Politik, Industrie und Umweltschutz in der Bundesrepublik ......Vgl. Joan Robinson/John Eatwell,...

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Bernhard Weßels Politik, Industrie und Umweltschutz in der Bundesrepublik: Konsens und Konflikt in einem Politikfeld 1960-1986 1. Einleitung 2. Die Entwicklung der Auseinandersetzung zwischen Wirtschaft und Politik im Umweltschutz 2.1. Umweltpolitik: neuer Name, lange Tradition? 2.2. Umweltpolitik 1945-1969: Ressourcen- und Entsorgungsmanagement 2.3. Die "euphorische Phase": Umweltpolitik als Bestandteil der Politik der inneren Refor- men 2.4. Umweltpolitik 1974-1982: Wahrung des Erreichten 2.5. Eine neue Welle? Marktkonformes Umweltmanagement 3. Strategie- und Handlungswandel des Bundesverbandes der Deutschen Industrie in der um- weltpolitischen Auseinandersetzung 3.1. Die Entwicklung des umweltschutzassoziierten Problemhaushalts aus der Sicht des BDI 3.2. Bedingungsfaktoren für das Konfliktpotential zwischen Industrie und Staat 4. Schlußbetrachtung 1. Einleitung Das Problem der Umweltverschmutzung hat entgegen der Einschätzung zahlreicher Po- litiker - der maßgeblichste war vermutlich Helmut Schmidt, der dieses Problem noch Mitte der siebziger Jahre als ein Modethema gelangweilter Mittelständler abtat 1 - nichts an Dringlichkeit eingebüßt. Weder bezogen auf die fortschreitende Störung der natürli- chen Lebensbedingungen noch im Bewußtsein der Bundesbürger hat dieses Problem an Bedeutung verloren, eher ist von der gegenteiligen Entwicklung auszugehen: Ereignisse mit massiven Auswirkungen auf die Natur und die Gesundheit der Menschen sind wohl kaum seltener geworden, und die Bedeutung von Umweltschutz ist in der Sicht der Bür- ger 1985 gegenüber 1981 noch gestiegen; einzig die Massenarbeitslosigkeit wird als das noch wichtigere gesellschaftspolitische Thema angesehen 2 . Im Gegensatz zu anderen politischen Problemen handelt es sich beim Umweltschutz um ein Issue, so Max Kaase, das nach spektakulärer Karriere einen Dauerplatz in der politischen Diskussion erobert hat 3 . 1 Vgl. Norbert Plötzl, Riesenhaft dimensioniertes Stückwerk - Die Umweltpolitik der so- zialliberalen Koalition, in: Wolfram Bickerich (Hrsg.), Die 13 Jahre, Reinbek b. Hamburg: Rowohlt/Spiegel 1982, S. 103-124, hier S. 108 2 Vgl. Max Kaase , Die Entwicklung des Umweltbewußtseins in der Bundesrepublik Deutsch- land, in: Rudolf Wildenmann (Hrsg,), Umwelt, Wirtschaft, Gesellschaft - Wege zu einem neuen Selbstverständnis, im Auftrag des Staatsministeriums Baden-Württemberg 1985, S. 289-316, hier S. 303f. 3 Vgl. ebd., S. 293.

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Bernhard Weßels

Politik, Industrie und Umweltschutz in der Bundesrepublik: Konsens und Konflikt in einem Politikfeld 1960-1986

1. Einleitung 2. Die Entwicklung der Auseinandersetzung zwischen Wirtschaft und Politik im Umweltschutz

2.1. Umweltpolitik: neuer Name, lange Tradition? 2.2. Umweltpolitik 1945-1969: Ressourcen- und Entsorgungsmanagement 2.3. Die "euphorische Phase": Umweltpolitik als Bestandteil der Politik der inneren Refor­

men 2.4. Umweltpolitik 1974-1982: Wahrung des Erreichten 2.5. Eine neue Welle? Marktkonformes Umweltmanagement

3. Strategie- und Handlungswandel des Bundesverbandes der Deutschen Industrie in der um­weltpolitischen Auseinandersetzung 3.1. Die Entwicklung des umweltschutzassoziierten Problemhaushalts aus der Sicht des BDI 3.2. Bedingungsfaktoren für das Konfliktpotential zwischen Industrie und Staat

4. Schlußbetrachtung

1. Einleitung

Das Problem der Umweltverschmutzung hat entgegen der Einschätzung zahlreicher Po­litiker - der maßgeblichste war vermutlich Helmut Schmidt, der dieses Problem noch Mitte der siebziger Jahre als ein Modethema gelangweilter Mittelständler abtat 1 - nichts an Dringlichkeit eingebüßt. Weder bezogen auf die fortschreitende Störung der natürli­chen Lebensbedingungen noch im Bewußtsein der Bundesbürger hat dieses Problem an Bedeutung verloren, eher ist von der gegenteiligen Entwicklung auszugehen: Ereignisse mit massiven Auswirkungen auf die Natur und die Gesundheit der Menschen sind wohl kaum seltener geworden, und die Bedeutung von Umweltschutz ist in der Sicht der Bür­ger 1985 gegenüber 1981 noch gestiegen; einzig die Massenarbeitslosigkeit wird als das noch wichtigere gesellschaftspolitische Thema angesehen2. Im Gegensatz zu anderen politischen Problemen handelt es sich beim Umweltschutz um ein Issue, so Max Kaase, das nach spektakulärer Karriere einen Dauerplatz in der politischen Diskussion erobert hat3.

