Politik am Ende des 20. Jahrhunderts - Frank Deppe€¦ · 20. Jahrhunderts - Jahrhundertbilanzen -...

23
Frank Deppe Politik am Ende des 20. Jahrhunderts - Jahrhundertbilanzen - Das »Jahrhundert des Soziaiismus« - Vom »Ende der Geschichte« und der »Zukunft der Moderne« - Die Herausforderung: eine neue Qualität politischer Regulation - »Gewinner« und »Verlierer« - Vom keynesianischen Wohlfahrtsstaat zum neoliberalen Wettbewerbsstaat - Vergesellschaftung der Politik - Die Zukunft der Arbeit - Ein neuer Zyklus sozialer Auseinandersetzungen Supplement der Zeitschrift Sozialismus 9-1995 iC

Transcript of Politik am Ende des 20. Jahrhunderts - Frank Deppe€¦ · 20. Jahrhunderts - Jahrhundertbilanzen -...

Page 1: Politik am Ende des 20. Jahrhunderts - Frank Deppe€¦ · 20. Jahrhunderts - Jahrhundertbilanzen - Das »Jahrhundert des Soziaiismus« - Vom »Ende der Geschichte« und der »Zukunft

Frank Deppe

Politik am Ende des

20. Jahrhunderts

- Jahrhundertbilanzen

- Das »Jahrhundert des Soziaiismus«

- Vom »Ende der Geschichte« und der »Zukunft

der Moderne«

- Die Herausforderung: eine neue Qualität politischerRegulation

- »Gewinner« und »Verlierer«

- Vom keynesianischen Wohlfahrtsstaat zumneoliberalen Wettbewerbsstaat

- Vergesellschaftung der Politik- Die Zukunft der Arbeit

- Ein neuer Zyklus sozialer Auseinandersetzungen

Supplement der Zeitschrift Sozialismus 9-1995

iC

Page 2: Politik am Ende des 20. Jahrhunderts - Frank Deppe€¦ · 20. Jahrhunderts - Jahrhundertbilanzen - Das »Jahrhundert des Soziaiismus« - Vom »Ende der Geschichte« und der »Zukunft

Die Titelabbildung entstand 1975 und stammt von dem portugiesischen Karikaturisten Joäo Abel Manta. Bei der Originalkarikatursind die Konturen von Portugal auf die Tafel gezeichnet.

Supplement der Zeitschrift Sozialismus 10-95ISSN 0721-1171, Schutzgebühr DM 5,-© Sozialistische Studiengruppe (SÖST) e.V. 1995Redaktion Sozialismus. Klaus-Groth-Str. 33e, 20535 Hamburg, Telefon und Fax 040/250 1011Druck und Buchbindearbeiten; Idee, Satz und Druck, Hamburg

Page 3: Politik am Ende des 20. Jahrhunderts - Frank Deppe€¦ · 20. Jahrhunderts - Jahrhundertbilanzen - Das »Jahrhundert des Soziaiismus« - Vom »Ende der Geschichte« und der »Zukunft

Politik am Ende des 20. JahrhundertsBilanz und Perspektiven

von Frank Deppe

Jahrhundertbilanzen

Wir leben in einer Zeit des »Fin-de-sifecle«. Ein Jahrhun

dert geht zu Ende, das der große britische SozialhistorikerEric Hobsbawm zeitgeschichtlich sehr kurz terminiert: Esbeginnt erst 1914 und endet bereits 1991. Anfang undEnde sind geprägt von einer enormen Zuspitzung gesellschaftlicher Widersprüche. Hobsbawm spricht von einerArt »Triptychon« und zeichnet das Bild eines »historischen Sandwich«: »Einem Zeitalter der Katastrophen von1914 bis zu den Nachwehen des Zweiten Weltkriegesfolgten etwa fünfundzwanzig Jahre außerordentlichenwirtschaftlichen Wachstums und sozialer Transformation,durch die die menschliche Gesellschaft vielleicht grundlegender verändert wurde als in irgendeiner anderen Periodevergleichbarer Kürze... Der letzte Teil des Jahrhundertswareineneue ÄraderZersetzung, Unsicherheit und Krise- und für große Teile der Welt wie Afrika, die frühereUdSSR und die ehedem sozialistischen Teile Europas gareine Katastrophe«.' Der Jahrhundertzusammenhang vonKapitalismus, Demokratie und Soziaiismus ist ofrenkun-dig. Für Hobsbawm war die Welt, die Ende der achtzigerJahre in die Brüche ging, eindeutig durch den Einfluß derrussischen Oktoberrevolution des Jahres 1917 geprägt.Und gegen denZeitgeist^ müsse heute dieErklärungskraftder Marxschen Kapitalismusanalyse und -kritik im Blickaufden Übergang zum 21.Jahrhundert kritisch unter Beweis gestellt werden.

Der Begriff vom »Fin-de-si^cle« regt natürlich zu weiteren historischen Vergleichen - vor allem zum Ende des19. Jahrhunderts - an,^ alsunter denbürgerlichen Intellektuellen im Verbund mit der Nietzsche-Rezeption und demEinfluß der Philosophie von Henri Bergson (»Lebensphilosophie«) eine tiefe Krisenstimmung, Dekadenzerfahrung sich mit dem Bedürfnis nach (befreiender) »Aktion«, nach einem neuen Aufbruch (bis hin zum Krieg)vereinte'' - ein Bedürfnis übrigens, das nicht nur bei den»Kuiturpessimisten«, bei Thomas Mann oder bei den Futuristen, um nur einige wenige Strömungen zu nennen.

Supplement der Zeitschrift Sozialismus 10-95

lebendig gewesen ist, sondern von dem auch die kommunistische Bewegungam Ende des Krieges, nach der Oktoberrevolution und aufgrund der Ausstrahlung der überragenden Figiu- Lenins auch auf die intellektuelle Welt desWestensprofitierte(als nämlichviele vor 1914kulturpessimistische, dann nach 1914 zimächst kriegsbegeisterte,dann zutiefst enttäuschte junge Intellektuelle auf die andere Seite der Barrikade »überliefen«).

In beiden Konnotationen werden die Zusammenhänge,Wirkungen und Rückwirkungen deutlich, die es zu untersuchen gilt, wenn sowohl rückblickend (vorläufig) bilanzierend, wie ausblickend Entwicklungspfade der Politikam Ende des 20. Jahrhunderts diskutiert werden sollen.

In einem früheren Aufsatz zum Thema Kapitalismus undDemokratie^ bin ich der Frage nachgegangen, welchesdie Rückwirkungen• zum einen der Auflösung des Systemgegensatzes (derdie internationale wie die nationale Politik seit der Okto-

Frank Deppe ist Professorflir Politikwissenschaft an der UniversitätMarburg.Dieser Text beruht auf dem stark erweiterten und UberarbeitetenManuskript

eines Vortrages zum gleichen Thema, den ich im Februar 1995 bei der Stiftimg»Gesellschaftsanalyse und Politische Bildung« (Berlin) gehalten habe. Ichdanke Richard Detje fUr Aruegungen und die redaktionelle Bearbeitung.

' E. Hobsbawm, Ageof Extremes. The ShortTwentieth Century, London1994, S. 6.

' Vgl. dazu die Rezension des Buches von Hobsbawm von F. Augstein,»Olympische I}ialektik« in der ZEIT vom 10. Februar 1995.

' F.Deppe, DerSozialismus unddiegeistige Situation amEndedeslahrhun-derts, in: H. Giebingu.a. (Hrsg.),Sozialismusin Europa- BilanzundPerspektiven, Essen 1989,S. 26 IT. Besonders ausgeprägt waren solche Krisenstimmun-genim Übergang vom15.zum 16.Jahrhundert inOberitalien, als- voraltemInFlorenz - die Glanzperiode der Medici 1492 zu Ende ging und ausländischeTruppen über Italien herfielen. Vgl. dazu F. Deppe, Niccolb Machiavelli. ZurKritik der reinen Politik, Köln 1987.

'* Vgl. dazu u.a. H.S. Hughes, Consciousness andSociety. TheReorientationof European Social Thought, 1890-1930, New York 1961; G. Lichtheim,Europa im 20. Jahrhundert. Eine Geistesgeschichte der Gegenwart, Mttnchen1993; R. N. Stromberg, European Imellectual History since 1789, EnglewoodCliffs, NJ. 1990 (5th ed.).

' F. Deppe, Kapitalismus und Demokratie. Ist die Marxsche Kritik derPolitik überholt?, in: Sozialismus, 9/1993, S. 44ff.

Page 4: Politik am Ende des 20. Jahrhunderts - Frank Deppe€¦ · 20. Jahrhunderts - Jahrhundertbilanzen - Das »Jahrhundert des Soziaiismus« - Vom »Ende der Geschichte« und der »Zukunft

berrevolution des Jahres 1917, dann aber vor allem nach1945 strukturiert hatte), und• zumanderender itmerenEntwicklimgswidersprüche derfortgeschrittenen kapitalistischen Gesellschaften desWestens (die ich als löisenhafte Auflösung der Kohärenzzwischen Akkumulationsregime und Regulationsweise,die die sog. »fordistische« Formation des Kapitalismusausgezeichnet hatte, gefaßt hatte)aufdieFunktionsbedingungen undWiderspruche derpolitischen Systeme sind (genauer. Legitimationskrisen derdemokratischen Systeme, Krise der »alten Parteien« ineinigen Ländern, von denen Italien ein herausragendesBeispiel ist, PolitikverdrossenheitundKrisedes»Wohlfahrtsstaates«®).

Damit ist die Thematik aufgeworfen, ob und wie in einer internationalen Debatte, die die Notwendigkeiteines neuen »Klassenkompromisses« (im Sinne des Kampfes für einePolitik der Re-Regulation) betont,linke Positionen »verortet« werden

können. In der Diskussion um einen

neuen Gesellschafisvertra^ geht esletztlich darum, das Terrain fiir dieAuseinandersetzung um einen neuenTyp der Kohäsion von Akkumulationsregime und Regulationsweisezu sondieren bzw. das Terrain für das

Verhälmis von Staat/Politik undÖkonomie - vor allem im Bereichder Entwicklung der »Arbeitsgesellschaft« - neu zu vermessen. Dabei

umfaßt der >Gesellschaftsvertrag<mehr, als mit der Kennzeichnung>Klassenkompromisse< angezeigt ist:nämlich die in der kapitalistischen Produktionsweise notwendigen staatlich-institutionellen Arrangements der Regulationsweise, die von der gesetzlichen Normierung desArbeitstages bis zur sozialen und kulturellen Infrastrukturreichen. Der >Gesellschaftsvertrag< ist insofern nicht nurdie »imgeschriebene Verfassung des historischen Blocks«(Robert W. Cox), sondern ebenso die in Richtlinien, Verordnungen, Gesetzen geschriebene und - in Sozialeinrichtungen wie Datenhi^ways - vergegenständlichte. Die»Staatsfalle«, in die die sozialistische und kommunistischeArbeiterbewegung so häufig gerannt ist, obgleich sie das»Absterben des Staates« symbolisch vor sich her trug, istgrundsätzlich auch heute - bei allen zivilgesellschaftlichen Fortschritten - keineswegs eingeebnet.

Bei dem Ins-Maß-Nehmen stellt sich schließlich die

Frage nach den möglichen Kräften, Subjekten und Bündniskonstellationen, kurz nach den Trägem eines neuenhistorischen Blocks, die die soziale Basis für die Durchset-

zung eines neuen Gesellschaftsvertrages für den Beginndes 21. Jahrhundertsjenseits der Perspektive tiefer Gesellschaftsspaltungen darstellen könnten.

Derzeit erleben wir eine tiefgreifende welthistorischeZäsur,® in der alte Suukturen, Institutionen und auchDenksysteme sich aufgelöst haben und zerbrochen sind- eine Epoche der »Unübersichtlichkeit« (Habermas), derUngewißheit und der Krise, eine Epoche, in der sich schonnach kurzer Zeit die Euphorie der »Sieger« in der Systemkonkurrenz merklich abgekühlt hat, eine Epoche der globalen Restmkturierung von Machtbeziehungen (nicht nurin Europa), eine Epoche der »Turbulenzen« (J. Rosenau).

Dabei besteht »das Paradoxe der gegenwärtigen Situation gerade darin,daß in einer Zeit des notwendigenpolitischen Gestaltungsbedarfes fürein zu vereinigendes Deutschland,für ein neues Europa und für eineneue gerechte Weltordnung, sich dieWeltwirtschaft, oder zumindest ihrKern, die Triade: USA, Japan/Pazifischer Raum, Westeuropa, immermehr ökonomisch und politisch desintegriert«, ein Prozeß, der zugleichdas Nachdenken »Uber Alternativen

zum herrschenden liberaldemokrati

schen Gesellschaftsprojekt« allenthalben (strukturell) blockiert.'

Zu Recht haben Gilbert Ziebura

u.a. das Fehlen von Visionen oder

auch nur von Konzepten beklagt, umauf die neuen Herausforderungen zuantworten. Wenn dieser Zustand

fortbesteht, »dann freilich darf sichniemand wundem, wenn eine allge

meine, zunächst untergründige Malaise entsteht, die baldan die Oberfläche der Gesellschaft gelangt und sich alsMißmut, Verzagtheit, Politikverdrosssenheit, dann alsOrientiemngslosigkeit äußert und schließlich in Apathieoder Bereitschaft zu Gewalt mündet. Inzwischen geratenHerrschaftsverhälmisse, in denen man sich eingerichtethatte, ins Schwimmen, ohne daß sich jemand einen Versdarauf macht. Alle starren aufdie Regierenden und erwarten von Urnen, was sie unter den obwaltenden Umständenam wenigsten zu geben imstande sind: Führung. Sie praktizieren das, was sie gelemt haben: einen kmden Pragmatismus, Politik von der Hand in den Mund und tun dabeiso, als hätten sie die Dinge im Griff. Aber jedermannspürt, daß dieses Spiel nicht ewig dauem kaim«.''

AI IC Starren auf die Re

gierenden und erwarten,was sie am wenigsten zugeben imstande sind:Führung. Sie praktiziereneinen kruden Pragmatismus, Politik von der Handin den Mund und tun da

bei so, als hätten sie dieDinge im Griff. Aber jedermann spürt, daß dieses Spiel nicht ewigdauern kann.

Supplement der Zeitschrift Sozialismus 10-95

Page 5: Politik am Ende des 20. Jahrhunderts - Frank Deppe€¦ · 20. Jahrhunderts - Jahrhundertbilanzen - Das »Jahrhundert des Soziaiismus« - Vom »Ende der Geschichte« und der »Zukunft

Das »Jahrhundert des Sozialismus«

Werfen wir einen Blick auf die Jahrhundertbilanzen. In

einem Punkt stimmen die Beobachter überein: DiesesJahrhundert zeichnete sich durch außergewöhnliche Ge-wa//anwendung aus. Mehr Menschen als je zuvor in derGeschichte wurden durch Kriege, durch politische Unterdrückung und andere Formen der Gewalt (Elend, Krankheiten, Hunger) getötet. »Man muß schon düstere Jahrhunderte heranziehen, um einen Vergleichsmaßstab zu bekommen; das 14. Jahrhundert mit der großen Pest, denJudenpogromen und den Verwüstungen der Mongolenstürme, oder das 17. Jahrhundert mit seinem religiösenFanatismus, dem massenhaften Mord an Frauen und Männern unter dem Vorwurf der Hexerei, den endlosen Kriegen, von denen der Dreißigjährige nur einer war. Sicherist, daß im 20. Jahrhundert weitaus mehr Menschen der

Gewalt und dem Elend zum Opfer gefallen sind als injedem anderen Jahrhundert«." Auschwitz und Hiroshimabezeichnen zwei Orte, an denen sich symbolisch das unfaßbare Gewalt- und Zerstörungspotential der Politik undder Gesellschaften des 20. Jahrhunderts konzentrieren.

Der spezifische Widerspruch dieses Jahrhunderts besteht freilich nicht allein in diesen Explosionen der Gewalt, sondern gerade darin - so zitiert Hobsbawm denberühmten Geiger Yehudi Menuhin -, »daß es die größtenHofftiimgen weckte,diejemals von der Menschheitartikuliert wurden, und daß es alle Illusionen und Ideale zerstörte«.'^ Niemals zuvor in der Geschichte war das Potentialder wissenschaftlich-technischen und menschlichen Pro

duktivkräfte so hoch entwickelt (und so dynamisch), umdie materiellen und kulturellen Lebensbedingungen derMenschheit zu verbessern; und niemals zuvor haben sichgerade diese Produktivkräfte - nicht nur in den modernenWaffensystemen, sondern auch in den modernen »Risikotechnologien« - in Waffen der Gewalt und der Zerstörung(des menschlichen Lebens wie der Natur) transformiert.

Zugleich aber istdas 20. Jahrhundert »eine Ära umfassender Demokratisienmgs- und Emanzipationsprozesse,in deren Ablauf überkommene Herrschaftssysteme zerfielen, traditionelle Abhängigkeitsverhälmisse gesprengtwurden«.'̂ ZuBeginn desJahrhunderts herrschten in weiten Teilen der Welt - auch in Europa - feudale bzw.spätfeudale Herrschafts- und Abhängigkeitsverhälmisse,die Kolonialreiche beherrschten die Peripherie; selbst diebescheidensten Fortschritte der Demokratisierung (z.B.das allgemeine Wahlrecht) harrten in den Metropolen desWestens noch der Durchsetzung; die Öffnung des Bildungssystems und die Verbesserung des Lebensstandards,der Wohnverhälmisse, der Gesundheitsversorgung usw.standen erst bevor.

