Schritt weiter denn es konnte nicht ge-nuumlgen einen Staat philosophischer Sittlichkeit lediglich zu gruumlndener musste auch erhalten werden ndash durch ein Kollegium integrer Ge-setzeshuumlter die das muumlhsam Erreichte unveraumlndert zu bewahren hat-ten16 Diese Position waumlre etwa im Arginusenprozess unbesetzt ge-wesen haumltte Sokrates sie nicht eingenommen und auf Einhaltungder Gesetze bestanden

Ebenso wie die vorgegebene Staatlichkeit hat auch das mit dieserverbundene demokratische System der Rechtspflege das das archai-sche Selbsthilfeprinzip abloumlste Eingang in Platons Philosophie gefun-den Die archaische Selbsthilfe bestand darin dass die durch einenUumlbergriff beleidigte Sippe der Sippe des Taumlters die Fehde ankuumlndigte(πρόρρησις) deren Beendigung durch Abschluss eines Suumlhnevertra-ges (αἴδεσις) erfolgte Dass bei dieser Form der Konfliktbeilegungdurch Aussoumlhnung die staumlrkere Sippe in der Regel ihre Loumlsungsvor-stellungen durchsetzte liegt auf der Hand Der Schritt fuumlr Schritterfolgte Gerichtszwang durch den der Staat erst allmaumlhlich das Mo-nopol der Rechtspflege uumlbernahm hatte zum Ziel dass anstelle zufaumll-liger Machtverhaumlltnisse die Systematik von Recht und Gesetz imStreit der Parteien entscheidet17 Diesen Sinn der nacharchaischenRechtsprechung hat Ovid mit dem Hexameter zusammengefasstinde datae leges ne firmior omnia posset (Fasten 3 279) Im Gor-gias-Dialog haumllt nun Platon der Rhetorik vor sie sei der methodischeVersuch gerade diese Errungenschaft der Rechtsprechung ruumlckgaumln-gig zu machen Kallikles ein Anhaumlnger des Rhetoriklehrers Gorgiasspricht unverhohlen aus dass Herakles voumlllig im Recht war Geryonesseine Rinder die er weder gekauft noch zum Geschenk erhalten hatteohne Bedenken zu stehlen da das von Natur Gerechte darin bestehedass alles Eigentum der Schwaumlcheren in Wahrheit dem Staumlrkeren ge-houmlre18 Sokrates haumllt Kallikles entgegen dass wahre Uumlberlegenheitnicht im Mehr-haben-Wollen sondern im Sittlich-besser-Sein be-stehe und beruft sich damit ebenso wie die Rechtsprechung auf ein

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16 Platon Politeia 484 B Nomoi 752 DndashE 754 Dndash755 C 770 AndashD 847 AndashD 959 Dndash961 CIm Abschnitt zu raquoDemetrios Phalereus ndash oder die vierzehnte Wendelaquo wird diese pla-tonische Vorgabe noch eine wesentliche Rolle spielen17 Zu diesen nicht leicht zu rekonstruierenden Prozessen sei auf die im Literaturver-zeichnis genannten Aufsaumltze von E Ruschenbusch verwiesen18 Platon Gorgias 484 BndashC

systematisches Kriterium um die individuelle Machtperspektive inSchranken zu weisen Dass Sokrates bei seinem Gespraumlchspartnermit dieser Argumentation nicht durchdringt ist allein der Borniert-heit des Kallikles zuzuschreiben

Es ist nicht zu leugnen dass Platon ebenso wie der Oligarch Kal-likles den Besseren das Wort redete aber unter den Besseren wirklichBessere verstand die den Staat als sublimierte Oligarchie tragen soll-ten Von dieser Staatslehre gilt es also zu uumlberzeugen und das ver-suchte Platon auch ganz im Sinne des Sokrates zunaumlchst durch sach-liche Gespraumlchsfuumlhrung oder Dialektik (διαλέγεσθαι) die mitkurzen Saumltzen Rechenschaft fordert und gewaumlhrt Sokrates mochtekeine langen Reden die geeignet sind das Ausgangsthema nach eini-ger Zeit aus den Augen zu verlieren19 Auch mochte es Sokrates garnicht wenn Unterredner sich streitsuumlchtig (ἐρίζειν) an Worten fest-bissen statt am intendierten Inhalt20 Das richtet sich gegen Protago-ras der als Erfinder der Eristik Wortklauberei betrieb statt sich aufdie Bedeutung des Sachverhalts zu konzentrieren21 Insgesamt ist diesokratische Version von Dialektik ein Gegenentwurf zur raquosogenann-ten Kunst der Rhetoriklaquo22 die lediglich den Uumlberredungserfolg zumZiel hat und nicht etwa wohlbegruumlndete Wahrheiten herausarbeitenwill Nun musste Platon etwa im Gespraumlch mit Kallikles im Gorgiasoder mit Thrasymachos im ersten Buch der Politeia erkennen dassgerade seine Sachlichkeit bei Boumlswilligen auf taube Ohren stoumlszligt Erentwickelte daher noch in der Politeia einen uumlber Sokrates hinaus-gehenden Begriff von Dialektik die nicht diskutiert sondern dekre-tiert nachdem diese durch reines auf das Gespraumlch mit sich selbstkonzentriertes Durchdenken des Wesentlichen frei von sinnlichenEindruumlcken zum Ziel der Erkenntnis des Guten gelangt ist (532 AndashB) Weil somit Dialektik zustaumlndig wird fuumlr die Vergegenwaumlrtigungdes Guten in der politischen Welt darf auch nur der ausgewieseneDialektiker Staatenlenker werden (534 CndashD) der auf seinen Einsich-ten beharrt auch wenn ihm seine Mitbuumlrger die Zustimmung ver-weigern Gegen vordergruumlndige Rechthaberei von wem immer sieausgeht verteidigt Platon das Prinzip vernuumlnftiger Argumentationgegen die Kraumlfte ihrer Blockierung

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19 Platon Protagoras 336 AndashC Gorgias 474 B20 Platon Politeia 454 A21 Diogenes Laertios 9 5222 Platon Gorgias 448 D

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Einleitung ndash zur Erlaumluterung der These

Hermeneutikgeleitete Chronikder Wege und Umwege derphilosophia practica universalisvon den Anfaumlngen bis in die Gegenwart

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Vom Ende her gesehen koumlnnte leicht der Eindruck entstehen Platon(42827ndash34847) habe sich von vornherein als Lebenswerk die Gruumln-dung einer philosophischen Schule zum Ziel gesetzt in deren Mittel-punkt die Ausbildung einer systematischen politischen Theoriestehen sollte Dieser Eindruck taumluscht indes Wie Platon selbst imVII Brief (324 Bndash326 D) seinen Werdegang darstellt hatte er ur-spruumlnglich gar nicht die Absicht eine Schule zu gruumlnden die sichphilosophisch mit dem Staat befasste Stattdessen draumlngte er zunaumlchstauf eigenes politisches Handeln als er in der Herrschaft der DreiszligigTyrannen (40403) eine Chance sah einen Staat zu errichten der freiwar von den Schwaumlchen der Demokratie Enttaumluscht musste er aberbald erkennen dass die fruumlheren Verhaumlltnisse in der Demokratie ver-glichen mit der Gegenwart unter den Dreiszligig Gold (sic) waren Fol-gerichtig wandte er sich von den Dreiszligig ab und war nach deren Sturzwiederum bereit zu politisch aktiver Taumltigkeit wurde aber erneut ent-taumluscht ndash durch das Todesurteil gegen Sokrates den Mangel an poli-tischen Freunden die grassierende Geringachtung der Gesetze unddie Inthronisierung der Lust (ἡδονή) als Maszlig der Dinge Erst darauf-hin widmete sich Platon der theoretischen Beschaumlftigung mit demwahren Staat nicht ohne fuumlr erneute praktische Taumltigkeit in der Poli-tik bessere Zeiten abzuwarten die dann eintraumlten wenn wahrhaftePhilosophen die Herrschaft im Staat uumlbernaumlhmen und nicht die durchdas Los ins Amt befoumlrderte Inkompetenz Seine Philosophie war alsoOpposition auszligerhalb der politischen Buumlhne gedacht als ungewollteZwischenphase die erst endete wenn die Staumldte nach philosophi-schen Grundsaumltzen verfasst waumlren Die Gruumlndung der Schule erfolgtealso eher aus Verlegenheit sie war nicht die erfolgreiche Ausfuumlhrungeiner urspruumlnglichen Absicht

Mit seinem Bericht im VII Brief laumlsst Platon also durchblickendass er gleichsam widerWillen die Akademie als Schule gruumlndete undderen erstes Schulhaupt wurde Die Schule galt Platon als Surrogateiner Polis der vollendeten Sittlichkeit Folgerichtig war das Leit-thema der Schule die Lehre vom wahren Staat der das bloszlige Surrogatwieder uumlberfluumlssig machen sollte Platon verschweigt auch nicht vonwelchem Standpunkt aus er die Grundzuumlge des idealen Staates ent-wickelte Waumlhrend er die Schwaumlchen der Demokratie eher in derenStrukturen suchte ortete er die Schwaumlchen der Oligarchie im persoumln-lichen Versagen insbesondere der Dreiszligig Tyrannen Demgemaumlszlig plauml-

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dierte er fuumlr eine zu wahrer Aristokratie veredelte Oligarchie die vonindividuellen und strukturellen Defiziten frei war Diese dem Best-moumlglichen verpflichtete Parteinahme erfuumlllte zugleich die Anforde-rungen einer auf Widerspruchsfreiheit bedachten Theorie sofernPlaton alle seine politischen Vorstellungen auf Vernunftbegriffe zu-ruumlckfuumlhrte und nie vergaszlig sie geltend zu machen wo immer ihreBeachtung zwingend geboten war Mag es Platon auch nicht gelungensein in Athen einen Wiedergaumlnger des Sokrates als philosophischenHerrscher zu bestallen und auf diese Weise sein praktisches Ziel zuerreichen so bleibt doch als Ergebnis seiner Anstrengungen zumin-dest als Fortschritt im Bewusstsein dies bestehen dass von nun anpolitische Vorgaumlnge unvermeidlich von der Aufmerksamkeit einerauszligerhalb der politischen Buumlhne angesiedelten Vernunftkritik beglei-tet wurden Insofern blieb Platons mutiger Schritt eine politischeEntitaumlt systematisch in Zweifel zu ziehen und sie auch noch miteinem Gegenmodell zu konfrontieren nicht ohne kuumlnftige Folgen

Einstweilen blieb aber Platons politische FundamentaloppositionSache der Schule deren Eigengesetzlichkeit sich auf die inhaltlicheWeiterarbeit spuumlrbar auswirken sollte Zur (nachsokratischen)Grund-ausstattung der Schule gehoumlrte die Schriftlichkeit die Platon in nichtgeringe Verlegenheit brachte weil er auf unmittelbare Praumlsenz derVernunft setzte und nicht auf eine mittelbare die sich auch nochdurch Ablage ins Buumlcherregal unschaumldlich machen lieszlig1 Zudemzeichnete sich uumlber das politische Kerninteresse hinaus eine durchschultypisches Weiterfragen ausgeloumlste Verfaumlcherung ab die Platonnoch identitaumltsphilosophisch aufzufangen vermochte die aber auflange Sicht jenseits der Politik zur Etablierung von Einzeldisziplinenwie Ontologie Kosmologie Mathematik und Erkenntnistheorie fuumlhr-te Den Sophisten ging es aumlhnlich wie Sokrates von Protagoras er-faumlhrt Nur bei ihm selbst erfuumlhren die Schuumller das Noumltige uumlber ihrKerngeschaumlft das Haus gut zu verwalten und sich auf der Agoraacute zubewaumlhren waumlhrend sie bei anderen Sophisten wie Hippias von Elisverdorben wuumlrden weil diese sie mit Unnuumltzem wie Arithmetik As-tronomie Geometrie und Dichtung traktierten2 So weitete also auchdie Schule Platons allmaumlhlich ihren Themenkreis immer weiter aus

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1 Auf dieses Merkmal der Schule ist G Bien naumlher eingegangen Das Theorie-Praxis-Problem und die politische Philosophie bei Platon und Aristoteles in Phil Jb 76(196869) 264ndash314 hier S 307ndash3132 Platon Protagoras 318 Dndash319 A

je mehr ihre Vorlaumlufigkeit die mit einem politischen Erfolg der Fun-damentalopposition ihr Ende finden sollte in Vergessenheit gerietAristoteles sollte an seinem Lehrer in der Sache manche Kritik uumlbenaber die Regeln der Institution Schule ihre Hinwendung zur Schrift-lichkeit und ihre Etablierung von Einzeldisziplinen (Pragmatien) ver-standen sich fuumlr ihn schon von selbst

Aristoteles (384ndash322) hatte als Siebzehnjaumlhriger seine makedo-nische Heimat verlassen um sich im Jahre 36766 der Akademie an-zuschlieszligen Da war Platon schon uumlber fuumlnfzig Jahre alt und hatteseine philosophische Arbeit dogmatisch abgeschlossen Da er in die-sen Tagen kurz vor seiner zweiten Reise nach Syrakus stand hat ervielleicht erst nach seiner Ruumlckkehr erkannt wer von nun an seinbegabtester Schuumller war Als Aristoteles einmal bei einer Vorlesungfehlte rief Platon verzweifelt aus raquoDer Geist ist nicht zugegenstumpf ist da die Houmlrerschaftlaquo ndash im Original ein ausgefeilter jambi-scher Trimeter ὁ νοῦς ἄπεσ|τιν κωφὸν τἀκ|ροατήριον3 Aristote-les wird sich dieses Lob seines Lehrers gewiss bei vielen Gelegenhei-ten verdient haben nicht zuletzt aber dank der Art wie er sich beiPlatons beruumlhmter Altersvorlesung raquoUumlber das Gutelaquo4 bewaumlhrte Alsdieser das Gute kosmologisch im zahlhaft bestimmten Einen verorte-te blieben die Houmlrer einer nach dem anderen enttaumluscht der Vor-lesung fern weil sie Ausfuumlhrungen uumlber seelische koumlrperliche undaumluszligere Guumlter im gemeinen Verstande erwartet hatten Auf diese Re-aktion der Houmlrer hatte Platon nur gewartet er wollte wissen wer mitseinem Vorstellungshorizont uumlber den der Menge hinausging undsich damit als genuiner Philosoph erwies Tatsaumlchlich harrten nurwenige Houmlrer bis zum Ende aus und empfingen den Ritterschlageines wahren Philosophen darunter natuumlrlich Aristoteles Dieser er-klaumlrte allerdings spaumlter er werde sich an das allgemein Anerkanntehalten statt aus dem Satz dass das Eine ein Gut sei herzuleiten dassdie Gerechtigkeit ein Gut sei5

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Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

3 Zitiert nach V Rose Aristotelis qui ferebantur librorum fragmenta collegit V RLeipzig 18701886 repr Stuttgart 1967 S 4284 Das Vorlesungsmanuskript ist im Original nicht erhalten Die zahlreichen Para-phrasen bei anderen Autoren hat W D Ross Aristotelis Fragmenta Oxford 1935S 111ndash120 gesammelt5 Aristoteles Eudemische Ethik 1218 a 15ndash22 Der Aristotelesschuumller Aristoxenosbestaumltigte diese Reaktion seines Lehrers in seinen ἁρμονικὰ στοιχεῖα (ed P Mar-quard Die harmonischen Fragmente des Aristoxenos Berlin 1868 S 30) und fuumlgtehinzu es empfehle sich zu Beginn einer Vorlesung sein Thema genau anzukuumlndigen

Im Uumlbrigen sparte auch Aristoteles nicht mit Lob auf seinenLehrer Im Rahmen seiner Inschrift auf einem Altar der Freundschaftden Eudemos von Kypros von einer Reise nach Athen zuruumlckgekehrtgestiftet hatte ruumlhmt Aristoteles Platon als Mann den schlechteMenschen nicht einmal loben duumlrften und als Mann der als Ersterunter den Menschen durch eigene Lebensfuumlhrung und vorgetrageneGruumlnde demonstriert habe dass der gute Mann ebendeshalb auch dergluumlckliche Mann ist Zwar taucht im uumlberlieferten Text der Distichenweder der Name Platons noch der des Eudemos auf Olympiodor ver-sichert aber Aristoteles habe in seiner Widmung an den Stifter Eude-mos ebendieses Lob auf Platon ausgesprochen6 Bei welchem Lehrerhaumltte Aristoteles auch besser lernen koumlnnen wie man wesentlicheaber oft uumlbersehene Fragen stellt wie man fuumlr andere uumlberraschendauf Zusammenhaumlnge und Widerspruumlche aufmerksam macht wieman auf den ersten Blick unerkannte Implikationen und Konsequen-zen herausarbeitet wie man unzureichend Bewiesenes als solchesidentifiziert wie man einmal erzielte Uumlbereinkuumlnfte stets im Ge-daumlchtnis praumlsent haumllt wie man seine Argumente durch Ruumlckfuumlhrungauf Gruumlnde und Ursachen als anerkannte Berufungsinstanzen uumlber-zeugend vortraumlgt

Zur gegenseitigen Wertschaumltzung aufgrund ihrer intellektuellenVorzuumlge gesellte sich die politische Uumlbereinstimmung beider Philoso-phen die neben der Sympathie fuumlr Makedonien die entschieden ab-lehnende Haltung gegenuumlber der attischen Demokratie betraf FuumlrPlaton fiel die Suche nach der gerechten Polis als dem hiesigen Kor-relat des absolut Guten mit entschiedener Demokratiekritik zusam-men Seine politische Leitidee bildete die Gerechtigkeit als Einheit derKardinaltugenden mit dem Ziel der Baumlndigung des sinnlichen Inte-resses (ἡδονήvoluptas) waumlhrend in seinen Augen die demokrati-schen Leitideen der Gleichheit und Freiheit lediglich auf eine Beschouml-nigung der voluptas als des wahren Bestimmungsgrundes der Mengehinausliefen Diesen von voluptas durchdrungenen Staat sah Platonals derart heillos verfahren an dass er anknuumlpfende Schritt-fuumlr-Schritt Reformen gar nicht erst in Betracht zog Stattdessen setzte

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Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

und wenn man Paradoxes vortragen wolle dies auch unmissverstaumlndlich zu sagen Sobliebe den Houmlrern die Enttaumluschung erspart wenn sie in Erwartung einer Belehrunguumlber Guumlter wie Reichtum Gesundheit Gluumlck am Ende lediglich die blasse Auskunfterhielten das Gute sei Eines6 Olympiodoros in Platonis Gorgiam XLI 10 ad p 515 C

Platons politische Opposition mit anderen Mitteln7 auf eine vomNullpunkt aus fehlerfrei in Gedanken durchkonstruierte Polis in derdie schon seit Kleisthenes bestehende Einheitlichkeit und Geschlos-senheit des Gemeinwesens gewahrt blieben aber konkrete demokra-tische Komponenten wie Rat und Volksversammlung Geschwore-nengericht und Flotte Panathenaumlen Dionysien und Eleusinien nichteinmal dem Namen nach vorkamen Bei dieser Konstellation gerietenSchule und Polis zwangslaumlufig in ein Verhaumlltnis sich gegenseitigenIgnorierens Die Schule fuumlhrte ihre Debatten als private Institutionohne Beruumlcksichtigung der Vorgaumlnge auf der Agoraacute und die Agoraacutemuumlhte sich mit den ihr eigenen Mitteln um eine Konsolidierung derdemokratischen Institutionen ohne die Einwaumlnde der Schule zurKenntnis zu nehmen Nun mag Platon einen offenbar unpolitischenweil von den Realitaumlten abgehobenen Ausgangspunkt gewaumlhlt unddamit seiner Weiterarbeit wie spaumlter die hermeneutisch argumentie-rende Kritik des Aristoteles zeigen sollte einen schlechten Dienst er-wiesen haben aber ihn leitete ohne jeden Zweifel ein handfestes Mo-tiv und eine daraus abgeleitete allgemeine bis in unsere Tage zubeherzigende Grundeinsicht

Platons Schluumlsselerlebnis war das Todesurteil gegen Sokratesdas eine Mehrheit unter fuumlnfhundert Geschworenen faumlllte obwohlsich Sokrates in allen Anklagepunkten ganz offenkundig als nichtschuldig erwiesen hatte Moumlglich wurde diese Gerichtsentscheidungweil es den Anklaumlgern wie routinierten Demagogen gelang mit ihrenUnwahrheiten eine ignorante Menge auf ihre Seite zu ziehen In derTat hatten sie wie Sokrates gleich im zweiten Satz der Apologie aus-ruft nicht ein einzigen wahren Satz vorgetragen (ἀληθές γε hellip οὐ-δὲν εἰρήκασιν) Der offenbar unausrottbaren Moumlglichkeit dass De-magogen gerade mit der Unwahrheit Mehrheiten fuumlr sich gewinnenkoumlnnen galt zeitlebens Platons kritische Aufmerksamkeit Tatort wa-ren nicht nur die Geschworenengerichte sondern nicht minder dieVolksversammlung in der interessierte Redner Mehrheitsbeschluumlsse(ψηφίσματα) herbeifuumlhrten mit denen sie bestehende Gesetze un-terliefen8 Auch fuumlr dieses Fehlverhalten gab es eine Schluumlsselszeneals naumlmlich im Zuge des Arginusenprozesses ein Mann aus der auf-gehetzten Menge rief es sei eine Ungeheuerlichkeit wenn man denDemos nicht tun lasse was er wolle und gleich darauf durchgesetzt

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Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

7 Platon VII Brief 325 Endash326 A8 Ebd 325 DndashE

wurde dass die angeklagten Seeoffiziere en bloc verurteilt wurdenund nicht wie es das Gesetz verlangte jeder einzeln Der Einzigeder sich diesem rechtswidrigen Beschluss widersetzte war Sokrates9

Dass dieser Staat ausgerechnet seinen gerechtesten Buumlrger zumTode verurteilt hatte hat Platon nie verziehen Da indes die aus-schlaggebende Mehrheit der Geschworenen ihr Urteil wohl kaumfuumlr ungerecht hielt sah Platon sich verpflichtet allen ebenso gesinn-ten Athenern vorzutragen was an und fuumlr sich Gerechtigkeit wirklichist und zwar in der Politeia aus dem Munde eben des Sokrates Danun der Staat fuumlr die Gerechtigkeit der groumlszligere und besser sichtbareBewaumlhrungsort ist als der Einzelne schlug Sokrates vor den Begriffvon Gerechtigkeit zunaumlchst im Blick auf den Staat zu entwickeln (Po-liteia 368 E 472 B) Die Frage nach der Gerechtigkeit konkretisiertesich auf diese Weise zur Frage nach dem gerechten Staat Folgerichtigsetzte Platon im Geist des Sokrates der attischen Demokratie mitihrem falschen Machtwillen einen auf reiner Vernunft beruhendenIdealstaat entgegen von dessen Vorzuumlgen er vielleicht schon dienaumlchste Generation der Athener zu uumlberzeugen hoffte10 anderenfallskoumlnne man nur noch auf einen Gluumlcksschlag von auszligen (τύχη) set-zen oder dass sich dank goumlttlicher Fuumlgung ein Staatenlenker mit derPhilosophie befasse11 Die Befuumlrchtung der Philosoph koumlnne in seinereigenen Stadt wenn uumlberhaupt dann nur dank goumlttlicher Fuumlgung po-litisch taumltig werden (Politeia 592 A) wollte Platon allerdings fuumlr sichnicht als Entschuldigung gelten lassen im Gegenteil Platon ver-sicherte er sei eigens nach Syrakus gereist damit man ihm nicht vor-halten koumlnne er sei nur im Felde der Theorie stark ziehe sich aberzuruumlck wenn es an die praktische Ausfuumlhrung gehe (VII Brief328 C) Vielmehr war fuumlr ihn der gerechte Staat Inhalt philosophi-scher Reflexion mit dem Ziel seiner Verwirklichung

Im idealen Staat darf die Entscheidungsbefugnis nur bei Buumlrgernliegen die allein durch philosophisch uumlberpruumlfte Qualifikation undnicht durch Loswahl in ihr Amt gelangt sind Nur wer die Houmlhle derdie Menge auszeichnenden Kurzsichtigkeit verlassen und dank uumlber-legener Vernuumlnftigkeit die Idee des Guten geschaut hat vermag pri-vat wie oumlffentlich vernuumlnftig zu handeln12 eben seitdem er sich von