1 Vgl. Norbert Plötzl, Riesenhaft dimensioniertes Stückwerk - Die Umweltpolitik der so­zialliberalen Koalition, in: Wolfram Bickerich (Hrsg.), Die 13 Jahre, Reinbek b. Hamburg: Rowohlt/Spiegel 1982, S. 103-124, hier S. 108

2 Vgl. Max Kaase , Die Entwicklung des Umweltbewußtseins in der Bundesrepublik Deutsch­land, in: Rudolf Wildenmann (Hrsg,), Umwelt, Wirtschaft, Gesellschaft - Wege zu einem neuen Selbstverständnis, im Auftrag des Staatsministeriums Baden-Württemberg 1985, S. 289-316, hier S. 303f.

3 Vgl. ebd., S. 293.

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Die Relevanz des Problems für die Zukunft der Industriegesellschaften ergibt sich zum einen aus seiner naturbezogenen, mehr noch aber aus seiner gesellschaftspoliti­schen Dimension. Zwar erhält es seine Dringlichkeit durch die Gefährdung der Kom-pensations- und Selbstreinigungskräfte der natürlichen Infrastruktur. Die objektive Si­tuation der Umwelt ist aber für die Existenz neuer Spannungen und Konflikte lediglich notwendige, nicht aber hinreichende Bedingung, Vielmehr kollidiert zumindest in indu­striekapitalistischen Gesellschaften die Forderung bereits existierende Risikolagen ab­zuwenden und zukünftige zu vermeiden, mit den gewachsenen infrastrukturellen Bedin­gungen und den weitgehend marktmäßigen Steuerungsbedingungen der Güterproduk­tion. Hinter der scheinbar naturwissenschaftlich-technischen Notwendigkeit und Forde­rung von Umweltschutz verbirgt sich eine "Verteilungsfrage" von enormen Ausmaßen. Sie richtet sich nicht nur daran aus, wer die Kosten für Sanierung und Vorsorge tragen soll4, sondern ist längst auch eine Frage, ob und wo noch welche Produktionsstandorte entstehen können oder ob Interessen an der Verteidigung von Lebensräumen dagegen-stehen. In der Verschränkung von Integrationsproblemen (bezogen auf die Vermittlung differenzierter Interessen in der Gesellschaft) und Adaptionsproblemen (heraufziehen­der Ressourcenmangel, Gefährdung der physischen Reproduktion) liegt die Schwerge­wichtigkeit der Problemlage für das politische System. Die Widersprüche zwischen Ein­zel- und Gesamtinteresse, zwischen kurzfristigen und langfristigen Bestandsinteressen kennzeichnen das gesellschaftliche Dilemma: Das Umweltproblem ist durch tauschför-mige Prozesse hervorgebracht worden, kann aber nicht durch sie bearbeitet werden. Be­schreibt Talcott Parsons die Funktion der Wirtschaft noch dahingehend, daß sie nicht nur technologische Verfahren sozial regeln müsse, sondern vor allem die Aufgabe habe, "Technologie in das Sozialsystem zu integrieren und sie im Sinne der individuellen oder kollektiven Interessen zu kontrollieren"5, so steht dies heute mit Blick nicht nur auf die Umweltproblematik6 wohl eher in Frage. Bei den unabsehbaren ökologischen und so­zialen Folgen der Industrialisierungsprozesse stellt sich die Aufgabe umgekehrt: Nicht die Wirtschaft muß die Technologie in das soziale System integrieren, sondern gesell­schaftliche Ziele hinsichtlich der für die Erhaltung der Umwelt geeigneten Produktions­formen müssen qua politischer Entscheidung in das Wirtschaftssystem integriert wer-

4 Nach Schätzungen von Lutz Wicke werden jährlich Werte in Höhe von etwa 100 Milliarden DM durch Umweltverschmutzung vernichtet. Das sind sechs Prozent des Bruttosozi­alprodukts oder - anders ausgedrückt - etwa das doppelte des Bonner Verteidigungsetats. Vgl. Lutz Wicke, Die ökologischen Milliarden, München: Kösel-Verlag 1986.

5 Talcott Parsons, Zur Theorie sozialer Systeme, Opladen: Westdeutscher Verlag 1978, S. 136. 6 In der Diskussion über Probleme und Ziele der Technikfolgen-Abschätzung wird die politi­

sche Einwirkung auf die Technik-Wahl ebenso - in ökologischer wie in sozialer Perspektive -als Notwendigkeit angesehen. Vgl. Meinolf Dierkes, Technikfolgen-Abschätzung als Interak­tion von Sozialwissenschaften und Politik, in: Meinolf Dierkes/Thomas Potermann/Volker von Thienen (Hrsg.), Technik und Parlament, Berlin: edition sigma 1986, S. 115-145, hier S. 143.

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den . Die von der Natur selbst nicht durchsetzbaren Restriktionen müssen dem Wirt­schaftsprozeß politisch auferlegt werden.

Hier wachsen dem Staat neue Aufgaben zu, die das Verhältnis zur Wirtschaft nach­haltig verändern können. Dieser Beitrag stellt die Frage, wie sich der spannungsreiche Prozeß, umweltpolitische Vorgaben in den Wirtschaftsprozeß der Bundesrepublik ein­zubauen, politisch darstellt, und er versucht, das sich verändernde Verhältnis von Staat und Wirtschaft unter den Bedingungen neuer ökologischer Gefährdungslagen zu um­reißen. Zunächst wird es darum gehen, die Geschichte der Umweltpolitik und ihrer Zielsetzungen nachzuzeichnen8 und zu fragen, inwieweit der unterschiedliche Stellen­wert und die unterschiedliche Funktion umweltpolitischer Zielsetzungen im Gesamt­rahmen staatlicher Politik in verschiedenen Phasen der Geschichte der Bundesrepublik das Spannungsverhältnis zwischen Staat und Industrie unterschiedlich formen.