Niemals zuvor waren die Hoffnungen und Erwartungenso hoch gesteckt wie zu Beginn dieses Jahrhunderts. In

Supplement der Zeitschrift Sozialismus 10-95

der bürgerlichen Welt dominiertenochjenes Fortschrittsbewußtsein, dasdie Entwicklung des industriellen Kapitalismus mit der Vorstellung vom unaufhaltsamen Fortschritt bei der Verbesserung der Lebensbedingungen undbei der Realisierung der liberalen Ideen von den Menschenrechten, der individuellen Freiheit und der repräsentativen Demokratie verknüpfte. Auf der anderen Seitesteht jener selbstbewußte Optimismus und Fortschrittsglauben, der aus dem Aufschwung der sozialistischen Ar-beiterbewegimg hervorgegangen war. In der >DeutschenMetallarbeiterzeitung< vom 6. Januar 1900 (ich wähle hierbewußt eine Quelle, die mehr das Alltagsbewußtsein inder damaligen Arbeiterbewegung artikuliert) wurde derGruß an das kommende Jahrhundert wie folgt formuliert:»An der Jahrhundertwende beginnen wir den neuen Zeitabschnitt mitderfesten, unerschütterlichen Überzeugung,daß es dem Sozialismus, der den heftigsten Stürmen getrotzt und sich als unverwüstliche und unbesiegbare Machterweisen hat, den endlichen und vollen und dauerndenSieg bringen wird. Und in dieser erhebenden und begei-stemden Hoffnung rufen wir an der Jahrhundertwendeunseren Lesem zu: ein fröhliches Prosit Neujahr!«.'"*

Die Utopien des Liberalismus gingen im Ersten Weltkrieg, in den Krisen der Zwischenkriegsperiode - vorallemin der großen Weltwirtschaftskrise nach 1929- undschließlich im Faschismus und im Zweiten Weltkrieg »zuBruch«. Die sozialistischen Utopien erhielten nach derOktoberrevolution und vor allem nach dem Ende des

Zweiten Weltkrieges einen mächtigen Auftrieb und wurden - im sozialistischen Staatensystem, in den kapitalistischen Metropolen und vor allem in der sog. Dritten Welt- zur mächtigsten ideologischen Antriebskraft für die gesellschaftlichen und politischen Entwicklungsprozessedieses Jahrhimderts. Sie zerschellten schließlich - nach-

' F. Deppe, Kapitalismus und Oemokralie. Ist die Marxsche Kritik derPolitik überholt?, in; Sozialismus, 9/1993, S. 44rf.

* Vgl.dazujetzt H. J. Bieling, Politische Systeme unterTransformations-druck- soziale Desintegration und institutionellerWandel in Westeuropa, in;ders./F. Deppe(Hrsg.),Entwicklungsprobleme des europäischenKapitalismus,Marburg 1994 (FEG-Studien, Band 4), S. 11-30.

^F.Deppe, Einneuer Gesellschaftsvertrag. Anmerkungen zueinem transnationalen Krisendiskurs, in: Sozialismus. 7/94. S. TStf.

' Vgl. dazu u.a.F. Deppe, Jenseits der Sy.stemkonkurrenz. Überlegungenzur neuen Weltoidnung, Marburg 1991 (2. Aufl.).

' J. Esser, Die Suche nach dem Primat der Politik, in; S. Unseld (Hrsg.),Politikohne Projekt? Frankfuii/Main 1993,S. 409ff., hier S. 410/1 und S. 429.

M. Bonder, B, Röttger, G. Ziebura, Deutschland in einer neuen Weltära.Die unbewältigten Herausforderungen, Opladen 1992, S. 9/10.

'' P.Scherer,Burgfrieden. Bürgerkrieg, Bananenrevolution, in;Sozialismus,11/1994,S, 51 ff.; vgl, auch K. Detmutz, An der Schwelle zum 3. Jahitausend,in; Freitag vom 6. Januar 199S.

ZU. n. E. Hobsbawm, Age of Extremes, a.a.O., S. 2." I. Fetscher/H. MOnkler. Vorwort, in; dies.(Hrsg.), Pipers Handbuch der

politischen Ideen, Band S: Neuzeit, München/Zürich 1987, S. 20." Zit. n. W. RoBmann, Vom mühsamen Weg zur Einheit. Lesebuch zur

Geschichte der Kölner Metall-Gewerkschaften, Band I, Hamburg 1991, S.203/204.

Page 6: Politik am Ende des 20. Jahrhunderts - Frank Deppe€¦ · 20. Jahrhunderts - Jahrhundertbilanzen - Das »Jahrhundert des Soziaiismus« - Vom »Ende der Geschichte« und der »Zukunft

dem die stalinistischen Exzesse der dreißiger Jahre schondie erste große Welle der Enttäuschungen und Abwendungen ausgelöst hatten - an den Klippen des »Dritten Weltkrieges«,'̂ des- wie Valentin Falin berichtet - desöfterensehr heißen »Kalten Krieges«. Es war nicht allein dieInstrumentalisierung des kritischen, marxistischen Denkens für die Sicherung der kommunistischen Parteiherrschaft in der Sowjetunion (und auch für die Verbrechen,die im Namen des Kommunismus begangen wurden), sondern auch für die politischen und ideologischen Grabenkämpfe im Kalten Krieg, die schon früh die Kraft des»utopischen Denkens« ausgezehrt hatten. Die kurze Blüteder Marxismus-Renaissance der

sechziger und frühen siebziger Jahre(im Westen wie im Osten, dort allerdings mit Repression konfrontiert)hat im Bewußtsein zahlreicher Intel

lektueller zeitweilig diesen langfristig wirkenden Trend verschleiert.

In diesem Sinne kann dieses 20.

Jahrhundert durchaus als ein Jahr

hundert des Sozialismus bezeichnet

werden: in dem Versuch, den Sozialismus als eine andere - nicht-kapitalistische - Gesellschaftsordnung aufzubauen, ihn femer als Konzept fürdie Durchsetzung der nationalen Unabhängigkeit und der Überwindungder Unterentwicklung zu rezipierenund schließlich - hier paßt Dahrendorfs Formel vom »sozialdemokrati

schen Jahrhundert« - als Anstren

gung des reformistischen Sozialismus, den hochentwickelten Kapitalismus wohlfahrts- und interven

tionsstaatlich zu »zivilisieren«. Es war ein »Jahrhundert

des Sozialismus« sowohl in seinen Wirkungen auf dieantisozialistischen und antikommunistischen Gegenstrategien (die immerhin für einen erheblichen Teil der Gewalttaten dieses Jahrhunderts verantwortlich gewesen sind),als auch aufgrund der inneren Widersprüche (und Gewalttaten) in der sozialistischen Welt selbst. Bis fast zumbitteren Ende hat der optimistische »Glaube« an die Fortschritts- und Friedenspotentiale der sozialistischen Staatengemeinschaft und der Arbeiterbewegung fortbestanden, d.h. der »Glaube«, daß die Menschheit im 20. Jahrhundert inderEpoche desgesetzmäßigen Übergangs vomKapitalismus zum Sozialismus sich befinde.'̂

Und doch wäre es ganz falsch, dieses Jahrhundert alseine Epoche des Kampfes der Ideologien (deren Trägerzur Erringung von Macht zum Mittel der Gewalt greifen)zu charakterisieren.'̂ So gelangt manleicht zujenenkonservativen, kulturpessimistischen Interpretationen, die das

Jahrhundert (schon zu Beginn) - im Geiste Nietzsches -als das »Jahrhundert des Nihilismus« bezeichnet haben.

Noch 1930 eröffnete Karl Jaspers seine Analyse der »Geistigen Situation der Zeit« mit der Krisendiagnose, daß wir»vor dem Nichts stehen«.'̂ Oderwirgelangen schnell zujener Mythologisierung des »Weltbürgerkrieges« beiEmst Nolte,'^ der schließlichMarxismus undBolschewismus für die Verbrechen des Faschismus verantwortlich

macht und diesen in seiner Funktion der Abwehr des

Bolschewismus rechtfertigt. Die politischen Ideologienstanden stets in einem unmittelbaren Zusammenhang mitrealen gesellschaftlichen und politischen Herrschaftsinte

ressen und dem Kampfum Machtpositionen, um diese Interessen zu verteidigen, zu expandieren oder - »vonunten« - zu artikulieren und durch

zusetzen. Die Wirksamkeit von Ideo

logien - z.B. die Rolle des »Marxismus-Leninismus« nach 1917 in der

sog. Dritten Welt, zunächst vor allemin Asien (z.B. auf höchst unterschiedliche Weise in China und In

dien) - wird überhaupt nur dannrichtig zu begreifen sein, wenn diekonkreten Lebensverhältnisse der

Volksmassen (das unglaublicheMassenelend, die Demütigung durchdas Ausland, die politische Zersplitterung, die verschiedenen Formender kulturellen Rückständigkeit usw.usf.) in den Blick genommen werden.

Fragen wir nach den dominantenWiderspruchs- und Konfliktformationen, die die Gewaltexplosionen

dieses Jahrhunderts verursacht und vorangetriel»n haben,so erschließt sich ein komplexes Geflecht von Interessenund Widersprüchen. Und doch lassen sich diese Formationen in erster Linie auf die innere Entwicklungsdynamikdes »kapitalistischen Weltsystems« (Wallerstein) bzw. dervom Imperialismus beherrschten nationalen und internationalen Ordnung zurückführen.• Erstens die machtpolitischen Interessenkonflikte zwischen den imperialistischen Staaten. Hier liegen die politischen Voraussetzungen für die beiden Weltkriege, ftir die»imperialistischeAufteilung der Welt«, aber auch für dieWirksamkeit von Ideologien wie dem Sozialdarwinismus,dem Nationalismus und dem Rassismus.

mZweitens die sozialen und politischen Klassengegensätze in den entwickelten kapitalistischen Gesellschaften.Um diese Achse zentrieren sich nicht allein die Kämpfefürdie Überwindung sozialer Ungleichheit, sondern auchdie Kämpfe um die Erweiterung der politischen und sozia-

Bis zum bitteren Ende hat

der »Glaube« an die Fort

schritts- und Friedenspotentiale der sozialisti

schen Staaten und der

Arbeiterbewegung fortbestanden - der »Glau

be«, daß die Menschheitim 20. Jahrhundert in der

Epoche des gesetzmäßigen Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus

sich befinde.

Supplement der Zeitschrift Sozialismus 10-95

Page 7: Politik am Ende des 20. Jahrhunderts - Frank Deppe€¦ · 20. Jahrhunderts - Jahrhundertbilanzen - Das »Jahrhundert des Soziaiismus« - Vom »Ende der Geschichte« und der »Zukunft

len Demokratie. Immerhin bedurfte es der revolutionärenKlassenkämpfe am Ende des Ersten Weltkrieges, um inDeutschland - aber auch in anderen Ländern - elementare

Forderungen der bürgerlichen Revolutionen wie z.B. dasallgemeine Wahlrecht durchzusetzen.• Drittens der Gegensatz zwischen den kolonialen (bzw.halbkolonialen) Metropolen und der »Peripherie«. SeitBeginn dieses Jahrhunderts setzte der Kampf um nationaleUnabhängigkeit und Überwindung derUnterentwicklungein. Er steigerte sich in der Zwischenkriegsperiode undvollendete sich im Medium extrem gewaltsamer Bürgerkriege und Kriege (die dann, wie z.B. der Viemam-Kriegim Zeichen der Systemkonkurrenz, später sogar desBruchs zwischen der KPdSU und der KP Chinas standen)weitgehend bis zum Ende der fünfziger Jahre.• Schließlich viertens - nach 194S- die globale Konfliktformation des »Kalten Krieges«, die alle anderen Konstellationen »überdeterminierte« und zugleich auf die innerenEntwicklungsbedingungen in den jeweiligen Systemenzurückwirkte. Sie schuf im Westen - zusammen mit der

Hegemonie der USA - die Rahmenbedingungen für das»Golden Age« des westlichen Metropolenkapitalismus.^"Auf der Basis eines außergewöhnlichen ökonomischenWachstums sowie des Aufbaus sozialstaatlicher Siche

rungssysteme etablierte sich eine - aus der Perspektiveder ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts unerwartet lange -Periode der Stabilität demokratischer Regime in diesenLändern.

In der ersten Hälfte des Jahrhunderts - nach der Kata

strophe von 1914, die den endgültigen Abschied von derWelt und Gesellschaft des 19. Jahrhunderts bedeutete^'- tendierten diese Interessengegensätze zu einer extremenPolarisierung zwischen den Staaten und zwischen denKlassen. In der Zeit des »Kalten Krieges« dagegen verfestigten sie sich zu einer Polarisierung, die die unmittelbareGewalt weitgehend »extemalisierte«(Nord-Süd-Konflikt,der allerdings als Ost-West-Konflikt ausgetragen wurde).Im Inneren der beiden Systeme verstärkte sich jedoch eineIntegrationstendenz und -politik, die darauf gerichtet war,das Aufbrechen der inneren Konflikte weitgehend unterKontrolle zu halten.^^ Gewiß gabes auch Entwicklungswidersprüche, die aus der inneren Entwicklung der sozialistischen Systeme und den Beziehungen zwischen den sozialistischen Staaten resultierten, und diese Widersprüchehatten ihrerseits einen wesentlichen Einfluß auf die

schließlichen Resultate der Systemkonkiurenz. Dies relativiert jedoch keineswegs die Dominanz jener Widerspruchskomplexe und Konfliktkonstellationen, die mit derEntwicklung des »kapitalistischen Weltsystems« verbunden sind. Insoweit trifft die Formel vom »Jahrhundert des

Sozialismus« nur insoweit zu, als die Herausforderungdurch den »Sozialismus« die wesentliche Herausforde

rung dieses kapitalistischen Weltsystems gewesen ist.

Supplement def Zeitschrift Sozialismus 10-95

Linke Politik am Ende des 20. Jahrhunderts wird sichnoch sehr viel intensiver als bisher um die Klärung deskollektiven Gedächtnisses bemühen müssen, um das Felddergeschichtlichen Aufarbeitung wederdenTotengräbemnoch den »Abwicklern« imd »Nachlaßverwaltern« desSozialismus zu überlassen. Dazu bedarf es einer »rücksichtslosen,grausamen, bis auf den Grund der Dinge gehendenSelbstkritik«(RosaLuxemburg).Nichts wäre fataler als die Beteiligung an neuen Geschichtsmythen, wonur nüchterne Aufarbeitung der Fehlentwicklungen undIllusionen weiterhilft. Dabei sollten allerdings die Motiveund Ziele nicht vergessen werden, die das Handeln derAkteure vor allem auf Seiten der kommunistischen undsozialistischen Arbeiterbewegung, in den demokratischenund antiimperialistischen Bewegungen dieses Jahrhunderts leiteten und ihre Moral inspirierten: die Menschenwürde und der Humanismus, der Pazifismus und die Idee

Zur Metapher vom »Dritten Weltkrieg« vgl. P. Sloterdijk, Falls Europaerwacht, Frankfurt/Main 195*4, S. 29.

Vgl.z.B.F. Rupprecht, Realer Optitnismus, Berlin 1983; schon sehrvielzuiückhaltender und differenzierter W. Eichhom/W. Küttler, »...daB Vernunftin der Geschichte sei«, Berlin 1989.

So K. D. Bracher,Zeit der Ideologien. Eine Geschichte des politischenDenkens im 20. Jahthundett, Stuttgart 1984.

" »Es ist wohl ein Bewußtseinverbreitet: alles versagt; es gibt nichts, dasnicht fragwürdig wäre; nichts eigentliches bewählt sich;es ist ein endloserWirbel,der im gegenseitigen Betrügenund Sichselbstbetiügen durch Ideologien seinen Bestand hat. Das Bewußtsein des Zeitalters löst sich von jedemSein und beschäftigt sich mit sich selbst. Wer so denkt, fühlt sich zugleichselbst als nichts. Sein Bewußtseindes Endes ist zugleichNiehtigkeitsbewußt-seinseineseigenenWesens«. K.Jaspers,DiegeistigeSituation derZeit(1930),Berlin 1979, S. 13/17.

Vgl. u.a. E. Nolte, Der europäische Bürgerkrieg 1917-1943, in: ders.,Lehrstück oder Tragödie? Beiträge zur Intepretation der Geschichte des 20.Jahrhunderts, Köin/Weimar/Wien 1991, S. 19ff.

^ Vgl. S. A. Marglin/I.B. Schnor (Eds.). TheGolden Age of Capitalism,Oxford 1990.

Vgl.dazu E. Kobsbawm, Das imperiale Zeitalter. 1873-1914, Frankfurt/NewYork 1989,S. 22/23.»Wasam 1. August 1914 in Europageschah,kannkeine Geschichteder Ursachenund Veranlassungen,die zum Ersten Weltkriegfühlten, und keine Analyse der Motive und Hintergedanken, die hinter denoRiziellenKriegserkläitmgen lagen,erhellen.Das Schlaglichtder Katastrophetrug uns heute noch so blenden, daßwirdie Konturen der Ereignisse nurmitMühe sehen und nachziehen können; es ist Jedenfalls das einzige Licht, daswir haben, undes beleuchtet,wie alleEreignisse, die ihr Licht in den Geschehniszusammenhangder Geschichte werfen, nicht nur sich selbst, sondern seineeigene Vergangenheit und seine unmittelbare Zukunft. Wir körnten aus derGeschichte des neunzehnten Jahrhunderts den Ersten Weltkrieg nicht >erkia-ren<; aber wir können gar nicht anders, als im Lichte dieser KatastrophedasJahrhundert verstehen, das in ihr sein Ende fand«. H. Arendt. Elemente undUrsprünge toraler Herrschaft, München 1993,S. 422.

^ »Ausgeweitet zu einemganzen System vonHerrschaft undGleichschaltung, bringt der technische FortschrittLebensformen (und solche der Macht)hervor, welche die Kiäfte, die das System bekämpfen, zu besänftigen undallen Protest im Namen der historischen Aussichten auf Freiheit von schwererArbeit und Herrschaft zu besiegen oder zu widerlegen scheinen. Die gegenwärtige Gesellschaft scheint imstande, einen sozialen Wandel zu unterbinden-eine qualitative Veränderung,die wesentlichandere Institutionendurchsetzenwürde, eine neue Richtungdes Produktionsprozesses, neue Weisen des menschlichen Daseins«, H, Marcuse, Der eindimensionale Mensch (1964), Neuwiedund Berlin 1970, S. 14. Die neuere Arbeit von M. Kaldor, Der imaginäreKrieg. Eine Geschichte des Ost-West-Konflikte, Hamburg,Berlin 1992,charakterisiert in diesem Sinne den »Kalten Krieg« als ein »Geschäft auf Gegenseitigkeit zwischen Atlantizismusund Stalinismus« (S. 238/9).