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9 Xenophon Hellenika 1 7 12ndash16 Vgl unten Anm 38 S 137 und Anm 17 S 14810 Platon Politeia 315 CndashD11 Platon VII Brief 326 A12 Platon Politeia 517 C

der Aussageabsicht der drei beruumlhmten Gleichnisse hat uumlberzeugenlassen dass naumlmlich das Gerechte das Gute ist und nicht das sinnlicheInteresse der auf den Schein fixierten Menge13 Entsprechend heiszligt esin Platons 8 Brief (355 A) Fuumlr besonnene Menschen ist Gott das Ge-setz fuumlr die unvernuumlnftigen ist es die Lust Das Gute hat also densel-ben Stellenwert wie Gott und bildet wie dieser insofern den Welt-grund als es weil jenseits (ἐπέκεινα) des daseienden Universumsangesiedelt im Rang noch uumlber dieses hinausragt und sich heilsambewaumlhrt indem es dank seinem Sproumlssling dem Sonnenlicht Orien-tierung durch Sichtbarkeit der Dinge sowie Leben Wachstum undGedeihen moumlglich macht14 Die Ausrichtung amGuten als Weltgrunderhebt das Gerechte zur unbedingten Handlungsnorm fordert abernicht nur sondern gewaumlhrt in einem damit den Buumlrgern auch wahr-haft praktischen Nutzen naumlmlich das Leben im sittlichen Gesetzes-staat ndash die Frucht eben der Herrschaft der Gerechtigkeit15 Damit istdie Frage zu deren Beantwortung Sokrates die drei beruumlhmtenGleichnisse vortrug naumlmlich ob Lust oder das Gerechte das wahreGut ist beantwortet und die implizit gegebene Antwort die auf derUnterscheidung der vier Erkenntnisstufen im Liniengleichnis beruhtbesagt dass die beschraumlnkten intellektuellen Moumlglichkeiten der Men-ge zu dieser Einsicht nicht ausreichen diese also fuumlglich zu entmuumln-digen ist schon um den Demagogen ein leichtglaumlubiges Publikum zuentziehen

Der Form nach stand bei aller Reserve Platon durchaus in derSchuld der Demokraten Sie waren es die unter Kleisthenes den atti-schen Staat als rational verwalteten Einheitsstaat geschaffen hattender nicht mehr nach Staumlmmen Sippen und oumlrtlich bedingten Loyali-taumlten fragmentiert war Unter Phylen verstand Kleisthenes nichtmehr den Oberbegriff vertikal strukturierter Personenverbaumlnde son-dern horizontal strukturierter einheitlich verwalteter Bezirke nachdem Territorialprinzip Das Volk der Athener (ὁ τῶν Ἀθηναίων δῆ-μος) trat an die Stelle der Klientel wie in Rom der populus Romanusan die Stelle der gentes Platon musste also das Prinzip staatlicherEinheit selbst nicht mehr erfinden wohl aber dem Inhalt nach fuumlr alleZukunft beschlieszligen dass nicht nur dieser sondern jeder Staat sei-nem Wesen gemaumlszlig in der Pflicht sei sich als raquoWirklichkeit der sitt-

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Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

13 Ebd 505 B14 Ebd 509 AndashB15 Ebd 505 A

lichen Ideelaquo (Hegel) zu bewaumlhren Uumlber diesen Beschluss hinausdachte Platon noch einen Schritt weiter denn es konnte nicht ge-nuumlgen einen Staat philosophischer Sittlichkeit lediglich zu gruumlndener musste auch erhalten werden ndash durch ein Kollegium integrer Ge-setzeshuumlter die das muumlhsam Erreichte unveraumlndert zu bewahren hat-ten16 Diese Position waumlre etwa im Arginusenprozess unbesetzt ge-wesen haumltte Sokrates sie nicht eingenommen und auf Einhaltungder Gesetze bestanden

Ebenso wie die vorgegebene Staatlichkeit hat auch das mit dieserverbundene demokratische System der Rechtspflege das das archai-sche Selbsthilfeprinzip abloumlste Eingang in Platons Philosophie gefun-den Die archaische Selbsthilfe bestand darin dass die durch einenUumlbergriff beleidigte Sippe der Sippe des Taumlters die Fehde ankuumlndigte(πρόρρησις) deren Beendigung durch Abschluss eines Suumlhnevertra-ges (αἴδεσις) erfolgte Dass bei dieser Form der Konfliktbeilegungdurch Aussoumlhnung die staumlrkere Sippe in der Regel ihre Loumlsungsvor-stellungen durchsetzte liegt auf der Hand Der Schritt fuumlr Schritterfolgte Gerichtszwang durch den der Staat erst allmaumlhlich das Mo-nopol der Rechtspflege uumlbernahm hatte zum Ziel dass anstelle zufaumll-liger Machtverhaumlltnisse die Systematik von Recht und Gesetz imStreit der Parteien entscheidet17 Diesen Sinn der nacharchaischenRechtsprechung hat Ovid mit dem Hexameter zusammengefasstinde datae leges ne firmior omnia posset (Fasten 3 279) Im Gor-gias-Dialog haumllt nun Platon der Rhetorik vor sie sei der methodischeVersuch gerade diese Errungenschaft der Rechtsprechung ruumlckgaumln-gig zu machen Kallikles ein Anhaumlnger des Rhetoriklehrers Gorgiasspricht unverhohlen aus dass Herakles voumlllig im Recht war Geryonesseine Rinder die er weder gekauft noch zum Geschenk erhalten hatteohne Bedenken zu stehlen da das von Natur Gerechte darin bestehedass alles Eigentum der Schwaumlcheren in Wahrheit dem Staumlrkeren ge-houmlre18 Sokrates haumllt Kallikles entgegen dass wahre Uumlberlegenheitnicht im Mehr-haben-Wollen sondern im Sittlich-besser-Sein be-stehe und beruft sich damit ebenso wie die Rechtsprechung auf ein

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Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

16 Platon Politeia 484 B Nomoi 752 DndashE 754 Dndash755 C 770 AndashD 847 AndashD 959 Dndash961 CIm Abschnitt zu raquoDemetrios Phalereus ndash oder die vierzehnte Wendelaquo wird diese pla-tonische Vorgabe noch eine wesentliche Rolle spielen17 Zu diesen nicht leicht zu rekonstruierenden Prozessen sei auf die im Literaturver-zeichnis genannten Aufsaumltze von E Ruschenbusch verwiesen18 Platon Gorgias 484 BndashC

systematisches Kriterium um die individuelle Machtperspektive inSchranken zu weisen Dass Sokrates bei seinem Gespraumlchspartnermit dieser Argumentation nicht durchdringt ist allein der Borniert-heit des Kallikles zuzuschreiben

Es ist nicht zu leugnen dass Platon ebenso wie der Oligarch Kal-likles den Besseren das Wort redete aber unter den Besseren wirklichBessere verstand die den Staat als sublimierte Oligarchie tragen soll-ten Von dieser Staatslehre gilt es also zu uumlberzeugen und das ver-suchte Platon auch ganz im Sinne des Sokrates zunaumlchst durch sach-liche Gespraumlchsfuumlhrung oder Dialektik (διαλέγεσθαι) die mitkurzen Saumltzen Rechenschaft fordert und gewaumlhrt Sokrates mochtekeine langen Reden die geeignet sind das Ausgangsthema nach eini-ger Zeit aus den Augen zu verlieren19 Auch mochte es Sokrates garnicht wenn Unterredner sich streitsuumlchtig (ἐρίζειν) an Worten fest-bissen statt am intendierten Inhalt20 Das richtet sich gegen Protago-ras der als Erfinder der Eristik Wortklauberei betrieb statt sich aufdie Bedeutung des Sachverhalts zu konzentrieren21 Insgesamt ist diesokratische Version von Dialektik ein Gegenentwurf zur raquosogenann-ten Kunst der Rhetoriklaquo22 die lediglich den Uumlberredungserfolg zumZiel hat und nicht etwa wohlbegruumlndete Wahrheiten herausarbeitenwill Nun musste Platon etwa im Gespraumlch mit Kallikles im Gorgiasoder mit Thrasymachos im ersten Buch der Politeia erkennen dassgerade seine Sachlichkeit bei Boumlswilligen auf taube Ohren stoumlszligt Erentwickelte daher noch in der Politeia einen uumlber Sokrates hinaus-gehenden Begriff von Dialektik die nicht diskutiert sondern dekre-tiert nachdem diese durch reines auf das Gespraumlch mit sich selbstkonzentriertes Durchdenken des Wesentlichen frei von sinnlichenEindruumlcken zum Ziel der Erkenntnis des Guten gelangt ist (532 AndashB) Weil somit Dialektik zustaumlndig wird fuumlr die Vergegenwaumlrtigungdes Guten in der politischen Welt darf auch nur der ausgewieseneDialektiker Staatenlenker werden (534 CndashD) der auf seinen Einsich-ten beharrt auch wenn ihm seine Mitbuumlrger die Zustimmung ver-weigern Gegen vordergruumlndige Rechthaberei von wem immer sieausgeht verteidigt Platon das Prinzip vernuumlnftiger Argumentationgegen die Kraumlfte ihrer Blockierung

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19 Platon Protagoras 336 AndashC Gorgias 474 B20 Platon Politeia 454 A21 Diogenes Laertios 9 5222 Platon Gorgias 448 D

Page 18: Platon und Aristoteles als Wegbereiter der praktischen ... · Differenzen zwischen Platon und Aristoteles ins Auge fallen. Wer jedoch Platon und Aristoteles zusammen gegen die später

Hermeneutikgeleitete Chronikder Wege und Umwege derphilosophia practica universalisvon den Anfaumlngen bis in die Gegenwart

Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

Vom Ende her gesehen koumlnnte leicht der Eindruck entstehen Platon(42827ndash34847) habe sich von vornherein als Lebenswerk die Gruumln-dung einer philosophischen Schule zum Ziel gesetzt in deren Mittel-punkt die Ausbildung einer systematischen politischen Theoriestehen sollte Dieser Eindruck taumluscht indes Wie Platon selbst imVII Brief (324 Bndash326 D) seinen Werdegang darstellt hatte er ur-spruumlnglich gar nicht die Absicht eine Schule zu gruumlnden die sichphilosophisch mit dem Staat befasste Stattdessen draumlngte er zunaumlchstauf eigenes politisches Handeln als er in der Herrschaft der DreiszligigTyrannen (40403) eine Chance sah einen Staat zu errichten der freiwar von den Schwaumlchen der Demokratie Enttaumluscht musste er aberbald erkennen dass die fruumlheren Verhaumlltnisse in der Demokratie ver-glichen mit der Gegenwart unter den Dreiszligig Gold (sic) waren Fol-gerichtig wandte er sich von den Dreiszligig ab und war nach deren Sturzwiederum bereit zu politisch aktiver Taumltigkeit wurde aber erneut ent-taumluscht ndash durch das Todesurteil gegen Sokrates den Mangel an poli-tischen Freunden die grassierende Geringachtung der Gesetze unddie Inthronisierung der Lust (ἡδονή) als Maszlig der Dinge Erst darauf-hin widmete sich Platon der theoretischen Beschaumlftigung mit demwahren Staat nicht ohne fuumlr erneute praktische Taumltigkeit in der Poli-tik bessere Zeiten abzuwarten die dann eintraumlten wenn wahrhaftePhilosophen die Herrschaft im Staat uumlbernaumlhmen und nicht die durchdas Los ins Amt befoumlrderte Inkompetenz Seine Philosophie war alsoOpposition auszligerhalb der politischen Buumlhne gedacht als ungewollteZwischenphase die erst endete wenn die Staumldte nach philosophi-schen Grundsaumltzen verfasst waumlren Die Gruumlndung der Schule erfolgtealso eher aus Verlegenheit sie war nicht die erfolgreiche Ausfuumlhrungeiner urspruumlnglichen Absicht

Mit seinem Bericht im VII Brief laumlsst Platon also durchblickendass er gleichsam widerWillen die Akademie als Schule gruumlndete undderen erstes Schulhaupt wurde Die Schule galt Platon als Surrogateiner Polis der vollendeten Sittlichkeit Folgerichtig war das Leit-thema der Schule die Lehre vom wahren Staat der das bloszlige Surrogatwieder uumlberfluumlssig machen sollte Platon verschweigt auch nicht vonwelchem Standpunkt aus er die Grundzuumlge des idealen Staates ent-wickelte Waumlhrend er die Schwaumlchen der Demokratie eher in derenStrukturen suchte ortete er die Schwaumlchen der Oligarchie im persoumln-lichen Versagen insbesondere der Dreiszligig Tyrannen Demgemaumlszlig plauml-

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dierte er fuumlr eine zu wahrer Aristokratie veredelte Oligarchie die vonindividuellen und strukturellen Defiziten frei war Diese dem Best-moumlglichen verpflichtete Parteinahme erfuumlllte zugleich die Anforde-rungen einer auf Widerspruchsfreiheit bedachten Theorie sofernPlaton alle seine politischen Vorstellungen auf Vernunftbegriffe zu-ruumlckfuumlhrte und nie vergaszlig sie geltend zu machen wo immer ihreBeachtung zwingend geboten war Mag es Platon auch nicht gelungensein in Athen einen Wiedergaumlnger des Sokrates als philosophischenHerrscher zu bestallen und auf diese Weise sein praktisches Ziel zuerreichen so bleibt doch als Ergebnis seiner Anstrengungen zumin-dest als Fortschritt im Bewusstsein dies bestehen dass von nun anpolitische Vorgaumlnge unvermeidlich von der Aufmerksamkeit einerauszligerhalb der politischen Buumlhne angesiedelten Vernunftkritik beglei-tet wurden Insofern blieb Platons mutiger Schritt eine politischeEntitaumlt systematisch in Zweifel zu ziehen und sie auch noch miteinem Gegenmodell zu konfrontieren nicht ohne kuumlnftige Folgen

Einstweilen blieb aber Platons politische FundamentaloppositionSache der Schule deren Eigengesetzlichkeit sich auf die inhaltlicheWeiterarbeit spuumlrbar auswirken sollte Zur (nachsokratischen)Grund-ausstattung der Schule gehoumlrte die Schriftlichkeit die Platon in nichtgeringe Verlegenheit brachte weil er auf unmittelbare Praumlsenz derVernunft setzte und nicht auf eine mittelbare die sich auch nochdurch Ablage ins Buumlcherregal unschaumldlich machen lieszlig1 Zudemzeichnete sich uumlber das politische Kerninteresse hinaus eine durchschultypisches Weiterfragen ausgeloumlste Verfaumlcherung ab die Platonnoch identitaumltsphilosophisch aufzufangen vermochte die aber auflange Sicht jenseits der Politik zur Etablierung von Einzeldisziplinenwie Ontologie Kosmologie Mathematik und Erkenntnistheorie fuumlhr-te Den Sophisten ging es aumlhnlich wie Sokrates von Protagoras er-faumlhrt Nur bei ihm selbst erfuumlhren die Schuumller das Noumltige uumlber ihrKerngeschaumlft das Haus gut zu verwalten und sich auf der Agoraacute zubewaumlhren waumlhrend sie bei anderen Sophisten wie Hippias von Elisverdorben wuumlrden weil diese sie mit Unnuumltzem wie Arithmetik As-tronomie Geometrie und Dichtung traktierten2 So weitete also auchdie Schule Platons allmaumlhlich ihren Themenkreis immer weiter aus

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1 Auf dieses Merkmal der Schule ist G Bien naumlher eingegangen Das Theorie-Praxis-Problem und die politische Philosophie bei Platon und Aristoteles in Phil Jb 76(196869) 264ndash314 hier S 307ndash3132 Platon Protagoras 318 Dndash319 A

je mehr ihre Vorlaumlufigkeit die mit einem politischen Erfolg der Fun-damentalopposition ihr Ende finden sollte in Vergessenheit gerietAristoteles sollte an seinem Lehrer in der Sache manche Kritik uumlbenaber die Regeln der Institution Schule ihre Hinwendung zur Schrift-lichkeit und ihre Etablierung von Einzeldisziplinen (Pragmatien) ver-standen sich fuumlr ihn schon von selbst

Aristoteles (384ndash322) hatte als Siebzehnjaumlhriger seine makedo-nische Heimat verlassen um sich im Jahre 36766 der Akademie an-zuschlieszligen Da war Platon schon uumlber fuumlnfzig Jahre alt und hatteseine philosophische Arbeit dogmatisch abgeschlossen Da er in die-sen Tagen kurz vor seiner zweiten Reise nach Syrakus stand hat ervielleicht erst nach seiner Ruumlckkehr erkannt wer von nun an seinbegabtester Schuumller war Als Aristoteles einmal bei einer Vorlesungfehlte rief Platon verzweifelt aus raquoDer Geist ist nicht zugegenstumpf ist da die Houmlrerschaftlaquo ndash im Original ein ausgefeilter jambi-scher Trimeter ὁ νοῦς ἄπεσ|τιν κωφὸν τἀκ|ροατήριον3 Aristote-les wird sich dieses Lob seines Lehrers gewiss bei vielen Gelegenhei-ten verdient haben nicht zuletzt aber dank der Art wie er sich beiPlatons beruumlhmter Altersvorlesung raquoUumlber das Gutelaquo4 bewaumlhrte Alsdieser das Gute kosmologisch im zahlhaft bestimmten Einen verorte-te blieben die Houmlrer einer nach dem anderen enttaumluscht der Vor-lesung fern weil sie Ausfuumlhrungen uumlber seelische koumlrperliche undaumluszligere Guumlter im gemeinen Verstande erwartet hatten Auf diese Re-aktion der Houmlrer hatte Platon nur gewartet er wollte wissen wer mitseinem Vorstellungshorizont uumlber den der Menge hinausging undsich damit als genuiner Philosoph erwies Tatsaumlchlich harrten nurwenige Houmlrer bis zum Ende aus und empfingen den Ritterschlageines wahren Philosophen darunter natuumlrlich Aristoteles Dieser er-klaumlrte allerdings spaumlter er werde sich an das allgemein Anerkanntehalten statt aus dem Satz dass das Eine ein Gut sei herzuleiten dassdie Gerechtigkeit ein Gut sei5

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3 Zitiert nach V Rose Aristotelis qui ferebantur librorum fragmenta collegit V RLeipzig 18701886 repr Stuttgart 1967 S 4284 Das Vorlesungsmanuskript ist im Original nicht erhalten Die zahlreichen Para-phrasen bei anderen Autoren hat W D Ross Aristotelis Fragmenta Oxford 1935S 111ndash120 gesammelt5 Aristoteles Eudemische Ethik 1218 a 15ndash22 Der Aristotelesschuumller Aristoxenosbestaumltigte diese Reaktion seines Lehrers in seinen ἁρμονικὰ στοιχεῖα (ed P Mar-quard Die harmonischen Fragmente des Aristoxenos Berlin 1868 S 30) und fuumlgtehinzu es empfehle sich zu Beginn einer Vorlesung sein Thema genau anzukuumlndigen

Im Uumlbrigen sparte auch Aristoteles nicht mit Lob auf seinenLehrer Im Rahmen seiner Inschrift auf einem Altar der Freundschaftden Eudemos von Kypros von einer Reise nach Athen zuruumlckgekehrtgestiftet hatte ruumlhmt Aristoteles Platon als Mann den schlechteMenschen nicht einmal loben duumlrften und als Mann der als Ersterunter den Menschen durch eigene Lebensfuumlhrung und vorgetrageneGruumlnde demonstriert habe dass der gute Mann ebendeshalb auch dergluumlckliche Mann ist Zwar taucht im uumlberlieferten Text der Distichenweder der Name Platons noch der des Eudemos auf Olympiodor ver-sichert aber Aristoteles habe in seiner Widmung an den Stifter Eude-mos ebendieses Lob auf Platon ausgesprochen6 Bei welchem Lehrerhaumltte Aristoteles auch besser lernen koumlnnen wie man wesentlicheaber oft uumlbersehene Fragen stellt wie man fuumlr andere uumlberraschendauf Zusammenhaumlnge und Widerspruumlche aufmerksam macht wieman auf den ersten Blick unerkannte Implikationen und Konsequen-zen herausarbeitet wie man unzureichend Bewiesenes als solchesidentifiziert wie man einmal erzielte Uumlbereinkuumlnfte stets im Ge-daumlchtnis praumlsent haumllt wie man seine Argumente durch Ruumlckfuumlhrungauf Gruumlnde und Ursachen als anerkannte Berufungsinstanzen uumlber-zeugend vortraumlgt

Zur gegenseitigen Wertschaumltzung aufgrund ihrer intellektuellenVorzuumlge gesellte sich die politische Uumlbereinstimmung beider Philoso-phen die neben der Sympathie fuumlr Makedonien die entschieden ab-lehnende Haltung gegenuumlber der attischen Demokratie betraf FuumlrPlaton fiel die Suche nach der gerechten Polis als dem hiesigen Kor-relat des absolut Guten mit entschiedener Demokratiekritik zusam-men Seine politische Leitidee bildete die Gerechtigkeit als Einheit derKardinaltugenden mit dem Ziel der Baumlndigung des sinnlichen Inte-resses (ἡδονήvoluptas) waumlhrend in seinen Augen die demokrati-schen Leitideen der Gleichheit und Freiheit lediglich auf eine Beschouml-nigung der voluptas als des wahren Bestimmungsgrundes der Mengehinausliefen Diesen von voluptas durchdrungenen Staat sah Platonals derart heillos verfahren an dass er anknuumlpfende Schritt-fuumlr-Schritt Reformen gar nicht erst in Betracht zog Stattdessen setzte

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und wenn man Paradoxes vortragen wolle dies auch unmissverstaumlndlich zu sagen Sobliebe den Houmlrern die Enttaumluschung erspart wenn sie in Erwartung einer Belehrunguumlber Guumlter wie Reichtum Gesundheit Gluumlck am Ende lediglich die blasse Auskunfterhielten das Gute sei Eines6 Olympiodoros in Platonis Gorgiam XLI 10 ad p 515 C

Platons politische Opposition mit anderen Mitteln7 auf eine vomNullpunkt aus fehlerfrei in Gedanken durchkonstruierte Polis in derdie schon seit Kleisthenes bestehende Einheitlichkeit und Geschlos-senheit des Gemeinwesens gewahrt blieben aber konkrete demokra-tische Komponenten wie Rat und Volksversammlung Geschwore-nengericht und Flotte Panathenaumlen Dionysien und Eleusinien nichteinmal dem Namen nach vorkamen Bei dieser Konstellation gerietenSchule und Polis zwangslaumlufig in ein Verhaumlltnis sich gegenseitigenIgnorierens Die Schule fuumlhrte ihre Debatten als private Institutionohne Beruumlcksichtigung der Vorgaumlnge auf der Agoraacute und die Agoraacutemuumlhte sich mit den ihr eigenen Mitteln um eine Konsolidierung derdemokratischen Institutionen ohne die Einwaumlnde der Schule zurKenntnis zu nehmen Nun mag Platon einen offenbar unpolitischenweil von den Realitaumlten abgehobenen Ausgangspunkt gewaumlhlt unddamit seiner Weiterarbeit wie spaumlter die hermeneutisch argumentie-rende Kritik des Aristoteles zeigen sollte einen schlechten Dienst er-wiesen haben aber ihn leitete ohne jeden Zweifel ein handfestes Mo-tiv und eine daraus abgeleitete allgemeine bis in unsere Tage zubeherzigende Grundeinsicht

Platons Schluumlsselerlebnis war das Todesurteil gegen Sokratesdas eine Mehrheit unter fuumlnfhundert Geschworenen faumlllte obwohlsich Sokrates in allen Anklagepunkten ganz offenkundig als nichtschuldig erwiesen hatte Moumlglich wurde diese Gerichtsentscheidungweil es den Anklaumlgern wie routinierten Demagogen gelang mit ihrenUnwahrheiten eine ignorante Menge auf ihre Seite zu ziehen In derTat hatten sie wie Sokrates gleich im zweiten Satz der Apologie aus-ruft nicht ein einzigen wahren Satz vorgetragen (ἀληθές γε hellip οὐ-δὲν εἰρήκασιν) Der offenbar unausrottbaren Moumlglichkeit dass De-magogen gerade mit der Unwahrheit Mehrheiten fuumlr sich gewinnenkoumlnnen galt zeitlebens Platons kritische Aufmerksamkeit Tatort wa-ren nicht nur die Geschworenengerichte sondern nicht minder dieVolksversammlung in der interessierte Redner Mehrheitsbeschluumlsse(ψηφίσματα) herbeifuumlhrten mit denen sie bestehende Gesetze un-terliefen8 Auch fuumlr dieses Fehlverhalten gab es eine Schluumlsselszeneals naumlmlich im Zuge des Arginusenprozesses ein Mann aus der auf-gehetzten Menge rief es sei eine Ungeheuerlichkeit wenn man denDemos nicht tun lasse was er wolle und gleich darauf durchgesetzt

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7 Platon VII Brief 325 Endash326 A8 Ebd 325 DndashE

wurde dass die angeklagten Seeoffiziere en bloc verurteilt wurdenund nicht wie es das Gesetz verlangte jeder einzeln Der Einzigeder sich diesem rechtswidrigen Beschluss widersetzte war Sokrates9