Wie der B D I als der exponierte Vertreter der Industrie auf umweltbezogene Pro­blemlagen und umweltpolitische Vorhaben reagiert, wie er sie definiert und wie sich sein Verhältnis zum Staat, seine Sichtweise vom Staat verändert, ist Gegenstand des darauf­folgenden Abschnitts. Im Vordergrund steht die Frage nach den Bedingungen von Kon­sens und Konflikt zwischen legislativen und administrativen Akteuren und dem BDI . Mittels einer systematisch-empirischen Inhaltsanalyse der umweltpolitischen Äußerun­gen des B D I in seinen Jahresberichten 1960-1986 und unter Hinzunahme politischer und ökonomischer Variablen werden zwei Hypothesen zur Entstehung des Konfliktpotenti­als zwischen Industrie und Staat und über das Verhalten des B D I geprüft.

7 Schon Pigou, Nationalökonom und Schüler Marshalls, wies Anfang dieses Jahrhunderts am Beispiel der Rauchbelästigung darauf hin, daß die Güterproduktion die Gesellschaft mit Ko­sten belaste, die nicht von den Verursachern getragen wurden und die nicht in die Preise eingingen. Hierin sah er einen schwerwiegenden Fehler im System des laissez-faire. Er ist der erste gewesen, der explizit auf Unterschiede zwischen privaten und sozialen Kosten hinge­wiesen hat (Wealth and Weifare, 1912. Vgl. Joan Robinson/John Eatwell, Einßhrung in die Volkswirtschaftslehre, Frankfurt a.M: Fischer 1977, S. 430f.). Inzwischen ist die Literatur be­trächtlich. Richtungweisend war der Aufsatz von Robert M. Solow aus dem Jahre 1970: Umweltverschmutzung und Umweltschutz aus der Sicht eines Ökonomen, in: Hans Möl-ler/Rigmar Osterkamp/Wolfgang Schneider (Hrsg.), Umweltökonomik, Königstein/Ts.: An­ton Hain 1982, S. 30-42. Einen guten Überlick über die Ansätze der Umweltökonomie gibt Lutz Wicke (unter Mitarbeit von Wilfried Franke), Umweltökonomie, München: Vahlen 1982. Konkrete Vorschläge zu "fungiblen Emissionsrechten" macht u.a. Holger Bonus, Kommerzialisierung von Umweltqualität?, in: Günter Kunz (Hrsg.), Die ökologische Wende, München: dtv 1983, S. 189-209.

8 Denn nicht von vornherein ist Umweltpolitik eine Politik für die Erhaltung ökologischer Gleichgewichte. Sie kann durchaus andere Kalküle verfolgen.

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2. Die Entwicklung der Auseinandersetzung zwischen Wirtschaft und Politik im Um­weltschutz

2.1. Umweltpolitik: neuer Name, lange Tradition?

Erst mit Beginn der sozial-liberalen Koalition wurde Umweltpolitik als ein eigenständi­ges Politikfeld etabliert. Insoweit leiteten die Wahlen von 1969 eine "umweltpolitische Wende"9 ein. Jedoch wurden schon im 19. Jahrhundert gesetzliche Maßnahmen zur Ein­dämmung der negativen Folgen der Industrialisierung ergriffen, und insbesondere zwi­schen 1945 und 1969 hat es einige grundlegende Aktivitäten gegeben. So ist auch der einfachste und unumstrittene Ansatz, Stadien der Umweltpolitik zu bestimmen, das Jahr 1969. Der Sachverständigenrat für Umweltfragen unterscheidet drei Phasen: die "La­tenzphase" ab etwa 1965, die "Phase der Umwelteuphorie" von 1969 bis 1974 und die "Phase der Zweifel" nach 197410. Wey unterscheidet ebenfalls drei Phasen. Die erste dauerte bis 1959/61 und war durch ein Anknüpfen an alte Traditionen gekennzeichnet; die zweite setzte im Wahlkampf 1961 mit der Forderung der SPD nach einem blauen Himmel über der Ruhr ein und verdichtete den Problemdruck; die dritte Phase bahnte sich mit der SPD /FDP-Koalition an 1 1. Stärker differenzieren Arnim Bechmann und Achim Ulrich Posse, insbesondere für die Zeit nach 1969. Bei beiden werden zyklische Vorstellungen deutlich. Die erste Phase sozial-liberaler Umweltpolitik bzw. die "Auf­schwungphase" dauerte von 1970 bis 1972, für Posse setzt mit dem ölpreisschock von 1973 bereits die "Umschwungphase" ein, während Bechmann die Jahre 1972 bis 1974 als Phase des Vollzugsbeginns für das Umweltprogramm ansieht, Den Zeitraum von 1975 bis 1979 bezeichnet Bechmann als Phase der Politik der kleinen Schritte, für Posse ist es bereits die Abschwungphase, der die "Terminalphase" (1979-80) folgt, in der es kaum noch gelingt, wichtige Vorhaben der Umweltpolitik durchzusetzen. Bechmann sieht die Jahre von 1979 bis 1982 gekennzeichnet durch Zweifel und Versuche zur Bilanzierung und Neuorientierung. Beide sehen in der Umweltpolitik nach der "Bonner Wende" eine gewisse Kontinuität, insbesondere ein Anknüpfen an die umweltpolitischen Beschlüsse der Regierung Schmidt/Genscher vom September 1982, wenn auch Bechmann feststellt, daß die neue Regierung "vorzugsweise auf Marktwirtschaft pur" setzt12. Während Posse die Phasenabgrenzung primär auf die Argumentationsfigur von "Aufmerksamkeitszy­klen" stützt, unterscheidet Bechmann die umweltpolitischen Phasen an Vollzugsformen, von der Zielformulierung über die gesetzliche Realisierung bis zur Implementation.