Page 8: Politik am Ende des 20. Jahrhunderts - Frank Deppe€¦ · 20. Jahrhunderts - Jahrhundertbilanzen - Das »Jahrhundert des Soziaiismus« - Vom »Ende der Geschichte« und der »Zukunft

des friedlichen Zusammenlebens der Völker (gegen denChauvinismus und Militarismus), das Ideal der transnationalen Solidarität zwischen den Menschen (gegen Rassismus und Kolonialismus),das Idealder sozialen Gerechtigkeit und der Hebung des kulturellen Niveaus der Volksmassen (gegen das elitäre Denken der herrschenden Klassen).

Ob die Geschichte noch im Scheitern großer politischerExperimente solche positiven Impulse und Kräfte der moralischen Überlegenheit zuspeichern vermag, um siespäter zu ihrem Recht kommen zu lassen, sei dahingestellt.Jedenfalls sollte es die Linke nicht einfach passiv hinnehmen, daß bei den Siegesfeiern überden gescheiterten sog. »realen« Sozialismus auch das Scheitern dieser

Ideale als fall accompli im herrschenden Bewußtsein anerkarmt

wird. Immerhin steht das bürgerlicheKrisenbewußtsein des frühen 20.

Jahrhunderts im Zeichen des Gleich

heitsgrundsatzes der Aufklärung undder bürgerlichen Revolution. DieVerkündigung der Menschen- undBürgerrechte im Geiste Rousseauswar der »große historische Fehltritt«,der aus der Sicht des konservativen

Bewußtseins die Krise der Moderne

einleitete. Diese wurde im frühen 20.

Jahrhundert gerade darin wahrgenommen, daß die Volksmassen sichanschickten, in die Politik einzugreifen: allgemeines Wahlrecht als Verwirklichung der Demokratie undEingriife in die Eigentumsverhältnisse und den Markt als Kern einer

neuen Politik gegen soziale Ungleichheit. Die reaktionäreWende im bürgerlichen Denken (»2^rstörung der Vernunft«; »Dialektik der Aufklärung« etc.) war auch eineReaktion aufdiese moralische Überlegenheit desSozialismus (und dabei geht es selbstverständlich nicht nur umIdeen, sondern um die Veränderung und Gestaltung derkonkreten Lebensverhälmisse).

Vom »Ende der Geschichte«und der »Zukunft der Moderne«

Mit solchen Überlegungen nähern wir uns der »Politikam Ende des 20. Jahrhunderts«. Zwei Paradigmen stehenim Zentrum der Diskussion:

• erstens die These vom »Ende der Geschichte«, genauerdie These vom endgültigen Sieg des Liberalismus: kapitalistische Marktwirtschaft plus pluralistische, repräsentati-

ve Demokratie;• zweitens die Interpretation der Epoche im Lichte desmodemisierungstheoretischen Paradigmas.

Fukuyamas populäre Formel vom Ende der Geschichtebesagte zunächst, daß dieses Jahrhundert »voller Vertrauen auf den Endsieg der westlichen liberalen Demokratiebegann«, daß es danach in einen Abgrund ideologischerGewalt stürzte (Faschismus, Bolschewismus), und daß esam Ende zu seinen Anfängen zurückkehrt: zu einem »klaren Triumph des wirtschaftlichen und politischen Liberalismus«. '̂ Joachim Festhatdiese These vom endgültigenSiegder marktwirtschaftlichendemokratischenPrinzipien

- die gleichsam das Zentrum desherrschenden Bewußtseins markiert

- noch zugespitzt: Der Sozialismussei endgültig »Stoff für Historikergeworden«; ein Leben ohne Utopiensei ein Leben ohne den »Terreur der

Ideen«.'"*Doch nur kurze Zeit nach den Sie

gesfeiern der Jahre 1989/90 überwiegt auch im liberal-konservativenLager die Skepsis und Ernüchterunggegenüber den Thesen von Fukuya-ma. Für die internationale Politik

häufen sich die Studien und Analysen, die von einer neuen turbulentenWeltordnung des Giaos, von einem»neuen Mittelalter« (Alain Mine),von einer Welt »out of control«

(Breszinski), von einem »Zusammenprall der Zivilisationen« (S.Huntington) ausgehen. Ebensonimmt in der Innenpolitik - in allenkapitalistischen Metropolen - die

Unsicherheit zu, ob die liberalen Ordnungssysteme tatsächlich den gewaltigen Herausforderungen standhalten,die nunmehr nach dem Ende der Systemkonkunenz zubewältigensind. Joachim Fest selbst hat den Zweifelgeäußert, ob - nachdem der kommunistische Gegner verlorengegangen ist - Rechtsstaatlichkeit,Wohlstandund Freiheitbewahrt werden können: »Inzwischen müssen jene Ordnungen die so lange geborgte Kraft aus sich selbst hervorbringen, und die Frage ist, obsie dazu inderLage sind«."Hieraus folgt nicht allein der Hinweis, daß der »Sozialstaat« als ein typisches Produkt des »Kalten Krieges«, dasin der heutigen Standortkonkurrenz nicht mehr zu »halten« sei, zur Dispositiongestellt werden muß.Gleichzeitigwird gefordert, zur Anerkeimungdes »Primatsder Außenpolitik«zurückzukehren. Deutschland sei nunmehrals die»Zentralmacht in der Mitte Europas« zu einer Großmachtgeworden,die ihre machtpolitischen Interessen in der globalen Politik offen artikulieren und verfolgen muß."

Linke Politik am Ende des

20. Jahrhunderts wird

sich noch sehr viel inten

siver als bisher um die

Klärung des kollektivenGedächtnisses bemühen

müssen, um das Feld der

geschichtlichen Aufarbeitung weder den Totengräbern noch den »Abwicklern« und »Nachlaß

verwaltern« des Sozialis

mus zu überlassen.

Supplement der Zeitschrift Sozialismus 10-95

Page 9: Politik am Ende des 20. Jahrhunderts - Frank Deppe€¦ · 20. Jahrhunderts - Jahrhundertbilanzen - Das »Jahrhundert des Soziaiismus« - Vom »Ende der Geschichte« und der »Zukunft

DerUmschlag derliberalen Euphorien ineherpessimistische Szenarien, die Carl Schmitt's Liberalismuskritik wiederholen^' und dabei dessen staatliches Ordnungsdenkenmit dem ökonomischen Liberalismus von Adam Smithversöhnen wollen, kennzeichnet zugleich die Aporien desneokonservativen Denkens.'®

Es ist dieser »neue Realismus« (Baring, Schwarz u.a.),der heute - auch mit dem Rekurs auf die deutsche Geschichte seit Bismarck - von der These vom »Ende der

Geschichte« implizit Abschied nimmt (auch Abschiednimmt von den alten »europäischen Idealen«). Es liegtauf der Hand, daß damit zugleich die zentralen Themenfür die politischen Auseinandersetzungen vorgegebenwerden: Hegemonialpolitik nach außen und Abschiedvom Wohlfahrtsstaat (und der mit ihm verbundenen Ver-sorgungs- bzw. »Dekadenzmentalität«) nach innen. Arnulf Baring hat diese Forderungen jüngst sehr klar zusammengefaßt: »Wir sind uns doch wohl darübereinig, daßwir mit unseren heutigen Vorstellungen, Werten, Wünschen, Hoffhungen,die wir seit dem letzten Krieg entwik-kelt haben, nicht über die nächsten Jahrzehnte hinwegkommen werden. Diese Gesellschaft wird zugrunde gehen, wenn sie sich auf den heutigen, wenn auch respektablen Kanon beschränkt. Die neue Situation ist dadurchgekennzeichnet, daß mehr Verantwortung, mehr Aufgaben, mehr Pflichten - ja, Pflichten! - auf die Deutschenzukommen, und damit müssen sie sich endgültig beschäftigen. Denn wenn sie sagen: Das lehnen wir alles ab, wirbleiben geme Zwerge, tief versteckt im dunklen Wald,wohlstandsgesichert,weil das doch die einzig vernünftigeund erfreuliche Lebenshaltung ist, dann werden wir, He-doniker, die wir geworden sind, in ein Fellachendaseinabsinken. Dann werden wir in eine Situation geraten, daßandere über unser Schicksal entscheiden. Es geht nichtnur um Innenpolitik, es geht wesentlich um Außenpolitik... Für einen Großteil unserer Landsleute gibt es gar keineAußenpolitik mehr, sondern nur noch Friedenspolitik,oder was sie dafür halten«."

Der modernisierungstheoretische Diskurs in der Tradition des Liberalismus hat sich vielgestaltig ausdifferenziert:

• Zeitweilig dominierte jene postmodeme Beliebigkeit,die die Befreiung vom »Terror der Utopien« bzw. denAbschied von den »großen Erzählungen« (Lyotard) imnachmetaphysischen Zeitalter feierte. In der Anerkennungvon Differenz und Pluralismus versammeln sich die unter

schiedlichsten Positionen: ein spätnietzeanischer Kulturpessimismus," derneokonservative Appell andieRekonstruktion der christlichen Philosophie und derReligion,"das moderate Plädoyer für einen anti-totalitären Pluralismus," dieTheorie einer- dialektisch begriffenen- Ästhetik des von den transnationalen Konzemen beherrschten

Spätkapitalismus" oder die radikale Behauptung von

Supplement der Zeitschrift Sozialismus 10-95

Minderheitenrechten."• Es zeichnet zahlreiche modemisierungstheoretischeAnalysen der Politik bzw. der politischen Theorie im20.Jahrhundert aus, daß sie bei der Konstruktion ihres Schemas »Prämodeme —Moderae - Postmoderae« die Katastrophen und Gewaltexplosionen, die Kriege und Krisen,den Kolonialismus und den Neokolonialismus usw. vollständig ignorieren bzw. als Referenzpunkte für die Entwicklungstendenzen dieses Jahrhunderts unterbelichten.Max Webers Rationalisierungsbegriff wird so zur Folieeiner Evolutionskonzeption modernerGesellschaften, diezwar die inneren Widersprüche dieser Evolution - vorallem im Bereich der Technikentwicklung und der »Büro-kratisierung« - als »reflexiveModernisierung« zur Sprache bringt, aber letztlich den Zusammenhang zwischender sozialökonomischen, der politischen und der geistig-kulturellen Entwicklung als »vormoderae« Fragestellungde-thematisiert hat. Stattdessen herrscht - im Anschlußan Niklas Luhmann - die »Einsicht« vor, »daß die zentrifugale Dynamik funktionaler Differenzierung eine Meta-

" Vgl.F.Fukuyoma. DasEnde derGeschichle, in:Europäische Rundschau.Winter 1990, S. 3ff.; vgl.auchP. Anderson. ZumEnde derGeschichle, Berlin1993.

^ J. Fest. I>erzerstörteTraum. Das Ende des utopischenZeitalters,Berlin1991; vgl.auchB. Ackerman. EinneuerAnlauffiirEuropa. Nach demutopischen Zeitalter, Berlin 1993.

^ J. Fest. Krise des Politischen, in: FAZ vom 14.10.1993, S. 1.^ Vgl. dazuH.P.Schwarz. DieZentralmacht Europas. Deutschlands Rück

kehr auf die Weltbühne, Berlin 1994.^ Einer der Vordenker der »neuen Rechten« beschwört denn auch schon

den »Ernstfall« bzw. den drohenden »Ausnahmezustand«, vgl, G. Rohrmoser,Der Emstfall. Die Krise unserer liberalenRepublik. Berlin 1994.

^ Diese Verbindung ist- wie wirseitderFinochet-Militäidiktatur inChile,die nach 1973 wittschafispolitisch das Programm der »Chicago-Boys« vonMilton Friedman implementieite, wissen - nicht neu. R. Cockett, der dieGeschichteder neoliberalen,antikeynesianischen »Konterrevolution« seit dendreiBiger Jahren (Friedrichvon Hayek u.a.). bis zum Sieg des Thatcherismusin den achtzigerJahrenrekonstruiert hat (Thinking the Unthinkable. Tbink-Tanks and the Economic Counter-Revolution. 1931-1983, London 1994), berichtetdie folgende Episode: AlbertSherman,eine der rührigstenFigurendesbritischen Neoliberalismus - im Jahre 1980 noch Direktor des Centre forPolitical Studies, eines der wichtigsten Think-Tanks des radikal liberalen Rügeisder Konservativen Partei,aus demer allerdings1983ausschied- bemühtesich 1987vergeblich, den französischen Neofaschisten Jean-Marie Le Pen alsRedner am Rande einer konservativen Parteikonferenz unterzubringen.

" A. Baring. Deutschland, wasnun?a.a.O., S.206;zurKritik dieserTheseneiner »neuen Rechten« bzw. des neuen »Elitennationalismus« vgl. H. U. Wehler, Angstvor der Macht. Die Machtlust der NeuenRechten, Friedrich-Ebert-Stiftimg, Bonn 1995; sowie J. Habermas, 1989 im Schatten von 1945, in:ders.. Die Normalitäteiner Berliner Republik,Frankfurt/Main 1995,S. 167ff.,bes. S. 170ff.

Vgl. u.a. D. Kamper/W. van Reijen(Hrsg.),Die unvollendete Vernunft.Moderne versus Postmodeme. Frankfurt/Main 1987.

" Vgl.P. Koslowski, Diepostmodeme Kultur, München 1988, bes.S. 24." So W. Welsch, Unsere postmodeme Modeme, Weinheim 1987.

F. Jameson, Postmodeme - zur Logik der Kultur im Spätkapitalismus,in; A. Huyssen/K. R. Scherpe (Hrsg.), Postmodeme, Reinbek bei Hamburg1986.

^ »ManmuB alsozu einer Ideeundeiner PraxisderGerechtigkeit gelangen,die nicht an jene des Konsens gebunden ist«, J. F. Lyotard, Das postmodemeWissen, Graz/Wien 1986, S. 190.

Page 10: Politik am Ende des 20. Jahrhunderts - Frank Deppe€¦ · 20. Jahrhunderts - Jahrhundertbilanzen - Das »Jahrhundert des Soziaiismus« - Vom »Ende der Geschichte« und der »Zukunft

morphose des Ordnungsprinzips von Gesellschaft, einedurchdringende Umstellung auf heterarchische, polyzen-trischeunddezentraleArrangementsautonomerTeilsysteme von Gesellschaft vorantreibt«.^'

Klaus von Beyme bringt gar das Kunststück fertig, ein- wie gewöhnlich einschlägigesund sehr gelehrtes - Buchüber die »Theorie der Politik im 20. Jahrhundert« zu

schreiben, ohne auch nur einmal auf die Frage einzugehen,welche Bedeutung den realen gesellschaftlichen und politischen Entwicklungsprozessen dieses Jahrhunderts fürdie Theorie der Politik zukommt. DerStaat - so die zentra

le These, die von Niklas Luhmann übernommen wird'®- ist nicht mehr souverän: »Die Ent

zauberung des Staates in der nach-modemen politischen Theorie ent-substantialisierte den Machtbe

griff«.'' Diepolitischen Themen dieses Diskurses, der weitgehend aufeine kritische Auseinandersetzungmit den Macht- und Herrschaftsver

hältnissen modemer kapitalistischerGesellschaften verzichtet hat (bzw.diesen als ideologisch-vormodemkritisiert), betreffen die Probleme des»Staatsversagens«, d.h. der erodierenden Steuerungsfahigkeit gesellschaftlicher Prozesse durch die Poli

tik, und treffen sich darin weitgehendmit der Interventionsstaatskritik der

neoliberalen Ökonomen. Der»Wohlfahrtsstaat«, so Luhmann, isteine »Überfordemng des Staates andie Politik«; denn er verteilt »grenzenlos«, was wirtschafisbezogenknapp zu sein hat: Arbeit und Geld.Auf der anderen Seite wird mit der institutionalistischen

und handlungstheoretischen Orientierung der sog. »Poli-cy-Porschung« auf Verhandlungssysteme und auf sog.»Govemance«-Regime'® (statt Govemment) eine Erweiterung des Politikbegriffs (»Netzwerke«) vorgenommen,die allerdings fast durchgängig auf abstrakten handlungstheoretischen Prämissen beraht."• Unter der Fahne des zivilgesellschaftlichen Diskursesversammeln sich schließlich diejenigen, die die »Entzau-bemng des Staates« (Willke) nicht über Luhmann, sondernüber Hannah Arendt"*" und über eine Neuinterpretationder »demokratischen Frage« entdeckt haben. Bei AntonioGramsci war noch die Analyse der >Societä Civile< Moment einer theoretischen Reflexion des Verhältnisses von

Basis und Überbau, von Ökonomie und Politik, die aufeinen vertieften und erweiterten Begriffbürgerlicher Herrschaft (Hegemonieproblematik) und daraus folgend aufeine Reformulierung der Strategien des Kampfes um die

Aufhebung dieser Herrschaft gerichtet war."*' Davon freilich hat sich die Konzeption der »autonomen Zivilgesellschaft« ganz bewußt abgesetzt. »Mit der Selbsterklärungder Menschenrechte und der wechselseitigen Zuerken-nung des Rechts, Rechte zu haben, instituiert sich dieZivilgesellschaft als eine handlungsfähige und konfliktintensive Pluralität, die in der Lage ist, die öffentliche Sphäre gegenüber der Macht zu behaupten und mit dem Widerstreit der Meinungen, immer neuen Themen und Rechtsansprüchen sowie mit den vielfältigen Formen symbolischerPraxis auszufüllen. Erst jetzt tritt das demokratische Element zu den republikanischen Institutionen und erfüllt sie

mit politischem Leben... Die öffentlichen Debatten und die symbolischePraxis der Bürger und ihrer Assoziationen erweisen sich so in einer De

mokratie als die unhintergehbarenund unverfugbaren Legitimationsgrundlagen der Macht«.""