Dass dieser Staat ausgerechnet seinen gerechtesten Buumlrger zumTode verurteilt hatte hat Platon nie verziehen Da indes die aus-schlaggebende Mehrheit der Geschworenen ihr Urteil wohl kaumfuumlr ungerecht hielt sah Platon sich verpflichtet allen ebenso gesinn-ten Athenern vorzutragen was an und fuumlr sich Gerechtigkeit wirklichist und zwar in der Politeia aus dem Munde eben des Sokrates Danun der Staat fuumlr die Gerechtigkeit der groumlszligere und besser sichtbareBewaumlhrungsort ist als der Einzelne schlug Sokrates vor den Begriffvon Gerechtigkeit zunaumlchst im Blick auf den Staat zu entwickeln (Po-liteia 368 E 472 B) Die Frage nach der Gerechtigkeit konkretisiertesich auf diese Weise zur Frage nach dem gerechten Staat Folgerichtigsetzte Platon im Geist des Sokrates der attischen Demokratie mitihrem falschen Machtwillen einen auf reiner Vernunft beruhendenIdealstaat entgegen von dessen Vorzuumlgen er vielleicht schon dienaumlchste Generation der Athener zu uumlberzeugen hoffte10 anderenfallskoumlnne man nur noch auf einen Gluumlcksschlag von auszligen (τύχη) set-zen oder dass sich dank goumlttlicher Fuumlgung ein Staatenlenker mit derPhilosophie befasse11 Die Befuumlrchtung der Philosoph koumlnne in seinereigenen Stadt wenn uumlberhaupt dann nur dank goumlttlicher Fuumlgung po-litisch taumltig werden (Politeia 592 A) wollte Platon allerdings fuumlr sichnicht als Entschuldigung gelten lassen im Gegenteil Platon ver-sicherte er sei eigens nach Syrakus gereist damit man ihm nicht vor-halten koumlnne er sei nur im Felde der Theorie stark ziehe sich aberzuruumlck wenn es an die praktische Ausfuumlhrung gehe (VII Brief328 C) Vielmehr war fuumlr ihn der gerechte Staat Inhalt philosophi-scher Reflexion mit dem Ziel seiner Verwirklichung

Im idealen Staat darf die Entscheidungsbefugnis nur bei Buumlrgernliegen die allein durch philosophisch uumlberpruumlfte Qualifikation undnicht durch Loswahl in ihr Amt gelangt sind Nur wer die Houmlhle derdie Menge auszeichnenden Kurzsichtigkeit verlassen und dank uumlber-legener Vernuumlnftigkeit die Idee des Guten geschaut hat vermag pri-vat wie oumlffentlich vernuumlnftig zu handeln12 eben seitdem er sich von

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Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

9 Xenophon Hellenika 1 7 12ndash16 Vgl unten Anm 38 S 137 und Anm 17 S 14810 Platon Politeia 315 CndashD11 Platon VII Brief 326 A12 Platon Politeia 517 C

der Aussageabsicht der drei beruumlhmten Gleichnisse hat uumlberzeugenlassen dass naumlmlich das Gerechte das Gute ist und nicht das sinnlicheInteresse der auf den Schein fixierten Menge13 Entsprechend heiszligt esin Platons 8 Brief (355 A) Fuumlr besonnene Menschen ist Gott das Ge-setz fuumlr die unvernuumlnftigen ist es die Lust Das Gute hat also densel-ben Stellenwert wie Gott und bildet wie dieser insofern den Welt-grund als es weil jenseits (ἐπέκεινα) des daseienden Universumsangesiedelt im Rang noch uumlber dieses hinausragt und sich heilsambewaumlhrt indem es dank seinem Sproumlssling dem Sonnenlicht Orien-tierung durch Sichtbarkeit der Dinge sowie Leben Wachstum undGedeihen moumlglich macht14 Die Ausrichtung amGuten als Weltgrunderhebt das Gerechte zur unbedingten Handlungsnorm fordert abernicht nur sondern gewaumlhrt in einem damit den Buumlrgern auch wahr-haft praktischen Nutzen naumlmlich das Leben im sittlichen Gesetzes-staat ndash die Frucht eben der Herrschaft der Gerechtigkeit15 Damit istdie Frage zu deren Beantwortung Sokrates die drei beruumlhmtenGleichnisse vortrug naumlmlich ob Lust oder das Gerechte das wahreGut ist beantwortet und die implizit gegebene Antwort die auf derUnterscheidung der vier Erkenntnisstufen im Liniengleichnis beruhtbesagt dass die beschraumlnkten intellektuellen Moumlglichkeiten der Men-ge zu dieser Einsicht nicht ausreichen diese also fuumlglich zu entmuumln-digen ist schon um den Demagogen ein leichtglaumlubiges Publikum zuentziehen

Der Form nach stand bei aller Reserve Platon durchaus in derSchuld der Demokraten Sie waren es die unter Kleisthenes den atti-schen Staat als rational verwalteten Einheitsstaat geschaffen hattender nicht mehr nach Staumlmmen Sippen und oumlrtlich bedingten Loyali-taumlten fragmentiert war Unter Phylen verstand Kleisthenes nichtmehr den Oberbegriff vertikal strukturierter Personenverbaumlnde son-dern horizontal strukturierter einheitlich verwalteter Bezirke nachdem Territorialprinzip Das Volk der Athener (ὁ τῶν Ἀθηναίων δῆ-μος) trat an die Stelle der Klientel wie in Rom der populus Romanusan die Stelle der gentes Platon musste also das Prinzip staatlicherEinheit selbst nicht mehr erfinden wohl aber dem Inhalt nach fuumlr alleZukunft beschlieszligen dass nicht nur dieser sondern jeder Staat sei-nem Wesen gemaumlszlig in der Pflicht sei sich als raquoWirklichkeit der sitt-

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Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

13 Ebd 505 B14 Ebd 509 AndashB15 Ebd 505 A

lichen Ideelaquo (Hegel) zu bewaumlhren Uumlber diesen Beschluss hinausdachte Platon noch einen Schritt weiter denn es konnte nicht ge-nuumlgen einen Staat philosophischer Sittlichkeit lediglich zu gruumlndener musste auch erhalten werden ndash durch ein Kollegium integrer Ge-setzeshuumlter die das muumlhsam Erreichte unveraumlndert zu bewahren hat-ten16 Diese Position waumlre etwa im Arginusenprozess unbesetzt ge-wesen haumltte Sokrates sie nicht eingenommen und auf Einhaltungder Gesetze bestanden

Ebenso wie die vorgegebene Staatlichkeit hat auch das mit dieserverbundene demokratische System der Rechtspflege das das archai-sche Selbsthilfeprinzip abloumlste Eingang in Platons Philosophie gefun-den Die archaische Selbsthilfe bestand darin dass die durch einenUumlbergriff beleidigte Sippe der Sippe des Taumlters die Fehde ankuumlndigte(πρόρρησις) deren Beendigung durch Abschluss eines Suumlhnevertra-ges (αἴδεσις) erfolgte Dass bei dieser Form der Konfliktbeilegungdurch Aussoumlhnung die staumlrkere Sippe in der Regel ihre Loumlsungsvor-stellungen durchsetzte liegt auf der Hand Der Schritt fuumlr Schritterfolgte Gerichtszwang durch den der Staat erst allmaumlhlich das Mo-nopol der Rechtspflege uumlbernahm hatte zum Ziel dass anstelle zufaumll-liger Machtverhaumlltnisse die Systematik von Recht und Gesetz imStreit der Parteien entscheidet17 Diesen Sinn der nacharchaischenRechtsprechung hat Ovid mit dem Hexameter zusammengefasstinde datae leges ne firmior omnia posset (Fasten 3 279) Im Gor-gias-Dialog haumllt nun Platon der Rhetorik vor sie sei der methodischeVersuch gerade diese Errungenschaft der Rechtsprechung ruumlckgaumln-gig zu machen Kallikles ein Anhaumlnger des Rhetoriklehrers Gorgiasspricht unverhohlen aus dass Herakles voumlllig im Recht war Geryonesseine Rinder die er weder gekauft noch zum Geschenk erhalten hatteohne Bedenken zu stehlen da das von Natur Gerechte darin bestehedass alles Eigentum der Schwaumlcheren in Wahrheit dem Staumlrkeren ge-houmlre18 Sokrates haumllt Kallikles entgegen dass wahre Uumlberlegenheitnicht im Mehr-haben-Wollen sondern im Sittlich-besser-Sein be-stehe und beruft sich damit ebenso wie die Rechtsprechung auf ein

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16 Platon Politeia 484 B Nomoi 752 DndashE 754 Dndash755 C 770 AndashD 847 AndashD 959 Dndash961 CIm Abschnitt zu raquoDemetrios Phalereus ndash oder die vierzehnte Wendelaquo wird diese pla-tonische Vorgabe noch eine wesentliche Rolle spielen17 Zu diesen nicht leicht zu rekonstruierenden Prozessen sei auf die im Literaturver-zeichnis genannten Aufsaumltze von E Ruschenbusch verwiesen18 Platon Gorgias 484 BndashC

systematisches Kriterium um die individuelle Machtperspektive inSchranken zu weisen Dass Sokrates bei seinem Gespraumlchspartnermit dieser Argumentation nicht durchdringt ist allein der Borniert-heit des Kallikles zuzuschreiben

Es ist nicht zu leugnen dass Platon ebenso wie der Oligarch Kal-likles den Besseren das Wort redete aber unter den Besseren wirklichBessere verstand die den Staat als sublimierte Oligarchie tragen soll-ten Von dieser Staatslehre gilt es also zu uumlberzeugen und das ver-suchte Platon auch ganz im Sinne des Sokrates zunaumlchst durch sach-liche Gespraumlchsfuumlhrung oder Dialektik (διαλέγεσθαι) die mitkurzen Saumltzen Rechenschaft fordert und gewaumlhrt Sokrates mochtekeine langen Reden die geeignet sind das Ausgangsthema nach eini-ger Zeit aus den Augen zu verlieren19 Auch mochte es Sokrates garnicht wenn Unterredner sich streitsuumlchtig (ἐρίζειν) an Worten fest-bissen statt am intendierten Inhalt20 Das richtet sich gegen Protago-ras der als Erfinder der Eristik Wortklauberei betrieb statt sich aufdie Bedeutung des Sachverhalts zu konzentrieren21 Insgesamt ist diesokratische Version von Dialektik ein Gegenentwurf zur raquosogenann-ten Kunst der Rhetoriklaquo22 die lediglich den Uumlberredungserfolg zumZiel hat und nicht etwa wohlbegruumlndete Wahrheiten herausarbeitenwill Nun musste Platon etwa im Gespraumlch mit Kallikles im Gorgiasoder mit Thrasymachos im ersten Buch der Politeia erkennen dassgerade seine Sachlichkeit bei Boumlswilligen auf taube Ohren stoumlszligt Erentwickelte daher noch in der Politeia einen uumlber Sokrates hinaus-gehenden Begriff von Dialektik die nicht diskutiert sondern dekre-tiert nachdem diese durch reines auf das Gespraumlch mit sich selbstkonzentriertes Durchdenken des Wesentlichen frei von sinnlichenEindruumlcken zum Ziel der Erkenntnis des Guten gelangt ist (532 AndashB) Weil somit Dialektik zustaumlndig wird fuumlr die Vergegenwaumlrtigungdes Guten in der politischen Welt darf auch nur der ausgewieseneDialektiker Staatenlenker werden (534 CndashD) der auf seinen Einsich-ten beharrt auch wenn ihm seine Mitbuumlrger die Zustimmung ver-weigern Gegen vordergruumlndige Rechthaberei von wem immer sieausgeht verteidigt Platon das Prinzip vernuumlnftiger Argumentationgegen die Kraumlfte ihrer Blockierung

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19 Platon Protagoras 336 AndashC Gorgias 474 B20 Platon Politeia 454 A21 Diogenes Laertios 9 5222 Platon Gorgias 448 D

Page 19: Platon und Aristoteles als Wegbereiter der praktischen ... · Differenzen zwischen Platon und Aristoteles ins Auge fallen. Wer jedoch Platon und Aristoteles zusammen gegen die später

Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

Vom Ende her gesehen koumlnnte leicht der Eindruck entstehen Platon(42827ndash34847) habe sich von vornherein als Lebenswerk die Gruumln-dung einer philosophischen Schule zum Ziel gesetzt in deren Mittel-punkt die Ausbildung einer systematischen politischen Theoriestehen sollte Dieser Eindruck taumluscht indes Wie Platon selbst imVII Brief (324 Bndash326 D) seinen Werdegang darstellt hatte er ur-spruumlnglich gar nicht die Absicht eine Schule zu gruumlnden die sichphilosophisch mit dem Staat befasste Stattdessen draumlngte er zunaumlchstauf eigenes politisches Handeln als er in der Herrschaft der DreiszligigTyrannen (40403) eine Chance sah einen Staat zu errichten der freiwar von den Schwaumlchen der Demokratie Enttaumluscht musste er aberbald erkennen dass die fruumlheren Verhaumlltnisse in der Demokratie ver-glichen mit der Gegenwart unter den Dreiszligig Gold (sic) waren Fol-gerichtig wandte er sich von den Dreiszligig ab und war nach deren Sturzwiederum bereit zu politisch aktiver Taumltigkeit wurde aber erneut ent-taumluscht ndash durch das Todesurteil gegen Sokrates den Mangel an poli-tischen Freunden die grassierende Geringachtung der Gesetze unddie Inthronisierung der Lust (ἡδονή) als Maszlig der Dinge Erst darauf-hin widmete sich Platon der theoretischen Beschaumlftigung mit demwahren Staat nicht ohne fuumlr erneute praktische Taumltigkeit in der Poli-tik bessere Zeiten abzuwarten die dann eintraumlten wenn wahrhaftePhilosophen die Herrschaft im Staat uumlbernaumlhmen und nicht die durchdas Los ins Amt befoumlrderte Inkompetenz Seine Philosophie war alsoOpposition auszligerhalb der politischen Buumlhne gedacht als ungewollteZwischenphase die erst endete wenn die Staumldte nach philosophi-schen Grundsaumltzen verfasst waumlren Die Gruumlndung der Schule erfolgtealso eher aus Verlegenheit sie war nicht die erfolgreiche Ausfuumlhrungeiner urspruumlnglichen Absicht

Mit seinem Bericht im VII Brief laumlsst Platon also durchblickendass er gleichsam widerWillen die Akademie als Schule gruumlndete undderen erstes Schulhaupt wurde Die Schule galt Platon als Surrogateiner Polis der vollendeten Sittlichkeit Folgerichtig war das Leit-thema der Schule die Lehre vom wahren Staat der das bloszlige Surrogatwieder uumlberfluumlssig machen sollte Platon verschweigt auch nicht vonwelchem Standpunkt aus er die Grundzuumlge des idealen Staates ent-wickelte Waumlhrend er die Schwaumlchen der Demokratie eher in derenStrukturen suchte ortete er die Schwaumlchen der Oligarchie im persoumln-lichen Versagen insbesondere der Dreiszligig Tyrannen Demgemaumlszlig plauml-

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dierte er fuumlr eine zu wahrer Aristokratie veredelte Oligarchie die vonindividuellen und strukturellen Defiziten frei war Diese dem Best-moumlglichen verpflichtete Parteinahme erfuumlllte zugleich die Anforde-rungen einer auf Widerspruchsfreiheit bedachten Theorie sofernPlaton alle seine politischen Vorstellungen auf Vernunftbegriffe zu-ruumlckfuumlhrte und nie vergaszlig sie geltend zu machen wo immer ihreBeachtung zwingend geboten war Mag es Platon auch nicht gelungensein in Athen einen Wiedergaumlnger des Sokrates als philosophischenHerrscher zu bestallen und auf diese Weise sein praktisches Ziel zuerreichen so bleibt doch als Ergebnis seiner Anstrengungen zumin-dest als Fortschritt im Bewusstsein dies bestehen dass von nun anpolitische Vorgaumlnge unvermeidlich von der Aufmerksamkeit einerauszligerhalb der politischen Buumlhne angesiedelten Vernunftkritik beglei-tet wurden Insofern blieb Platons mutiger Schritt eine politischeEntitaumlt systematisch in Zweifel zu ziehen und sie auch noch miteinem Gegenmodell zu konfrontieren nicht ohne kuumlnftige Folgen

Einstweilen blieb aber Platons politische FundamentaloppositionSache der Schule deren Eigengesetzlichkeit sich auf die inhaltlicheWeiterarbeit spuumlrbar auswirken sollte Zur (nachsokratischen)Grund-ausstattung der Schule gehoumlrte die Schriftlichkeit die Platon in nichtgeringe Verlegenheit brachte weil er auf unmittelbare Praumlsenz derVernunft setzte und nicht auf eine mittelbare die sich auch nochdurch Ablage ins Buumlcherregal unschaumldlich machen lieszlig1 Zudemzeichnete sich uumlber das politische Kerninteresse hinaus eine durchschultypisches Weiterfragen ausgeloumlste Verfaumlcherung ab die Platonnoch identitaumltsphilosophisch aufzufangen vermochte die aber auflange Sicht jenseits der Politik zur Etablierung von Einzeldisziplinenwie Ontologie Kosmologie Mathematik und Erkenntnistheorie fuumlhr-te Den Sophisten ging es aumlhnlich wie Sokrates von Protagoras er-faumlhrt Nur bei ihm selbst erfuumlhren die Schuumller das Noumltige uumlber ihrKerngeschaumlft das Haus gut zu verwalten und sich auf der Agoraacute zubewaumlhren waumlhrend sie bei anderen Sophisten wie Hippias von Elisverdorben wuumlrden weil diese sie mit Unnuumltzem wie Arithmetik As-tronomie Geometrie und Dichtung traktierten2 So weitete also auchdie Schule Platons allmaumlhlich ihren Themenkreis immer weiter aus

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1 Auf dieses Merkmal der Schule ist G Bien naumlher eingegangen Das Theorie-Praxis-Problem und die politische Philosophie bei Platon und Aristoteles in Phil Jb 76(196869) 264ndash314 hier S 307ndash3132 Platon Protagoras 318 Dndash319 A

je mehr ihre Vorlaumlufigkeit die mit einem politischen Erfolg der Fun-damentalopposition ihr Ende finden sollte in Vergessenheit gerietAristoteles sollte an seinem Lehrer in der Sache manche Kritik uumlbenaber die Regeln der Institution Schule ihre Hinwendung zur Schrift-lichkeit und ihre Etablierung von Einzeldisziplinen (Pragmatien) ver-standen sich fuumlr ihn schon von selbst

Aristoteles (384ndash322) hatte als Siebzehnjaumlhriger seine makedo-nische Heimat verlassen um sich im Jahre 36766 der Akademie an-zuschlieszligen Da war Platon schon uumlber fuumlnfzig Jahre alt und hatteseine philosophische Arbeit dogmatisch abgeschlossen Da er in die-sen Tagen kurz vor seiner zweiten Reise nach Syrakus stand hat ervielleicht erst nach seiner Ruumlckkehr erkannt wer von nun an seinbegabtester Schuumller war Als Aristoteles einmal bei einer Vorlesungfehlte rief Platon verzweifelt aus raquoDer Geist ist nicht zugegenstumpf ist da die Houmlrerschaftlaquo ndash im Original ein ausgefeilter jambi-scher Trimeter ὁ νοῦς ἄπεσ|τιν κωφὸν τἀκ|ροατήριον3 Aristote-les wird sich dieses Lob seines Lehrers gewiss bei vielen Gelegenhei-ten verdient haben nicht zuletzt aber dank der Art wie er sich beiPlatons beruumlhmter Altersvorlesung raquoUumlber das Gutelaquo4 bewaumlhrte Alsdieser das Gute kosmologisch im zahlhaft bestimmten Einen verorte-te blieben die Houmlrer einer nach dem anderen enttaumluscht der Vor-lesung fern weil sie Ausfuumlhrungen uumlber seelische koumlrperliche undaumluszligere Guumlter im gemeinen Verstande erwartet hatten Auf diese Re-aktion der Houmlrer hatte Platon nur gewartet er wollte wissen wer mitseinem Vorstellungshorizont uumlber den der Menge hinausging undsich damit als genuiner Philosoph erwies Tatsaumlchlich harrten nurwenige Houmlrer bis zum Ende aus und empfingen den Ritterschlageines wahren Philosophen darunter natuumlrlich Aristoteles Dieser er-klaumlrte allerdings spaumlter er werde sich an das allgemein Anerkanntehalten statt aus dem Satz dass das Eine ein Gut sei herzuleiten dassdie Gerechtigkeit ein Gut sei5

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3 Zitiert nach V Rose Aristotelis qui ferebantur librorum fragmenta collegit V RLeipzig 18701886 repr Stuttgart 1967 S 4284 Das Vorlesungsmanuskript ist im Original nicht erhalten Die zahlreichen Para-phrasen bei anderen Autoren hat W D Ross Aristotelis Fragmenta Oxford 1935S 111ndash120 gesammelt5 Aristoteles Eudemische Ethik 1218 a 15ndash22 Der Aristotelesschuumller Aristoxenosbestaumltigte diese Reaktion seines Lehrers in seinen ἁρμονικὰ στοιχεῖα (ed P Mar-quard Die harmonischen Fragmente des Aristoxenos Berlin 1868 S 30) und fuumlgtehinzu es empfehle sich zu Beginn einer Vorlesung sein Thema genau anzukuumlndigen

Im Uumlbrigen sparte auch Aristoteles nicht mit Lob auf seinenLehrer Im Rahmen seiner Inschrift auf einem Altar der Freundschaftden Eudemos von Kypros von einer Reise nach Athen zuruumlckgekehrtgestiftet hatte ruumlhmt Aristoteles Platon als Mann den schlechteMenschen nicht einmal loben duumlrften und als Mann der als Ersterunter den Menschen durch eigene Lebensfuumlhrung und vorgetrageneGruumlnde demonstriert habe dass der gute Mann ebendeshalb auch dergluumlckliche Mann ist Zwar taucht im uumlberlieferten Text der Distichenweder der Name Platons noch der des Eudemos auf Olympiodor ver-sichert aber Aristoteles habe in seiner Widmung an den Stifter Eude-mos ebendieses Lob auf Platon ausgesprochen6 Bei welchem Lehrerhaumltte Aristoteles auch besser lernen koumlnnen wie man wesentlicheaber oft uumlbersehene Fragen stellt wie man fuumlr andere uumlberraschendauf Zusammenhaumlnge und Widerspruumlche aufmerksam macht wieman auf den ersten Blick unerkannte Implikationen und Konsequen-zen herausarbeitet wie man unzureichend Bewiesenes als solchesidentifiziert wie man einmal erzielte Uumlbereinkuumlnfte stets im Ge-daumlchtnis praumlsent haumllt wie man seine Argumente durch Ruumlckfuumlhrungauf Gruumlnde und Ursachen als anerkannte Berufungsinstanzen uumlber-zeugend vortraumlgt

Zur gegenseitigen Wertschaumltzung aufgrund ihrer intellektuellenVorzuumlge gesellte sich die politische Uumlbereinstimmung beider Philoso-phen die neben der Sympathie fuumlr Makedonien die entschieden ab-lehnende Haltung gegenuumlber der attischen Demokratie betraf FuumlrPlaton fiel die Suche nach der gerechten Polis als dem hiesigen Kor-relat des absolut Guten mit entschiedener Demokratiekritik zusam-men Seine politische Leitidee bildete die Gerechtigkeit als Einheit derKardinaltugenden mit dem Ziel der Baumlndigung des sinnlichen Inte-resses (ἡδονήvoluptas) waumlhrend in seinen Augen die demokrati-schen Leitideen der Gleichheit und Freiheit lediglich auf eine Beschouml-nigung der voluptas als des wahren Bestimmungsgrundes der Mengehinausliefen Diesen von voluptas durchdrungenen Staat sah Platonals derart heillos verfahren an dass er anknuumlpfende Schritt-fuumlr-Schritt Reformen gar nicht erst in Betracht zog Stattdessen setzte

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und wenn man Paradoxes vortragen wolle dies auch unmissverstaumlndlich zu sagen Sobliebe den Houmlrern die Enttaumluschung erspart wenn sie in Erwartung einer Belehrunguumlber Guumlter wie Reichtum Gesundheit Gluumlck am Ende lediglich die blasse Auskunfterhielten das Gute sei Eines6 Olympiodoros in Platonis Gorgiam XLI 10 ad p 515 C