Um das Spannungsverhältnis zwischen Wirtschaft und Politik im Umweltschutz zu beschreiben, soll zunächst versucht werden, zusätzliche Kriterien für eine Periodisierung der Umweltpolitik zu bestimmen. Im Vordergrund steht dabei die Frage, wie sich das

9 Arnim Bechmann, Leben wollen: Anleitungen ßr eine neue Umweltpolitik, Köln: Kie-penheuer&Witsch 1984, S. 54.

10 Sachverständigenrat für Umweltfragen, Umweltgutachten 1974, BT-Drucksache 7/2802. 11 Klaus-Georg Wey, Umweltpolitik in Deutschland, Opladen: Westdeutscher Verlag 1982, S.

152-155. 12 Achim Ulrich Posse, Föderative Potitikverflechtung in der Umweltpoliäk, München: Minerva

1986, S. 46-50; Bechmann, Leben wollen (Anm. 9), S. 54-77, Zitat S. 77.

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Verhältnis zwischen Staat und Industrie unter den Bedingungen des Funktionswandels bzw. der aktuellen Funktionserweiteruftg des poMsch-adrninistrativen Systems bei der ökologischen "Gefahrenabwehr" verändert.

2,2. Umweltpolitik 1945-1969: Ressourcen- und Entsorgungsmanagetnent?

In dieser ersten Periode der Umweltpolitik in der Bundesrepublik dominierten deutlich die Probleme der Wasserwirtschaft die staatlichen Aktivitäten. Anfang der fünfziger Jahre hatte sich der Wasserbedarf so stark erhöht, daß er immer weniger aus dem Grundwasser gedeckt werden konnte und Rückgriffe auf Oberflächenwasser notwendig wurden. So vermerkte der BDI 1953: "Infolge der zunehmenden Beanspruchung unseres Grundwasservorkommens, die sich in manchen Gebieten der Grenze des möglichen nä­hert und sie teilweise schon überschreitet, müssen nicht nur die Industriebetriebe, son­dern auch die öffentlichen Wasserwerke mehr als bisher ihren Bedarf aus den oberirdi­schen Gewässern decken."13 Gleichzeitig hatten die den Ländern von der Bundesregie­rung abgeforderten Situationsberichte zur Wasserwirtschaft auch erhebliche Mängel bei der Wasserentsorgung aufgedeckt14. Aufgrund seiner Interessenlage, forderte der B D I konsequenterweise, "daß Abwässer nur dann den Flüssen als Vorfluter zugeleitet wer­den, wenn sie zuvor in einer Weise, die den technischen Möglichkeiten entspricht und die unter besonderer Berücksichtigung der Selbstreinigungskraft der Flüsse wirtschaft­lich gerechtfertigt erscheinen, gereinigt sind"15. Die Sichersteilling des industriellen Was­serbedarfs wurde als ein besonderes Anliegen bezeichnet und dem Wasser eine früher ungeahnte Bedeutung "als Lebensmittel, Verkehrsträger, Energieerzeuger, vor allem aber als Rohstoff und Betriebsmittel", zugesprochen, weil es "weder ersetzbar noch ver­mehrbar" sei 1 6. Die Situation habe die künftige Wasserversorgung, "wie man ohne Über­treibung sagen kann, zu einem volkswirtschaftlichen Problem ersten Ranges gemacht"17.

Die Bundesregierung folgte dieser aus den Situationsberichten der Länder resultie­renden Einschätzung. Ein interministerieller Ausschuß kam zu dem Schluß, daß ein "Notgesetz über die Reinhaltung der Gewässer" und ein "Notgesetz über eine gesund­heitliche Überwachung von Anlagen zur Trink- und Brauchwasserversorgung und zur Abwasserbeseitigung" vordringlich seien. Die Länder blockten diese Vorhaben unter Hinweis auf eine Zersplitterung des Wasserrechts durch einen Beschluß vom 24. April 1952 ab 1 8. Angesichts der folgenden Untätigkeit verstärkte der B D I seine Forderungen nach einer staatlichen Lösung. Hatte es noch 1952/53 geheißen, die Lösung des Pro­blems der Wasserwirtschaft sei eine "schicksalshafte Gemeinschaftsaufgabe", die "unter verantwortungsvoller Leitung von Bund und Ländern zu bewältigen" sei 1 9, verstärkte die

13 Bundesverband der Deutschen Industrie, BDI-Jahresbericht 1952/53, S. 139. 14 Vgl. Wey, Umweltpolitik (Anm. 11), S. 173. 15 BDI-Jahresbericht 1952/53, S. 139. 16 BDI-Jahresbericht 1954/55, S. 78. 17 BDI-Jahresbericht 1952/53, S. 137. 18 Wey, Umweltpolitik (Anm. 11), S. 175. 19 BDI-Jahresbericht 1952/53, S. 141.

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Industrie diese Aussage 1954/55: "Nach Auffassung der Industrie ist die Wasserwirt­schaft, d.h. die Vorsorge zur Deckung des Wasserbedarfs..., grundsätzlich Aufgabe des Staates."20

Der B D I substantiierte 1953 seine Position u.a. in einer Aussprache mit Waldemar Kraft, Bundesminister für besondere Aufgaben im 2. Kabinett Adenauer bis zum 16. Oktober 195621, durch die Forderung nach einer sämtliche Gewässer umfassenden bun­deseinheitlichen Regelung. Am 6. Dezember 1954 schließlich legte der (1952 gegrün­dete) BDI-"Arbeitskreis Wasser und Abwasser" einen in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Industrie- und Handelstag (DIHT) erstellten "Entwurf eines Rahmengeset­zes über den Wasserhaushalt" vor 2 2. Erst aufgrund der Initiative des B D I und einer Ent­schließung des Deutschen Bundestages Anfang 1955 wurde die seit 1952 augenscheinlich ruhende Arbeit 2 3 an den Gesetzentwürfen wieder aufgenommen.