Das Konzept der radikalen Demokratie, die gerade nicht über denStaat, sondem über die Öffentlichkeit und die autonome Zivilgesellschaft lebendig bleibt, versteht sichals Programm gegen alle Spielartendes Totalitarismus sowie eine auf in

dividuelle Freiheit zentrierte »liber

täre Demokratie«.^' Indem aber dieser zivilgesellschaftliche Diskurs diePolitik konsequent von den gesellschaftlichen Macht- und Herr

schaftsverhältnissen trennt, reproduziert er nicht allein die klassischen

Illusionen des radikalen, individualistischen Liberalismus, die seit mehr

als zwei Jahrhunderten wohlbekannt sind. Vielmehr trennt

er auch die demokratische von der sozialen Frage (u.a.wird dabei auf das Argument vom »Ende der Arbeitsgesellschaft« verwiesen). Damit steht er in der Gefahr, jeneKrisendiagnose der Moderne von Hannah Arendt zu übernehmen, die - hier ganz Schülerin von Heidegger undJaspers - die Technisierung und Vermassung, aber diedamit verbundene »Entgrenzung« des Politischen durchdie Politisierung der sozialen Frage, als deren wesentlicheUrsachen angenommen hatte.^ Derheroische Individualismus, der gerade in der heutigen, unübersichtlichen Weltmit ihren globalen Nivellierungstendenzen (vor allem imBereich der »Massenkultur«) als eine respektable Widerstandsform anerkannt werden muß,"*' wird freilich kaumneue Erkenntnisse für die Bearbeitung jener sozialen, ökonomischen und politischen Probleme und Widersprüchebereitstellen, die das »kapitalistische Weltsystem« am Ende des 20. Jahrhunderts mit sich schleppt und neu erzeugt.

Es zeichnet zahlreiche

modernisierungstheoreti-sehe Analysen aus, daßsie hei der Konstruktion

des Schemas »Prämoder-

ne-Moderne-Postmoder-

ne« die vielfältigen Katastrophen und Gewaltexplosionen ignorierenbzw. als Referenzpunktefür die Entwicklungstendenzen dieses Jahrhun

derts unterbelichten.

8 Supplement der Zeitschrift Sozialismus 10-95

Page 11: Politik am Ende des 20. Jahrhunderts - Frank Deppe€¦ · 20. Jahrhunderts - Jahrhundertbilanzen - Das »Jahrhundert des Soziaiismus« - Vom »Ende der Geschichte« und der »Zukunft

Er wird sich freilich oftmals in (ungewollten) Koalitionenmit neoliberalen und neokonservativen Ideologen befinden, die den historischen »Ballast« des - in der Ära desFordismus durchgesetzten - Wohlfahrtsstaates sowie die»nationale Verfaßtheit des Sozialen« als das Haupthindernis auf dem Wege einer Modernisierung des transnationalen Kapitalismus (verbunden mit der Anerkennung desPrimats einer machtorientierten Außenpolitik) ausräumenwollen."®

Eine andere Richtung des modemisierungstheoreti-schen Diskurses soll im Anschluß an Ulrich Beck undAntony Giddens"' als »reflexive Modernisierung« bezeichnet werden. Schon in der »Risikogesellschaft« hatteBeck von der Tendenz der modemen Industriegesellschaftgesprochen, mit jedem weiteren Fortschritt ihre eigenenGrundlagen in Frage zu stellen. In seinem Buch »DieErfmdung des Politischen« bestimmt er die Krise desPolitischen in der Gegenwart darin, daß die politischenInstitutionennicht mehr in der Lage sind, der »Nachtseiteder Modernisierung: der Gegenmodemisierung« Herr zuwerden. »Gegenmodemisierung« meint: die »Rückkehrder alten Monster« (Max Gallo), die die Katastrophen derPolitik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bestimmt

hatten: Massenarbeitslosigkeit und Elend, Krieg und Gewalt, Rassismus und Nationalismus. »Erfmdung des Politischen« meint folgendes: »Das Modell der westlichenModerne, jene >okzidentale< Mischung aus Kapitalismus,Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und nationaler, was auchimmer heißt: militärische Souveränität, ist antiquiert, mußneu verhandelt und entworfen werden. Das ist der Kern

der viel diskutierten Krise der westlichen Parteiendemo

kratie. Es kann auch radikalisiert und reformiert werdenauf dem Hintergrund des gesicherten Selbstbewußtseinsnach dem Ende des Ost-West-Konfliktes. Nicht zur Disposition stehen die Errungenschaften der europäischen Moderne - parlamentarische Demokratie, Rechtsstaatlichkeit,die Menschenrechte, die Freiheit der Individuen, sehrwohl aber die Art ihrer Umsetzung in den Gußformen derIndustriegesellschaft«."®

Hier sind zweifellos einige der zentralen Themen undProblemstellungen der Politik am Ende des 20. Jahrhunderts angesprochen, wobei auffallt, daß Beck die Frageder »sozialen Ausgestaltung des Modemisierungsprozes-ses« vernachlässigt und z.B. den Wohlfahrtsstaat - einProdukt der europäischen Moderne des 20. Jahrhunderts- nicht zuden»Errungenschaften« zählt."'Dieser moder-

H. Willke, Ironie des Staates, Frankfim/Main 1992. S. 7.^ Vgl.u.a.N.Luhmann, StaatundPolitik: ZurSemantikderSelbstbeschrei

bung politischer Systeme, In. U. Bermbach (Hrsg.), Politische Theoriegeschichte, PVS-Sonderband 15/1984, S. 99-125.

" K. von Beyme, Theorie der Politik Im20. Jahrhundert, Frankfurt/Main1991, S. 23.

Der Begriir der Govemance wurde zuerst nir die internationale Politik

Supplement der Zeitschrift Sozialismus 10-95

eingefilhrt. umeinen Prozeßderzunehmenden Entstaatlichung beiderBearbeitung von internationalen Problemen bzw. Konflikten (Zusammenwirken verschiedenerstaatlicherund nicht-staatlicherAkteure, vor allem der sog. NGOs,der Non-Goveramental Organizations, wie z.B. Greenpeace) zu beschreiben.Inzwischen wird dieserBegriffauchfürdie»Entstaatlichung« derInnenpolitikverwendet, vgl. dazu z.B. BobJessop, Die ZukunfldesNationalstaates: Erosionoder Reorganisation? in: ders. u.a.. Europäische Integration und politischeRegulierung, Forschimgsgruppe Europäische Gemeinschaften (FEG), StudienNr. 5. Marburg 1995, S.9 ff.

" Klaus von Beyme (au>.0., S. 22) hebt- gleichsam als Vorbild fiireinnachmodemes Wissenschaftsverständnis - die Entwicklung in der Nationalökonomie (seildemspäten 19.Jahrhundert) zueinem »mathematisierten Modelldenken« hervor, »das von autonomen Entscheidungen autonomer Wirtschaftssubjekte ausging, indenen staatliche Eingriffe nuralslästige Störvariablen Eingang fanden«. Werner Hofmatm hatte gerade darin einen Prozeß der»Pauperisierung desGeistes« erkannt: »SoistdieNationalökonomie, nachdemsie sich mit der Heraulkunft der Grenznutzenschule aller lieferen analytischenFrage nachGrundsachverhalten der modemen Gesellschaft entschlagen hatteundnurnochpragmatisch-katallaktische Lehre vondenempirischen Erscheinungen seinwollte, schließlich dieserErscheinungswelt selbst verlustig gegangen. Sie ist heute weder Theorie noch Empirie. Ihre formalen Modelle, inwelche grundlegende begriffliche IntUmer und ideologische Deformationenschon eingegangen sind, schweben alsAusgeburten kreativer Eigenmacht jenseits der Wirklichkeit«. W. Hofmaim. Das Elend der Nationalökonomie, in:ders.,Universität, Ideologie, Gesellschaft. Beiträge zur Wissenschaftssoziologie, Frankfurt/Main 1968,S. I I7ff„ hier S. 136.

Vgl. H. Arendt, Über die Revolution, München 1963; nach wie vorlesenswert J. Habermas, Die Geschichte von den zwei Revolutionen (1966),in ders., Philosophisch-politische Profile, Fankfurt/Main 1981, S, 223ff.

" Vgl. dazu u.a. S. Kebir, Gramsci'sZivilgesellschaft, Hamburg I99I." U. Rödel, G. Frankbetg, H. Dubiel, Diedemokratische Frage.EinEssay.

Frankfurt/Main 1989.Vgl.dazu U.Rödel (Hrsg.), Autonome Gesellschaft undlibertäre Demo

kratie, Frankfurt/Main 1990.•" Vgl. dazu u.a. H. Arendt, Elemente und Ursprünge totalerHerrschaft,

München 1986, S. 729; dies,, Vita Activa, München 1981, S. 31211.»Partei ergreifen für das Individuum: darumgeht es. Eineallenzukom

mendeWürdekannes nur geben, wenndie Chancendes zivilenZusammenlebens für alle gleich sind.Für alle unddas sofort, dennder eigene und freieEntwurfseines Lebens ist einem in der prekären und unwiederholbaren Existenznur einmalgegeben.Dieswäreein Engagement, das weit mehrerfordertalsjede revolutionäre Perspektive«. P. Floresd'Arcais,Philosophie imdEngagement, in: Frankfurter Rundschau vom16.Mai 1995, S. 12;vgl.dazuders..Libertärer Existentialismus, Zur Aktualität der Theorie von Hannah Arendt.Frankfurt/Main 1993.

Michael Stürmer, konzeptiver Ideologie neokonservativer Politik inDeutschland,hat die Problematikdes Zusartunenhangsneuer außenpolitischerHerausforderungen und innenpolitischer - d.h. sozialpolitischer - Blockadenvor der Hanns-Martin-Schleyer-Stiftung Ende 1993 wie folgt charakterisiert(vgl.A.Baring/R. Scholz, Hrsg.,Eineneuedeutsche Interessenlage? Veröffentlichungen der Hanns-Martin-Schleyer-Sliftung, Band41, Köln 1994,S. 210):»Innenpolitisch gehtes, wieallgemein bekannt, bei uns um Lohnstückkosten,Soziallasten, Innovationsfähigkeit, Wiedergewitmung der innerenHandlungsfähigkeit. Außenpolitisch geht es um die große Frage, wie wir unsere Rollein Europaals atlantischerPartner,als Hauplinteressent in Osteuropawie auchals >global player< wahrnehmen wollen«. Danach kommt er zuderThese, daßder nationale Sozialstaat das Haupthindernis für die Anerkennung des neuenPrimats der Außenpolitik darstellt: »Die Sozialstaaten sind ausgesprochennational verfaßte Sozialstaaten .., Die Sozialpolitik ist national organisiert...Dieses Nationale im Sozialen kann den Europäern so zum Schicksal werdenwie die große Depression der 30er Jahre«.

" A. Giddens, The Consequences of Modemity, Stanford 1990; sowieneuerdings ders., Beyond Left and Right. The Future of Radical Politics.Cambridge 1994.

U. Beck, Die Erfindung des Politischen, Frankfurt/Main 1993, S. 17.•" Dagegen G. Therbom, European Modemity andBeyond. TheTrajectory

of EuropeanSocieties 1945-2000, London1995,S. Süff. »Anolhersyndromeof European cultural modemity may bc suiiunarized as characterized by ablend of class aiticulation of political values. public collectivism and familyindividualism« (ebd., S. 282).

Page 12: Politik am Ende des 20. Jahrhunderts - Frank Deppe€¦ · 20. Jahrhunderts - Jahrhundertbilanzen - Das »Jahrhundert des Soziaiismus« - Vom »Ende der Geschichte« und der »Zukunft

nisierungstheoietische Diskurs wäre also - hier kommenwiraufdieThese von der Dominanz deskapitalistischenWeltsystems für die Entwicklungsdynamik dieses 20.Jahrhunderts zurück - zu ergänzen um eine Analyse derEntwicklungstendenzen undWidersprüche deskapitalistischen Weltsystems, der großensozialen Veränderungen,die in diesem Jahrhundert stattgefunden haben und dieden Übergang zum nächsten Jahrhundert strukturieren.

dessen Krisentendenz, die periodische ökonomische Depressionenund Massenarbeitslosigkeit erzeugt(imddamitFormen des sozialen und politischen Konfliktes, die nichtallein die Legitimität der herrschenden Ordnung, sondernauch deren Eigentumsverhältnisse in Frage stellen). '̂

Politische Regulation der ökonomischen Sphäre (Eigentum, Profit, Wachstum, Einkommensverteilung, Wettbewerbsregeln usw.) bedeutet stets ein gewisses Maß derKontrolle, die von der Gesellschaft ausgeht, und diese iststets auch Resultat von Kämpfen zwischen den bestimmenden und mächtigsten gesellschaftlichen Interessengruppen oder Klassen bzw. der »Blockbildung« von ver

schiedenen Klassenfraktionen. DasInstrument dieser »Vergesellschaftung«, das sich seit dem späten 19.Jahrhundert und dann voll im 20.

Jahrhundert herausgebildet hat, istdie staatliche Intervention.^^ Damitist noch keine Aussage Uberdie Qualität dieser Intervention verbimden;denn sie kaim die Form einer autori

tären Diktatur, einer Dominanz des»militärisch-industriellen Komplexes« (warfare capitalism) oder derdirekten staatlichen Stützung industrieller Branchen bzw. der Banken

aiuiehmen. Sie kann aber auch - im

Ergebnis einer Verschiebung derKräftekonstellation der Klassen zu

gunsten der »Subalternen« (Grams-ci) - auf die Modifikation sozialerUngleichheit sowie auf die Minimierung sozialer Risiken gerichtet sein(wohlfahrtsstaatliche Sicherungen,Ausbau der Infirastruktur, Demokra

tisierung der Kultur usw.). Jede Formation in der Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise ist daher »eingebettet« in Systeme der politisch-staatlichen Regulation:von der einfachen Form der Sicherung des Privateigentums durch das Recht bis zu komplexeren Formen derRegulation, die sich - unterschiedlich nach Ländem undRegionen - in der »Golden-Age«-Ära ausgebildet haben.

Inwieweit, in welchem Umfang und mit welcher Zielsetzung Politik am Ende des 20. Jahrhunderts Steuerungsleistungen erbringen kann oder soll, diese Fragen sind(wie wir schon im Zusammenhang mit der system- undmodemisierungstheoretischen Debatte Uber die »Entzauberung des Staates« gesehen haben) außerordentlich umstritten, und zwar nicht allein aufgrund der unterschiedlichen sozialwissenschaftlichen Perspektiven auf den Gegenstand und der damit verbundenen normativen Optionen, sondem auch und vor allem aufgrund jenertiefgreifenden Strukturveränderung in der Beziehung zwi-

Die Herausforderung: eine neue Qualitätpeiitischer Regulation

Politik bezeichnet - seit ihren Ur

sprüngen - den öffentlichen Raum(im Unterschied zur Privatsphäre), indem unterschiedliche individuelle

und gesellschaftliche Interessen ausgetragen werden - diskursiv bzw. imExtremfall mit Gewalt. Politische In

stitutionen und Normsysteme (Gesetze) dienen in erster Linie dazu,verbindliche Regeln, Wertesystemeund Steuerungsleistungen für die Gesellschaft autoritativ festzulegen.Aber, diese Regeln sind angesichtsder ungleichen Verteilung derMacht, der Autorität und des Reichtums in der Gesellschaft zugleichFormen der Herrschaftssicherung.Insofern sind sie - angesichts desKonfliktes bzw. der Kollision unter

schiedlicherbzw.gegensätzlicherInteressen und der mit ihnen verbunde

nen Herrschaftsprojekte - stets umkämpft. Indem sich - mit der Entwicklungdes kapitalistischen Weltsystems - der Nationalstaat als die Form despolitischen Systems konstituiert, in der diese Steuenings-leistungen erbracht werden, tritt einerseits der Machtkampf zwischen diesen Nationalstaaten ins Zentrum derinternationalen Politik.^" Andererseits wird - seit der Auf-klänmg und der Französischen Revolution von 1789 -der Nationalstaat zur Arena des Kampfes um Bürgerrechte, soziale Teilhaberechte sowie um Sozialreformen.

Zudem kommt dem politischen System - im 20. Jahrhundert und vor allem nach den Erfahrungen der Weltwirtschaftskrise nach 1929 - die Aufgabe zu, jene beidenInstabilitätstendenzen zu »entschärfen«, die John M. Key-nes der rein ökonomischen (markt-gesteuerten) Entwicklungsdynamik des kapitalistischen Wirtschaftssystems zugeschrieben hatte: die Polarisierung der Einkommensverhältnisse (und die damit verbundenen ungleichen Machtstrukturen in Politik, Gesellschaft und Kultur) sowie

10

Politische Regulation derökonomischen Sphärebedeutet stets ein gewisses Maß der Kontrolle,die von der Gesellschaft

ausgeht, und diese iststets auch Resultat von

Kämpfen zwischen gesellschaftlichen Interes

sengruppen oder Klassenbzw. der »Blockbildung«von verschiedenen Klas

senfraktionen.

Supplement der Zeitschrift Sozialismus 10-95

Page 13: Politik am Ende des 20. Jahrhunderts - Frank Deppe€¦ · 20. Jahrhunderts - Jahrhundertbilanzen - Das »Jahrhundert des Soziaiismus« - Vom »Ende der Geschichte« und der »Zukunft

sehen sozialökonomischen Transfonnationsprozessen,binnengesellschaftlichen Differenzierungsprozessen aufder einen und den Problemlösungskapazitäten der Politik- vor allem der nationalstaatlichen Politik - auf der ande

ren Seite. Die Grenzenlosigkeit der ökonomischen, kulturellen und kommunikativen Globalisierungsprozesse markiert zugleich die Grenzen der Wirksamkeit der traditionellen politischen Institutionen.Kurz gesagt: Adam Smith»draußen« und John Maynard Keynes »zu Hause« - jenefür die Golden-Age-Pericde charakteristische Kombination von Freihandel und nationalem Wohlfahrtsstaat - hat

(so das herrschende Bewußtsein) ausgedient, obwohl allenthalben die Notwendigkeit politischer Lösungen fürdie Reorganisation zerfallender Strukturen und Institutionen anerkannt wird. Zugleich ist mit dem Ende der Systemkonkurrenz der externe Druck entfallen, der sowohldie Hegemonialstrukturen in der kapitalistischen Welt(»Pax Americana«) als auch den wohlfahrtsstaatlichenKlassenkompromiß zusätzlich befestigt hatte.