Platons politische Opposition mit anderen Mitteln7 auf eine vomNullpunkt aus fehlerfrei in Gedanken durchkonstruierte Polis in derdie schon seit Kleisthenes bestehende Einheitlichkeit und Geschlos-senheit des Gemeinwesens gewahrt blieben aber konkrete demokra-tische Komponenten wie Rat und Volksversammlung Geschwore-nengericht und Flotte Panathenaumlen Dionysien und Eleusinien nichteinmal dem Namen nach vorkamen Bei dieser Konstellation gerietenSchule und Polis zwangslaumlufig in ein Verhaumlltnis sich gegenseitigenIgnorierens Die Schule fuumlhrte ihre Debatten als private Institutionohne Beruumlcksichtigung der Vorgaumlnge auf der Agoraacute und die Agoraacutemuumlhte sich mit den ihr eigenen Mitteln um eine Konsolidierung derdemokratischen Institutionen ohne die Einwaumlnde der Schule zurKenntnis zu nehmen Nun mag Platon einen offenbar unpolitischenweil von den Realitaumlten abgehobenen Ausgangspunkt gewaumlhlt unddamit seiner Weiterarbeit wie spaumlter die hermeneutisch argumentie-rende Kritik des Aristoteles zeigen sollte einen schlechten Dienst er-wiesen haben aber ihn leitete ohne jeden Zweifel ein handfestes Mo-tiv und eine daraus abgeleitete allgemeine bis in unsere Tage zubeherzigende Grundeinsicht

Platons Schluumlsselerlebnis war das Todesurteil gegen Sokratesdas eine Mehrheit unter fuumlnfhundert Geschworenen faumlllte obwohlsich Sokrates in allen Anklagepunkten ganz offenkundig als nichtschuldig erwiesen hatte Moumlglich wurde diese Gerichtsentscheidungweil es den Anklaumlgern wie routinierten Demagogen gelang mit ihrenUnwahrheiten eine ignorante Menge auf ihre Seite zu ziehen In derTat hatten sie wie Sokrates gleich im zweiten Satz der Apologie aus-ruft nicht ein einzigen wahren Satz vorgetragen (ἀληθές γε hellip οὐ-δὲν εἰρήκασιν) Der offenbar unausrottbaren Moumlglichkeit dass De-magogen gerade mit der Unwahrheit Mehrheiten fuumlr sich gewinnenkoumlnnen galt zeitlebens Platons kritische Aufmerksamkeit Tatort wa-ren nicht nur die Geschworenengerichte sondern nicht minder dieVolksversammlung in der interessierte Redner Mehrheitsbeschluumlsse(ψηφίσματα) herbeifuumlhrten mit denen sie bestehende Gesetze un-terliefen8 Auch fuumlr dieses Fehlverhalten gab es eine Schluumlsselszeneals naumlmlich im Zuge des Arginusenprozesses ein Mann aus der auf-gehetzten Menge rief es sei eine Ungeheuerlichkeit wenn man denDemos nicht tun lasse was er wolle und gleich darauf durchgesetzt

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7 Platon VII Brief 325 Endash326 A8 Ebd 325 DndashE

wurde dass die angeklagten Seeoffiziere en bloc verurteilt wurdenund nicht wie es das Gesetz verlangte jeder einzeln Der Einzigeder sich diesem rechtswidrigen Beschluss widersetzte war Sokrates9

Dass dieser Staat ausgerechnet seinen gerechtesten Buumlrger zumTode verurteilt hatte hat Platon nie verziehen Da indes die aus-schlaggebende Mehrheit der Geschworenen ihr Urteil wohl kaumfuumlr ungerecht hielt sah Platon sich verpflichtet allen ebenso gesinn-ten Athenern vorzutragen was an und fuumlr sich Gerechtigkeit wirklichist und zwar in der Politeia aus dem Munde eben des Sokrates Danun der Staat fuumlr die Gerechtigkeit der groumlszligere und besser sichtbareBewaumlhrungsort ist als der Einzelne schlug Sokrates vor den Begriffvon Gerechtigkeit zunaumlchst im Blick auf den Staat zu entwickeln (Po-liteia 368 E 472 B) Die Frage nach der Gerechtigkeit konkretisiertesich auf diese Weise zur Frage nach dem gerechten Staat Folgerichtigsetzte Platon im Geist des Sokrates der attischen Demokratie mitihrem falschen Machtwillen einen auf reiner Vernunft beruhendenIdealstaat entgegen von dessen Vorzuumlgen er vielleicht schon dienaumlchste Generation der Athener zu uumlberzeugen hoffte10 anderenfallskoumlnne man nur noch auf einen Gluumlcksschlag von auszligen (τύχη) set-zen oder dass sich dank goumlttlicher Fuumlgung ein Staatenlenker mit derPhilosophie befasse11 Die Befuumlrchtung der Philosoph koumlnne in seinereigenen Stadt wenn uumlberhaupt dann nur dank goumlttlicher Fuumlgung po-litisch taumltig werden (Politeia 592 A) wollte Platon allerdings fuumlr sichnicht als Entschuldigung gelten lassen im Gegenteil Platon ver-sicherte er sei eigens nach Syrakus gereist damit man ihm nicht vor-halten koumlnne er sei nur im Felde der Theorie stark ziehe sich aberzuruumlck wenn es an die praktische Ausfuumlhrung gehe (VII Brief328 C) Vielmehr war fuumlr ihn der gerechte Staat Inhalt philosophi-scher Reflexion mit dem Ziel seiner Verwirklichung

Im idealen Staat darf die Entscheidungsbefugnis nur bei Buumlrgernliegen die allein durch philosophisch uumlberpruumlfte Qualifikation undnicht durch Loswahl in ihr Amt gelangt sind Nur wer die Houmlhle derdie Menge auszeichnenden Kurzsichtigkeit verlassen und dank uumlber-legener Vernuumlnftigkeit die Idee des Guten geschaut hat vermag pri-vat wie oumlffentlich vernuumlnftig zu handeln12 eben seitdem er sich von

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9 Xenophon Hellenika 1 7 12ndash16 Vgl unten Anm 38 S 137 und Anm 17 S 14810 Platon Politeia 315 CndashD11 Platon VII Brief 326 A12 Platon Politeia 517 C

der Aussageabsicht der drei beruumlhmten Gleichnisse hat uumlberzeugenlassen dass naumlmlich das Gerechte das Gute ist und nicht das sinnlicheInteresse der auf den Schein fixierten Menge13 Entsprechend heiszligt esin Platons 8 Brief (355 A) Fuumlr besonnene Menschen ist Gott das Ge-setz fuumlr die unvernuumlnftigen ist es die Lust Das Gute hat also densel-ben Stellenwert wie Gott und bildet wie dieser insofern den Welt-grund als es weil jenseits (ἐπέκεινα) des daseienden Universumsangesiedelt im Rang noch uumlber dieses hinausragt und sich heilsambewaumlhrt indem es dank seinem Sproumlssling dem Sonnenlicht Orien-tierung durch Sichtbarkeit der Dinge sowie Leben Wachstum undGedeihen moumlglich macht14 Die Ausrichtung amGuten als Weltgrunderhebt das Gerechte zur unbedingten Handlungsnorm fordert abernicht nur sondern gewaumlhrt in einem damit den Buumlrgern auch wahr-haft praktischen Nutzen naumlmlich das Leben im sittlichen Gesetzes-staat ndash die Frucht eben der Herrschaft der Gerechtigkeit15 Damit istdie Frage zu deren Beantwortung Sokrates die drei beruumlhmtenGleichnisse vortrug naumlmlich ob Lust oder das Gerechte das wahreGut ist beantwortet und die implizit gegebene Antwort die auf derUnterscheidung der vier Erkenntnisstufen im Liniengleichnis beruhtbesagt dass die beschraumlnkten intellektuellen Moumlglichkeiten der Men-ge zu dieser Einsicht nicht ausreichen diese also fuumlglich zu entmuumln-digen ist schon um den Demagogen ein leichtglaumlubiges Publikum zuentziehen

Der Form nach stand bei aller Reserve Platon durchaus in derSchuld der Demokraten Sie waren es die unter Kleisthenes den atti-schen Staat als rational verwalteten Einheitsstaat geschaffen hattender nicht mehr nach Staumlmmen Sippen und oumlrtlich bedingten Loyali-taumlten fragmentiert war Unter Phylen verstand Kleisthenes nichtmehr den Oberbegriff vertikal strukturierter Personenverbaumlnde son-dern horizontal strukturierter einheitlich verwalteter Bezirke nachdem Territorialprinzip Das Volk der Athener (ὁ τῶν Ἀθηναίων δῆ-μος) trat an die Stelle der Klientel wie in Rom der populus Romanusan die Stelle der gentes Platon musste also das Prinzip staatlicherEinheit selbst nicht mehr erfinden wohl aber dem Inhalt nach fuumlr alleZukunft beschlieszligen dass nicht nur dieser sondern jeder Staat sei-nem Wesen gemaumlszlig in der Pflicht sei sich als raquoWirklichkeit der sitt-

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13 Ebd 505 B14 Ebd 509 AndashB15 Ebd 505 A

lichen Ideelaquo (Hegel) zu bewaumlhren Uumlber diesen Beschluss hinausdachte Platon noch einen Schritt weiter denn es konnte nicht ge-nuumlgen einen Staat philosophischer Sittlichkeit lediglich zu gruumlndener musste auch erhalten werden ndash durch ein Kollegium integrer Ge-setzeshuumlter die das muumlhsam Erreichte unveraumlndert zu bewahren hat-ten16 Diese Position waumlre etwa im Arginusenprozess unbesetzt ge-wesen haumltte Sokrates sie nicht eingenommen und auf Einhaltungder Gesetze bestanden

Ebenso wie die vorgegebene Staatlichkeit hat auch das mit dieserverbundene demokratische System der Rechtspflege das das archai-sche Selbsthilfeprinzip abloumlste Eingang in Platons Philosophie gefun-den Die archaische Selbsthilfe bestand darin dass die durch einenUumlbergriff beleidigte Sippe der Sippe des Taumlters die Fehde ankuumlndigte(πρόρρησις) deren Beendigung durch Abschluss eines Suumlhnevertra-ges (αἴδεσις) erfolgte Dass bei dieser Form der Konfliktbeilegungdurch Aussoumlhnung die staumlrkere Sippe in der Regel ihre Loumlsungsvor-stellungen durchsetzte liegt auf der Hand Der Schritt fuumlr Schritterfolgte Gerichtszwang durch den der Staat erst allmaumlhlich das Mo-nopol der Rechtspflege uumlbernahm hatte zum Ziel dass anstelle zufaumll-liger Machtverhaumlltnisse die Systematik von Recht und Gesetz imStreit der Parteien entscheidet17 Diesen Sinn der nacharchaischenRechtsprechung hat Ovid mit dem Hexameter zusammengefasstinde datae leges ne firmior omnia posset (Fasten 3 279) Im Gor-gias-Dialog haumllt nun Platon der Rhetorik vor sie sei der methodischeVersuch gerade diese Errungenschaft der Rechtsprechung ruumlckgaumln-gig zu machen Kallikles ein Anhaumlnger des Rhetoriklehrers Gorgiasspricht unverhohlen aus dass Herakles voumlllig im Recht war Geryonesseine Rinder die er weder gekauft noch zum Geschenk erhalten hatteohne Bedenken zu stehlen da das von Natur Gerechte darin bestehedass alles Eigentum der Schwaumlcheren in Wahrheit dem Staumlrkeren ge-houmlre18 Sokrates haumllt Kallikles entgegen dass wahre Uumlberlegenheitnicht im Mehr-haben-Wollen sondern im Sittlich-besser-Sein be-stehe und beruft sich damit ebenso wie die Rechtsprechung auf ein

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16 Platon Politeia 484 B Nomoi 752 DndashE 754 Dndash755 C 770 AndashD 847 AndashD 959 Dndash961 CIm Abschnitt zu raquoDemetrios Phalereus ndash oder die vierzehnte Wendelaquo wird diese pla-tonische Vorgabe noch eine wesentliche Rolle spielen17 Zu diesen nicht leicht zu rekonstruierenden Prozessen sei auf die im Literaturver-zeichnis genannten Aufsaumltze von E Ruschenbusch verwiesen18 Platon Gorgias 484 BndashC

systematisches Kriterium um die individuelle Machtperspektive inSchranken zu weisen Dass Sokrates bei seinem Gespraumlchspartnermit dieser Argumentation nicht durchdringt ist allein der Borniert-heit des Kallikles zuzuschreiben

Es ist nicht zu leugnen dass Platon ebenso wie der Oligarch Kal-likles den Besseren das Wort redete aber unter den Besseren wirklichBessere verstand die den Staat als sublimierte Oligarchie tragen soll-ten Von dieser Staatslehre gilt es also zu uumlberzeugen und das ver-suchte Platon auch ganz im Sinne des Sokrates zunaumlchst durch sach-liche Gespraumlchsfuumlhrung oder Dialektik (διαλέγεσθαι) die mitkurzen Saumltzen Rechenschaft fordert und gewaumlhrt Sokrates mochtekeine langen Reden die geeignet sind das Ausgangsthema nach eini-ger Zeit aus den Augen zu verlieren19 Auch mochte es Sokrates garnicht wenn Unterredner sich streitsuumlchtig (ἐρίζειν) an Worten fest-bissen statt am intendierten Inhalt20 Das richtet sich gegen Protago-ras der als Erfinder der Eristik Wortklauberei betrieb statt sich aufdie Bedeutung des Sachverhalts zu konzentrieren21 Insgesamt ist diesokratische Version von Dialektik ein Gegenentwurf zur raquosogenann-ten Kunst der Rhetoriklaquo22 die lediglich den Uumlberredungserfolg zumZiel hat und nicht etwa wohlbegruumlndete Wahrheiten herausarbeitenwill Nun musste Platon etwa im Gespraumlch mit Kallikles im Gorgiasoder mit Thrasymachos im ersten Buch der Politeia erkennen dassgerade seine Sachlichkeit bei Boumlswilligen auf taube Ohren stoumlszligt Erentwickelte daher noch in der Politeia einen uumlber Sokrates hinaus-gehenden Begriff von Dialektik die nicht diskutiert sondern dekre-tiert nachdem diese durch reines auf das Gespraumlch mit sich selbstkonzentriertes Durchdenken des Wesentlichen frei von sinnlichenEindruumlcken zum Ziel der Erkenntnis des Guten gelangt ist (532 AndashB) Weil somit Dialektik zustaumlndig wird fuumlr die Vergegenwaumlrtigungdes Guten in der politischen Welt darf auch nur der ausgewieseneDialektiker Staatenlenker werden (534 CndashD) der auf seinen Einsich-ten beharrt auch wenn ihm seine Mitbuumlrger die Zustimmung ver-weigern Gegen vordergruumlndige Rechthaberei von wem immer sieausgeht verteidigt Platon das Prinzip vernuumlnftiger Argumentationgegen die Kraumlfte ihrer Blockierung

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19 Platon Protagoras 336 AndashC Gorgias 474 B20 Platon Politeia 454 A21 Diogenes Laertios 9 5222 Platon Gorgias 448 D

Page 20: Platon und Aristoteles als Wegbereiter der praktischen ... · Differenzen zwischen Platon und Aristoteles ins Auge fallen. Wer jedoch Platon und Aristoteles zusammen gegen die später

dierte er fuumlr eine zu wahrer Aristokratie veredelte Oligarchie die vonindividuellen und strukturellen Defiziten frei war Diese dem Best-moumlglichen verpflichtete Parteinahme erfuumlllte zugleich die Anforde-rungen einer auf Widerspruchsfreiheit bedachten Theorie sofernPlaton alle seine politischen Vorstellungen auf Vernunftbegriffe zu-ruumlckfuumlhrte und nie vergaszlig sie geltend zu machen wo immer ihreBeachtung zwingend geboten war Mag es Platon auch nicht gelungensein in Athen einen Wiedergaumlnger des Sokrates als philosophischenHerrscher zu bestallen und auf diese Weise sein praktisches Ziel zuerreichen so bleibt doch als Ergebnis seiner Anstrengungen zumin-dest als Fortschritt im Bewusstsein dies bestehen dass von nun anpolitische Vorgaumlnge unvermeidlich von der Aufmerksamkeit einerauszligerhalb der politischen Buumlhne angesiedelten Vernunftkritik beglei-tet wurden Insofern blieb Platons mutiger Schritt eine politischeEntitaumlt systematisch in Zweifel zu ziehen und sie auch noch miteinem Gegenmodell zu konfrontieren nicht ohne kuumlnftige Folgen

Einstweilen blieb aber Platons politische FundamentaloppositionSache der Schule deren Eigengesetzlichkeit sich auf die inhaltlicheWeiterarbeit spuumlrbar auswirken sollte Zur (nachsokratischen)Grund-ausstattung der Schule gehoumlrte die Schriftlichkeit die Platon in nichtgeringe Verlegenheit brachte weil er auf unmittelbare Praumlsenz derVernunft setzte und nicht auf eine mittelbare die sich auch nochdurch Ablage ins Buumlcherregal unschaumldlich machen lieszlig1 Zudemzeichnete sich uumlber das politische Kerninteresse hinaus eine durchschultypisches Weiterfragen ausgeloumlste Verfaumlcherung ab die Platonnoch identitaumltsphilosophisch aufzufangen vermochte die aber auflange Sicht jenseits der Politik zur Etablierung von Einzeldisziplinenwie Ontologie Kosmologie Mathematik und Erkenntnistheorie fuumlhr-te Den Sophisten ging es aumlhnlich wie Sokrates von Protagoras er-faumlhrt Nur bei ihm selbst erfuumlhren die Schuumller das Noumltige uumlber ihrKerngeschaumlft das Haus gut zu verwalten und sich auf der Agoraacute zubewaumlhren waumlhrend sie bei anderen Sophisten wie Hippias von Elisverdorben wuumlrden weil diese sie mit Unnuumltzem wie Arithmetik As-tronomie Geometrie und Dichtung traktierten2 So weitete also auchdie Schule Platons allmaumlhlich ihren Themenkreis immer weiter aus

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Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

1 Auf dieses Merkmal der Schule ist G Bien naumlher eingegangen Das Theorie-Praxis-Problem und die politische Philosophie bei Platon und Aristoteles in Phil Jb 76(196869) 264ndash314 hier S 307ndash3132 Platon Protagoras 318 Dndash319 A

je mehr ihre Vorlaumlufigkeit die mit einem politischen Erfolg der Fun-damentalopposition ihr Ende finden sollte in Vergessenheit gerietAristoteles sollte an seinem Lehrer in der Sache manche Kritik uumlbenaber die Regeln der Institution Schule ihre Hinwendung zur Schrift-lichkeit und ihre Etablierung von Einzeldisziplinen (Pragmatien) ver-standen sich fuumlr ihn schon von selbst

Aristoteles (384ndash322) hatte als Siebzehnjaumlhriger seine makedo-nische Heimat verlassen um sich im Jahre 36766 der Akademie an-zuschlieszligen Da war Platon schon uumlber fuumlnfzig Jahre alt und hatteseine philosophische Arbeit dogmatisch abgeschlossen Da er in die-sen Tagen kurz vor seiner zweiten Reise nach Syrakus stand hat ervielleicht erst nach seiner Ruumlckkehr erkannt wer von nun an seinbegabtester Schuumller war Als Aristoteles einmal bei einer Vorlesungfehlte rief Platon verzweifelt aus raquoDer Geist ist nicht zugegenstumpf ist da die Houmlrerschaftlaquo ndash im Original ein ausgefeilter jambi-scher Trimeter ὁ νοῦς ἄπεσ|τιν κωφὸν τἀκ|ροατήριον3 Aristote-les wird sich dieses Lob seines Lehrers gewiss bei vielen Gelegenhei-ten verdient haben nicht zuletzt aber dank der Art wie er sich beiPlatons beruumlhmter Altersvorlesung raquoUumlber das Gutelaquo4 bewaumlhrte Alsdieser das Gute kosmologisch im zahlhaft bestimmten Einen verorte-te blieben die Houmlrer einer nach dem anderen enttaumluscht der Vor-lesung fern weil sie Ausfuumlhrungen uumlber seelische koumlrperliche undaumluszligere Guumlter im gemeinen Verstande erwartet hatten Auf diese Re-aktion der Houmlrer hatte Platon nur gewartet er wollte wissen wer mitseinem Vorstellungshorizont uumlber den der Menge hinausging undsich damit als genuiner Philosoph erwies Tatsaumlchlich harrten nurwenige Houmlrer bis zum Ende aus und empfingen den Ritterschlageines wahren Philosophen darunter natuumlrlich Aristoteles Dieser er-klaumlrte allerdings spaumlter er werde sich an das allgemein Anerkanntehalten statt aus dem Satz dass das Eine ein Gut sei herzuleiten dassdie Gerechtigkeit ein Gut sei5

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3 Zitiert nach V Rose Aristotelis qui ferebantur librorum fragmenta collegit V RLeipzig 18701886 repr Stuttgart 1967 S 4284 Das Vorlesungsmanuskript ist im Original nicht erhalten Die zahlreichen Para-phrasen bei anderen Autoren hat W D Ross Aristotelis Fragmenta Oxford 1935S 111ndash120 gesammelt5 Aristoteles Eudemische Ethik 1218 a 15ndash22 Der Aristotelesschuumller Aristoxenosbestaumltigte diese Reaktion seines Lehrers in seinen ἁρμονικὰ στοιχεῖα (ed P Mar-quard Die harmonischen Fragmente des Aristoxenos Berlin 1868 S 30) und fuumlgtehinzu es empfehle sich zu Beginn einer Vorlesung sein Thema genau anzukuumlndigen

Im Uumlbrigen sparte auch Aristoteles nicht mit Lob auf seinenLehrer Im Rahmen seiner Inschrift auf einem Altar der Freundschaftden Eudemos von Kypros von einer Reise nach Athen zuruumlckgekehrtgestiftet hatte ruumlhmt Aristoteles Platon als Mann den schlechteMenschen nicht einmal loben duumlrften und als Mann der als Ersterunter den Menschen durch eigene Lebensfuumlhrung und vorgetrageneGruumlnde demonstriert habe dass der gute Mann ebendeshalb auch dergluumlckliche Mann ist Zwar taucht im uumlberlieferten Text der Distichenweder der Name Platons noch der des Eudemos auf Olympiodor ver-sichert aber Aristoteles habe in seiner Widmung an den Stifter Eude-mos ebendieses Lob auf Platon ausgesprochen6 Bei welchem Lehrerhaumltte Aristoteles auch besser lernen koumlnnen wie man wesentlicheaber oft uumlbersehene Fragen stellt wie man fuumlr andere uumlberraschendauf Zusammenhaumlnge und Widerspruumlche aufmerksam macht wieman auf den ersten Blick unerkannte Implikationen und Konsequen-zen herausarbeitet wie man unzureichend Bewiesenes als solchesidentifiziert wie man einmal erzielte Uumlbereinkuumlnfte stets im Ge-daumlchtnis praumlsent haumllt wie man seine Argumente durch Ruumlckfuumlhrungauf Gruumlnde und Ursachen als anerkannte Berufungsinstanzen uumlber-zeugend vortraumlgt

Zur gegenseitigen Wertschaumltzung aufgrund ihrer intellektuellenVorzuumlge gesellte sich die politische Uumlbereinstimmung beider Philoso-phen die neben der Sympathie fuumlr Makedonien die entschieden ab-lehnende Haltung gegenuumlber der attischen Demokratie betraf FuumlrPlaton fiel die Suche nach der gerechten Polis als dem hiesigen Kor-relat des absolut Guten mit entschiedener Demokratiekritik zusam-men Seine politische Leitidee bildete die Gerechtigkeit als Einheit derKardinaltugenden mit dem Ziel der Baumlndigung des sinnlichen Inte-resses (ἡδονήvoluptas) waumlhrend in seinen Augen die demokrati-schen Leitideen der Gleichheit und Freiheit lediglich auf eine Beschouml-nigung der voluptas als des wahren Bestimmungsgrundes der Mengehinausliefen Diesen von voluptas durchdrungenen Staat sah Platonals derart heillos verfahren an dass er anknuumlpfende Schritt-fuumlr-Schritt Reformen gar nicht erst in Betracht zog Stattdessen setzte

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und wenn man Paradoxes vortragen wolle dies auch unmissverstaumlndlich zu sagen Sobliebe den Houmlrern die Enttaumluschung erspart wenn sie in Erwartung einer Belehrunguumlber Guumlter wie Reichtum Gesundheit Gluumlck am Ende lediglich die blasse Auskunfterhielten das Gute sei Eines6 Olympiodoros in Platonis Gorgiam XLI 10 ad p 515 C