Man wählte indes nicht den schon 1952 von den Ländern blockierten Weg der Notge­setze, sondern entsprach der Forderung der Industrie insoweit, als sich der Ausschuß "Wasser" unter der Leitung von Bundesminister Kraft für ein Rahmengesetz entschied. Jedoch blieb auch dieser Entwurf nicht von Kompetenzstreitigkeiten verschont und erst nachdem der dem Bundesrat im Dezember 1955 zugeleitete Entwurf neunzehn Ände­rungswünsche der Landesregierungen berücksichtigt hatte, wurde er im Februar 1956 dem Bundestag vorgelegt. Erst nachdem auch hier an der Stillhaltepolitik der C D U / C S U ein Initiativantrag der SPD, F D P und kleinerer Parteien zur Versetzung der Wasserwirtschaft in die konkurrierende Gesetzgebung gescheitert war, wurden aus dem Entwurf alle umstrittenen Punkte ausgeklammert und das 1960 in Kraft tretende Was­serhaushaltsgesetz (WHG) im Juni 1957 verabschiedet24. Zwar blieb das Gesetz insge­samt hinter den Forderungen nach einer möglichst bundeseinheitlichen Regelung auf­grund der Kompetenzprobleme zurück, insgesamt entsprach es aber dem vom B D I seit Anfang der fünfziger Jahre artikulierten Interesse25.

Immerhin war es der erste Versuch, auf der Grundlage der Rahmenkompetenz Vor­schriften zur Wasserbenutzung und zur Reinhaltung des Grundwassers und der Binnen­gewässer zu strukturieren. In den nachfolgenden Änderungsgesetzen wurden die wasser­rechtliche Genehmigungspflicht beim Transport wassergefährdender Stoffe in Rohrlei­tungen Ende 1963, die Anforderungen für das Einleiten von Abwasser und Sanierungs-

20 BDI-Jahresbericht 1954/55, S. 87. 21 Vgl. Peter Schindler, Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages 1949 bis

1982, hrsg. v. Presse- und Informationszentrum des Deutschen Bundestages, Bonn 1983, S. 306.

22 BDI-Jahresbericht 1955/56, S. 70. 23 So die Einschätzung von Wey, Umweltpolitik (Anm. 11), S. 175. 24 Vgl. zum Ausgeführten Wey, Umweltpolitik (Anm. 11), S. 175ff.; BDI-Jahresbericht 1954/55,

S. 83; BDI-Jahresbericht 1956/57, S. 89f.; BDI-Jahresbericht 1957/58, S. 97f. 25 Der BDI äußerte jedoch Bedenken wegen des weitgehenden Ermessenspielraums der Be­

hörden bei der Entscheidung über eine beantragte Erlaubnis oder Bewilligung und der Festlegung von Auflagen (vgl. BDI-Jahresbericht 1957/58, S. 97). Später wurde aufgrund der nicht erfüllten Erwartung, die entsprechenden Landeswassergesetze könnten zur gleichen Zeit in Kraft treten, auch die nach wie vor existierende Rechtszerplitterung kritisiert; eine Folge - so der BDI - der verpaßten Chance des Bundestages 1957, die Vollkompetenz im Wasserrecht dem Bund zuzuweisen (vgl. BDI-Jahresbericht 1958/59, S. 162f.).

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pflichten im Juni 1965 und die Reinhaltung der Küstengewässer im Juni 1967 geregelt . Gleichwohl waren die Wirtschaftsverbände - insbesondere der B D I und der D I H T -nicht die einzigen Akteure, die Ressourcen- bzw. die Umwelt betreffende Forderungen stellten. Insbesondere die 1952 gegründete Interparlamentarische Arbeitsgemeinschaft (IPA) ein Zusammenschluß von Landtags- und Bundestagsabgeordneten, war die Ver­fechterin eines Umweltschutzgedänkens, wie er erst nach 1969 wirksam werden sollte. Ihrer Initiative ist bereits ein Spezialgesetz zur Reinhaltung der Gewässer, das Deter-gentiengesetz vom September 1961, zu verdanken27. Auch das Gesetz zur Luftreinhal­tung von 1959 geht auf eine von der IPA aufgegriffene Anregung durch eine Denkschrift des Direktors des Siedlungsverbandes Ruhrkohlenbezirk, Sturm-Kegel, zurück.

Trotz dieser Aktivitäten und der Altöl-, Lärm- und Baulärmregelungen muß die erste Phase der Umweltpolitik als deutlich von Versorgungs- bzw. Infrastruktur- und Entsor­gungsgedanken geprägt angesehen werden. Die maßgeblich Rolle spielte die Ressource Wasser. Insoweit kann der Charakter dieser ersten Phase nur im Zusammenhang mit der Infrastruktur- und Entsorgungsfunktion als den beiden ökonomischen Funktionen des Staates gesehen werden28. Die Gesetzesarbeit stellte hauptsächlich auf die Erhaltung und Sicherung der Produktionsbedingungen ab und spiegelt die funktionale Verflech­tung des Staates mit dem Industriesystem wieder. Es ging weniger um Intervention ge­gen Verschmutzer zur Sicherung allgemeiner Lebensbedingungen, sondern um die In­tervention für die Nutzer der Ressource Wasser.