In der »One-World« des Kapitals, der des globalenFinanzkapitals, wirkt - worauf zuerst Ziebura aufmerksamgemacht hat®^ - die Dialektik von Vereinheitlichung undFragmentierung. Auf der einen Seite bedeutet die Globalisierung der Weltwirtschaft die transnationale Angleichungvon sozialökonomischen Strukturen, Lebensstilen, Kon-sumnoimen und Kommunikationsformen.^ Aufder anderen Seite verstärkt sich der Trend zur sozialen Desintegration und Heterogenisierung, zu ethno-nationalistischenKonflikten, zur kulturellen Abgrenzung.®' Diese Fragmentierung erzeugt jedoch zugleich neuen Regulationsbedarf - und insofern wird zu Recht davon gesprochen, daßdamit die »Rückkehr des Politischen« einhergeht."

Mit dem Zerfall bzw. der Erosion alter »Befestigungen«werden jedoch zugleich Voraussetzungen für neue Konfliktpotentiale geschaffen, die - ohne daß ihre Gestaltungund Intensität im einzelnen zu prognostizieren wären -denÜbergang indasneue Jahrhundert bestimmen werden.Aus der ungleichen Verteilung von Reichtum, Wissen,Ressourcen und schließlich auch von Macht (die Regelnzu bestimmen, nach denen die globalen Spiele, bei denenes Gewinner und Verlierer gibt, gespielt werden müssen)werden Konflikte und Kämpfe hervorgehen. Diese werdenallerdings kaum dem Muster jener Verteilungskonfliktefolgen, die in den Metropolen des Kapitals - nach denErfahrungen von Kriegen, Krisen und Revolutionen inder ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts - durch den nationa

len, keynesianischen Wohlfahrtsstaat »gebändigt« und institutionell zivilisiert wurden.

Verteilungskämpfe werden einerseits durch das widersprüchliche Ineinandergreifen der globalen, regionalenund nationalen, schließlich auch der lokalen Vergesell-schafhmgs- und Politikebenen schärfer und diffuser zugleich. Die globalen Migrationsbewegungen aus den Ar

Supplement der Zeitschrift Sozialismus 10-95

mutszonender »Weltgesellschaft« in die »Reichtumszentren« gehören ebenso in diesen Zusammenhang wie diePolarisierungvon Reichtumund Armut, die Verschuldungder öffentlichen Haushalte als Voraussetzung für gravierende Funktionsdefizite der öffentlichen Dienstleistungenund Wohlfahrtsinstitutionen wie die Artikulation dieser

globalen Prozesse inmitten der »global eitles«®^ als denneuen Herrschaftszentren des Casino-Kapitalismus. DieseVerteilungskämpfe werden sich allerdings keineswegsausschließlich auf die Einkommen konzentrieren. Schon

heute zeichnen sich - in und zwischen den Staaten undRegionen - Konflikte um die Verteilung von Ressourcen(Rohstoffe, Energie, Wasser, saubere Luft usw.) ab, dieihrerseits die Tendenz zur Eskalation militärischer Kon

flikte verstärken könnten.

Soweit vor diesem Hintergrund Anforderungen an dieSteuerungs- odergar Problemlösungskapazität der Politikins Auge gefaßt werden, spielt das Katastrophenszenariovon Krisen und Kriegen, die sich um solche Verteilungsprobleme zentrieren, nicht einmaleine entscheidendeRol-

Vgl. u.a. ders., Aufstieg und Fall der großen Mächte. ÖkonomischerWandel und militärischer Konflikt von ISOO bis 2000. Frankfurt/Main 1989.

" »Theoutstanding faults of theeconomic society in which we liveare itsfailureto providefor füllemployment and itsarbitraiyand inequitable distribu-tion of vrealth and incomes«. J. M. Keynes. General Theoty of Employment,Interest and Money (1936). L.ondon 1965. S. 372.

»Daß der Markt das soziale Cefttge eben nicht optimal steuert, ist nuninderÖkonomie eigentlich eineBinsenwahrheit... Nurstaatliche Programme- also etwa Altersversorgung. Arbeitslosengeld, öffentliche Gesundheitsver-soigung, Antitiust-Gesetzgebung, sozialerWohnungsbau. Umwelt-und Ver-braucherschutz.progressiveGestaltung der Einkommensbesteuetungund dieUnterstfitztmg seitensder Gewerkschaften - habendazu beigetragen,daß derKapitalismus Uberleben konnte«, J. K.Galbraith. DieHerrschaft der Bankrotteure,Hamburg 1992,S. 66. R. Heilbroner, Kapitalismus im 21. fahihundeit,München 1994, S. 129, fragt zum Thema der »Politisienmg des Kapitalismus«:»Welche Lösungsfoimen können fiir die Probleme, die im privaten Sektorentstehen,gefundenund welcheGegemnaBnahmen getroffenwerden?UnsereDiagnoseläßt nur eine Antwort zu: Es mUssen Lösungen und Gegenmaßnahmen sein, die aus dem öffentlichen Sektor kommen. Daraus folgt, daß dieAussichten fUr die diversen Erscheinungsfoimen des Kapitalismus im 21.Jahrhundert —und hier betone ich ausdrücklich den Plural - in erster Liniedavon abhängen werden, mit welchem Erfolg die staatlichen Kräfte zusammengezogenunddazugebrachtwerdenkönnen,sichmitdenKräftenderWirtschaftauseinanderzusetzen«.

Vgl.G. Ziebura,WeltwirtschaftundWeltpolitik1922/24-1931,Frankfurt/Main 1984; M. Bonder, M. Röttger. G. Ziebura, Deutschland in einer neuenWeltära. a.a.O.

Insofern erfüllt sich erst jetzt die »revolutionäre Rolle«, die Karl Marzund Friedrich Engels im »Manifest der Kommunistischen Partei« (1847/48)der industriellen Bourgeoisie zugeschrieben haben. Dort heißt es u.a.: »DieBourgeoisie hat durch die Exploitation des Weltmarktes die Produktion undKonsumtion aller Länder kosmopolitisch gestaltet. Sie hat zum großen Bedauern der Reaktionäre den nationalen Boden der Industrie unter den Füßenweggezogen... An die Stelle der alten lokalenund nationalenSelbstgenügsamkeit und Abgeschlossenheit tritt ein allseitiger Verkehr, eine allseitige Abhängigkeit der Nationen voneinander«. MEW. 4. S. 466.

Vgl. dazu U. Menzel, Die neue Unübersichtlichkeil, in der die Welt alsTollhaus erscheint, in: Frankfurter Rundschau vom 24. Juli 1995, S. 12.

" Vgl. A.Touraine, n Retome delo Politico, in:ElPais (Madrid) vom 31.Juli 1995. S. 9; U. Beck, Die Erfindung des Politischen a.a.O.

" Vgl u.a. C. Wex,Die Euro-City und die Regulierung der Krise, in: H.J. Bieling/F. Deppe (Hrsg.). Entwicklungsprobleme des euro|xiischen Kapitalismus, FEG-Studie, Nr. 4. Marburg 1994, S. 81ff.

11

Page 14: Politik am Ende des 20. Jahrhunderts - Frank Deppe€¦ · 20. Jahrhunderts - Jahrhundertbilanzen - Das »Jahrhundert des Soziaiismus« - Vom »Ende der Geschichte« und der »Zukunft

le. Vielmehr geht es dabei um die Frage nach den Institutionen bzw. nach den politischen Regimen, die durchgesetzt und aufgebaut werden müssen, um die katastrophische Potentialität solcher Konflikte einzudämmen. Mit

anderen Worten, wenn die Strukturen des »embedded libe-ralism« der Nachkriegszeit zerbrechen und sich die deregulierte Dynamik der globalen Kapitalakkumualtion,der Weltmarktkonkurrenz und der relativen Verselbstän

digung des finanzkapitalistischen Sektors aus traditionellen Formen, Regeln und Institutionen der »Einbettung«herausgerissen haben (»dis-embedded«), dann wird dieSchaffung von Institutionen und Regimen, die ein »Re-embedding« ermöglichen, zur zentralen Aufgabe der Politik am Endedes 20. Jahrhunderts.

Das gilt natürlich auch und besonders für die Schaffung von Sicherheitsregimen, die nach dem Ende des»Kalten Krieges« vor allem in Südosteuropa, auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion und im NahenOsten reorganisiert werden müssen.Die Kriege im ehemaligen Jugoslawien und in Randgebieten der ehemaligen Sowjetunion erinnern zunächst einmal an das Ende des Ersten

Weltkrieges. Nach dem Zusammenbruch der Vielvölker-Reiche im Sü

den und im Südosten Europas (dieHabsburger Monarchie imd das Os-manische Reich) und der Gründungneuer Staaten war eine Zone der politischen Instabilität und der politischmilitärischen Konflikte entstanden,in der zugleich die europäischenGroßmächte ihre hegemonialen Ambitionen austrugen.Bislang haben - vor allem auf dem Balkan - die traditionellen Organisationen, die Sicherheit im Sinne der Prävention oder auch der Beendigung militärischer Konfliktegewährleisten sollen, weitgehend versagt. Die vielfachbeklagte Ohnmacht der UNO und der NATO, aber auchdie angeblichen »Demütigungen« der Europäischen Union (EU) - von der KSZE wird ohnehin nicht mehr gesprochen - deuten zunächst einmal darauf hin, daß die Kohärenz der außenpolitischen Interessen der führenden westlichen Staaten in Europa, Nordamerika und Ostasien, diedurch den Druck der Systemauseinandersetzung »gekittet« war, offenbar nicht mehr besteht. Weder gibt es einenKonsens über gemeinsame friedenspolitische Maßnahmen, noch - was viel wichtiger wäre - gibt es ein gemeinsames Programm für die Bewältigung der sozialökonomischen Transformationskrisen in Ost- und Südosteuropa,die ihrerseits die Hauptinsache sowohl für die Destabili-

sierung demokratischer Institutionen als auch für die Zuspitzung zwischenstaatlicher Konflikte bilden.

»Gewinner« und »Verlierer«

Die politischen Auseinandersetzungen am Ende des 20.Jahrhunderts - Auseinandersetzungen um die Verteilungvon Macht und Ressourcen - werden sich um die Reihe

von Themen gruppieren, in denen sich zugleich die Strukturveränderungen der Epoche und ihre Widersprüche kristallisieren.

2^ntrales Thema werden die Defi

zite der bestehenden politischen Institutionen und Regime - sowie derhandlungsleitenden Ideologien undWerteorientierungen - im Hinblickauf die Bearbeitimg der der kapitalistischen Globalisierung eingeschriebenen Fragmentierungstendenzensein. Die mit dem sozialökonomi

schen Wandel einhergehende Polarisierung und Risikövermehrung betrifft nicht allein die sozialen Spaltungen, sondern auch und vor allemdie Ökologieproblematik, die systematische Zerstörung der natürlichLebensbedingungen der Menschheit.Weder die neorealistische Schule der

internationalen Politik, noch dieNeoliberalen haben auf diese Her

ausforderungen ein adäquate Antwort. Das Vertrauen auf die problemlösenden Kräfte des Maiktes wie auf

die Selbstregulierungskräfte einerfunktional ausdifferenzierten Gesellschaft wird solche

Spaltungen und Risiken nur verstärken. Es artikuliert letztlich das Interesse der Reichen und Wohlhabenenden an

der Bewahrung und Verbesserung ihrer privilegierten Lebensbedingungen - jener »Kultur der Zufriedenheit« unddes Eigennutzes, die John Kenneth Galbraith am Beispielder USA als ein Regime der »Bankrotteure« kritisierthat.®* Bei den Neorealisten hingegen verengt sich derBlick auf die Machtspiele der Staaten auf der Bühne derinternationalen Politik. Soweit sie diesen Blick regimetheoretisch erweitem, hindert sie die institutionalistischeFixierung an der Erkeimtnis, daß die Bearbeitung dieserWidersprüche - wie z.B. vom Club of Rome schon langegefordert®' - tiefgreifende Verändemngen inderProduktionsweise (vor allem ihrer energetischen Basis), in derLebensweise, in den Konsumerwartungen, in den internationalen Austauschverhältnissen usw. erfordem, die gerade regulierend in die Marktfreiheiten eingreifen und zu-

Die mit dem sozialökono

mischen Wandel einher

gehende gesellschaftliche Polarisierung undRisikövermehrung betrifftnicht allein die sozialen

Spaltungen, sondernauch und vor allem die

Ökologieproblematik, diesystematische Zerstörungder natürlich Lebens

bedingungen derMenschheit.

12 Supplement der Zeitschrift Sozialismus 10-95

Page 15: Politik am Ende des 20. Jahrhunderts - Frank Deppe€¦ · 20. Jahrhunderts - Jahrhundertbilanzen - Das »Jahrhundert des Soziaiismus« - Vom »Ende der Geschichte« und der »Zukunft

gleich die Regein der traditionellen ökonomischen undmilitärischen Machtspiele in der internationalen Politiküberschreiten.®

Im Schlußkapitel seines Buches »In Vorbereitung aufdas 21. Jahrhundert« faßt Paul Kennedy die großen Herausforderungen, vor denen das internationale politischeSystem amEnde desJahrhunderts steht, zusammen. Dabeideutet er die Spaltimgen und Spannungen von Realitäts-wahmehmungen an,diemöglicherweise anIntensität nochdiejenigen Spannungen übersteigen, die Eric HobsbawmfürdieZeit vor 1914registrierthatte: »Existiertangesichtsder Geschwindigkeit und Komplexität dieses Wandelsüberhaupt irgendeine soziale Gruppe, diewirklich aufdas21. Jahrhundert >vorbereitet< ist? Natürlich gibt es Konzerne (vonder Pharmazie- bis zurLuft-undRaumfahrt) undIndividuen (insbesondere Akademiker in hochwertigenDienstleistungsbereichen), die vondengegenwärtigen so-zio-ökonomischen Entwicklungen protitieren und die inder Lage sind, sich für die Zukunft so zu positionieren,daß ihnen weitere Vorteile zuwachsen. Ihre Aussichtensind die Grundlage vieler optimistischer Arbeiten zumBeispiel vonKenichi Ohmae, George Gilder, BenWattenbergimdanderen, die der Menschheit eineständig wachsende Prosperität voraussagen. Aufderanderen Seitegibtes Milliarden von verelendeten, unausgebildeten Menschen in den Entwicklungsländernund Millionen von ungelernten Arbeitern in derentwickelten Welt, deren Aussichten schlecht sind und sich in vielen Fällen eher nochverschlechtem werden. Ihrer Lage gelten die pessimistischen Schriften über die demographische Explosion unddie Umweltkatastrophen der Ehrlichs, des WorldwatchInstitute und anderer, und sie hat auch Studien über zukünftige Berufstrends undihregesellschaftlichen Implikationen ausgelöst, wie zum Beispiel die Arbeiten vonReich. Auf den ersten Blick mag es scheinen, als ob nureine Denkrichtimg in ihrenVoraussetzungen korrektseinkönnte, aber es ist durchaus möglich,daß beide lediglichverschiedene Aspekte eines einzigen Phänomens untersucht haben, daß also die Optimistensich mit den >Gewin-nem< der Welt befassen, während die Pessimisten sichum das Schicksal der >Verlierer< sorgen. Aber wenn beiderecht haben, wird die Kluft zwischen arm und reich sichstetigerweitem, während wir uns auf das 21. Jahrhundertzubewegen. Und das muß nicht nur zu sozialen Unmheninnerhalb der entwickelten Länder führen, sondern auchzu wachsenden Nord-Süd-Spannungen, zu Massenmigration und zu Umweltschäden, denen auch die >Gewinner<nicht entkommen werden«.^'

Supplement der Zeitschrift Sozialismus 10-95

Vom keynesianisohen Wohlfahrtsstaatzum neoliheralen Wettbewerbsstaat

Offen ist nach wie vor die Antwort auf die Frage, welcheSouveränitätsrechte und Funktionen dem Nationalstaat -Produkt des 18. und 19. Jahrhunderts - angesichts derGlobalisiemng im Übergang zum 21. Jahrhundert verbleiben.® Ich halte die These vom »Ende des Nationalstaates«im transnationalisierten Kapitalismus für falsch und ideologisch.® Neoliberale bezeichnen damit das Ende desnationalen, keynesianischen Wohlfahrtsstaates® und plädieren doch in politischen Koalitionen mit den hartenKonservativen für die Stärkimgdes nationalen Ordnungsund Machtstaates. Linksliberale Positionen - traditionellanti-etatistisch eingestellt - wollen dieser Auffassung eineprogressive Wendung geben, indem sie die Schwächungdes Nationalstaates (der damit verbundenen Machtpolitikund damit der Basis für sozialdarwinistisch-nationalistische Ideologien) als einen Fortschritt begrüßen und zugleich fürdenAufbau transnationaler demokratischer Regime und zivilgesellschaftlicher Institutionen plädieren.®Die Schwäche solcher Optionen besteht darin, daß daspolitische System der Europäischen Union, das dabei inder Regel als konkretes Beispiel angeführt wird,® geradenichtindieRichtung einerprogressiven Demokratisierungsich entwickelt, sondem ehereinen neuen Typus des technokratischen »policy-making« generiert.®

Andere Autoren schließen sich der These vom Souveränitätsverlust des Nationalstaates —nach außen und nachiimen - an. Vor allem im Bereich der Wirtschafts- undFiskalpolitik habe sicheingmndlegender Wandel vollzo-

J.K. Galbraith, Die Heirschafi der Bankrotteure, Hamburg 1992." Vgl. Qub of Rome, I>ie globale Revolution, Hamburg 1991 (Spiegel-

Spezial); D.H. Meadows u.a.. Die neuen Grenzen des Wachstums, Stuttgart199Z

Vgl. D. DOe/K.H. Tjaden, Kapilalismuskritik unter Beachtung dermateriell-praktischen Reproduktion, in; Z.Zeitschrift Marxistische Erneuerung, 6.Jg., Nr. 21. März 1995.S. 156ff.