Platons politische Opposition mit anderen Mitteln7 auf eine vomNullpunkt aus fehlerfrei in Gedanken durchkonstruierte Polis in derdie schon seit Kleisthenes bestehende Einheitlichkeit und Geschlos-senheit des Gemeinwesens gewahrt blieben aber konkrete demokra-tische Komponenten wie Rat und Volksversammlung Geschwore-nengericht und Flotte Panathenaumlen Dionysien und Eleusinien nichteinmal dem Namen nach vorkamen Bei dieser Konstellation gerietenSchule und Polis zwangslaumlufig in ein Verhaumlltnis sich gegenseitigenIgnorierens Die Schule fuumlhrte ihre Debatten als private Institutionohne Beruumlcksichtigung der Vorgaumlnge auf der Agoraacute und die Agoraacutemuumlhte sich mit den ihr eigenen Mitteln um eine Konsolidierung derdemokratischen Institutionen ohne die Einwaumlnde der Schule zurKenntnis zu nehmen Nun mag Platon einen offenbar unpolitischenweil von den Realitaumlten abgehobenen Ausgangspunkt gewaumlhlt unddamit seiner Weiterarbeit wie spaumlter die hermeneutisch argumentie-rende Kritik des Aristoteles zeigen sollte einen schlechten Dienst er-wiesen haben aber ihn leitete ohne jeden Zweifel ein handfestes Mo-tiv und eine daraus abgeleitete allgemeine bis in unsere Tage zubeherzigende Grundeinsicht

Platons Schluumlsselerlebnis war das Todesurteil gegen Sokratesdas eine Mehrheit unter fuumlnfhundert Geschworenen faumlllte obwohlsich Sokrates in allen Anklagepunkten ganz offenkundig als nichtschuldig erwiesen hatte Moumlglich wurde diese Gerichtsentscheidungweil es den Anklaumlgern wie routinierten Demagogen gelang mit ihrenUnwahrheiten eine ignorante Menge auf ihre Seite zu ziehen In derTat hatten sie wie Sokrates gleich im zweiten Satz der Apologie aus-ruft nicht ein einzigen wahren Satz vorgetragen (ἀληθές γε hellip οὐ-δὲν εἰρήκασιν) Der offenbar unausrottbaren Moumlglichkeit dass De-magogen gerade mit der Unwahrheit Mehrheiten fuumlr sich gewinnenkoumlnnen galt zeitlebens Platons kritische Aufmerksamkeit Tatort wa-ren nicht nur die Geschworenengerichte sondern nicht minder dieVolksversammlung in der interessierte Redner Mehrheitsbeschluumlsse(ψηφίσματα) herbeifuumlhrten mit denen sie bestehende Gesetze un-terliefen8 Auch fuumlr dieses Fehlverhalten gab es eine Schluumlsselszeneals naumlmlich im Zuge des Arginusenprozesses ein Mann aus der auf-gehetzten Menge rief es sei eine Ungeheuerlichkeit wenn man denDemos nicht tun lasse was er wolle und gleich darauf durchgesetzt

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7 Platon VII Brief 325 Endash326 A8 Ebd 325 DndashE

wurde dass die angeklagten Seeoffiziere en bloc verurteilt wurdenund nicht wie es das Gesetz verlangte jeder einzeln Der Einzigeder sich diesem rechtswidrigen Beschluss widersetzte war Sokrates9

Dass dieser Staat ausgerechnet seinen gerechtesten Buumlrger zumTode verurteilt hatte hat Platon nie verziehen Da indes die aus-schlaggebende Mehrheit der Geschworenen ihr Urteil wohl kaumfuumlr ungerecht hielt sah Platon sich verpflichtet allen ebenso gesinn-ten Athenern vorzutragen was an und fuumlr sich Gerechtigkeit wirklichist und zwar in der Politeia aus dem Munde eben des Sokrates Danun der Staat fuumlr die Gerechtigkeit der groumlszligere und besser sichtbareBewaumlhrungsort ist als der Einzelne schlug Sokrates vor den Begriffvon Gerechtigkeit zunaumlchst im Blick auf den Staat zu entwickeln (Po-liteia 368 E 472 B) Die Frage nach der Gerechtigkeit konkretisiertesich auf diese Weise zur Frage nach dem gerechten Staat Folgerichtigsetzte Platon im Geist des Sokrates der attischen Demokratie mitihrem falschen Machtwillen einen auf reiner Vernunft beruhendenIdealstaat entgegen von dessen Vorzuumlgen er vielleicht schon dienaumlchste Generation der Athener zu uumlberzeugen hoffte10 anderenfallskoumlnne man nur noch auf einen Gluumlcksschlag von auszligen (τύχη) set-zen oder dass sich dank goumlttlicher Fuumlgung ein Staatenlenker mit derPhilosophie befasse11 Die Befuumlrchtung der Philosoph koumlnne in seinereigenen Stadt wenn uumlberhaupt dann nur dank goumlttlicher Fuumlgung po-litisch taumltig werden (Politeia 592 A) wollte Platon allerdings fuumlr sichnicht als Entschuldigung gelten lassen im Gegenteil Platon ver-sicherte er sei eigens nach Syrakus gereist damit man ihm nicht vor-halten koumlnne er sei nur im Felde der Theorie stark ziehe sich aberzuruumlck wenn es an die praktische Ausfuumlhrung gehe (VII Brief328 C) Vielmehr war fuumlr ihn der gerechte Staat Inhalt philosophi-scher Reflexion mit dem Ziel seiner Verwirklichung

Im idealen Staat darf die Entscheidungsbefugnis nur bei Buumlrgernliegen die allein durch philosophisch uumlberpruumlfte Qualifikation undnicht durch Loswahl in ihr Amt gelangt sind Nur wer die Houmlhle derdie Menge auszeichnenden Kurzsichtigkeit verlassen und dank uumlber-legener Vernuumlnftigkeit die Idee des Guten geschaut hat vermag pri-vat wie oumlffentlich vernuumlnftig zu handeln12 eben seitdem er sich von

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9 Xenophon Hellenika 1 7 12ndash16 Vgl unten Anm 38 S 137 und Anm 17 S 14810 Platon Politeia 315 CndashD11 Platon VII Brief 326 A12 Platon Politeia 517 C

der Aussageabsicht der drei beruumlhmten Gleichnisse hat uumlberzeugenlassen dass naumlmlich das Gerechte das Gute ist und nicht das sinnlicheInteresse der auf den Schein fixierten Menge13 Entsprechend heiszligt esin Platons 8 Brief (355 A) Fuumlr besonnene Menschen ist Gott das Ge-setz fuumlr die unvernuumlnftigen ist es die Lust Das Gute hat also densel-ben Stellenwert wie Gott und bildet wie dieser insofern den Welt-grund als es weil jenseits (ἐπέκεινα) des daseienden Universumsangesiedelt im Rang noch uumlber dieses hinausragt und sich heilsambewaumlhrt indem es dank seinem Sproumlssling dem Sonnenlicht Orien-tierung durch Sichtbarkeit der Dinge sowie Leben Wachstum undGedeihen moumlglich macht14 Die Ausrichtung amGuten als Weltgrunderhebt das Gerechte zur unbedingten Handlungsnorm fordert abernicht nur sondern gewaumlhrt in einem damit den Buumlrgern auch wahr-haft praktischen Nutzen naumlmlich das Leben im sittlichen Gesetzes-staat ndash die Frucht eben der Herrschaft der Gerechtigkeit15 Damit istdie Frage zu deren Beantwortung Sokrates die drei beruumlhmtenGleichnisse vortrug naumlmlich ob Lust oder das Gerechte das wahreGut ist beantwortet und die implizit gegebene Antwort die auf derUnterscheidung der vier Erkenntnisstufen im Liniengleichnis beruhtbesagt dass die beschraumlnkten intellektuellen Moumlglichkeiten der Men-ge zu dieser Einsicht nicht ausreichen diese also fuumlglich zu entmuumln-digen ist schon um den Demagogen ein leichtglaumlubiges Publikum zuentziehen

Der Form nach stand bei aller Reserve Platon durchaus in derSchuld der Demokraten Sie waren es die unter Kleisthenes den atti-schen Staat als rational verwalteten Einheitsstaat geschaffen hattender nicht mehr nach Staumlmmen Sippen und oumlrtlich bedingten Loyali-taumlten fragmentiert war Unter Phylen verstand Kleisthenes nichtmehr den Oberbegriff vertikal strukturierter Personenverbaumlnde son-dern horizontal strukturierter einheitlich verwalteter Bezirke nachdem Territorialprinzip Das Volk der Athener (ὁ τῶν Ἀθηναίων δῆ-μος) trat an die Stelle der Klientel wie in Rom der populus Romanusan die Stelle der gentes Platon musste also das Prinzip staatlicherEinheit selbst nicht mehr erfinden wohl aber dem Inhalt nach fuumlr alleZukunft beschlieszligen dass nicht nur dieser sondern jeder Staat sei-nem Wesen gemaumlszlig in der Pflicht sei sich als raquoWirklichkeit der sitt-

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13 Ebd 505 B14 Ebd 509 AndashB15 Ebd 505 A

lichen Ideelaquo (Hegel) zu bewaumlhren Uumlber diesen Beschluss hinausdachte Platon noch einen Schritt weiter denn es konnte nicht ge-nuumlgen einen Staat philosophischer Sittlichkeit lediglich zu gruumlndener musste auch erhalten werden ndash durch ein Kollegium integrer Ge-setzeshuumlter die das muumlhsam Erreichte unveraumlndert zu bewahren hat-ten16 Diese Position waumlre etwa im Arginusenprozess unbesetzt ge-wesen haumltte Sokrates sie nicht eingenommen und auf Einhaltungder Gesetze bestanden

Ebenso wie die vorgegebene Staatlichkeit hat auch das mit dieserverbundene demokratische System der Rechtspflege das das archai-sche Selbsthilfeprinzip abloumlste Eingang in Platons Philosophie gefun-den Die archaische Selbsthilfe bestand darin dass die durch einenUumlbergriff beleidigte Sippe der Sippe des Taumlters die Fehde ankuumlndigte(πρόρρησις) deren Beendigung durch Abschluss eines Suumlhnevertra-ges (αἴδεσις) erfolgte Dass bei dieser Form der Konfliktbeilegungdurch Aussoumlhnung die staumlrkere Sippe in der Regel ihre Loumlsungsvor-stellungen durchsetzte liegt auf der Hand Der Schritt fuumlr Schritterfolgte Gerichtszwang durch den der Staat erst allmaumlhlich das Mo-nopol der Rechtspflege uumlbernahm hatte zum Ziel dass anstelle zufaumll-liger Machtverhaumlltnisse die Systematik von Recht und Gesetz imStreit der Parteien entscheidet17 Diesen Sinn der nacharchaischenRechtsprechung hat Ovid mit dem Hexameter zusammengefasstinde datae leges ne firmior omnia posset (Fasten 3 279) Im Gor-gias-Dialog haumllt nun Platon der Rhetorik vor sie sei der methodischeVersuch gerade diese Errungenschaft der Rechtsprechung ruumlckgaumln-gig zu machen Kallikles ein Anhaumlnger des Rhetoriklehrers Gorgiasspricht unverhohlen aus dass Herakles voumlllig im Recht war Geryonesseine Rinder die er weder gekauft noch zum Geschenk erhalten hatteohne Bedenken zu stehlen da das von Natur Gerechte darin bestehedass alles Eigentum der Schwaumlcheren in Wahrheit dem Staumlrkeren ge-houmlre18 Sokrates haumllt Kallikles entgegen dass wahre Uumlberlegenheitnicht im Mehr-haben-Wollen sondern im Sittlich-besser-Sein be-stehe und beruft sich damit ebenso wie die Rechtsprechung auf ein

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16 Platon Politeia 484 B Nomoi 752 DndashE 754 Dndash755 C 770 AndashD 847 AndashD 959 Dndash961 CIm Abschnitt zu raquoDemetrios Phalereus ndash oder die vierzehnte Wendelaquo wird diese pla-tonische Vorgabe noch eine wesentliche Rolle spielen17 Zu diesen nicht leicht zu rekonstruierenden Prozessen sei auf die im Literaturver-zeichnis genannten Aufsaumltze von E Ruschenbusch verwiesen18 Platon Gorgias 484 BndashC

systematisches Kriterium um die individuelle Machtperspektive inSchranken zu weisen Dass Sokrates bei seinem Gespraumlchspartnermit dieser Argumentation nicht durchdringt ist allein der Borniert-heit des Kallikles zuzuschreiben

Es ist nicht zu leugnen dass Platon ebenso wie der Oligarch Kal-likles den Besseren das Wort redete aber unter den Besseren wirklichBessere verstand die den Staat als sublimierte Oligarchie tragen soll-ten Von dieser Staatslehre gilt es also zu uumlberzeugen und das ver-suchte Platon auch ganz im Sinne des Sokrates zunaumlchst durch sach-liche Gespraumlchsfuumlhrung oder Dialektik (διαλέγεσθαι) die mitkurzen Saumltzen Rechenschaft fordert und gewaumlhrt Sokrates mochtekeine langen Reden die geeignet sind das Ausgangsthema nach eini-ger Zeit aus den Augen zu verlieren19 Auch mochte es Sokrates garnicht wenn Unterredner sich streitsuumlchtig (ἐρίζειν) an Worten fest-bissen statt am intendierten Inhalt20 Das richtet sich gegen Protago-ras der als Erfinder der Eristik Wortklauberei betrieb statt sich aufdie Bedeutung des Sachverhalts zu konzentrieren21 Insgesamt ist diesokratische Version von Dialektik ein Gegenentwurf zur raquosogenann-ten Kunst der Rhetoriklaquo22 die lediglich den Uumlberredungserfolg zumZiel hat und nicht etwa wohlbegruumlndete Wahrheiten herausarbeitenwill Nun musste Platon etwa im Gespraumlch mit Kallikles im Gorgiasoder mit Thrasymachos im ersten Buch der Politeia erkennen dassgerade seine Sachlichkeit bei Boumlswilligen auf taube Ohren stoumlszligt Erentwickelte daher noch in der Politeia einen uumlber Sokrates hinaus-gehenden Begriff von Dialektik die nicht diskutiert sondern dekre-tiert nachdem diese durch reines auf das Gespraumlch mit sich selbstkonzentriertes Durchdenken des Wesentlichen frei von sinnlichenEindruumlcken zum Ziel der Erkenntnis des Guten gelangt ist (532 AndashB) Weil somit Dialektik zustaumlndig wird fuumlr die Vergegenwaumlrtigungdes Guten in der politischen Welt darf auch nur der ausgewieseneDialektiker Staatenlenker werden (534 CndashD) der auf seinen Einsich-ten beharrt auch wenn ihm seine Mitbuumlrger die Zustimmung ver-weigern Gegen vordergruumlndige Rechthaberei von wem immer sieausgeht verteidigt Platon das Prinzip vernuumlnftiger Argumentationgegen die Kraumlfte ihrer Blockierung

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19 Platon Protagoras 336 AndashC Gorgias 474 B20 Platon Politeia 454 A21 Diogenes Laertios 9 5222 Platon Gorgias 448 D

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je mehr ihre Vorlaumlufigkeit die mit einem politischen Erfolg der Fun-damentalopposition ihr Ende finden sollte in Vergessenheit gerietAristoteles sollte an seinem Lehrer in der Sache manche Kritik uumlbenaber die Regeln der Institution Schule ihre Hinwendung zur Schrift-lichkeit und ihre Etablierung von Einzeldisziplinen (Pragmatien) ver-standen sich fuumlr ihn schon von selbst

Aristoteles (384ndash322) hatte als Siebzehnjaumlhriger seine makedo-nische Heimat verlassen um sich im Jahre 36766 der Akademie an-zuschlieszligen Da war Platon schon uumlber fuumlnfzig Jahre alt und hatteseine philosophische Arbeit dogmatisch abgeschlossen Da er in die-sen Tagen kurz vor seiner zweiten Reise nach Syrakus stand hat ervielleicht erst nach seiner Ruumlckkehr erkannt wer von nun an seinbegabtester Schuumller war Als Aristoteles einmal bei einer Vorlesungfehlte rief Platon verzweifelt aus raquoDer Geist ist nicht zugegenstumpf ist da die Houmlrerschaftlaquo ndash im Original ein ausgefeilter jambi-scher Trimeter ὁ νοῦς ἄπεσ|τιν κωφὸν τἀκ|ροατήριον3 Aristote-les wird sich dieses Lob seines Lehrers gewiss bei vielen Gelegenhei-ten verdient haben nicht zuletzt aber dank der Art wie er sich beiPlatons beruumlhmter Altersvorlesung raquoUumlber das Gutelaquo4 bewaumlhrte Alsdieser das Gute kosmologisch im zahlhaft bestimmten Einen verorte-te blieben die Houmlrer einer nach dem anderen enttaumluscht der Vor-lesung fern weil sie Ausfuumlhrungen uumlber seelische koumlrperliche undaumluszligere Guumlter im gemeinen Verstande erwartet hatten Auf diese Re-aktion der Houmlrer hatte Platon nur gewartet er wollte wissen wer mitseinem Vorstellungshorizont uumlber den der Menge hinausging undsich damit als genuiner Philosoph erwies Tatsaumlchlich harrten nurwenige Houmlrer bis zum Ende aus und empfingen den Ritterschlageines wahren Philosophen darunter natuumlrlich Aristoteles Dieser er-klaumlrte allerdings spaumlter er werde sich an das allgemein Anerkanntehalten statt aus dem Satz dass das Eine ein Gut sei herzuleiten dassdie Gerechtigkeit ein Gut sei5

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3 Zitiert nach V Rose Aristotelis qui ferebantur librorum fragmenta collegit V RLeipzig 18701886 repr Stuttgart 1967 S 4284 Das Vorlesungsmanuskript ist im Original nicht erhalten Die zahlreichen Para-phrasen bei anderen Autoren hat W D Ross Aristotelis Fragmenta Oxford 1935S 111ndash120 gesammelt5 Aristoteles Eudemische Ethik 1218 a 15ndash22 Der Aristotelesschuumller Aristoxenosbestaumltigte diese Reaktion seines Lehrers in seinen ἁρμονικὰ στοιχεῖα (ed P Mar-quard Die harmonischen Fragmente des Aristoxenos Berlin 1868 S 30) und fuumlgtehinzu es empfehle sich zu Beginn einer Vorlesung sein Thema genau anzukuumlndigen

Im Uumlbrigen sparte auch Aristoteles nicht mit Lob auf seinenLehrer Im Rahmen seiner Inschrift auf einem Altar der Freundschaftden Eudemos von Kypros von einer Reise nach Athen zuruumlckgekehrtgestiftet hatte ruumlhmt Aristoteles Platon als Mann den schlechteMenschen nicht einmal loben duumlrften und als Mann der als Ersterunter den Menschen durch eigene Lebensfuumlhrung und vorgetrageneGruumlnde demonstriert habe dass der gute Mann ebendeshalb auch dergluumlckliche Mann ist Zwar taucht im uumlberlieferten Text der Distichenweder der Name Platons noch der des Eudemos auf Olympiodor ver-sichert aber Aristoteles habe in seiner Widmung an den Stifter Eude-mos ebendieses Lob auf Platon ausgesprochen6 Bei welchem Lehrerhaumltte Aristoteles auch besser lernen koumlnnen wie man wesentlicheaber oft uumlbersehene Fragen stellt wie man fuumlr andere uumlberraschendauf Zusammenhaumlnge und Widerspruumlche aufmerksam macht wieman auf den ersten Blick unerkannte Implikationen und Konsequen-zen herausarbeitet wie man unzureichend Bewiesenes als solchesidentifiziert wie man einmal erzielte Uumlbereinkuumlnfte stets im Ge-daumlchtnis praumlsent haumllt wie man seine Argumente durch Ruumlckfuumlhrungauf Gruumlnde und Ursachen als anerkannte Berufungsinstanzen uumlber-zeugend vortraumlgt

Zur gegenseitigen Wertschaumltzung aufgrund ihrer intellektuellenVorzuumlge gesellte sich die politische Uumlbereinstimmung beider Philoso-phen die neben der Sympathie fuumlr Makedonien die entschieden ab-lehnende Haltung gegenuumlber der attischen Demokratie betraf FuumlrPlaton fiel die Suche nach der gerechten Polis als dem hiesigen Kor-relat des absolut Guten mit entschiedener Demokratiekritik zusam-men Seine politische Leitidee bildete die Gerechtigkeit als Einheit derKardinaltugenden mit dem Ziel der Baumlndigung des sinnlichen Inte-resses (ἡδονήvoluptas) waumlhrend in seinen Augen die demokrati-schen Leitideen der Gleichheit und Freiheit lediglich auf eine Beschouml-nigung der voluptas als des wahren Bestimmungsgrundes der Mengehinausliefen Diesen von voluptas durchdrungenen Staat sah Platonals derart heillos verfahren an dass er anknuumlpfende Schritt-fuumlr-Schritt Reformen gar nicht erst in Betracht zog Stattdessen setzte

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und wenn man Paradoxes vortragen wolle dies auch unmissverstaumlndlich zu sagen Sobliebe den Houmlrern die Enttaumluschung erspart wenn sie in Erwartung einer Belehrunguumlber Guumlter wie Reichtum Gesundheit Gluumlck am Ende lediglich die blasse Auskunfterhielten das Gute sei Eines6 Olympiodoros in Platonis Gorgiam XLI 10 ad p 515 C

Platons politische Opposition mit anderen Mitteln7 auf eine vomNullpunkt aus fehlerfrei in Gedanken durchkonstruierte Polis in derdie schon seit Kleisthenes bestehende Einheitlichkeit und Geschlos-senheit des Gemeinwesens gewahrt blieben aber konkrete demokra-tische Komponenten wie Rat und Volksversammlung Geschwore-nengericht und Flotte Panathenaumlen Dionysien und Eleusinien nichteinmal dem Namen nach vorkamen Bei dieser Konstellation gerietenSchule und Polis zwangslaumlufig in ein Verhaumlltnis sich gegenseitigenIgnorierens Die Schule fuumlhrte ihre Debatten als private Institutionohne Beruumlcksichtigung der Vorgaumlnge auf der Agoraacute und die Agoraacutemuumlhte sich mit den ihr eigenen Mitteln um eine Konsolidierung derdemokratischen Institutionen ohne die Einwaumlnde der Schule zurKenntnis zu nehmen Nun mag Platon einen offenbar unpolitischenweil von den Realitaumlten abgehobenen Ausgangspunkt gewaumlhlt unddamit seiner Weiterarbeit wie spaumlter die hermeneutisch argumentie-rende Kritik des Aristoteles zeigen sollte einen schlechten Dienst er-wiesen haben aber ihn leitete ohne jeden Zweifel ein handfestes Mo-tiv und eine daraus abgeleitete allgemeine bis in unsere Tage zubeherzigende Grundeinsicht

Platons Schluumlsselerlebnis war das Todesurteil gegen Sokratesdas eine Mehrheit unter fuumlnfhundert Geschworenen faumlllte obwohlsich Sokrates in allen Anklagepunkten ganz offenkundig als nichtschuldig erwiesen hatte Moumlglich wurde diese Gerichtsentscheidungweil es den Anklaumlgern wie routinierten Demagogen gelang mit ihrenUnwahrheiten eine ignorante Menge auf ihre Seite zu ziehen In derTat hatten sie wie Sokrates gleich im zweiten Satz der Apologie aus-ruft nicht ein einzigen wahren Satz vorgetragen (ἀληθές γε hellip οὐ-δὲν εἰρήκασιν) Der offenbar unausrottbaren Moumlglichkeit dass De-magogen gerade mit der Unwahrheit Mehrheiten fuumlr sich gewinnenkoumlnnen galt zeitlebens Platons kritische Aufmerksamkeit Tatort wa-ren nicht nur die Geschworenengerichte sondern nicht minder dieVolksversammlung in der interessierte Redner Mehrheitsbeschluumlsse(ψηφίσματα) herbeifuumlhrten mit denen sie bestehende Gesetze un-terliefen8 Auch fuumlr dieses Fehlverhalten gab es eine Schluumlsselszeneals naumlmlich im Zuge des Arginusenprozesses ein Mann aus der auf-gehetzten Menge rief es sei eine Ungeheuerlichkeit wenn man denDemos nicht tun lasse was er wolle und gleich darauf durchgesetzt

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7 Platon VII Brief 325 Endash326 A8 Ebd 325 DndashE

wurde dass die angeklagten Seeoffiziere en bloc verurteilt wurdenund nicht wie es das Gesetz verlangte jeder einzeln Der Einzigeder sich diesem rechtswidrigen Beschluss widersetzte war Sokrates9