2.3. Die "euphorische Phase": Umweltpolitik als Bestandteil der Politik der inneren Re­formen

Der Regierungswechsel von der großen zur sozial-liberalen Koalition wird allgemein als "Wendepunkt" in der Umweltpolitik bezeichnet. Gleichwohl hatte der Umweltschutz im Wahlkampf 1969 keine Rolle gespielt und, soweit ersichtlich, gab es auch intern bei kei­ner Partei Ansätze eines umweltpolitischen Programms29. Selbst beim Antritt der Regie­rung Brandt war noch nicht viel von dem 1970/71 im Verlauf weniger Monate so be­deutsam werdenden "issue" zu spüren. Ganze acht Sätze der etwa anderthalbstündigen Regierungserklärung galten dem Umweltproblem30. Darin knüpfte Willy Brandt an ein eher traditionelles umweltpolitisches Verständnis an und erwähnte den Begriff Umwelt als einen Teil verschiedener Politikfelder, der Raumordnungs- und der Städtebaupolitik,

26 Vgl. Chronik Deutscher Bundestag 1961-1965, hrsg. v. Presse- und Informationszentrum des Deutschen Bundestages, Bonn, S. 164, 223; Chronik 1965-1969, S. 97.

27 Vgl. Wey, Umweltpolitik (Anm. 11), S. 178f.; Gerd Michelsen, Kompetenzfragen der Umwelt­politik in der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt a.M./Bern/Las Vegas: Lang 1979, S. 120.

28 Vgl. zu den Staatsfunktionen Martin Jänicke, Staatsversagen, München/Zürich: Piper 1986, S. 19-22.

29 Vgl. Edda Müller, Die Innenwelt der Umweltpolitik, Opladen: Westdeutscher Verlag 1986, S. 55.

30 Deutscher Bundestag, Stenographischer Bericht, 6. Wahlperiode, 5. Sitzung, Dienstag, den 28. Okt. 1969.

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der Gesundheitspolitik und des Natur- und Tierschutzes. Eine Einbettung in das Ar­beitsprogramm innere Reformen der sozial-liberalen Regierung war zu diesem Zeit­punkt keineswegs ersichtlich. Einiges spricht dafür, daß das Innenministerium unter Hans-Dietrich Genscher (FDP) aus koalitions- und parteiinternen Erwägungen die trei­bende Kraft war, die Umweltpolitik in das Regierungsprogramm zu integrieren. Das ist weder durch akute Ereignisse noch durch öffentlichkeitsdruck zu erklären. Wie eine Analyse der Presseberichterstattung der Jahre 1968 bis 1973 ergab, wurde Umweltschutz als umfassendes Problem erst parallel zu den Aktivitäten der Bundesregierung themati­siert31. Im BMI war aber schon während der Arbeiten am Regierungsprogramm der von Genscher hinzugezogene Umweltexperte Menke-Glückert aktiv geworden und hatte zur Vorbereitung des Umweltprogramms der FDP von 1971 einen FDP-Bundesfachaus-schuss für Umweltfragen eingerichtet32. Die FDP war denn auch die erste Partei, die ein umfassendes Umweltprogramm auf dem Freiburger Parteitag 1971 beschloß, die C D U zog 1972 mit ihrem Umweltkonzept nach, und die SPD veröffentlichte 1975 die "10 The­sen zur sozialdemokratischen Umweltpolitik".

Für die FDP, die nach dem Koalitionswechsel in einer Zerreißprobe stand, war ins­besondere das Umweltthema eine gute Chance, parteiintern eine neue Identität aufzu­bauen. Allein mit den "law-and-order"-Aufgaben des Innenressorts konnte sie ihr neues Selbstverständnis als gesellschaftsreformerische Partei kaum ausfüllen, schon deshalb nicht, weil die "Politik innerer Reformen" mit der SPD identifiziert wurde3 3. Die Aufge­schlossenheit Willy Brandts und die Rückendeckung durch Kanzleramtsminister Horst Ehmke, der unter dem Eindruck der amerikanischen Umweltaktivitäten stand, unter­stützten und beförderten die Pläne des Innenministeriums. Umweltschutz war also ver­mutlich kein im nationalen Kontext eigenentdecktes Thema, sondern wurde - als innen-und parteipolitisch fruchtbar erkannt - aus der internationalen Diskussion importiert. Die Anstöße gaben insbesondere die Politisierung des Themas in den USA und die Umweltkonferenz der Vereinten Nationen im Juni 1972 in Stockholm.

Da die Umweltpolitik ohne herausragenden äußerlichen Anlaß und ohne öffentlich­keitsdruck thematisiert worden war, war ihr Charakter auch ein deutlich anderer als vor 1969. Nicht akute Entsorgungs- oder Versorgungsprobleme setzten den Rahmen 3 4, sie gab ihn sich selbst - zunächst mit dem am 17. September 1970 vom Bundeskabinett ver-

31 Günter Küppers/Peter Lundgreen/Peter Weingart, Umweltforschung - die gesteuerte Wissen­schaft?, Frankfurt a.M. 1978, S. 114ff. Auch unter den Bürgern war das Thema selbst im Sep­tember 1970 noch relativ unbekannt: Nur 41 Prozent hatten schon einmal etwas von Um­weltschutz gehört. Ein Jahr später (Nov./Dez. 1971), etwa einen Monat nach Be­kanntmachung des Umweltprogramms der Bundesregierung waren es bereits 92 Prozent. Zahlen von Infas, zit. nach Umwelt, Nr. 13 (5.5.1972).

32 Vgl. hierzu Müller, Die Innenwelt der Umweltpolitik (Anm. 29), S. 85. 33 Vgl. ebd., S. 58. 34 Die Umweltsituation war selbstverständlich nicht besser geworden. Im Umweltprogramm

der Bundesregierung von 1971 wurde der Zustand als zum Teil besorgniserregend bezeich­net. Dem zugehörigen "Aktionsprogramm" (Teil B) kann man aber entnehmen, daß es eine dramatische Verschlechterung in den einzelnen Bereichen (Natur und Landschaft, Abfallbe­seitigung, Umweltchemikalien, Wasser, Hohe See und Küstengewässer, Luft und Lärm) nicht gegeben hat. Vgl. Umweltschutz: Das Umweltprogramm der Bundesregierung, Stuttgart u.a.:Kohlhammer 1972 (Orig.: BT-Drucksache IV, 2710 v. 14. Okt. 1971).