*' P. Kennedy, In Vorbeteitimg auf das 21. Jahrhundeit, Frankfurt/Main1993, S. 422/423.

»Die politische Handlungsfähigkeit der alten Nationalstaaten, auch derneueren Staatenvereinigungen und der auf Dauer gestellten internationalenKonferenzen steht ja in keinem Verhältnis zur Selbslsteuening der globalvernetzten Märkte«. J. Habermas, Die Normalität einer Berliner Republik,Frankfurt/Main 1995, S. 146.

So auch L. Panilch. Globalisalion and the State, in: R. Miliband and L.Panitch (Eds.),Between Globalism and Nationalism, Socialist Register1994,London 1994, S. 60ff.

Vgl. dazu B. Jessop, Die Zukunft des Nationalstaates: Erosion oderReorganisation? a.a.O.

" Vgl. u.a. D. Held, IJemociacy: From City-States to a CosmopolitanOrder?, in: Political Studies, Special Issue 1992, S. 32ff.

" Vgl. J. Habermas, DieNormalität.... a.a.O., S. 163/4." Vgl. dazu u.a. F.Deppe/M. Felder,ZurPost-Maastricht-KrisederEuropäi

schen Geraeinschaft, FEG-Arbeitspapier, Nr. 10, Marburg 1993; I. Tömmel,Dieeuropäische Integration: ökonomische Regulienuig undPolitikgestaltungzwischen Markt und Staat, in: B. Jessop u.a.. Europäische Integration undpolitischeRegulierung. a.a.O., S. 49ff.

13

Page 16: Politik am Ende des 20. Jahrhunderts - Frank Deppe€¦ · 20. Jahrhunderts - Jahrhundertbilanzen - Das »Jahrhundert des Soziaiismus« - Vom »Ende der Geschichte« und der »Zukunft

gen; denn der Nationalstaat - genauer: die nationale Regierung und dieZentralbank - seinicht länger inderLage,über die Kontrolle des Zinsniveaus und der Geldmengeantizyklisch zu intervenieren und damit die relative Stabilität der Nationalökonomie (und der Beschäftigung) zugewährleisten. Daraus folgt - in Verbindung mit demWettbewerbsdruck, der vom Weltmarkt auf die Kostenstruktur sowie die Innovationsfahigkeit der Unternehmenausgeht - eine chronische Aushöhlung der Funktionsfähigkeit sozialstaatlicher Arrangements undApparate. Allerdings konzedieren diese Autoren, daß damit der Nationalstaat weder überflüssig noch funktionslos gewordensei.®® Nach wie vor falle ihm die Aufgabe zu, kollektive Güter zur Verfügung zu stellen, die für die Zukunfts-fahigkeit modemer Gesellschaftenunabdingbar sind. Zu den »klassischen Leistungen« der Politik -»Etabliemng einer machtbasiertenInfrastruktur für die Kollektivgüterder iimeren und äußeren Sicherheitund der Schaffung einer geldbasierten Infrastruktur für die Kollektivgüter der ökonomischen und sozialen

Sicherheit« - tritt amAusgangdiesesJahrhunderts die Aufgabe der Etablierung einer »wissensbasierten Infrastruktur..., um die neuen Kollektivgüter der technologischen undökologischen Sichedieit zu gewährleisten«.®' Das ist in der Tat ein sehrweitreichendes Programm für Leistungen der Politik, das von dem Gedanken einer »Aufhebungdes Nationalstaates« weit entfernt ist.

DieseTheseübersieht zudem, daß es große und kleine,mächtige und wenigermächtigeStaatengibt und daß die- nicht allein militärischen, sondern vor allem auch dieökonomischen und monetären —Machtspiele in der internationalen Politik selbstverständlich durch solche Unterschiede (unddurchdas darin eingeschriebene Machtgefälle) bestimmt sind. Zweifellos sind die klassischen zwischenimperialistischenHegemoniekämpfe,die nach 1945durch die Systemkonkunenz und die US-Hegemonieneutralisiert waren, auchdurchdie transnationale Kapitalverflechtung historisch überholt. Dennoch spielt das Machtgefälle zwischen den Staaten auch in der EU bei derAuseinandersetzung um die Festlegung von Regeln fürtransnationale Regime (z.B. das EWS) nach wie vor eineerhebliche Rolle. Die EU-Verträge von Maastricht (1991/92) sind dafür ebenso ein Beispiel wie die Veto-Machtbzw. die Opting-Out-Option, die die konservative britische Regierung in bezug auf weitere Schritte der sozialen

und politischen Integration ausübt.Die zentralen politischen Veränderungen vollziehen

sich gerade nicht entlang der Achse Selbstbehauptungoder Erosion des Nationalstaates. Entscheidend ist vielmehr die Transformation der Funktionen nationalstaatlicherRegulierung zum»Wettbewerbsstaat«.Dieser paßtsich auf der einen Seite an die Anforderungen der Weltmarktkonkurrenz an (z.B. durch Deregulierungsmaßnahmen bzw. durch Privatisierung - vor allem im Bereichder Telekommunikation und des Verkehrs). Auf der anderen Seite bleibt er unverzichtbar, um die »nationaleÖkonomie« - aber vor allem die auf den Weltmarktorien

tierten Unternehmen - und die Ge

sellschaft »fit« zu machen für diese

Konkurrenz. Die verschiedenen na

tionalen »Standortdebatten«, die seitder Weltwirtschaftskrise 1992/93 -mit deutlich nationalistischen Ten

denzen - die innenpolitischen Diskurse über Kosten, Taii^olitik, Um-bzw. Abbau des Sozialstaates, Veränderung der Arbeitsbeziehungenetc. bestimmen, unterstreichen gerade die Bedeutung des Nationalstaatesals Instrument der Anpassung (im Interesse der transnationalen Konzeme

und des Finanzkapitals) und alsKampfplatz für die konkrete Umsetzung und Ausgestaltung der Wettbewerbsfähigkeit, d.h. für die konkreteGestalt der jeweiligen Kohärenz vonKapitalrentabilität auf der einen sowie Infrastruktur und sozialpolitischen Regulationsformen auf der anderen Seite. Darin sind stets auch

Elemente jenes Gegenmachtsystems enthalten, das die organisierte Arbeiterklasse über Gewerkschaften und betriebliche Interessenvertretungenauszuüben vermag. Einstweilen ist der Nationalstaat nicht allein Arena der »Sozialkontrakte«, sondem auch »Garant der Bürgerrechte«- diesen Gedanken hat Ralf Dahrendorf zu Recht gegendie »Gefahrdes Rückfalls in dieIntoleranzder homogenenNation oder die wolkigen Unsicherheiten des vorinstitio-nellen Zusammenlebens« hervorgehoben."

Für die politischen Auseinandersetzungen sind dabeivor allem zwei Aspekte relevant. Erstens gibt es keinzwingendes, monolithisches Muster für den Verlauf unddie konkreten Resultate dieser Transformation der Staatsfunktionen. Der Umbau zum »Wettbewerbsstaat« voll

zieht sich in der Regel innerhalb der bestehenden Institutionen. Diese variieren wiederum signifikant - auch zwischen den Mitgliedstaaten derEuropäischen Union." Siesind Ergebnis je spezifischer nationaler Traditionen (vor

Diezentralen politischenVeränderungen der nächsten Jahre vollziehen

sich gerade nicht entlangder Achse Selbstbehauptung oder Erosion desNationalstaates.

Entscheidend an diesem

Punkt ist vielmehr die

Transformation der Funk

tionen nationalstaatlicher

Regulierung zum »Wettbewerbsstaat«.

14 Supplement der Zeitschrift Soziaiismus 10-95

Page 17: Politik am Ende des 20. Jahrhunderts - Frank Deppe€¦ · 20. Jahrhunderts - Jahrhundertbilanzen - Das »Jahrhundert des Soziaiismus« - Vom »Ende der Geschichte« und der »Zukunft

allem im Rechtssystem, aber auch in den Organisationsformen der Verbände usw.), der ökonomischen Leistungsfähigkeit und der - im Ergebnis von sozialen Kämpfenund Koalitionsbildungen rechtlich und institutionellfixierten - Kräftekonstellationen der Klassen. Der Umbaufolgt dahermeist nichteinerLogik des radikalen Bmchs(selbst der »Thatcherismus« erscheint rückwirkend alseine eher vorsichtige bzw. strategisch klug kalkuliertePolitik des schrittweisen Umbaus, der das »Tabu« des ausSteuermitteln finanzierten nationalen Gesundheitsdienstesnoch nicht angegrifien hat'̂ ). Die bestehenden Verhandlungssysteme sollen vielmehr genutzt werden, umdieAnpassung an das Ziel der Wettbewerbsfähigkeit zu erreichen.Daserfordert Kompromißbereitschaft aufSeitenderrelevanten ökonomischen und politischen Aktuere, dieihrerseits Gestaltungsspielräume für Gewerkschaften, betriebliche Interessenvertretungen, Sozialverbände undBürgerinitiativen eröffnet

Allerdings darf dabei die grundsätzliche Machtasymmetrie, die mit der Schwächung der Arbeiterbewegungund der politischen Linken seit dem Ende der 70er Jahresich noch verstärkt hat, nicht übersehen werden. In demMaße, wie z.B. die Gewerkschaften schwächer werdenund ihrerseits Kompromißbereitschaft (z.B. im Hinblickaufdie »Standortsicherung«)signalisieren,nehmenUnternehmerverbände und konservative politischeKräfteKompromißlinien zurück und verschärfen eine konfrontativegesellschafts- und tari^olitische Strategie, die letztlicheineKapitulation derGewerkschaften erzwingen soll.DieGrenze zwischen der »Ermattungs-«und der »Niederwerfungsstrategie« (diese Begriffe spielten in der zweitenPhase der »Massenstreikdebatte« in der deutschen Sozialdemokratie vor 1914 eine Rolle) ist also äußerst schmalgeworden. Dennoch lassen unsere Überlegungen denSchluß zu, daß im Zuge der Globalisierung das nationalstaatliche Terrain keineswegs aufgehoben ist - und daßiimerhalb dieserAuseinandersetzungen Gestaltungsoptionen bestehen, die der - sei's ideologisch offensiven, sei'sohnmächtig defensiven - These von der Allmacht des»Sachzwang Weltmarkt« entgegenstehen.

Zweitensvollziehensich Kompetenzverschiebungen innerhalb des Mehrebenensystems der Politik, die vor allemim Bereich der politischenSteuerung von Marktprozessenzu Lasten der Kompetenz des Nationalstaatesgehen. Speziell mit der Ausweitung der Kompetenzen der Europäischen Union ist diese Problematik erkannt worden. Obwohldas politisch-wissenschaftliche Urteil überden Charakter des EU-Systems nach wie vor unsicher ist,'̂ istdoch weithin anerkannt, daß sich einst beim Nationalstaatzentralisierte Kompetenzen und Steuenmgsleistungensowohl »nach oben« - auf die europäische Ebene, im militärisch-politischen Bereichauf die atlantische Ebene (NATO)-, als auch »nachunten«(aufdie regionaleund lokale

Supplement der Zeitschrift Sozialismus 10-95

Ebene des policy-making) verlagert haben. Daraus folgtkeineswegs, daß dem Nationalstaat nurnoch symbolischeBedeutung zukommt. Die horizontale Diffusion politischer Verhandlungs- und Entscheidungssysteme impliziertfür die politischen Akteure freilich eineErweiterungihres Handlungsfeldes und erfordert daher oftmals schwierige Lernprozesse. Die Gewerkschaften z.B. sind gefordert, ihre transnationalen Aktivitäten und Vernetzungen- sowohl auf der Ebene der transnationalen, vor allemder europäischen Konzerne,'̂ als auch aufder Ebene derEU-Institutionen - zu verstärken und sich dabei vom Ballast ihrer historisch verfestigten nationalen Traditionen(dievorallem in Zeiten der Krise vomtransnational operierenden Kapital gegen sie ausgespielt werden) zu befreien. Andererseits konzentrieren sich in den großstädtischen Ballungsräumen dermetropolitanen Zentren diesozialen undökologischen Widersprüche derGlobalisierungimd stellen ganz neue Anforderungen andie»lokale Politik«.™ Auch in diesem Bereich variieren die Gestaltungsoptionen erheblich und eröffnen politische Interventionsmöglichkeiten, die ihrerseits mitdenjeweiligen Klasseninteressen bzw. mit der »Blockbildung« von Klassen-ftaktionsinteressen korrespondieren und daher den kon-fliktorischen bzw. antagonistischen Grundcharakter derAuseinandersetzung zwischen diesen Interessen undihrenpolitischen Artikulationsformen keineswegs suspendieren.DieAuseinandersetzungen umdiesozialökonomischeEntwicklung der »neuen Bundesländer« im OstenDeutschlands illustrieren diese Verschränkung der verschiedenen Politikebenen auf besonders eindrucksvolleWeise.

" Vgl. nir diese Position z.B. F. W.Schaipf, Die Handlungsfähigkeit desStaates am Ende des 20. Jahrhundens, in: PVS, 1991. S. 621ff.

" H. Wlllke, Ironie des Staates, a.a.O., S. 8.™Vgl. dazu u.a. E.Altvater, Operationsfeld Weltmarkt oder. Vom souverä

nen Nationalstaat zum nationalen Wettbewerbsstaat, in: Piokla, Heft 97, Jg.24, Nr. 4, S. 517ff.

" R. Dahrendorf, Die Sache mit der Nation, in: Merkur.44. Jg., Heft 10/11, Oktober/November 1990, S. 823fr., hier S. 833.

Vgl. dazu z.B. G.Esping-Anderson, The Three Worlds ofWeifare Capita-llsm, Ptinceton NJ. 1990; H. J. Bleling(Hrsg.), Arbeitslosigkeit und Wohlfahrtsstaat in der EU, FEG-Studie Nr. 7, Marburg 1995(im Erscheinen).

" Vgl. R. Dahtendorf, Jedem Sozialstaat seinTabu, in:Wochenpost vom14. Juni 1995. S. 16/17.

Vgl. F. Deppe/M. Felder, ZurPost-Maastricht-Krise..., a.a.O.Vgl.dazuu.a.T.Schulten, AufdemWegzueinem neuen Iransnalionalen

Untemehmenskorporatismus? in:B.Jessop u.a.. Europäische Integration undpolitische Regulierung, a.a.O., S. 97ff.

™Vgl. dazu z.B. T. v. Freyberg, Bedingungen und Möglichkeiten einersozialen Großstadtslraiegie in Frankfurt am Main, in: P. Bartelheimer u.a.(Hrsg.), Vorarbeiten zu einerFrankfurter Armutsberichterstattung, Offenbach1994, S. 5-18.

15

Page 18: Politik am Ende des 20. Jahrhunderts - Frank Deppe€¦ · 20. Jahrhunderts - Jahrhundertbilanzen - Das »Jahrhundert des Soziaiismus« - Vom »Ende der Geschichte« und der »Zukunft

Vergesellschaftung der Politik

Die Risiken und Widersprüche, die von der kapitalistischen Globalisierung und der ihr entsprechenden Politikder »Wettbewerbsstaaten« verstärkt und z.T. neuerzeugtwerden, werfen zugleich die Frage auf, welche Rolle beider Bearbeitung dieser Probleme der Markt auf der einenund der Staat auf der anderen Seite spielen werden bzw.- normativ formuliert - sollen. Auch hier geht es nichtum naive Entweder-Oder-Positionen, sondern um je konkrete Vermittlungs- bzw. Mischformen.'' Diese sindpolitischheftigumkämpft. DerSiegeszug des marktradikalenNeoliberalismus schien sich seit denspäten siebziger Jahren doppelt zubestätigen. Zunächst waren es die offenkundigen Widersprüche des key-nesianischen Interventionsstaates

(Abflachung der Wachstumsratenund die Weltwirtschaftskrisen der

siebziger Jahre, Inflation und Ansteigen der Arbeitslosigkeit), die derPropaganda des NeoliberalismusKraft verliehen.'® Sodann - bis zumEnde der achtziger Jahre - konntedie Kriseunddie schließliche Implosion des Staatssozialismus alsTriumph von Adam Smith (undFriedrich von Hayek) über KarlMarx (und John Maynard Keynes,den »Kollektivisten im bürgerlichenSchafspelz«) gefeiert werden. Derrelative Erfolgdes europäischenBinnenmarktes, der gewaltige Privatisie-rungs- und Deregulierungsschub, dervom Informations- und Telekommu

nikationssektor sowie vom Verkehrssektor in die neunziger Jahre hineinreicht - all dies unterstreicht die These,daß die Grenzen der Entstaatlichung noch längst nichterreicht sind. Im Übergang ins 21. Jahrhundert sollenzudemdie sozialstaatlichen Apparate(Gesundheitswesen,Altersversorgung), die Institutionen des Bildungs- undWissenschaftssystems sowie die Kembereiche der staatlichenVerwaltung selbst(»schlanker Staat«) fürdieprivateKapitalverwertungaufgebrochen und damit - so die herrschende »Wirtschaftstheologie« (Hobsbawm) —effizienter gestaltet werden.