Dass dieser Staat ausgerechnet seinen gerechtesten Buumlrger zumTode verurteilt hatte hat Platon nie verziehen Da indes die aus-schlaggebende Mehrheit der Geschworenen ihr Urteil wohl kaumfuumlr ungerecht hielt sah Platon sich verpflichtet allen ebenso gesinn-ten Athenern vorzutragen was an und fuumlr sich Gerechtigkeit wirklichist und zwar in der Politeia aus dem Munde eben des Sokrates Danun der Staat fuumlr die Gerechtigkeit der groumlszligere und besser sichtbareBewaumlhrungsort ist als der Einzelne schlug Sokrates vor den Begriffvon Gerechtigkeit zunaumlchst im Blick auf den Staat zu entwickeln (Po-liteia 368 E 472 B) Die Frage nach der Gerechtigkeit konkretisiertesich auf diese Weise zur Frage nach dem gerechten Staat Folgerichtigsetzte Platon im Geist des Sokrates der attischen Demokratie mitihrem falschen Machtwillen einen auf reiner Vernunft beruhendenIdealstaat entgegen von dessen Vorzuumlgen er vielleicht schon dienaumlchste Generation der Athener zu uumlberzeugen hoffte10 anderenfallskoumlnne man nur noch auf einen Gluumlcksschlag von auszligen (τύχη) set-zen oder dass sich dank goumlttlicher Fuumlgung ein Staatenlenker mit derPhilosophie befasse11 Die Befuumlrchtung der Philosoph koumlnne in seinereigenen Stadt wenn uumlberhaupt dann nur dank goumlttlicher Fuumlgung po-litisch taumltig werden (Politeia 592 A) wollte Platon allerdings fuumlr sichnicht als Entschuldigung gelten lassen im Gegenteil Platon ver-sicherte er sei eigens nach Syrakus gereist damit man ihm nicht vor-halten koumlnne er sei nur im Felde der Theorie stark ziehe sich aberzuruumlck wenn es an die praktische Ausfuumlhrung gehe (VII Brief328 C) Vielmehr war fuumlr ihn der gerechte Staat Inhalt philosophi-scher Reflexion mit dem Ziel seiner Verwirklichung

Im idealen Staat darf die Entscheidungsbefugnis nur bei Buumlrgernliegen die allein durch philosophisch uumlberpruumlfte Qualifikation undnicht durch Loswahl in ihr Amt gelangt sind Nur wer die Houmlhle derdie Menge auszeichnenden Kurzsichtigkeit verlassen und dank uumlber-legener Vernuumlnftigkeit die Idee des Guten geschaut hat vermag pri-vat wie oumlffentlich vernuumlnftig zu handeln12 eben seitdem er sich von

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Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

9 Xenophon Hellenika 1 7 12ndash16 Vgl unten Anm 38 S 137 und Anm 17 S 14810 Platon Politeia 315 CndashD11 Platon VII Brief 326 A12 Platon Politeia 517 C

der Aussageabsicht der drei beruumlhmten Gleichnisse hat uumlberzeugenlassen dass naumlmlich das Gerechte das Gute ist und nicht das sinnlicheInteresse der auf den Schein fixierten Menge13 Entsprechend heiszligt esin Platons 8 Brief (355 A) Fuumlr besonnene Menschen ist Gott das Ge-setz fuumlr die unvernuumlnftigen ist es die Lust Das Gute hat also densel-ben Stellenwert wie Gott und bildet wie dieser insofern den Welt-grund als es weil jenseits (ἐπέκεινα) des daseienden Universumsangesiedelt im Rang noch uumlber dieses hinausragt und sich heilsambewaumlhrt indem es dank seinem Sproumlssling dem Sonnenlicht Orien-tierung durch Sichtbarkeit der Dinge sowie Leben Wachstum undGedeihen moumlglich macht14 Die Ausrichtung amGuten als Weltgrunderhebt das Gerechte zur unbedingten Handlungsnorm fordert abernicht nur sondern gewaumlhrt in einem damit den Buumlrgern auch wahr-haft praktischen Nutzen naumlmlich das Leben im sittlichen Gesetzes-staat ndash die Frucht eben der Herrschaft der Gerechtigkeit15 Damit istdie Frage zu deren Beantwortung Sokrates die drei beruumlhmtenGleichnisse vortrug naumlmlich ob Lust oder das Gerechte das wahreGut ist beantwortet und die implizit gegebene Antwort die auf derUnterscheidung der vier Erkenntnisstufen im Liniengleichnis beruhtbesagt dass die beschraumlnkten intellektuellen Moumlglichkeiten der Men-ge zu dieser Einsicht nicht ausreichen diese also fuumlglich zu entmuumln-digen ist schon um den Demagogen ein leichtglaumlubiges Publikum zuentziehen

Der Form nach stand bei aller Reserve Platon durchaus in derSchuld der Demokraten Sie waren es die unter Kleisthenes den atti-schen Staat als rational verwalteten Einheitsstaat geschaffen hattender nicht mehr nach Staumlmmen Sippen und oumlrtlich bedingten Loyali-taumlten fragmentiert war Unter Phylen verstand Kleisthenes nichtmehr den Oberbegriff vertikal strukturierter Personenverbaumlnde son-dern horizontal strukturierter einheitlich verwalteter Bezirke nachdem Territorialprinzip Das Volk der Athener (ὁ τῶν Ἀθηναίων δῆ-μος) trat an die Stelle der Klientel wie in Rom der populus Romanusan die Stelle der gentes Platon musste also das Prinzip staatlicherEinheit selbst nicht mehr erfinden wohl aber dem Inhalt nach fuumlr alleZukunft beschlieszligen dass nicht nur dieser sondern jeder Staat sei-nem Wesen gemaumlszlig in der Pflicht sei sich als raquoWirklichkeit der sitt-

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Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

13 Ebd 505 B14 Ebd 509 AndashB15 Ebd 505 A

lichen Ideelaquo (Hegel) zu bewaumlhren Uumlber diesen Beschluss hinausdachte Platon noch einen Schritt weiter denn es konnte nicht ge-nuumlgen einen Staat philosophischer Sittlichkeit lediglich zu gruumlndener musste auch erhalten werden ndash durch ein Kollegium integrer Ge-setzeshuumlter die das muumlhsam Erreichte unveraumlndert zu bewahren hat-ten16 Diese Position waumlre etwa im Arginusenprozess unbesetzt ge-wesen haumltte Sokrates sie nicht eingenommen und auf Einhaltungder Gesetze bestanden

Ebenso wie die vorgegebene Staatlichkeit hat auch das mit dieserverbundene demokratische System der Rechtspflege das das archai-sche Selbsthilfeprinzip abloumlste Eingang in Platons Philosophie gefun-den Die archaische Selbsthilfe bestand darin dass die durch einenUumlbergriff beleidigte Sippe der Sippe des Taumlters die Fehde ankuumlndigte(πρόρρησις) deren Beendigung durch Abschluss eines Suumlhnevertra-ges (αἴδεσις) erfolgte Dass bei dieser Form der Konfliktbeilegungdurch Aussoumlhnung die staumlrkere Sippe in der Regel ihre Loumlsungsvor-stellungen durchsetzte liegt auf der Hand Der Schritt fuumlr Schritterfolgte Gerichtszwang durch den der Staat erst allmaumlhlich das Mo-nopol der Rechtspflege uumlbernahm hatte zum Ziel dass anstelle zufaumll-liger Machtverhaumlltnisse die Systematik von Recht und Gesetz imStreit der Parteien entscheidet17 Diesen Sinn der nacharchaischenRechtsprechung hat Ovid mit dem Hexameter zusammengefasstinde datae leges ne firmior omnia posset (Fasten 3 279) Im Gor-gias-Dialog haumllt nun Platon der Rhetorik vor sie sei der methodischeVersuch gerade diese Errungenschaft der Rechtsprechung ruumlckgaumln-gig zu machen Kallikles ein Anhaumlnger des Rhetoriklehrers Gorgiasspricht unverhohlen aus dass Herakles voumlllig im Recht war Geryonesseine Rinder die er weder gekauft noch zum Geschenk erhalten hatteohne Bedenken zu stehlen da das von Natur Gerechte darin bestehedass alles Eigentum der Schwaumlcheren in Wahrheit dem Staumlrkeren ge-houmlre18 Sokrates haumllt Kallikles entgegen dass wahre Uumlberlegenheitnicht im Mehr-haben-Wollen sondern im Sittlich-besser-Sein be-stehe und beruft sich damit ebenso wie die Rechtsprechung auf ein

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Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

16 Platon Politeia 484 B Nomoi 752 DndashE 754 Dndash755 C 770 AndashD 847 AndashD 959 Dndash961 CIm Abschnitt zu raquoDemetrios Phalereus ndash oder die vierzehnte Wendelaquo wird diese pla-tonische Vorgabe noch eine wesentliche Rolle spielen17 Zu diesen nicht leicht zu rekonstruierenden Prozessen sei auf die im Literaturver-zeichnis genannten Aufsaumltze von E Ruschenbusch verwiesen18 Platon Gorgias 484 BndashC

systematisches Kriterium um die individuelle Machtperspektive inSchranken zu weisen Dass Sokrates bei seinem Gespraumlchspartnermit dieser Argumentation nicht durchdringt ist allein der Borniert-heit des Kallikles zuzuschreiben

Es ist nicht zu leugnen dass Platon ebenso wie der Oligarch Kal-likles den Besseren das Wort redete aber unter den Besseren wirklichBessere verstand die den Staat als sublimierte Oligarchie tragen soll-ten Von dieser Staatslehre gilt es also zu uumlberzeugen und das ver-suchte Platon auch ganz im Sinne des Sokrates zunaumlchst durch sach-liche Gespraumlchsfuumlhrung oder Dialektik (διαλέγεσθαι) die mitkurzen Saumltzen Rechenschaft fordert und gewaumlhrt Sokrates mochtekeine langen Reden die geeignet sind das Ausgangsthema nach eini-ger Zeit aus den Augen zu verlieren19 Auch mochte es Sokrates garnicht wenn Unterredner sich streitsuumlchtig (ἐρίζειν) an Worten fest-bissen statt am intendierten Inhalt20 Das richtet sich gegen Protago-ras der als Erfinder der Eristik Wortklauberei betrieb statt sich aufdie Bedeutung des Sachverhalts zu konzentrieren21 Insgesamt ist diesokratische Version von Dialektik ein Gegenentwurf zur raquosogenann-ten Kunst der Rhetoriklaquo22 die lediglich den Uumlberredungserfolg zumZiel hat und nicht etwa wohlbegruumlndete Wahrheiten herausarbeitenwill Nun musste Platon etwa im Gespraumlch mit Kallikles im Gorgiasoder mit Thrasymachos im ersten Buch der Politeia erkennen dassgerade seine Sachlichkeit bei Boumlswilligen auf taube Ohren stoumlszligt Erentwickelte daher noch in der Politeia einen uumlber Sokrates hinaus-gehenden Begriff von Dialektik die nicht diskutiert sondern dekre-tiert nachdem diese durch reines auf das Gespraumlch mit sich selbstkonzentriertes Durchdenken des Wesentlichen frei von sinnlichenEindruumlcken zum Ziel der Erkenntnis des Guten gelangt ist (532 AndashB) Weil somit Dialektik zustaumlndig wird fuumlr die Vergegenwaumlrtigungdes Guten in der politischen Welt darf auch nur der ausgewieseneDialektiker Staatenlenker werden (534 CndashD) der auf seinen Einsich-ten beharrt auch wenn ihm seine Mitbuumlrger die Zustimmung ver-weigern Gegen vordergruumlndige Rechthaberei von wem immer sieausgeht verteidigt Platon das Prinzip vernuumlnftiger Argumentationgegen die Kraumlfte ihrer Blockierung

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Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

19 Platon Protagoras 336 AndashC Gorgias 474 B20 Platon Politeia 454 A21 Diogenes Laertios 9 5222 Platon Gorgias 448 D

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Im Uumlbrigen sparte auch Aristoteles nicht mit Lob auf seinenLehrer Im Rahmen seiner Inschrift auf einem Altar der Freundschaftden Eudemos von Kypros von einer Reise nach Athen zuruumlckgekehrtgestiftet hatte ruumlhmt Aristoteles Platon als Mann den schlechteMenschen nicht einmal loben duumlrften und als Mann der als Ersterunter den Menschen durch eigene Lebensfuumlhrung und vorgetrageneGruumlnde demonstriert habe dass der gute Mann ebendeshalb auch dergluumlckliche Mann ist Zwar taucht im uumlberlieferten Text der Distichenweder der Name Platons noch der des Eudemos auf Olympiodor ver-sichert aber Aristoteles habe in seiner Widmung an den Stifter Eude-mos ebendieses Lob auf Platon ausgesprochen6 Bei welchem Lehrerhaumltte Aristoteles auch besser lernen koumlnnen wie man wesentlicheaber oft uumlbersehene Fragen stellt wie man fuumlr andere uumlberraschendauf Zusammenhaumlnge und Widerspruumlche aufmerksam macht wieman auf den ersten Blick unerkannte Implikationen und Konsequen-zen herausarbeitet wie man unzureichend Bewiesenes als solchesidentifiziert wie man einmal erzielte Uumlbereinkuumlnfte stets im Ge-daumlchtnis praumlsent haumllt wie man seine Argumente durch Ruumlckfuumlhrungauf Gruumlnde und Ursachen als anerkannte Berufungsinstanzen uumlber-zeugend vortraumlgt

Zur gegenseitigen Wertschaumltzung aufgrund ihrer intellektuellenVorzuumlge gesellte sich die politische Uumlbereinstimmung beider Philoso-phen die neben der Sympathie fuumlr Makedonien die entschieden ab-lehnende Haltung gegenuumlber der attischen Demokratie betraf FuumlrPlaton fiel die Suche nach der gerechten Polis als dem hiesigen Kor-relat des absolut Guten mit entschiedener Demokratiekritik zusam-men Seine politische Leitidee bildete die Gerechtigkeit als Einheit derKardinaltugenden mit dem Ziel der Baumlndigung des sinnlichen Inte-resses (ἡδονήvoluptas) waumlhrend in seinen Augen die demokrati-schen Leitideen der Gleichheit und Freiheit lediglich auf eine Beschouml-nigung der voluptas als des wahren Bestimmungsgrundes der Mengehinausliefen Diesen von voluptas durchdrungenen Staat sah Platonals derart heillos verfahren an dass er anknuumlpfende Schritt-fuumlr-Schritt Reformen gar nicht erst in Betracht zog Stattdessen setzte

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Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

und wenn man Paradoxes vortragen wolle dies auch unmissverstaumlndlich zu sagen Sobliebe den Houmlrern die Enttaumluschung erspart wenn sie in Erwartung einer Belehrunguumlber Guumlter wie Reichtum Gesundheit Gluumlck am Ende lediglich die blasse Auskunfterhielten das Gute sei Eines6 Olympiodoros in Platonis Gorgiam XLI 10 ad p 515 C

Platons politische Opposition mit anderen Mitteln7 auf eine vomNullpunkt aus fehlerfrei in Gedanken durchkonstruierte Polis in derdie schon seit Kleisthenes bestehende Einheitlichkeit und Geschlos-senheit des Gemeinwesens gewahrt blieben aber konkrete demokra-tische Komponenten wie Rat und Volksversammlung Geschwore-nengericht und Flotte Panathenaumlen Dionysien und Eleusinien nichteinmal dem Namen nach vorkamen Bei dieser Konstellation gerietenSchule und Polis zwangslaumlufig in ein Verhaumlltnis sich gegenseitigenIgnorierens Die Schule fuumlhrte ihre Debatten als private Institutionohne Beruumlcksichtigung der Vorgaumlnge auf der Agoraacute und die Agoraacutemuumlhte sich mit den ihr eigenen Mitteln um eine Konsolidierung derdemokratischen Institutionen ohne die Einwaumlnde der Schule zurKenntnis zu nehmen Nun mag Platon einen offenbar unpolitischenweil von den Realitaumlten abgehobenen Ausgangspunkt gewaumlhlt unddamit seiner Weiterarbeit wie spaumlter die hermeneutisch argumentie-rende Kritik des Aristoteles zeigen sollte einen schlechten Dienst er-wiesen haben aber ihn leitete ohne jeden Zweifel ein handfestes Mo-tiv und eine daraus abgeleitete allgemeine bis in unsere Tage zubeherzigende Grundeinsicht

Platons Schluumlsselerlebnis war das Todesurteil gegen Sokratesdas eine Mehrheit unter fuumlnfhundert Geschworenen faumlllte obwohlsich Sokrates in allen Anklagepunkten ganz offenkundig als nichtschuldig erwiesen hatte Moumlglich wurde diese Gerichtsentscheidungweil es den Anklaumlgern wie routinierten Demagogen gelang mit ihrenUnwahrheiten eine ignorante Menge auf ihre Seite zu ziehen In derTat hatten sie wie Sokrates gleich im zweiten Satz der Apologie aus-ruft nicht ein einzigen wahren Satz vorgetragen (ἀληθές γε hellip οὐ-δὲν εἰρήκασιν) Der offenbar unausrottbaren Moumlglichkeit dass De-magogen gerade mit der Unwahrheit Mehrheiten fuumlr sich gewinnenkoumlnnen galt zeitlebens Platons kritische Aufmerksamkeit Tatort wa-ren nicht nur die Geschworenengerichte sondern nicht minder dieVolksversammlung in der interessierte Redner Mehrheitsbeschluumlsse(ψηφίσματα) herbeifuumlhrten mit denen sie bestehende Gesetze un-terliefen8 Auch fuumlr dieses Fehlverhalten gab es eine Schluumlsselszeneals naumlmlich im Zuge des Arginusenprozesses ein Mann aus der auf-gehetzten Menge rief es sei eine Ungeheuerlichkeit wenn man denDemos nicht tun lasse was er wolle und gleich darauf durchgesetzt

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7 Platon VII Brief 325 Endash326 A8 Ebd 325 DndashE

wurde dass die angeklagten Seeoffiziere en bloc verurteilt wurdenund nicht wie es das Gesetz verlangte jeder einzeln Der Einzigeder sich diesem rechtswidrigen Beschluss widersetzte war Sokrates9

Dass dieser Staat ausgerechnet seinen gerechtesten Buumlrger zumTode verurteilt hatte hat Platon nie verziehen Da indes die aus-schlaggebende Mehrheit der Geschworenen ihr Urteil wohl kaumfuumlr ungerecht hielt sah Platon sich verpflichtet allen ebenso gesinn-ten Athenern vorzutragen was an und fuumlr sich Gerechtigkeit wirklichist und zwar in der Politeia aus dem Munde eben des Sokrates Danun der Staat fuumlr die Gerechtigkeit der groumlszligere und besser sichtbareBewaumlhrungsort ist als der Einzelne schlug Sokrates vor den Begriffvon Gerechtigkeit zunaumlchst im Blick auf den Staat zu entwickeln (Po-liteia 368 E 472 B) Die Frage nach der Gerechtigkeit konkretisiertesich auf diese Weise zur Frage nach dem gerechten Staat Folgerichtigsetzte Platon im Geist des Sokrates der attischen Demokratie mitihrem falschen Machtwillen einen auf reiner Vernunft beruhendenIdealstaat entgegen von dessen Vorzuumlgen er vielleicht schon dienaumlchste Generation der Athener zu uumlberzeugen hoffte10 anderenfallskoumlnne man nur noch auf einen Gluumlcksschlag von auszligen (τύχη) set-zen oder dass sich dank goumlttlicher Fuumlgung ein Staatenlenker mit derPhilosophie befasse11 Die Befuumlrchtung der Philosoph koumlnne in seinereigenen Stadt wenn uumlberhaupt dann nur dank goumlttlicher Fuumlgung po-litisch taumltig werden (Politeia 592 A) wollte Platon allerdings fuumlr sichnicht als Entschuldigung gelten lassen im Gegenteil Platon ver-sicherte er sei eigens nach Syrakus gereist damit man ihm nicht vor-halten koumlnne er sei nur im Felde der Theorie stark ziehe sich aberzuruumlck wenn es an die praktische Ausfuumlhrung gehe (VII Brief328 C) Vielmehr war fuumlr ihn der gerechte Staat Inhalt philosophi-scher Reflexion mit dem Ziel seiner Verwirklichung

Im idealen Staat darf die Entscheidungsbefugnis nur bei Buumlrgernliegen die allein durch philosophisch uumlberpruumlfte Qualifikation undnicht durch Loswahl in ihr Amt gelangt sind Nur wer die Houmlhle derdie Menge auszeichnenden Kurzsichtigkeit verlassen und dank uumlber-legener Vernuumlnftigkeit die Idee des Guten geschaut hat vermag pri-vat wie oumlffentlich vernuumlnftig zu handeln12 eben seitdem er sich von

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9 Xenophon Hellenika 1 7 12ndash16 Vgl unten Anm 38 S 137 und Anm 17 S 14810 Platon Politeia 315 CndashD11 Platon VII Brief 326 A12 Platon Politeia 517 C

der Aussageabsicht der drei beruumlhmten Gleichnisse hat uumlberzeugenlassen dass naumlmlich das Gerechte das Gute ist und nicht das sinnlicheInteresse der auf den Schein fixierten Menge13 Entsprechend heiszligt esin Platons 8 Brief (355 A) Fuumlr besonnene Menschen ist Gott das Ge-setz fuumlr die unvernuumlnftigen ist es die Lust Das Gute hat also densel-ben Stellenwert wie Gott und bildet wie dieser insofern den Welt-grund als es weil jenseits (ἐπέκεινα) des daseienden Universumsangesiedelt im Rang noch uumlber dieses hinausragt und sich heilsambewaumlhrt indem es dank seinem Sproumlssling dem Sonnenlicht Orien-tierung durch Sichtbarkeit der Dinge sowie Leben Wachstum undGedeihen moumlglich macht14 Die Ausrichtung amGuten als Weltgrunderhebt das Gerechte zur unbedingten Handlungsnorm fordert abernicht nur sondern gewaumlhrt in einem damit den Buumlrgern auch wahr-haft praktischen Nutzen naumlmlich das Leben im sittlichen Gesetzes-staat ndash die Frucht eben der Herrschaft der Gerechtigkeit15 Damit istdie Frage zu deren Beantwortung Sokrates die drei beruumlhmtenGleichnisse vortrug naumlmlich ob Lust oder das Gerechte das wahreGut ist beantwortet und die implizit gegebene Antwort die auf derUnterscheidung der vier Erkenntnisstufen im Liniengleichnis beruhtbesagt dass die beschraumlnkten intellektuellen Moumlglichkeiten der Men-ge zu dieser Einsicht nicht ausreichen diese also fuumlglich zu entmuumln-digen ist schon um den Demagogen ein leichtglaumlubiges Publikum zuentziehen

Der Form nach stand bei aller Reserve Platon durchaus in derSchuld der Demokraten Sie waren es die unter Kleisthenes den atti-schen Staat als rational verwalteten Einheitsstaat geschaffen hattender nicht mehr nach Staumlmmen Sippen und oumlrtlich bedingten Loyali-taumlten fragmentiert war Unter Phylen verstand Kleisthenes nichtmehr den Oberbegriff vertikal strukturierter Personenverbaumlnde son-dern horizontal strukturierter einheitlich verwalteter Bezirke nachdem Territorialprinzip Das Volk der Athener (ὁ τῶν Ἀθηναίων δῆ-μος) trat an die Stelle der Klientel wie in Rom der populus Romanusan die Stelle der gentes Platon musste also das Prinzip staatlicherEinheit selbst nicht mehr erfinden wohl aber dem Inhalt nach fuumlr alleZukunft beschlieszligen dass nicht nur dieser sondern jeder Staat sei-nem Wesen gemaumlszlig in der Pflicht sei sich als raquoWirklichkeit der sitt-

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13 Ebd 505 B14 Ebd 509 AndashB15 Ebd 505 A

lichen Ideelaquo (Hegel) zu bewaumlhren Uumlber diesen Beschluss hinausdachte Platon noch einen Schritt weiter denn es konnte nicht ge-nuumlgen einen Staat philosophischer Sittlichkeit lediglich zu gruumlndener musste auch erhalten werden ndash durch ein Kollegium integrer Ge-setzeshuumlter die das muumlhsam Erreichte unveraumlndert zu bewahren hat-ten16 Diese Position waumlre etwa im Arginusenprozess unbesetzt ge-wesen haumltte Sokrates sie nicht eingenommen und auf Einhaltungder Gesetze bestanden

Ebenso wie die vorgegebene Staatlichkeit hat auch das mit dieserverbundene demokratische System der Rechtspflege das das archai-sche Selbsthilfeprinzip abloumlste Eingang in Platons Philosophie gefun-den Die archaische Selbsthilfe bestand darin dass die durch einenUumlbergriff beleidigte Sippe der Sippe des Taumlters die Fehde ankuumlndigte(πρόρρησις) deren Beendigung durch Abschluss eines Suumlhnevertra-ges (αἴδεσις) erfolgte Dass bei dieser Form der Konfliktbeilegungdurch Aussoumlhnung die staumlrkere Sippe in der Regel ihre Loumlsungsvor-stellungen durchsetzte liegt auf der Hand Der Schritt fuumlr Schritterfolgte Gerichtszwang durch den der Staat erst allmaumlhlich das Mo-nopol der Rechtspflege uumlbernahm hatte zum Ziel dass anstelle zufaumll-liger Machtverhaumlltnisse die Systematik von Recht und Gesetz imStreit der Parteien entscheidet17 Diesen Sinn der nacharchaischenRechtsprechung hat Ovid mit dem Hexameter zusammengefasstinde datae leges ne firmior omnia posset (Fasten 3 279) Im Gor-gias-Dialog haumllt nun Platon der Rhetorik vor sie sei der methodischeVersuch gerade diese Errungenschaft der Rechtsprechung ruumlckgaumln-gig zu machen Kallikles ein Anhaumlnger des Rhetoriklehrers Gorgiasspricht unverhohlen aus dass Herakles voumlllig im Recht war Geryonesseine Rinder die er weder gekauft noch zum Geschenk erhalten hatteohne Bedenken zu stehlen da das von Natur Gerechte darin bestehedass alles Eigentum der Schwaumlcheren in Wahrheit dem Staumlrkeren ge-houmlre18 Sokrates haumllt Kallikles entgegen dass wahre Uumlberlegenheitnicht im Mehr-haben-Wollen sondern im Sittlich-besser-Sein be-stehe und beruft sich damit ebenso wie die Rechtsprechung auf ein