Allerdings rufen die konkreten Resultate dieser Politikverstärkt Protest und Kritik auch an den Basispiämissendes Neoliberalismus hervor. Die monetaristische Radikalkur - meist mit Steuersenkungen für die Reichen verbunden - bekam die Inflation in den achtziger Jahrenerfolgreich »in den Griff« - aber zu Lasten des Wachstums,der Beschäftigung und der Staatshaushalte. Die Polarisie-

rung der Einkommen und Vermögen, die beständig ansteigende Massenarbeitslosigkeitund die Armut, der Verlustvon qualifizierten und gut entlohnten Arbeitsplätzen inder Industrie, der imDienstleistungssektorwederquantitativnochqualitativ kompensiert wurde, die Ghettoisiemngder Armutssektoren, verbunden mit steigender Kriminalität, ethnischen und rassistischen Konflikten - alle dieseTrends haben nicht nur die »liberalen Utopien«der frühenachtziger Jahre desavouiert, sondern auch vor allem inWesteuropa die Angst vor einer Amerikanisierung derGesellschaft verstärkt, die sich zunehmend fragmentiert.Der Politik kommt dabei wesentlich die Aufgabe zu, die

privilegierten Lebensbedingungender Reichen und einer relativ breiten

Mittelklasse, die mehrund mehrprivate Dienstleistungen (für ihre Sicherheit, für Gesundheits- und Altersversorgung, für Bildung undAusbildung) in Anspruch nehmen,gegen eine - überwiegend ethnischdeHnierte - »Underclass«" zu schützen. Die Grenzen zwischen den Klas

sen - notfalls mit Stachdrahtzäunen

und Mauern gesichert - dürfen nichtüberschritten werden. Die sozialen

Konfliktpotentiale müssen in denGhettos nach innen kleingearbeitetwerden,damit sie nicht auf der allgemeinen gesellschaftlichen - d.h. derpolitischen - Ebene als Forderungnach einer Umverteilung des Reichtums, nach staatlicher Interventionund Reformpolitik, die dem Kampfgegen die Armut und für die Rekonstruktionder zerfallendengrößstädti

schen Infrastmkturen Priorität zuerkennt, thematisiertwird.

»Alle europäischen Gesellschaften betrachten denKampfgegendie Ausschließung unddie Dualisierung alsihr hauptsächliches Ziel, und schon hört man nicht mehrauf diejenigen, welche von der Reduktion der Staatsintervention sprechen«.®" Diese Beobachtung von Alain Tou-raine mag überzeichnet (und zu optimistisch) sein. Gleichwohl macht sie auf das Dilemma aufmerksam, in demsich der Neoliberalismus befindet. Kein konservativer Politiker in Europa glaubt seit Anfang der neunziger Jahre,Wahlkämpfe gewinnen zu können, wenn er sich auf dieBotschaft von den Segnungen der Marktfreiheiten (national und global) beschränken würde. Vielmehr wird erwartet, daß er als Anwalt einerPolitik der Überwindung dersozialen Desintegration und Fragmentierung,d.h. als Anwalt eines neuen politischen Programms der gesellschaftlichen Integration operiert. Der Absturz der deutschen

Es ist die Re-Reguiationdes Verhältnisses von

Markt und Staat, die amEnde des 20. Jahrhun

derts mehr und mehr zum

Gegenstand der Politikund zum Thema in der

strategischen und programmatischen Auseinandersetzung zwischenProgressiven und Konservativen, zwischen linksund rechts wird.

16 Supplement der Zeitschrift Sozialismus 10-95

Page 19: Politik am Ende des 20. Jahrhunderts - Frank Deppe€¦ · 20. Jahrhunderts - Jahrhundertbilanzen - Das »Jahrhundert des Soziaiismus« - Vom »Ende der Geschichte« und der »Zukunft

FDP oder auch die katastrophalen Wahlergebnisse derbritischen Konservativen bei den Regional- und Kommunalwahlen der letzten beiden Jahre reflektieren so auchdas miserableImage, über das der harte »Marktradikalismus« - als die Wirtschafts- und Gesellschaftsphilosophieder »Besserverdienenden« und Eliten - derzeit verfügt.

Es ist diese Re-Regulationdes Verhältnissesvon Marktund Staat, die am Ende des 20. Jahrhimderts mehr undmehr zum Gegenstand der Politik und - im Vorfeld des.Staatshandelns - zum Thema in der strategischen undprogrammatischen Auseinandersetzung zwischen Progressiven und Konservativen, zwischen links und rechts(die Begriffe haben gerade in diesem Bereich durchausihre Bedeutung behalten), zwischen arm und reich, zwischen abhängig Arbeitenden und kapitalistischem Management wird. Dieentscheidende Voraussetzung fürpolitischeGestaltungsoptionen bildet dabeidas - im Ergebnisder neoliberalen Politik angehäufte - Staatsdefizit, das inder Regel als »schlagendes« Argument angeführt wird,umdie objektive Unmöglichkeit staatlicher Reformpolitiknachzuweisen - mehr noch, um die unbedingte Notwendigkeit einer Fortsetzung der »Austeritätspolitik« in denBereichen der Sozial-, Fiskal- und Inffastrukturpolitik alsunumgehbaren Sachzwang zu exekutieren.

Raumfür Gestaltungsoptionen könnte dahernur indemMaßegeschaffen werden, wiedie Ursachen derexpandierenden, öffentlichen Verschuldung (die in Deutschlanddurch die Kosten des »Anschlusses« der ehemaligen DDRnoch erhöht werden) beseitigt werden. Dies betrifft zumeinen die ständig wachsenden gesellschaftlichen Kostender Massenarbeitslosigkeit, Armut, Marginalisiening sowie der Versäumnisse auf dem Gebiet einer vorsorgendenökologischen Politik, unddie mangelnde Bereitschaft derRegierungen der führenden Industriestaaten, auch nureinen Bruchteiljener Gewitme abzuschöpfen, die vor allemauf den globalen Finanzmärkten erzielt werden. Es gehthier nicht um eine vollständigeAuflistungjener Politikbereiche, über die - national wie intemational - eine Vermin-derung der Staatsverschuldung und eine neue Schwerpunktsetzung bei den öffentlichen Ausgaben durchzusetzen wäre. Vielmehr geht es um den Hinweis, daß auchdieses Politikfeld im Schnittpunkt von Markt und Staatheftigumkämpft ist unddaßes offenkundig durchantagonistische Basisinteressen - »Marktfreiheit« und Antieta-tismus als Synonyme für Profitinteressen;Staatsintervention als Synonym für den Anspruch auf gesellschaftlicheLösungen, die politischin dasSystemder Kapitalakkumulation eingreifen - strukturiert wird.

Wenn von staatlichen Lösungen die Rede ist, schließtsich schnell die Front der Antietatisten, von den Neoliberalen bis zu einst anarchistischen oder linksradikalen Grünen, die staatliche Regulation prinzipiell als negativ - alsbürokratisch, zentralistisch, unbeweglich, antiinnovato-

Supplement derZeitschrift Sozialismus 10-95

risch, patriarchalisch etc. - denunzieren.®' Solche Urteilesind jedoch undiffetenziert bzw. offen ideologisch. Sieentsprechen jener »Staatsfeindlichkeit« der besitzendenEliten,die die Ausweitung der Staatstätigkeit im Bereichder Infrastruktur und der Sozialpolitik als Ergebnis desKampfes der sozialistischen Arbeiterbewegung seit demspäten 19.Jahrhundert stets nurwiderwillig hingenommenbzw. politische Kräfte unterstützt haben, die - wie inDeutschland nach der Novemberrevolution 1918/1919 -auch die einfachsten demokratischen Errungenschaftender Revolution (wie die parlamentarische Republik undden Acht-Stunden-Tag) revidieren wollten. Neuerdingskorrespondiert der Antietatismus auch der InteressenlagejenerMittelschichten, diedieSolidarität mitder »Under-class«(dieserBlocktrugim wesentlichen dieReformpolitik seit den späten sechziger Jahren) aufgekündigt hat,universalistische Lösungen gesellschaftlicher Problememehr und mehr ablehnt und stattdessen private Dienstefür ihre Bildung, Gesundheits- und Altersversorgung sowie für Kultur und Sicherheit bevorzugt."82

" »Die bequeme Vorstellung, derMarkt sorge fUr eine optimale Allokation>privater< Güter und die Politik fürdiejenige >kollektiver< Güter, fühlt dort indie Irre, wo moderne Gesellschaften ihre Potentialität und ihre Riskiertheitgleichmaßen verdichten; an den Orten jener komplexen Problemstellungen,dieinvielschichtiger Verschachtelung sachlicher, sozialer, zeitlicher, operativerund kognitiver Dimensionen und Wertigkeiten keineeindeutigen, einfachenodereinseitigen l.ösungen zulassen, sondern responsive und revisible ProzessederEntscheidungsfindung erfordern: Wissenschafts- undTechnologieplanung,Sicherfaeitspolitik. Gesundheitspolitik und UmweltpoUtik bishin zuscheinbargeringeren Problemen wie Stüdtebauplanung, Energiepolitik oder Entwicklungshilfe«. H. Willke. Ironiedes Staates, a.a.O.,S. 59.

»Mitteder 70erJahre warendie Wachstumsraten gesunken.InftationundAbeilslosigkeit gestiegen. Es war klar, daß sich diekapitalistische Weltwiit-schaft aufein tiefes Konjunkturtal zubewegte. Indieser neuen Situation mangelte es derSozialdemokratie nicht nur aneiner effektiven Politik, um derKrise zii begegnen. Siewurde selbst plötzlich mit der Krise in Verbindunggebracht, und die wieder zum Leben erweckten Monetarisien machten ÜberhöhteStaatsausgaben und übermächtige Gewerkschaften fürdieStagflationverantwortlich. Dies führte zu Angriffen gegen den Sozialstaatskonsens, der dieGrundlage fürsozialdemokratische Regierungen gebildet hatte. Diese Reaktionbrachte in dergesamten Region rechte Regierungen ansRuder«. P. Anderson,Die Krise der westeuropäischen Sozialdemokratie und die Aufgaben einerneuen Linken, Beilage zur Sozialistischen Zeitung (Köln), 10. Jg., Nr. 12/a995, S. 2; N. Poulantzas (in: Piokla,3/1979, S. 127ff.) hatteschon 1979dieKrise derSozialdemokratie diagnostiziert: »DerSozialdemokratie isteseinfachnicht gelungen, die Wirtschaftskrise zu vermeiden, und, eben weil sie dasnicht konnte, haben sich die materiellenGrundlagen ihrer politischen Anziehungskraft und ihrerStrategie ganzbeträchtlich vermindert« (S. 134).

^Vgl. dazu u.a. M. Kronauer (Ed.), Unemployment in Westem Europe.Intemational Journal of Political Economy, Vol. 23. No. 3 . 1993 (N.Y.).

^ A. Touraine. 11 Ritomo de lo Politico, a.a.O." Der Oldenburger Juraprofessor ThomasBlanke faßte bei einer Tagung

derHans-Böckler-Stiftung überden »neuenGesellschaftsvertrag« diesenneuenBasiskonsens z.B. mit Positionen des »Königsteiner Kreises« in einem Satzzusammen: »Der Sozialstaat ist ökonomisch maßlos, ökologisch ruinös, finanziell Uberfoidett, politisch nicht länger steuerbar, übermäßig venechtlicht,bürokratisch >kolonialisierend< und untergräbt die moralischen Ressourcen,die ihn stützen«. Vgl. DieMitbestimmung. 8/1995, S. 58.

Vgl. dazu für die USA B. Ehrenreich, Angst vor dem Absturz. DasDilemmader Mittelklasse, München1992;F. Deppe,Angstvordem Absturz?Transformationen des »alternativen Mittelstandes«, in: F. Krause u.a. (Hrsg.),NeueRealitäten des Kapitalismus. Linke Positionsbestimmungen, Frankfurt/Main 1995, S. 112-121.

17

Page 20: Politik am Ende des 20. Jahrhunderts - Frank Deppe€¦ · 20. Jahrhunderts - Jahrhundertbilanzen - Das »Jahrhundert des Soziaiismus« - Vom »Ende der Geschichte« und der »Zukunft

Staatliche Interventionen sind jedoch heute mehr dennje gefordert, um den allgemeinen gesellschaftlichen Re-produktionserfordemissen gerecht zu werden (und auchdort, wo lauthals »weniger Staat« gefordert wurde wieunter Reagan in den USA und Thatcher in Großbritannien,sind die Staatsausgaben sogar noch angewachsen). Siesind gerade da von etatistisch-bürokratischer Natur, wosie dazu dienen, die Kosten der neoliberalen Konterrevolution aufzufangen; als Arbeitslosengeld und Sozialhilfe,die ständig mit restriktiverenAuflagenfür die Betroffenenbelegt werden, als »Law-und-Order«-Kosten für die Ausweitung der Polizei und anderer Sicherheitsdienste, oderals Kosten des Militärs, das es - nachdem Ende des Ost-West-Oegensat-zes - schnell verstanden hat, die fürseine Bestandssicherung(und die derRüstungsindustrien) bedrohliche Debatte über die »Friedensdividende«auf neue Bedrohungsszenarien umzulenken.

Die politische und gewerkschaftliche Linke hat den Staatsinterventio

nismus niemals ausschließlich unter

dem Gesichtspunkt seiner technokratischen Effizienz befürwortet, sondern im Gegenteil den technokratischen Staat als eine Entwicklungsform des kapitalistischen Staates kritisiert.®' Vergesellschaftung derPolitik bedeutet nicht allein die Option für politische Partizipation undeinen demokratischen Staatsaufbau(mit föderalen und basisdemokratischen Elementen). Diese schließt zudem gesetzlich gesicherte sozialeMindeststandards ein,diealsGrundbedingung einer- aufdie Entwicklungschancen der Individuen bezogenen -egalitären Gesellschaft angesehen werden. Dazu kommt,daß sich die Linke, gerade aufgrunddes Wissensum denzentralistisch bürokratischen Herrschaftscharakter vonStaatsleistungen, stets fürdie Demokratisierung der InstitutionenderprivatenUnternehmen wieder Staatsapparateselbst eingesetzt hat. Dieser Impuls scheint heute —nachden partiellenErfolgenpolitischerundsozialer Bewegungen Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre -weitgehend erlahmt und diskreditiert.®^ Dennoch wird(und muß) auch in der Zukunft die Forderung nach einerDemokratisierung der Staatstätigkeit (bezogen aufdie gesellschaftlichen Zwecke der Intervention) sowie der staatlichen Institutionen (bezogen auf deren demokratischeStruktur: Transparenz von Entscheidung, Partizipationsiechte von Beschäftigten und Betroffenen) zentrder Programmpunkt linker Politik sein, in dem sich konkrete

Interessenvertretung der >Subaltemen< mit der langfristigen Perspektive einer »Zurücknahme des Staates in dieGesellschaft« bzw. einer »Vergesellschaftung des Politischen« verbindet. Auf die Gegenwart bezogen bedeutetdies nicht allein, den Antietatismus, der zusammen mitdem »Sachzwang-Weltmarkt«-Argument den mächtigsten ideologischenStützpfeiler der neoliberalen Hegemonie bildet, infragezustellen, sondern für einen Typus staatlicher Intervention im Bereich u.a. der Beschäftigungsund Ökologiepolitik, der Wissenschafts- und Kulturpolitikeinzutreten, der - über Ressourcenmobilisierung und allgemeine Verfahrensregeln - Handlungskorridore für auto

nome gesellschaftliche Initiativenöffnet.

Der neue Gesellschafts-

vertrag, der der Zuspitzung von Marginalisie-rungstendenzen entgegenzuwirken hätte, wäredie Antwort der »Gesell-

schaftif (im Resultat vonKämpfen und als Artikulation von Kräftekonstel

lationen) auf die Entgrenzung der Marktprozesse,genauer: der Kapitalakkumulation.

Die Zukunft der Arbeit

Schließlich steht am Ende des 20.

Jahrhunderts die Frage nach einerNeubewertung von Arbeit auf derTagesordnung der Politik. Die gewaltigen Produktivitätszuwächse,die aufgrund der »informationellenRevolution« sowie aufgrund arbeits-organistorischer Rationalisierungerzielt werden, führen dazu, daß einständig wachsender Teil der arbeitsfähigen Bevölkerung aus dem System der Erwerbsarbeit ausgegrenztwird. Die Prinzipien der Exklusionund des Dualismus, von denen AlainTouraine spricht, haben gerade hierihren Grund. Der neue Gesellschafts-vertrag, der der Zuspitzung solcher

Marginalisierungstendenzen entgegenzuwirken hätte, wäre so die Antwort der »Gesellschaft« (im Resultat vonKämpfen und als Artikulation von Kräftekonstellationeninder Gesellschaft)auf die Entgrenzungder Marktprozesse, genauer; der Kapitalakkumulation.®' Diese Antwortkann - wie wir im vorangehenden Abschnitt zu zeigenversuchten - die rechtliche und institutionelle Form komplexer Regelungssysteme von der betrieblichen über dienationale bis zur transnationalen Ebene annehmen.

Diese Intervention,die darauf gerichtet ist, die produktiven Vergesellschaftungspotentiale der »neuen Betriebsweise« freizusetzen, differenziert sich wesentlich in dreiGestaltungsbereiche aus:

Erstens verlangt die »neue Betriebsweise« neue Formender enthierarchisierten und flexiblen Arbeitsorganisation,die die Potentiale der individuellen Qualifrkation undKreativität ebenso zu nutzen vermag wie die der nichthierarchischen Kooperation. Die »neue Betriebsweise« er-

18 Supplement der Zeitschrift Sozialismus 10-95

Page 21: Politik am Ende des 20. Jahrhunderts - Frank Deppe€¦ · 20. Jahrhunderts - Jahrhundertbilanzen - Das »Jahrhundert des Soziaiismus« - Vom »Ende der Geschichte« und der »Zukunft

möglicht (objektiv) zum ersten Mal in derGeschichte derindustriekapitalistischen Zivilisation im Kembereich dermateriellenProduktiondie Befreiungder Arbeitvom »Naturzwang« derschweren undmonotonen körperlichen Arbeit - »in einem Wort, die Entwicklung des gesellschaftlichen Individuums, das als der große Grundpfeiler derProduktion und des Reichtums erscheint«.®® Damit werden auch neue Formen der Produzentendemokratie möglich, die über die traditionellen Partizipations- und Mitbestimmungskonzepte derGewerkschaften insofern hinausgehen, als sie die Arbeitsorganisation und letztlich auchden Zweck der Produktion und damit die Gebrauchswert-eigenschaften derProdukte zum Gegenstand haben körm-ten(z.B im Kontext einerökologisierung derProduktionwie der Produkte).