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16 Platon Politeia 484 B Nomoi 752 DndashE 754 Dndash755 C 770 AndashD 847 AndashD 959 Dndash961 CIm Abschnitt zu raquoDemetrios Phalereus ndash oder die vierzehnte Wendelaquo wird diese pla-tonische Vorgabe noch eine wesentliche Rolle spielen17 Zu diesen nicht leicht zu rekonstruierenden Prozessen sei auf die im Literaturver-zeichnis genannten Aufsaumltze von E Ruschenbusch verwiesen18 Platon Gorgias 484 BndashC

systematisches Kriterium um die individuelle Machtperspektive inSchranken zu weisen Dass Sokrates bei seinem Gespraumlchspartnermit dieser Argumentation nicht durchdringt ist allein der Borniert-heit des Kallikles zuzuschreiben

Es ist nicht zu leugnen dass Platon ebenso wie der Oligarch Kal-likles den Besseren das Wort redete aber unter den Besseren wirklichBessere verstand die den Staat als sublimierte Oligarchie tragen soll-ten Von dieser Staatslehre gilt es also zu uumlberzeugen und das ver-suchte Platon auch ganz im Sinne des Sokrates zunaumlchst durch sach-liche Gespraumlchsfuumlhrung oder Dialektik (διαλέγεσθαι) die mitkurzen Saumltzen Rechenschaft fordert und gewaumlhrt Sokrates mochtekeine langen Reden die geeignet sind das Ausgangsthema nach eini-ger Zeit aus den Augen zu verlieren19 Auch mochte es Sokrates garnicht wenn Unterredner sich streitsuumlchtig (ἐρίζειν) an Worten fest-bissen statt am intendierten Inhalt20 Das richtet sich gegen Protago-ras der als Erfinder der Eristik Wortklauberei betrieb statt sich aufdie Bedeutung des Sachverhalts zu konzentrieren21 Insgesamt ist diesokratische Version von Dialektik ein Gegenentwurf zur raquosogenann-ten Kunst der Rhetoriklaquo22 die lediglich den Uumlberredungserfolg zumZiel hat und nicht etwa wohlbegruumlndete Wahrheiten herausarbeitenwill Nun musste Platon etwa im Gespraumlch mit Kallikles im Gorgiasoder mit Thrasymachos im ersten Buch der Politeia erkennen dassgerade seine Sachlichkeit bei Boumlswilligen auf taube Ohren stoumlszligt Erentwickelte daher noch in der Politeia einen uumlber Sokrates hinaus-gehenden Begriff von Dialektik die nicht diskutiert sondern dekre-tiert nachdem diese durch reines auf das Gespraumlch mit sich selbstkonzentriertes Durchdenken des Wesentlichen frei von sinnlichenEindruumlcken zum Ziel der Erkenntnis des Guten gelangt ist (532 AndashB) Weil somit Dialektik zustaumlndig wird fuumlr die Vergegenwaumlrtigungdes Guten in der politischen Welt darf auch nur der ausgewieseneDialektiker Staatenlenker werden (534 CndashD) der auf seinen Einsich-ten beharrt auch wenn ihm seine Mitbuumlrger die Zustimmung ver-weigern Gegen vordergruumlndige Rechthaberei von wem immer sieausgeht verteidigt Platon das Prinzip vernuumlnftiger Argumentationgegen die Kraumlfte ihrer Blockierung

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19 Platon Protagoras 336 AndashC Gorgias 474 B20 Platon Politeia 454 A21 Diogenes Laertios 9 5222 Platon Gorgias 448 D

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Platons politische Opposition mit anderen Mitteln7 auf eine vomNullpunkt aus fehlerfrei in Gedanken durchkonstruierte Polis in derdie schon seit Kleisthenes bestehende Einheitlichkeit und Geschlos-senheit des Gemeinwesens gewahrt blieben aber konkrete demokra-tische Komponenten wie Rat und Volksversammlung Geschwore-nengericht und Flotte Panathenaumlen Dionysien und Eleusinien nichteinmal dem Namen nach vorkamen Bei dieser Konstellation gerietenSchule und Polis zwangslaumlufig in ein Verhaumlltnis sich gegenseitigenIgnorierens Die Schule fuumlhrte ihre Debatten als private Institutionohne Beruumlcksichtigung der Vorgaumlnge auf der Agoraacute und die Agoraacutemuumlhte sich mit den ihr eigenen Mitteln um eine Konsolidierung derdemokratischen Institutionen ohne die Einwaumlnde der Schule zurKenntnis zu nehmen Nun mag Platon einen offenbar unpolitischenweil von den Realitaumlten abgehobenen Ausgangspunkt gewaumlhlt unddamit seiner Weiterarbeit wie spaumlter die hermeneutisch argumentie-rende Kritik des Aristoteles zeigen sollte einen schlechten Dienst er-wiesen haben aber ihn leitete ohne jeden Zweifel ein handfestes Mo-tiv und eine daraus abgeleitete allgemeine bis in unsere Tage zubeherzigende Grundeinsicht

Platons Schluumlsselerlebnis war das Todesurteil gegen Sokratesdas eine Mehrheit unter fuumlnfhundert Geschworenen faumlllte obwohlsich Sokrates in allen Anklagepunkten ganz offenkundig als nichtschuldig erwiesen hatte Moumlglich wurde diese Gerichtsentscheidungweil es den Anklaumlgern wie routinierten Demagogen gelang mit ihrenUnwahrheiten eine ignorante Menge auf ihre Seite zu ziehen In derTat hatten sie wie Sokrates gleich im zweiten Satz der Apologie aus-ruft nicht ein einzigen wahren Satz vorgetragen (ἀληθές γε hellip οὐ-δὲν εἰρήκασιν) Der offenbar unausrottbaren Moumlglichkeit dass De-magogen gerade mit der Unwahrheit Mehrheiten fuumlr sich gewinnenkoumlnnen galt zeitlebens Platons kritische Aufmerksamkeit Tatort wa-ren nicht nur die Geschworenengerichte sondern nicht minder dieVolksversammlung in der interessierte Redner Mehrheitsbeschluumlsse(ψηφίσματα) herbeifuumlhrten mit denen sie bestehende Gesetze un-terliefen8 Auch fuumlr dieses Fehlverhalten gab es eine Schluumlsselszeneals naumlmlich im Zuge des Arginusenprozesses ein Mann aus der auf-gehetzten Menge rief es sei eine Ungeheuerlichkeit wenn man denDemos nicht tun lasse was er wolle und gleich darauf durchgesetzt

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wurde dass die angeklagten Seeoffiziere en bloc verurteilt wurdenund nicht wie es das Gesetz verlangte jeder einzeln Der Einzigeder sich diesem rechtswidrigen Beschluss widersetzte war Sokrates9

Dass dieser Staat ausgerechnet seinen gerechtesten Buumlrger zumTode verurteilt hatte hat Platon nie verziehen Da indes die aus-schlaggebende Mehrheit der Geschworenen ihr Urteil wohl kaumfuumlr ungerecht hielt sah Platon sich verpflichtet allen ebenso gesinn-ten Athenern vorzutragen was an und fuumlr sich Gerechtigkeit wirklichist und zwar in der Politeia aus dem Munde eben des Sokrates Danun der Staat fuumlr die Gerechtigkeit der groumlszligere und besser sichtbareBewaumlhrungsort ist als der Einzelne schlug Sokrates vor den Begriffvon Gerechtigkeit zunaumlchst im Blick auf den Staat zu entwickeln (Po-liteia 368 E 472 B) Die Frage nach der Gerechtigkeit konkretisiertesich auf diese Weise zur Frage nach dem gerechten Staat Folgerichtigsetzte Platon im Geist des Sokrates der attischen Demokratie mitihrem falschen Machtwillen einen auf reiner Vernunft beruhendenIdealstaat entgegen von dessen Vorzuumlgen er vielleicht schon dienaumlchste Generation der Athener zu uumlberzeugen hoffte10 anderenfallskoumlnne man nur noch auf einen Gluumlcksschlag von auszligen (τύχη) set-zen oder dass sich dank goumlttlicher Fuumlgung ein Staatenlenker mit derPhilosophie befasse11 Die Befuumlrchtung der Philosoph koumlnne in seinereigenen Stadt wenn uumlberhaupt dann nur dank goumlttlicher Fuumlgung po-litisch taumltig werden (Politeia 592 A) wollte Platon allerdings fuumlr sichnicht als Entschuldigung gelten lassen im Gegenteil Platon ver-sicherte er sei eigens nach Syrakus gereist damit man ihm nicht vor-halten koumlnne er sei nur im Felde der Theorie stark ziehe sich aberzuruumlck wenn es an die praktische Ausfuumlhrung gehe (VII Brief328 C) Vielmehr war fuumlr ihn der gerechte Staat Inhalt philosophi-scher Reflexion mit dem Ziel seiner Verwirklichung

Im idealen Staat darf die Entscheidungsbefugnis nur bei Buumlrgernliegen die allein durch philosophisch uumlberpruumlfte Qualifikation undnicht durch Loswahl in ihr Amt gelangt sind Nur wer die Houmlhle derdie Menge auszeichnenden Kurzsichtigkeit verlassen und dank uumlber-legener Vernuumlnftigkeit die Idee des Guten geschaut hat vermag pri-vat wie oumlffentlich vernuumlnftig zu handeln12 eben seitdem er sich von

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Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

9 Xenophon Hellenika 1 7 12ndash16 Vgl unten Anm 38 S 137 und Anm 17 S 14810 Platon Politeia 315 CndashD11 Platon VII Brief 326 A12 Platon Politeia 517 C

der Aussageabsicht der drei beruumlhmten Gleichnisse hat uumlberzeugenlassen dass naumlmlich das Gerechte das Gute ist und nicht das sinnlicheInteresse der auf den Schein fixierten Menge13 Entsprechend heiszligt esin Platons 8 Brief (355 A) Fuumlr besonnene Menschen ist Gott das Ge-setz fuumlr die unvernuumlnftigen ist es die Lust Das Gute hat also densel-ben Stellenwert wie Gott und bildet wie dieser insofern den Welt-grund als es weil jenseits (ἐπέκεινα) des daseienden Universumsangesiedelt im Rang noch uumlber dieses hinausragt und sich heilsambewaumlhrt indem es dank seinem Sproumlssling dem Sonnenlicht Orien-tierung durch Sichtbarkeit der Dinge sowie Leben Wachstum undGedeihen moumlglich macht14 Die Ausrichtung amGuten als Weltgrunderhebt das Gerechte zur unbedingten Handlungsnorm fordert abernicht nur sondern gewaumlhrt in einem damit den Buumlrgern auch wahr-haft praktischen Nutzen naumlmlich das Leben im sittlichen Gesetzes-staat ndash die Frucht eben der Herrschaft der Gerechtigkeit15 Damit istdie Frage zu deren Beantwortung Sokrates die drei beruumlhmtenGleichnisse vortrug naumlmlich ob Lust oder das Gerechte das wahreGut ist beantwortet und die implizit gegebene Antwort die auf derUnterscheidung der vier Erkenntnisstufen im Liniengleichnis beruhtbesagt dass die beschraumlnkten intellektuellen Moumlglichkeiten der Men-ge zu dieser Einsicht nicht ausreichen diese also fuumlglich zu entmuumln-digen ist schon um den Demagogen ein leichtglaumlubiges Publikum zuentziehen

Der Form nach stand bei aller Reserve Platon durchaus in derSchuld der Demokraten Sie waren es die unter Kleisthenes den atti-schen Staat als rational verwalteten Einheitsstaat geschaffen hattender nicht mehr nach Staumlmmen Sippen und oumlrtlich bedingten Loyali-taumlten fragmentiert war Unter Phylen verstand Kleisthenes nichtmehr den Oberbegriff vertikal strukturierter Personenverbaumlnde son-dern horizontal strukturierter einheitlich verwalteter Bezirke nachdem Territorialprinzip Das Volk der Athener (ὁ τῶν Ἀθηναίων δῆ-μος) trat an die Stelle der Klientel wie in Rom der populus Romanusan die Stelle der gentes Platon musste also das Prinzip staatlicherEinheit selbst nicht mehr erfinden wohl aber dem Inhalt nach fuumlr alleZukunft beschlieszligen dass nicht nur dieser sondern jeder Staat sei-nem Wesen gemaumlszlig in der Pflicht sei sich als raquoWirklichkeit der sitt-

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Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

13 Ebd 505 B14 Ebd 509 AndashB15 Ebd 505 A

lichen Ideelaquo (Hegel) zu bewaumlhren Uumlber diesen Beschluss hinausdachte Platon noch einen Schritt weiter denn es konnte nicht ge-nuumlgen einen Staat philosophischer Sittlichkeit lediglich zu gruumlndener musste auch erhalten werden ndash durch ein Kollegium integrer Ge-setzeshuumlter die das muumlhsam Erreichte unveraumlndert zu bewahren hat-ten16 Diese Position waumlre etwa im Arginusenprozess unbesetzt ge-wesen haumltte Sokrates sie nicht eingenommen und auf Einhaltungder Gesetze bestanden

Ebenso wie die vorgegebene Staatlichkeit hat auch das mit dieserverbundene demokratische System der Rechtspflege das das archai-sche Selbsthilfeprinzip abloumlste Eingang in Platons Philosophie gefun-den Die archaische Selbsthilfe bestand darin dass die durch einenUumlbergriff beleidigte Sippe der Sippe des Taumlters die Fehde ankuumlndigte(πρόρρησις) deren Beendigung durch Abschluss eines Suumlhnevertra-ges (αἴδεσις) erfolgte Dass bei dieser Form der Konfliktbeilegungdurch Aussoumlhnung die staumlrkere Sippe in der Regel ihre Loumlsungsvor-stellungen durchsetzte liegt auf der Hand Der Schritt fuumlr Schritterfolgte Gerichtszwang durch den der Staat erst allmaumlhlich das Mo-nopol der Rechtspflege uumlbernahm hatte zum Ziel dass anstelle zufaumll-liger Machtverhaumlltnisse die Systematik von Recht und Gesetz imStreit der Parteien entscheidet17 Diesen Sinn der nacharchaischenRechtsprechung hat Ovid mit dem Hexameter zusammengefasstinde datae leges ne firmior omnia posset (Fasten 3 279) Im Gor-gias-Dialog haumllt nun Platon der Rhetorik vor sie sei der methodischeVersuch gerade diese Errungenschaft der Rechtsprechung ruumlckgaumln-gig zu machen Kallikles ein Anhaumlnger des Rhetoriklehrers Gorgiasspricht unverhohlen aus dass Herakles voumlllig im Recht war Geryonesseine Rinder die er weder gekauft noch zum Geschenk erhalten hatteohne Bedenken zu stehlen da das von Natur Gerechte darin bestehedass alles Eigentum der Schwaumlcheren in Wahrheit dem Staumlrkeren ge-houmlre18 Sokrates haumllt Kallikles entgegen dass wahre Uumlberlegenheitnicht im Mehr-haben-Wollen sondern im Sittlich-besser-Sein be-stehe und beruft sich damit ebenso wie die Rechtsprechung auf ein

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Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

16 Platon Politeia 484 B Nomoi 752 DndashE 754 Dndash755 C 770 AndashD 847 AndashD 959 Dndash961 CIm Abschnitt zu raquoDemetrios Phalereus ndash oder die vierzehnte Wendelaquo wird diese pla-tonische Vorgabe noch eine wesentliche Rolle spielen17 Zu diesen nicht leicht zu rekonstruierenden Prozessen sei auf die im Literaturver-zeichnis genannten Aufsaumltze von E Ruschenbusch verwiesen18 Platon Gorgias 484 BndashC

systematisches Kriterium um die individuelle Machtperspektive inSchranken zu weisen Dass Sokrates bei seinem Gespraumlchspartnermit dieser Argumentation nicht durchdringt ist allein der Borniert-heit des Kallikles zuzuschreiben

Es ist nicht zu leugnen dass Platon ebenso wie der Oligarch Kal-likles den Besseren das Wort redete aber unter den Besseren wirklichBessere verstand die den Staat als sublimierte Oligarchie tragen soll-ten Von dieser Staatslehre gilt es also zu uumlberzeugen und das ver-suchte Platon auch ganz im Sinne des Sokrates zunaumlchst durch sach-liche Gespraumlchsfuumlhrung oder Dialektik (διαλέγεσθαι) die mitkurzen Saumltzen Rechenschaft fordert und gewaumlhrt Sokrates mochtekeine langen Reden die geeignet sind das Ausgangsthema nach eini-ger Zeit aus den Augen zu verlieren19 Auch mochte es Sokrates garnicht wenn Unterredner sich streitsuumlchtig (ἐρίζειν) an Worten fest-bissen statt am intendierten Inhalt20 Das richtet sich gegen Protago-ras der als Erfinder der Eristik Wortklauberei betrieb statt sich aufdie Bedeutung des Sachverhalts zu konzentrieren21 Insgesamt ist diesokratische Version von Dialektik ein Gegenentwurf zur raquosogenann-ten Kunst der Rhetoriklaquo22 die lediglich den Uumlberredungserfolg zumZiel hat und nicht etwa wohlbegruumlndete Wahrheiten herausarbeitenwill Nun musste Platon etwa im Gespraumlch mit Kallikles im Gorgiasoder mit Thrasymachos im ersten Buch der Politeia erkennen dassgerade seine Sachlichkeit bei Boumlswilligen auf taube Ohren stoumlszligt Erentwickelte daher noch in der Politeia einen uumlber Sokrates hinaus-gehenden Begriff von Dialektik die nicht diskutiert sondern dekre-tiert nachdem diese durch reines auf das Gespraumlch mit sich selbstkonzentriertes Durchdenken des Wesentlichen frei von sinnlichenEindruumlcken zum Ziel der Erkenntnis des Guten gelangt ist (532 AndashB) Weil somit Dialektik zustaumlndig wird fuumlr die Vergegenwaumlrtigungdes Guten in der politischen Welt darf auch nur der ausgewieseneDialektiker Staatenlenker werden (534 CndashD) der auf seinen Einsich-ten beharrt auch wenn ihm seine Mitbuumlrger die Zustimmung ver-weigern Gegen vordergruumlndige Rechthaberei von wem immer sieausgeht verteidigt Platon das Prinzip vernuumlnftiger Argumentationgegen die Kraumlfte ihrer Blockierung

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19 Platon Protagoras 336 AndashC Gorgias 474 B20 Platon Politeia 454 A21 Diogenes Laertios 9 5222 Platon Gorgias 448 D

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wurde dass die angeklagten Seeoffiziere en bloc verurteilt wurdenund nicht wie es das Gesetz verlangte jeder einzeln Der Einzigeder sich diesem rechtswidrigen Beschluss widersetzte war Sokrates9

Dass dieser Staat ausgerechnet seinen gerechtesten Buumlrger zumTode verurteilt hatte hat Platon nie verziehen Da indes die aus-schlaggebende Mehrheit der Geschworenen ihr Urteil wohl kaumfuumlr ungerecht hielt sah Platon sich verpflichtet allen ebenso gesinn-ten Athenern vorzutragen was an und fuumlr sich Gerechtigkeit wirklichist und zwar in der Politeia aus dem Munde eben des Sokrates Danun der Staat fuumlr die Gerechtigkeit der groumlszligere und besser sichtbareBewaumlhrungsort ist als der Einzelne schlug Sokrates vor den Begriffvon Gerechtigkeit zunaumlchst im Blick auf den Staat zu entwickeln (Po-liteia 368 E 472 B) Die Frage nach der Gerechtigkeit konkretisiertesich auf diese Weise zur Frage nach dem gerechten Staat Folgerichtigsetzte Platon im Geist des Sokrates der attischen Demokratie mitihrem falschen Machtwillen einen auf reiner Vernunft beruhendenIdealstaat entgegen von dessen Vorzuumlgen er vielleicht schon dienaumlchste Generation der Athener zu uumlberzeugen hoffte10 anderenfallskoumlnne man nur noch auf einen Gluumlcksschlag von auszligen (τύχη) set-zen oder dass sich dank goumlttlicher Fuumlgung ein Staatenlenker mit derPhilosophie befasse11 Die Befuumlrchtung der Philosoph koumlnne in seinereigenen Stadt wenn uumlberhaupt dann nur dank goumlttlicher Fuumlgung po-litisch taumltig werden (Politeia 592 A) wollte Platon allerdings fuumlr sichnicht als Entschuldigung gelten lassen im Gegenteil Platon ver-sicherte er sei eigens nach Syrakus gereist damit man ihm nicht vor-halten koumlnne er sei nur im Felde der Theorie stark ziehe sich aberzuruumlck wenn es an die praktische Ausfuumlhrung gehe (VII Brief328 C) Vielmehr war fuumlr ihn der gerechte Staat Inhalt philosophi-scher Reflexion mit dem Ziel seiner Verwirklichung

Im idealen Staat darf die Entscheidungsbefugnis nur bei Buumlrgernliegen die allein durch philosophisch uumlberpruumlfte Qualifikation undnicht durch Loswahl in ihr Amt gelangt sind Nur wer die Houmlhle derdie Menge auszeichnenden Kurzsichtigkeit verlassen und dank uumlber-legener Vernuumlnftigkeit die Idee des Guten geschaut hat vermag pri-vat wie oumlffentlich vernuumlnftig zu handeln12 eben seitdem er sich von

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9 Xenophon Hellenika 1 7 12ndash16 Vgl unten Anm 38 S 137 und Anm 17 S 14810 Platon Politeia 315 CndashD11 Platon VII Brief 326 A12 Platon Politeia 517 C

der Aussageabsicht der drei beruumlhmten Gleichnisse hat uumlberzeugenlassen dass naumlmlich das Gerechte das Gute ist und nicht das sinnlicheInteresse der auf den Schein fixierten Menge13 Entsprechend heiszligt esin Platons 8 Brief (355 A) Fuumlr besonnene Menschen ist Gott das Ge-setz fuumlr die unvernuumlnftigen ist es die Lust Das Gute hat also densel-ben Stellenwert wie Gott und bildet wie dieser insofern den Welt-grund als es weil jenseits (ἐπέκεινα) des daseienden Universumsangesiedelt im Rang noch uumlber dieses hinausragt und sich heilsambewaumlhrt indem es dank seinem Sproumlssling dem Sonnenlicht Orien-tierung durch Sichtbarkeit der Dinge sowie Leben Wachstum undGedeihen moumlglich macht14 Die Ausrichtung amGuten als Weltgrunderhebt das Gerechte zur unbedingten Handlungsnorm fordert abernicht nur sondern gewaumlhrt in einem damit den Buumlrgern auch wahr-haft praktischen Nutzen naumlmlich das Leben im sittlichen Gesetzes-staat ndash die Frucht eben der Herrschaft der Gerechtigkeit15 Damit istdie Frage zu deren Beantwortung Sokrates die drei beruumlhmtenGleichnisse vortrug naumlmlich ob Lust oder das Gerechte das wahreGut ist beantwortet und die implizit gegebene Antwort die auf derUnterscheidung der vier Erkenntnisstufen im Liniengleichnis beruhtbesagt dass die beschraumlnkten intellektuellen Moumlglichkeiten der Men-ge zu dieser Einsicht nicht ausreichen diese also fuumlglich zu entmuumln-digen ist schon um den Demagogen ein leichtglaumlubiges Publikum zuentziehen

Der Form nach stand bei aller Reserve Platon durchaus in derSchuld der Demokraten Sie waren es die unter Kleisthenes den atti-schen Staat als rational verwalteten Einheitsstaat geschaffen hattender nicht mehr nach Staumlmmen Sippen und oumlrtlich bedingten Loyali-taumlten fragmentiert war Unter Phylen verstand Kleisthenes nichtmehr den Oberbegriff vertikal strukturierter Personenverbaumlnde son-dern horizontal strukturierter einheitlich verwalteter Bezirke nachdem Territorialprinzip Das Volk der Athener (ὁ τῶν Ἀθηναίων δῆ-μος) trat an die Stelle der Klientel wie in Rom der populus Romanusan die Stelle der gentes Platon musste also das Prinzip staatlicherEinheit selbst nicht mehr erfinden wohl aber dem Inhalt nach fuumlr alleZukunft beschlieszligen dass nicht nur dieser sondern jeder Staat sei-nem Wesen gemaumlszlig in der Pflicht sei sich als raquoWirklichkeit der sitt-

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13 Ebd 505 B14 Ebd 509 AndashB15 Ebd 505 A

lichen Ideelaquo (Hegel) zu bewaumlhren Uumlber diesen Beschluss hinausdachte Platon noch einen Schritt weiter denn es konnte nicht ge-nuumlgen einen Staat philosophischer Sittlichkeit lediglich zu gruumlndener musste auch erhalten werden ndash durch ein Kollegium integrer Ge-setzeshuumlter die das muumlhsam Erreichte unveraumlndert zu bewahren hat-ten16 Diese Position waumlre etwa im Arginusenprozess unbesetzt ge-wesen haumltte Sokrates sie nicht eingenommen und auf Einhaltungder Gesetze bestanden

Ebenso wie die vorgegebene Staatlichkeit hat auch das mit dieserverbundene demokratische System der Rechtspflege das das archai-sche Selbsthilfeprinzip abloumlste Eingang in Platons Philosophie gefun-den Die archaische Selbsthilfe bestand darin dass die durch einenUumlbergriff beleidigte Sippe der Sippe des Taumlters die Fehde ankuumlndigte(πρόρρησις) deren Beendigung durch Abschluss eines Suumlhnevertra-ges (αἴδεσις) erfolgte Dass bei dieser Form der Konfliktbeilegungdurch Aussoumlhnung die staumlrkere Sippe in der Regel ihre Loumlsungsvor-stellungen durchsetzte liegt auf der Hand Der Schritt fuumlr Schritterfolgte Gerichtszwang durch den der Staat erst allmaumlhlich das Mo-nopol der Rechtspflege uumlbernahm hatte zum Ziel dass anstelle zufaumll-liger Machtverhaumlltnisse die Systematik von Recht und Gesetz imStreit der Parteien entscheidet17 Diesen Sinn der nacharchaischenRechtsprechung hat Ovid mit dem Hexameter zusammengefasstinde datae leges ne firmior omnia posset (Fasten 3 279) Im Gor-gias-Dialog haumllt nun Platon der Rhetorik vor sie sei der methodischeVersuch gerade diese Errungenschaft der Rechtsprechung ruumlckgaumln-gig zu machen Kallikles ein Anhaumlnger des Rhetoriklehrers Gorgiasspricht unverhohlen aus dass Herakles voumlllig im Recht war Geryonesseine Rinder die er weder gekauft noch zum Geschenk erhalten hatteohne Bedenken zu stehlen da das von Natur Gerechte darin bestehedass alles Eigentum der Schwaumlcheren in Wahrheit dem Staumlrkeren ge-houmlre18 Sokrates haumllt Kallikles entgegen dass wahre Uumlberlegenheitnicht im Mehr-haben-Wollen sondern im Sittlich-besser-Sein be-stehe und beruft sich damit ebenso wie die Rechtsprechung auf ein

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16 Platon Politeia 484 B Nomoi 752 DndashE 754 Dndash755 C 770 AndashD 847 AndashD 959 Dndash961 CIm Abschnitt zu raquoDemetrios Phalereus ndash oder die vierzehnte Wendelaquo wird diese pla-tonische Vorgabe noch eine wesentliche Rolle spielen17 Zu diesen nicht leicht zu rekonstruierenden Prozessen sei auf die im Literaturver-zeichnis genannten Aufsaumltze von E Ruschenbusch verwiesen18 Platon Gorgias 484 BndashC

systematisches Kriterium um die individuelle Machtperspektive inSchranken zu weisen Dass Sokrates bei seinem Gespraumlchspartnermit dieser Argumentation nicht durchdringt ist allein der Borniert-heit des Kallikles zuzuschreiben

Es ist nicht zu leugnen dass Platon ebenso wie der Oligarch Kal-likles den Besseren das Wort redete aber unter den Besseren wirklichBessere verstand die den Staat als sublimierte Oligarchie tragen soll-ten Von dieser Staatslehre gilt es also zu uumlberzeugen und das ver-suchte Platon auch ganz im Sinne des Sokrates zunaumlchst durch sach-liche Gespraumlchsfuumlhrung oder Dialektik (διαλέγεσθαι) die mitkurzen Saumltzen Rechenschaft fordert und gewaumlhrt Sokrates mochtekeine langen Reden die geeignet sind das Ausgangsthema nach eini-ger Zeit aus den Augen zu verlieren19 Auch mochte es Sokrates garnicht wenn Unterredner sich streitsuumlchtig (ἐρίζειν) an Worten fest-bissen statt am intendierten Inhalt20 Das richtet sich gegen Protago-ras der als Erfinder der Eristik Wortklauberei betrieb statt sich aufdie Bedeutung des Sachverhalts zu konzentrieren21 Insgesamt ist diesokratische Version von Dialektik ein Gegenentwurf zur raquosogenann-ten Kunst der Rhetoriklaquo22 die lediglich den Uumlberredungserfolg zumZiel hat und nicht etwa wohlbegruumlndete Wahrheiten herausarbeitenwill Nun musste Platon etwa im Gespraumlch mit Kallikles im Gorgiasoder mit Thrasymachos im ersten Buch der Politeia erkennen dassgerade seine Sachlichkeit bei Boumlswilligen auf taube Ohren stoumlszligt Erentwickelte daher noch in der Politeia einen uumlber Sokrates hinaus-gehenden Begriff von Dialektik die nicht diskutiert sondern dekre-tiert nachdem diese durch reines auf das Gespraumlch mit sich selbstkonzentriertes Durchdenken des Wesentlichen frei von sinnlichenEindruumlcken zum Ziel der Erkenntnis des Guten gelangt ist (532 AndashB) Weil somit Dialektik zustaumlndig wird fuumlr die Vergegenwaumlrtigungdes Guten in der politischen Welt darf auch nur der ausgewieseneDialektiker Staatenlenker werden (534 CndashD) der auf seinen Einsich-ten beharrt auch wenn ihm seine Mitbuumlrger die Zustimmung ver-weigern Gegen vordergruumlndige Rechthaberei von wem immer sieausgeht verteidigt Platon das Prinzip vernuumlnftiger Argumentationgegen die Kraumlfte ihrer Blockierung

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Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

19 Platon Protagoras 336 AndashC Gorgias 474 B20 Platon Politeia 454 A21 Diogenes Laertios 9 5222 Platon Gorgias 448 D

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der Aussageabsicht der drei beruumlhmten Gleichnisse hat uumlberzeugenlassen dass naumlmlich das Gerechte das Gute ist und nicht das sinnlicheInteresse der auf den Schein fixierten Menge13 Entsprechend heiszligt esin Platons 8 Brief (355 A) Fuumlr besonnene Menschen ist Gott das Ge-setz fuumlr die unvernuumlnftigen ist es die Lust Das Gute hat also densel-ben Stellenwert wie Gott und bildet wie dieser insofern den Welt-grund als es weil jenseits (ἐπέκεινα) des daseienden Universumsangesiedelt im Rang noch uumlber dieses hinausragt und sich heilsambewaumlhrt indem es dank seinem Sproumlssling dem Sonnenlicht Orien-tierung durch Sichtbarkeit der Dinge sowie Leben Wachstum undGedeihen moumlglich macht14 Die Ausrichtung amGuten als Weltgrunderhebt das Gerechte zur unbedingten Handlungsnorm fordert abernicht nur sondern gewaumlhrt in einem damit den Buumlrgern auch wahr-haft praktischen Nutzen naumlmlich das Leben im sittlichen Gesetzes-staat ndash die Frucht eben der Herrschaft der Gerechtigkeit15 Damit istdie Frage zu deren Beantwortung Sokrates die drei beruumlhmtenGleichnisse vortrug naumlmlich ob Lust oder das Gerechte das wahreGut ist beantwortet und die implizit gegebene Antwort die auf derUnterscheidung der vier Erkenntnisstufen im Liniengleichnis beruhtbesagt dass die beschraumlnkten intellektuellen Moumlglichkeiten der Men-ge zu dieser Einsicht nicht ausreichen diese also fuumlglich zu entmuumln-digen ist schon um den Demagogen ein leichtglaumlubiges Publikum zuentziehen

Der Form nach stand bei aller Reserve Platon durchaus in derSchuld der Demokraten Sie waren es die unter Kleisthenes den atti-schen Staat als rational verwalteten Einheitsstaat geschaffen hattender nicht mehr nach Staumlmmen Sippen und oumlrtlich bedingten Loyali-taumlten fragmentiert war Unter Phylen verstand Kleisthenes nichtmehr den Oberbegriff vertikal strukturierter Personenverbaumlnde son-dern horizontal strukturierter einheitlich verwalteter Bezirke nachdem Territorialprinzip Das Volk der Athener (ὁ τῶν Ἀθηναίων δῆ-μος) trat an die Stelle der Klientel wie in Rom der populus Romanusan die Stelle der gentes Platon musste also das Prinzip staatlicherEinheit selbst nicht mehr erfinden wohl aber dem Inhalt nach fuumlr alleZukunft beschlieszligen dass nicht nur dieser sondern jeder Staat sei-nem Wesen gemaumlszlig in der Pflicht sei sich als raquoWirklichkeit der sitt-

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Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

13 Ebd 505 B14 Ebd 509 AndashB15 Ebd 505 A

lichen Ideelaquo (Hegel) zu bewaumlhren Uumlber diesen Beschluss hinausdachte Platon noch einen Schritt weiter denn es konnte nicht ge-nuumlgen einen Staat philosophischer Sittlichkeit lediglich zu gruumlndener musste auch erhalten werden ndash durch ein Kollegium integrer Ge-setzeshuumlter die das muumlhsam Erreichte unveraumlndert zu bewahren hat-ten16 Diese Position waumlre etwa im Arginusenprozess unbesetzt ge-wesen haumltte Sokrates sie nicht eingenommen und auf Einhaltungder Gesetze bestanden

Ebenso wie die vorgegebene Staatlichkeit hat auch das mit dieserverbundene demokratische System der Rechtspflege das das archai-sche Selbsthilfeprinzip abloumlste Eingang in Platons Philosophie gefun-den Die archaische Selbsthilfe bestand darin dass die durch einenUumlbergriff beleidigte Sippe der Sippe des Taumlters die Fehde ankuumlndigte(πρόρρησις) deren Beendigung durch Abschluss eines Suumlhnevertra-ges (αἴδεσις) erfolgte Dass bei dieser Form der Konfliktbeilegungdurch Aussoumlhnung die staumlrkere Sippe in der Regel ihre Loumlsungsvor-stellungen durchsetzte liegt auf der Hand Der Schritt fuumlr Schritterfolgte Gerichtszwang durch den der Staat erst allmaumlhlich das Mo-nopol der Rechtspflege uumlbernahm hatte zum Ziel dass anstelle zufaumll-liger Machtverhaumlltnisse die Systematik von Recht und Gesetz imStreit der Parteien entscheidet17 Diesen Sinn der nacharchaischenRechtsprechung hat Ovid mit dem Hexameter zusammengefasstinde datae leges ne firmior omnia posset (Fasten 3 279) Im Gor-gias-Dialog haumllt nun Platon der Rhetorik vor sie sei der methodischeVersuch gerade diese Errungenschaft der Rechtsprechung ruumlckgaumln-gig zu machen Kallikles ein Anhaumlnger des Rhetoriklehrers Gorgiasspricht unverhohlen aus dass Herakles voumlllig im Recht war Geryonesseine Rinder die er weder gekauft noch zum Geschenk erhalten hatteohne Bedenken zu stehlen da das von Natur Gerechte darin bestehedass alles Eigentum der Schwaumlcheren in Wahrheit dem Staumlrkeren ge-houmlre18 Sokrates haumllt Kallikles entgegen dass wahre Uumlberlegenheitnicht im Mehr-haben-Wollen sondern im Sittlich-besser-Sein be-stehe und beruft sich damit ebenso wie die Rechtsprechung auf ein

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Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

16 Platon Politeia 484 B Nomoi 752 DndashE 754 Dndash755 C 770 AndashD 847 AndashD 959 Dndash961 CIm Abschnitt zu raquoDemetrios Phalereus ndash oder die vierzehnte Wendelaquo wird diese pla-tonische Vorgabe noch eine wesentliche Rolle spielen17 Zu diesen nicht leicht zu rekonstruierenden Prozessen sei auf die im Literaturver-zeichnis genannten Aufsaumltze von E Ruschenbusch verwiesen18 Platon Gorgias 484 BndashC

systematisches Kriterium um die individuelle Machtperspektive inSchranken zu weisen Dass Sokrates bei seinem Gespraumlchspartnermit dieser Argumentation nicht durchdringt ist allein der Borniert-heit des Kallikles zuzuschreiben

Es ist nicht zu leugnen dass Platon ebenso wie der Oligarch Kal-likles den Besseren das Wort redete aber unter den Besseren wirklichBessere verstand die den Staat als sublimierte Oligarchie tragen soll-ten Von dieser Staatslehre gilt es also zu uumlberzeugen und das ver-suchte Platon auch ganz im Sinne des Sokrates zunaumlchst durch sach-liche Gespraumlchsfuumlhrung oder Dialektik (διαλέγεσθαι) die mitkurzen Saumltzen Rechenschaft fordert und gewaumlhrt Sokrates mochtekeine langen Reden die geeignet sind das Ausgangsthema nach eini-ger Zeit aus den Augen zu verlieren19 Auch mochte es Sokrates garnicht wenn Unterredner sich streitsuumlchtig (ἐρίζειν) an Worten fest-bissen statt am intendierten Inhalt20 Das richtet sich gegen Protago-ras der als Erfinder der Eristik Wortklauberei betrieb statt sich aufdie Bedeutung des Sachverhalts zu konzentrieren21 Insgesamt ist diesokratische Version von Dialektik ein Gegenentwurf zur raquosogenann-ten Kunst der Rhetoriklaquo22 die lediglich den Uumlberredungserfolg zumZiel hat und nicht etwa wohlbegruumlndete Wahrheiten herausarbeitenwill Nun musste Platon etwa im Gespraumlch mit Kallikles im Gorgiasoder mit Thrasymachos im ersten Buch der Politeia erkennen dassgerade seine Sachlichkeit bei Boumlswilligen auf taube Ohren stoumlszligt Erentwickelte daher noch in der Politeia einen uumlber Sokrates hinaus-gehenden Begriff von Dialektik die nicht diskutiert sondern dekre-tiert nachdem diese durch reines auf das Gespraumlch mit sich selbstkonzentriertes Durchdenken des Wesentlichen frei von sinnlichenEindruumlcken zum Ziel der Erkenntnis des Guten gelangt ist (532 AndashB) Weil somit Dialektik zustaumlndig wird fuumlr die Vergegenwaumlrtigungdes Guten in der politischen Welt darf auch nur der ausgewieseneDialektiker Staatenlenker werden (534 CndashD) der auf seinen Einsich-ten beharrt auch wenn ihm seine Mitbuumlrger die Zustimmung ver-weigern Gegen vordergruumlndige Rechthaberei von wem immer sieausgeht verteidigt Platon das Prinzip vernuumlnftiger Argumentationgegen die Kraumlfte ihrer Blockierung

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19 Platon Protagoras 336 AndashC Gorgias 474 B20 Platon Politeia 454 A21 Diogenes Laertios 9 5222 Platon Gorgias 448 D

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lichen Ideelaquo (Hegel) zu bewaumlhren Uumlber diesen Beschluss hinausdachte Platon noch einen Schritt weiter denn es konnte nicht ge-nuumlgen einen Staat philosophischer Sittlichkeit lediglich zu gruumlndener musste auch erhalten werden ndash durch ein Kollegium integrer Ge-setzeshuumlter die das muumlhsam Erreichte unveraumlndert zu bewahren hat-ten16 Diese Position waumlre etwa im Arginusenprozess unbesetzt ge-wesen haumltte Sokrates sie nicht eingenommen und auf Einhaltungder Gesetze bestanden

Ebenso wie die vorgegebene Staatlichkeit hat auch das mit dieserverbundene demokratische System der Rechtspflege das das archai-sche Selbsthilfeprinzip abloumlste Eingang in Platons Philosophie gefun-den Die archaische Selbsthilfe bestand darin dass die durch einenUumlbergriff beleidigte Sippe der Sippe des Taumlters die Fehde ankuumlndigte(πρόρρησις) deren Beendigung durch Abschluss eines Suumlhnevertra-ges (αἴδεσις) erfolgte Dass bei dieser Form der Konfliktbeilegungdurch Aussoumlhnung die staumlrkere Sippe in der Regel ihre Loumlsungsvor-stellungen durchsetzte liegt auf der Hand Der Schritt fuumlr Schritterfolgte Gerichtszwang durch den der Staat erst allmaumlhlich das Mo-nopol der Rechtspflege uumlbernahm hatte zum Ziel dass anstelle zufaumll-liger Machtverhaumlltnisse die Systematik von Recht und Gesetz imStreit der Parteien entscheidet17 Diesen Sinn der nacharchaischenRechtsprechung hat Ovid mit dem Hexameter zusammengefasstinde datae leges ne firmior omnia posset (Fasten 3 279) Im Gor-gias-Dialog haumllt nun Platon der Rhetorik vor sie sei der methodischeVersuch gerade diese Errungenschaft der Rechtsprechung ruumlckgaumln-gig zu machen Kallikles ein Anhaumlnger des Rhetoriklehrers Gorgiasspricht unverhohlen aus dass Herakles voumlllig im Recht war Geryonesseine Rinder die er weder gekauft noch zum Geschenk erhalten hatteohne Bedenken zu stehlen da das von Natur Gerechte darin bestehedass alles Eigentum der Schwaumlcheren in Wahrheit dem Staumlrkeren ge-houmlre18 Sokrates haumllt Kallikles entgegen dass wahre Uumlberlegenheitnicht im Mehr-haben-Wollen sondern im Sittlich-besser-Sein be-stehe und beruft sich damit ebenso wie die Rechtsprechung auf ein

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16 Platon Politeia 484 B Nomoi 752 DndashE 754 Dndash755 C 770 AndashD 847 AndashD 959 Dndash961 CIm Abschnitt zu raquoDemetrios Phalereus ndash oder die vierzehnte Wendelaquo wird diese pla-tonische Vorgabe noch eine wesentliche Rolle spielen17 Zu diesen nicht leicht zu rekonstruierenden Prozessen sei auf die im Literaturver-zeichnis genannten Aufsaumltze von E Ruschenbusch verwiesen18 Platon Gorgias 484 BndashC

systematisches Kriterium um die individuelle Machtperspektive inSchranken zu weisen Dass Sokrates bei seinem Gespraumlchspartnermit dieser Argumentation nicht durchdringt ist allein der Borniert-heit des Kallikles zuzuschreiben

Es ist nicht zu leugnen dass Platon ebenso wie der Oligarch Kal-likles den Besseren das Wort redete aber unter den Besseren wirklichBessere verstand die den Staat als sublimierte Oligarchie tragen soll-ten Von dieser Staatslehre gilt es also zu uumlberzeugen und das ver-suchte Platon auch ganz im Sinne des Sokrates zunaumlchst durch sach-liche Gespraumlchsfuumlhrung oder Dialektik (διαλέγεσθαι) die mitkurzen Saumltzen Rechenschaft fordert und gewaumlhrt Sokrates mochtekeine langen Reden die geeignet sind das Ausgangsthema nach eini-ger Zeit aus den Augen zu verlieren19 Auch mochte es Sokrates garnicht wenn Unterredner sich streitsuumlchtig (ἐρίζειν) an Worten fest-bissen statt am intendierten Inhalt20 Das richtet sich gegen Protago-ras der als Erfinder der Eristik Wortklauberei betrieb statt sich aufdie Bedeutung des Sachverhalts zu konzentrieren21 Insgesamt ist diesokratische Version von Dialektik ein Gegenentwurf zur raquosogenann-ten Kunst der Rhetoriklaquo22 die lediglich den Uumlberredungserfolg zumZiel hat und nicht etwa wohlbegruumlndete Wahrheiten herausarbeitenwill Nun musste Platon etwa im Gespraumlch mit Kallikles im Gorgiasoder mit Thrasymachos im ersten Buch der Politeia erkennen dassgerade seine Sachlichkeit bei Boumlswilligen auf taube Ohren stoumlszligt Erentwickelte daher noch in der Politeia einen uumlber Sokrates hinaus-gehenden Begriff von Dialektik die nicht diskutiert sondern dekre-tiert nachdem diese durch reines auf das Gespraumlch mit sich selbstkonzentriertes Durchdenken des Wesentlichen frei von sinnlichenEindruumlcken zum Ziel der Erkenntnis des Guten gelangt ist (532 AndashB) Weil somit Dialektik zustaumlndig wird fuumlr die Vergegenwaumlrtigungdes Guten in der politischen Welt darf auch nur der ausgewieseneDialektiker Staatenlenker werden (534 CndashD) der auf seinen Einsich-ten beharrt auch wenn ihm seine Mitbuumlrger die Zustimmung ver-weigern Gegen vordergruumlndige Rechthaberei von wem immer sieausgeht verteidigt Platon das Prinzip vernuumlnftiger Argumentationgegen die Kraumlfte ihrer Blockierung

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Platon und Aristoteles in Distanz zur attischen Demokratie

19 Platon Protagoras 336 AndashC Gorgias 474 B20 Platon Politeia 454 A21 Diogenes Laertios 9 5222 Platon Gorgias 448 D

Page 27: Platon und Aristoteles als Wegbereiter der praktischen ... · Differenzen zwischen Platon und Aristoteles ins Auge fallen. Wer jedoch Platon und Aristoteles zusammen gegen die später

systematisches Kriterium um die individuelle Machtperspektive inSchranken zu weisen Dass Sokrates bei seinem Gespraumlchspartnermit dieser Argumentation nicht durchdringt ist allein der Borniert-heit des Kallikles zuzuschreiben

Es ist nicht zu leugnen dass Platon ebenso wie der Oligarch Kal-likles den Besseren das Wort redete aber unter den Besseren wirklichBessere verstand die den Staat als sublimierte Oligarchie tragen soll-ten Von dieser Staatslehre gilt es also zu uumlberzeugen und das ver-suchte Platon auch ganz im Sinne des Sokrates zunaumlchst durch sach-liche Gespraumlchsfuumlhrung oder Dialektik (διαλέγεσθαι) die mitkurzen Saumltzen Rechenschaft fordert und gewaumlhrt Sokrates mochtekeine langen Reden die geeignet sind das Ausgangsthema nach eini-ger Zeit aus den Augen zu verlieren19 Auch mochte es Sokrates garnicht wenn Unterredner sich streitsuumlchtig (ἐρίζειν) an Worten fest-bissen statt am intendierten Inhalt20 Das richtet sich gegen Protago-ras der als Erfinder der Eristik Wortklauberei betrieb statt sich aufdie Bedeutung des Sachverhalts zu konzentrieren21 Insgesamt ist diesokratische Version von Dialektik ein Gegenentwurf zur raquosogenann-ten Kunst der Rhetoriklaquo22 die lediglich den Uumlberredungserfolg zumZiel hat und nicht etwa wohlbegruumlndete Wahrheiten herausarbeitenwill Nun musste Platon etwa im Gespraumlch mit Kallikles im Gorgiasoder mit Thrasymachos im ersten Buch der Politeia erkennen dassgerade seine Sachlichkeit bei Boumlswilligen auf taube Ohren stoumlszligt Erentwickelte daher noch in der Politeia einen uumlber Sokrates hinaus-gehenden Begriff von Dialektik die nicht diskutiert sondern dekre-tiert nachdem diese durch reines auf das Gespraumlch mit sich selbstkonzentriertes Durchdenken des Wesentlichen frei von sinnlichenEindruumlcken zum Ziel der Erkenntnis des Guten gelangt ist (532 AndashB) Weil somit Dialektik zustaumlndig wird fuumlr die Vergegenwaumlrtigungdes Guten in der politischen Welt darf auch nur der ausgewieseneDialektiker Staatenlenker werden (534 CndashD) der auf seinen Einsich-ten beharrt auch wenn ihm seine Mitbuumlrger die Zustimmung ver-weigern Gegen vordergruumlndige Rechthaberei von wem immer sieausgeht verteidigt Platon das Prinzip vernuumlnftiger Argumentationgegen die Kraumlfte ihrer Blockierung

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19 Platon Protagoras 336 AndashC Gorgias 474 B20 Platon Politeia 454 A21 Diogenes Laertios 9 5222 Platon Gorgias 448 D