Zweitens werden - auch unter Effizienzgesichtspunkten- durch die »neue Betriebsweise« neue Arbeitszeitregimemöglich und notwendig. Diese werden sich nicht alleinauf die Verkürzung der Wochen- bzw.der Lebensarbeitszeit beschränken müssen. Eine solche Beschränkung (imSinne von »Not-Lösungen«) ist nur dann erforderlich,wenn in der harten Auseinandersetzungzwischen Kapitalund Arbeit für den schwächeren Teil, nämlich für dieLohnabhängigen, Arbeitszeitverkürzung mit steigenderArbeitslosigkeit, geringerem Einkommen und sozialemSchutz und der Präkarisierung der Arbeit (»bad Jobs«)verbunden ist Sobald freilich solche - über den Betriebhinausgreifenden —gesellschaftlichen Sicherungen vorhanden sind, kann auch der Rahmen für die Flexibilisierung von Arbeitszeiten - unter Berücksichtigung individueller und partikularer Arbeitszeitinteressen - sehr vielweiter gespannt werden.®'

Daraus folgt eine dritte Gestaltungsaufgabe. Sie wirddurch die Frage definiert, wie die aus den gewaltigenProduktivitätssteigerungen im Kembereich der materiellenProduktion hervorgehende »Freisetzung« vonArbeitskraft (Schaffung von »disposable time«) - über die Arbeitszeitverkürzung hinaus gesellschaftlich »verarbeitet«wird. Diese Fragestellung führt natürlich auch zum Ver-hälmis von Markt und Staat/Politik als Steuerungsprinzipien sozialökonomischer Prozesse - allgemeinen vonVergesellschaftung - zurück. Sofern dieRegulation dieserProduktivitätsgewinne den Steuemngsprinzipien desMarktes(derTauschwert- undder Profitproduktion) überlassenbleibt,erzeugendieseüberdie ständigzunehmendeAußerwertsetzung vonArbeitsvermögen - überArbeitslosigkeit sowie über die»Schattenökonomie«—einen gewaltigen Ballast für die Gesellschaft, dessen Bewältigungstets höhere, unproduktive Kosten verursacht. Die eheroptimistischen Thesen im Anschluß an frühe Prognosenvon JeanFourastid über den Übergang von der industriellen zur tertiären Dienstleistungsökonomie scheinen sichauf den Arbeitsmärkten nur partiell und höchst wider

Supplement def Zeitschrift Sozialismus 10-95

sprüchlich zu bestätigen.®® Der Verlust von industriellen»Normalarbeitsplätzen« wird - auch imHinblick aufdasNachfragepotential der Einkommen - nur unzureichendkompensiert. Stattdessen nimmt die Zahl der sog. »bad

" Ralph MUiband hal inseiner Iclassischen Arbeil »DerSlaal inder kapitali-slischen Gesellschaft« (1969) - Frankfurt/Main 1975- die Auff^ung begrtn-det, daß inkapitalistischen Klassengesellschaften »der Staat inerster Linieund ganz unvermeidlichderHüterund Beschützerderökonomischen Interessen(ist), diein ihnen votherrschen. Sein >realer< Zweck und seine Mission istes,ihre fortgesetzte Vorherrschaft zu sichern, nicht sie zu verhindern« (351).Danach hebt erdieBedeunmg der>bütgerlichen Freiheiten« fürdie»sozialistische Kritik« hervor: Deren »Angelpunkt... ist nicht (oder soUte nicht sein),daß siebedeutungslos sind, sondern daß siezutiefst inadäquat sind und ausgeweitet werdenmüssen durch die radikaleTransformation des ökonomischen,sozialen und politischen Kontextes, der siezurInadaequatheit und Aushöhlungverdammt« (S.352). Leo Panitch, Globalisation andtheState, a.a.O., erinneitan diesePositionvon Milibandund kritisiertdie sozialdemokratische Position(und Illusion) einer »progressive competitive alternative« zum globalisiertenKapitalismus (also diePosition, den »Sachzwang Weltmarkt« zuakzeptierenluid innerhalb dieses Rahmens - durch Kooperation mit den fortschrinlichenFraktionender Wirtschaft- nach »fortschrittlichen« Lösungen zu suchen):»Those who advancc the nebulouscase for an >intemational civil society« tomatch the>nebuleuse< that isglobal capitalist govemance usually fall toappre-ciate that capitalism has not escaped the State but rather that the State has, asalways, been a fundamental constitutive element inthe very process ofexten-sion ofcapitalism in our time ... It is necessary to try to reorient Strategiediscussion of the Left towards the transfonnation of the State rather thantowaids transcending theState or ttying to fashion a progressive competitiveState« (87).

" Überdie Diskreditierung egalitärer Weitorientierungen inderpolitischenKultur unserer Zeit schreibtP. Anderson(Zum Ende der Geschichte,Berlin1993, S. 143): »Gleichheit, die nach dem Zweiten Weltkrieg immerhin einerhetorische Rolle imöffentlichen Leben spielte, auch wenn sieinWirklichkeitradikal abgewehrt wurde, gilt derzeit weder alsmöglich noch alswünschenswert. Ja. fürden gesunden Menschenverstand unserer Tage sind alleIdeen,die einstmals den Glauben an den Sozialismusausmachten, bloß noch toteHunde. Das Zeitalter der Massenproduktion ist von einer Nach-Fordschen-Ära abgelöst worden. Die Arbeiterklasse gilt als verblassende Erinnerung andie Vergangenheit; Kollektiveigentum als Garantie für Tyrannei und Ineffi-zienz; substantielle Freiheit als unvereinbar mitFreiheit tmd Produktivität«.

" Vgl. dazu ausBlhrlicher meinen Aufsatz zum »Neuen Gesellschaflsver-ttag« (Arun. 7).

" K.Marx, (jnindrisse derKritik derpolitischen Ökonomie. Berlin 1953.S. 592/3.

''' Die neuere (neoliberale) Individualislerungsideologic, dieallerdings auchin den Gewerkschaften immermehran Einfluß gewinnt, argumentiert freilichin eine andere Richtung. Da die Individualisierung schon längst die realeExistenz- und Reproduktionsweise sei(kollektive Vergesellschaftung und kollektive Interessenwahmehmung. dieaufdem Interessengegensatz von Kapitalund /^it beruht, längst Vergangenheit sei), werden nun Lösunpn konzipiert,um - jenseits des kollektiven Arbeitsrechtes - individuelle Arbeitnehmerrechleals Freiheitsrechte zu sichembzw.neueinzuführen. Dieseemphatische Absageangesellschaftliche Lösungen (die natürlich letztlich aufder Verabschiedungvoneinem kritischen Begriffdeskapitalistischen Vergesellschaftungsprozessesberuht) führt freilich dazu, daßdas gesamte Feld der politischen Gestaltungdergesellschaftlichen Umfeldbedingungen der »neuen Betriebsweise« - alszentrale gesellschafts- und reformpolitische Aufgabe der Gewerkschaften -weitgehend ignoriert wird. Über die neuen Begriffe Diskurs und Beteiligungwird letztlich jener sozialparmerschaftlichen Orientierung dasWort geredet,die - innerhalbder DGB-Gewerkschaften - seit den 70er Jahren vor allemvonderIG ChemieunterHermannRappe(miteinerscharfenAusgrenzungspolitik gegenüber der gewerkschaftlichen Linken) vertreten wurde. Vgl. dazuexemplarisch H. Matthies u.a., Arbeit 2000. Anforderungen aneine Neugestaltung der Arbeitswelt. Eine Studie der Hans-Böckler-Stiftung, Reinbek beiHamburg 1994.

" Vgl. dazu u.a. K. G. 2Snn, Dienstleistungsgesellschaft oderKrise destertiärenSektors? in: WSI-Mitteilungen, 46. Jg. Nr 1/1993.

19

Page 22: Politik am Ende des 20. Jahrhunderts - Frank Deppe€¦ · 20. Jahrhunderts - Jahrhundertbilanzen - Das »Jahrhundert des Soziaiismus« - Vom »Ende der Geschichte« und der »Zukunft

Jobs« mit unzureichendem sozialen Schutz und geringerBezahlung zu.

Die Gestaltung des gesellschaftlichen Umfeldes der»neuenBetriebsweise« stehtdahervorder Aufgabe, dieserDualisierungstendenz entgegenzuwirken. Beschäftigungspolitik, diewesentlich weniger gesellschaftliche Kostenin Anspruch nähme alsdiejenigen der Massenarbeitslosigkeit und der Armut, hätte sich demzufolge daraufzukonzentrieren, qualifizierte Tätigkeiten im Dienstleistungssektor - vor allem zur Befriedigung jenes wachsenden Bedarfes, der in den Bereichen der Ökologie, derGesundheit und des Alters, der Bildung, Weiterbildungund Kultur besteht - abzusichem undneue, qualifizierte Tätigkeiten zu erschließen. Auch hier gilt, daß einesolche Politik keineswegs dem starren Muster zentralstaatlich hierarchi-

sierterRessourcenmobilisierung und-Zuteilung(schon gar nicht der exakten Vorgabe der inhaltlichen Ausgestaltung dieser Tätigkeiten) folgenmuß. Allerdings werden die politischen und sozialen Auseinanderset

zungen auf der zentralstaatlichenEbene einen »Machtwechsel« zu Lasten des neoliberalen »Blocks an der

Macht« herbeiführen müssen, als eine politische Voraussetzung für einen Prioritätenwechsel bei den wirt-

schafts- und gesellschaftspolitischenSchwerpunktsetzungen.

verhindert, beschleunigt bzw. überfoimt werden, so daßzivilgesellschaftliche, politische Lösungen gesellschaftlicher Probleme gewaltsam blockiert und verschoben werden, um später um so explosiver an die Oberfläche derPolitik zu treten. Darin wird freilich schon deutlich, welchhoheBedeutung auch in der Zukunft innen-und außenpolitisch einer Politik der Friedenssicherung zukommt, diesich dem neudeutschen »Elitennationalismus« und »Belli-

zismus«und seiner Forderung nach der Anerkennung desPrimats einer machtorientiertenAußenpolitikentschiedenwidersetzt.

Die Agenda der Politik am Ende des 20. Jahrhundertsgreift hneilich weit über die hier nurgrob skizzierten Themenbereichehinaus. Die Lösungen, die schließlich im Ergebnis politischer, sozialerund ideologischer Auseinandersetzungen gefunden werden, berührenzunächst einmal die gesellschaftlichen Strukturen sowie die Qualitätder Vergesellschaftungsprozesseselbst. Es geht dabei nicht allein umKonflikte, die mit der Polarisierungder Einkommens- und Lebensver

hältnisse- im Innernder Metropolendes Kapitals als auch in den globalenDimensionen - verbunden sind.

Vielmehr wird dabei auch entschie

den, welche Rolle sozialstaatlicheund andere gesellschaftliche Interventionen sowohl im Hinblick auf

die Modifizierung dieser Polarisie-ning als auch im Hinblick auf dieAusbildung von solidarischen Werteorientierungen und deren institu

tionelle Sichemngen in einer Gesellschaft zukommt, inder sich kollektive Sozialisations- und Verhaltensprägungen auflösen und zugunsten individualistischer Lebensstile und -Optionen zurücktreten.

In der ersten Hälfte des Jahrhunderts haben die Vertreterdes wirtschaftlichen und politischen Liberaiismus sowohldie Erfolge des Sozialismus, aber auch den Faschismus(als die terroristisch-staatliche Reaktion auf den Sozialismus) und schließlich später den keynesianischen Wohlfahrtsstaat des Fordismus als einen Sieg des »Kollektivismus« über das Prinzip der individuellen Freiheit interpretiert.®'Im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts mußten dieNiederlagen des Sozialismus und die Krise des Keynesia-nismus - zumindest propagandistisch - als ein Sieg desLiberalismus und des Individualismus über den »Kollektivismus« begriffen werden. Wenn die Geschichte nicht zuihrem Ende gekommen ist und wenn der Zyklus dieserAuseinandersetzung, der seit der Verallgemeinerung der

Ein neuer Zyklus sozialerAuseinandersetzungen

Im Übergang ins neueJahrhundert steht nicht

nur die Reparatur der materiellen und moralischen

Schäden an; letztlich

wird sich wieder die Fra

ge nach den gesellschaftlichen Strukturen und

nach den politischen Institutionen stellen, in denen die Assoziation der

freien Individuen über

haupt möglich ist.

Die hier angesprochenen Themen bezeichnen selbstverständlich nicht alle Handlungsfelder, die für die Politikam Ende des 20. Jahrhunderts von Bedeutung sind.Gleichwohl lunschreiben sie den Rahmen der Auseinandersetzungen, die angesichts der Widersprüche der herrschenden, globalen Ordnung zu erwarten sind - ohne daßwir überderen VerlaufundErgebnisseim 21. Jahrhundertgesicherte Aussagen machen können. Diese Offenheit dergeschichtlichen Konstellation istnichtalleindarinbegründet, daß die hier skizzierten Problem- und Handlungsfelder der Politik jeweils verschiedene Optionen und Lösungsvarianten zulassen. Zum anderen läßt sich nicht voraussagen,ob und wie soiche Lösungen diu'ch Kriege undandere Formen der politischen Gewalt oder auch durchden - von einigen Beobachtern befürchteten —»Zusammenprall derKulturen« (bzw.der westlichen »Zivilgesellschaften« mit dem orientalischen »Fundamentalismus«)

20 Supplement der Zeitschrift Soziaiismus 10-95

Page 23: Politik am Ende des 20. Jahrhunderts - Frank Deppe€¦ · 20. Jahrhunderts - Jahrhundertbilanzen - Das »Jahrhundert des Soziaiismus« - Vom »Ende der Geschichte« und der »Zukunft

kapilalistischen Produktionsweise - in historisch je konkreten und verschiedenen Formen - wirkt, nicht außerKraft gesetzt sein sollte, dann steht im Übergang ins neueJahrhundert nicht allein die Reparaturder materiellen undmoralischen Schäden auf der Tagesordnung, die durch dieWachstumszwänge der industriekapitalistischen Zivilisation. durch das System des Eigennutzes, der Konkurrenzund des verantwortungslosen Individualismus angerichtetwurden. Letztlich wird sich dabei wieder die Frage nachdengesellschaftlichen Strukturen undauch nach denpolitischen Institutionen stellen, in denen die Assoziation derfreien Individuen überhaupt möglich ist.™ •

' Vgl, dazu R. CockctI, TWnking ihe Unihinkablc, a.a.O.. S. 6. DiePro-

grammschnft des LibcnüisTnus. dieden »KoUeküvismus« mit derSklavereiidentifizierte, war Friedrich von Hayeks »Road to Serfdom« (1944).

^ Peiiy Anderson hai in der Auseinandeiselzung mit den Thesen vonFukuyama im letzten Kapitel die Frage nach derExistenzberechtigung undZukunft desSozialismus gestellt. Ergehl davon aus.dafl heule alleBestandteileder sozialistischen Zukunftsvision, die seit dem 19.Jahrhundert die GeschichtedesKapitalismus maßgebend mitbestimmt haben, xslarken Zweifeln« ausgesetzt sind(DasEndeder Geschichte, a-a.O„ S. 142). Nachdem Blick auf dashistorischeSchicksal von revolutionSren Ideen in der GeschichtederbürgcrU-chen Revolutionen und nachder Feststellung, daß der Siegdes KapitalismusUber denSozialismus dessen Widersprüche undProbleme keineswegs aufhebt,kommt Anderson zu einer sehr vorsichtigen Schlußfolgening: »SoUte derSozialismus fUr dieseProbleme sinnvolle Lösungen finden, müßte keineandereBewegung aufihn folgen. Vielmehr rehabililienc er sich dann aus sich selbstheraus als Programm filr eine Weit, die egalitürer und lebenswerter wäre«(ebd., S. 169/70). Diese These wäre nun ineinem abschließenden Beilrag überdie »Zukunft des Sozialismus« sehr nüchtern - vor allem auch im HinblickaufdieFrage nach denTrägem undSubjekten einersolchen Politik - zuüberprüfen.

Als Supplement von Heft 7/8-1995von Sozialismus erschien:

Egalitarismus oderpolitische Ökonomie deremanzipierten Arbeit?Zur Sozialismuskonzeption von Karl MarxVon den Sozialistischen Studiengruppen24 Seiten; Schutzgebühr DM 3,-

Egalitarisniusoder politische

Ökonomie deremanzipierten

TT Arbeit?

Aus dem Inhalt;

- Die »Große Industrie« als

»ganzer Gesellschaftsmechanismus«- Kampf um die Normierung

des Arbeitstages- Regulierte Arbeitszeit als Basis

zivilisatorischen Fortschritts

- Leitfaden der Geseiischaftsreform- Weitere »organische Changes« der

kapitalistischen Produktionsweise- Verlust gesellschaftlicher Einsicht?- Resüme und Ausblick

Als Supplement von Heft 9-1995von Sozialismus erschien:

Friedrich Engels24 Seiten; Schutzgebühr DM 3.-

zu beziehen über;

Redaktion Soziaiismus.Kiaus-Groth-Str. 336, 20535 Hamburg

Tel. und Fax 040/250 10 11

Riedrich Engels

LL-iitix.

Supplement der Zeitschrift Sozialismus 10-95

Konkurrenz und Wetteifer -

Zu einigen Aspekten von Engels' Baitragzur Kritik der politischen ÖkonomieVon Joachim Bischoff

Engels und die politische Taktikder Sozialdemokratie

Von den Soziaiistischen Studiengruppen

Hat Engels das )Kapital< verhunzt?Von den Sozialistischen Studiengruppen