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abschiedeten Sofortprogramm, elaborierter und im großen Paket mit dem Umweltpro­gramm der Bundesregierung vom 14. Oktober 1971.

"Ein menschenwürdiges Dasein", der Gesichtspunkt der "bestmöglichen Qualität des Lebens"35, spielten eine große umweltpolitische Rolle. Umweltpolitik zielte auf die "Verantwortlichkeit des Staates für eine sozial gerechte Daseinsvorsorge", bei der es nicht nur darum ging, "unsere Umwelt vor weiteren Verschmutzungen zu bewahren, sondern sie besser und lebenswerter zu machen", so Staatssekretär Hartkopf auf dem Treffen zur "1. Tagung des koordinierten Umweltdialogs" Anfang 1972 3 6.

Umweltpolitik wurde, wenn auch zunächst nicht sehr konzentriert, in die der Re­formpolitik inhärente Komponente "mehr Lebensqualität" eingebettet. 1972 ging die SPD mit einem Programm in den Wahlkampf, in dem diese Verklammerung u.a. durch folgende Formulierungen Ausdruck fand:

"Lebensqualität ist mehr als höherer Lebensstandard. Sie ... ist Teilhabe an der Natur... Gefahren aus dem technisch-ökonomischen Bereich kann nicht der einzelne, sondern nur die Gemeinschaft abwenden. Die Sozialdemokraten haben das erkannt, deshalb haben sie die inneren Reformen an­gepackt... Wo die Qualität des Lebens der Bürger auf dem Spiel steht, muß politischer Wille ge­genüber der Wirtschaft, aber auch gegenüber der Technologie Korrekturen erzwingen und ihre Ziele setzen: Wer nur bewahren will unsere Städte, unsere Flüsse und Seen, unsere Landschaft

37 und unsere Luft, muß heute vieles ändern."

Diesem Anspruch wurde die Bundesregierung - wenn auch in vielen Punkten weniger befriedigend - bei der Umsetzung des Umweltprogramms von 1971 in den folgenden Jahren weitgehend gerecht. Schon Mitte 1976 waren die im Aktionsprogramm in Aus­sicht gestellten Maßnahmen bereits im wesentlichen erfüllt3 8. Interessanterweise hatte die Industrie, namentlich der BDI , diese Entwicklung zu einer umweltpolitischen Offen­sive antizipiert, noch bevor das Sofortprogramm - das erste öffentlichkeitswirksame An­zeichen für die Etablierung eines entsprechenden eigenständigen Politikfeldes - am 17. September 1970 vorgelegt worden war. Selbst der Beschluß der Bundesregierung für ein Sofortprogramm war dem B D I zu der Zeit, zu der er seinen Jahresbericht (Mai/Juni 1970) erstellte, noch nicht bekannt, denn selbiger datierte vom 6. Juli. Schon zu diesem Zeitpunkt aber befaßte sich die Präambel des Jahresberichts unter der Überschrift "In-

35 Umweltprogramm der Bundesregierung, S. 29; Hans-Dietrich Genscher im Vorwort zum Um­weltprogramm der Bundesregierung, S. 17.

36 Umweltschutz, Nr. 14 (19.5.1972), S. 5, 9. 37 Kundgebungen und Beschlüsse des Außerordentlichen Parteitags in Dortmund, 12.-13. Ok­

tober 1972, abgedr. in: Jahrbuch der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands 1970-1972, S. 507-547, hier S. 523; s. auch Wey, Umweltpolitik (Anm. 11), S. 160f. Unverkennbar ist hier die Abstimmung der Reformpolitik mit der Programmatik des DGB. Die IG-Metall hielt vom 11.4.-14.4.1972 ihren "Lebensqualitäts-Kongreß" ab, und die Leitsätze des DGB zum Umweltschutz vom 29.5.1972 weisen eine hohe Übereinstimmung mit dem Regierungspro­gramm auf. Diese Abstimmung existierte nicht nur in der Umweltpolitik, sondern auch in allen anderen Bereichen der Reformpolitik. Vgl. Manfred G. Schmidt, Die 'Politik der inne­ren Reformen', in: Christian Fenner/Ulrich Heyder/Johano Strasser (Hrsg.), UnfäMg zur Reform?, Köln/Frankfurt a.M.: EVA, S. 30-81, hier S. 38.

38 V&.Umwelt, Nr. 50 (12.8.1976), S. 16f.

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frastruktur - Umwelt: Voraussetzungen und Konsequenzen der Industriegesellschaft" in­tensiv mit den Staatsfunktionen im Umweltschutz und dem Spannungsverhältnis dieser Aufgaben mit der Bereitstellung von Infrastrukturen. Der B D I scheint hier besonders sensibel auf die amerikanische Entwicklung, insbesondere auf die Botschaft Präsident Nixons vor dem amerikanischen Kongreß am 10. Februar 197039 und auf die Bildung ei­ner Abteilung "Umweltschutz" im Zuge der Neubildung der Bundesregierung reagiert zu haben40. Die Präambel ist ein Plädoyer für eines der drei von der Politik erst später for­mulierten Prinzipien der Umweltpolitik, nämlich dem Kooperationsprinzip41. So sah der B D I schon in seinem Jahresbericht 1969/70 "in der Umweltgestaltung eine der großen Zukunftsaufgaben, zu deren Lösung es der konstruktiven Zusammenarbeit von Staat und Wirtschaft bedarf"42. Dem Staat bzw. der öffentlichen Hand wurde dabei die weit­gehende Verantwortung zugewiesen, aber es wurde auch bemerkt:

"Da es sich jedoch um Eingriffe in die Wirtschaft handelt, sollte der Staat im Interesse der mög­lichst geringen Beeinträchtigung der wirtschaftlichen Betätigung die Voraussetzungen für die Ausgestaltung seiner Maßnahmen verbessern, indem er sich über die Auffassungen aller betroffe­nen und interessierten gesellschaftlichen Gruppen informiert und wiederum von sich aus eine In­formation dieser Gruppen über alle bestehenden Auffassungen ermöglicht."43

Weitergehend diskutierte der B D I in seiner Jahresberichts-Präambel das Problem "knapper Güter" und das der "social costs", um sich neben der Kooperation weitere, den wirtschaftlichen Interessen entsprechende Bedingungen in der Umweltpolitik zu sichern. Als Mittel für die Politik, bei ihren Maßnahmen das "rechte Maß" zu finden, schlug er "eine stärkere Ökonomisierung der politischen EntScheidungsprozesse" mit Hilfe der "cost-benefit-Analyse" vor. Denn die Industrie sah sehr wohl, daß die Vernachlässigung der Kosten der Umweltbelastung zwar auf der einen Seite positive ökonomische Effekte wie ungestörtes Wirtschaftswachstum zeitigen könne, daß "der einzelne und die Gesell­schaft aber an diesem Wachstum nur mit steigendem Unbehagen teilhaben, da sie es im Hinblick auf die Umweltbelastung für zu teuer erkauft halten"44. Insofern kann die viel­fach vertretene Auffassung, die Industrie sei unvorbereitet, konzeptlos und daher tak­tisch unklug und schwach von der umweltpolitischen Offensive der sozial-liberalen Re-

39 Vgl. BDI-Jahresbericht 1969/70, S. 40. 40 Vgl. ebd., S. 118. 41 Einzig das "Verursacherprinzip" wurde im Umweltprogramm der Bundesregierung als Prin­

zip genannt. Gleichwohl hatten die Gesichtspunkte der Prävention und der Kooperation von Anfang an prinzipiellen Charakter.

42 Präambel des BDI-Jahresberichtes 1969/70, S. 37. 43 Ebd., S. 41. 44 Alle Zitate BDI-Jahresbericht 1969/70, S. 42

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gierung überrascht worden , nicht geteilt werden. Vielmehr antizipierte der B D I sehr früh, daß die Industrie hier mit staatlichen Maßnahmen zu rechnen habe.

Auffällig ist jedoch, daß die Industrie gegen die sich auf Bundesebene im Umwelt­schutz entwickelnden Interventionskapazitäten relativ wenig Widerstand zeigte. Das ent­sprach zum einen der Eigenart des Umweltthemas, das nicht zuletzt deshalb in hohem Maße konsensfähig war, weil über die anfallenden Kosten zunächst wenig Informationen erhältlich waren und diese ohnehin erst in der Zukunft, also nach den politischen Re­gelungen, anfallen46. Dort, wo die Kostenträchtigkeit der Umweltauflagen offensichtlich war, wurde die Industrie jedoch aktiv, so z.B. beim Benzinblei- und Bundesimmissions­schutzgesetz47 1971 bzw. 1974. Aber diese Konflikte wurden dem "business as usual" der Interessenpolitik zugeordnet48. Insgesamt blieben die Reaktionen der Industrie auch nach dem Umweltprogramm vom Oktober 1971 noch geraume Zeit freundlich. Der B D I bezeichnete es "als begrüßenswerten Versuch einer Darstellung der gegebenen Verhält­nisse und der anzustrebenden Problemlösungen" 4 9. Dabei wurde die Interessenlage der Industrie sehr deutlich. Einerseits hoffte sie, daß es durch die geplanten Erweiterungen der Bundeskompetenzen zu bundeseinheitlichen und damit zu einer weitgehend wett­bewerbsneutralen Rechtslage kommen würde 5 0 , Forderungen, die der BDI seit den fünf­ziger Jahren vertrat. Gleichzeitig war die künftige Politik für den B D I und die Industrie kalkulierbarer geworden:

"das Umweltprogramm (hat) die Möglichkeit geschaffen, mit der Vorausschau auf die in Aussicht genommenen Maßnahmen gleichzeitig den Trend zu erkennen, mit dem die Industrie und ihre Unternehmen ... rechnen müssen ... Dieses Vorausschauenkönnen ist nach unserer Ansicht um so bedeutsamer, als die im Umweltprogramm angekündigten Aktionen allem Anschein nach auch von den in der Opposition befindlichen Parteien im Grundsatz weitgehend gebilligt werden."

Die Industrie ließ sich Anfang der siebziger Jahre unter diesen Bedingungen, nicht zuletzt wegen des starken Konsenses, voll und ganz auf die Umweltpolitik ein. Die im

45 So erklärte der spätere Umweltkoordinierungsreferent des Bundeswirtschaftsministeriums die geringe Einflußnahme der Wirtschaftinteressen auf umweltpolitische Belange, insbe­sondere das Bundesimmissionsschutzgesetz, mit der damaligen Ahnungslosigkeit der In­dustrie. Vgl. Müller, Umweltpolitik (Anm. 29), S. 234. Auch Müller schließt sich dieser An­sicht insoweit an, als auch nach ihrer Einschätzung die Industrieverbände in dieser Phase "die Tragweite der neuen Gesetzgebung noch nicht voll erkannt" hätten (ebd., S. 489). Michelsen - Kompetenzfragen (Anm. 27), S. 111-113 - stellt fest, daß der BDI keine im Zu­sammenhang formulierten umweltpolitischen Vorstellungen habe und lediglich reaktiv handle.

46 Vgl. Bruno S. Frey, Die politischen Durchsetzungschancen einer Umweltpolitik, in: ders./Werner Meißner (Hrsg.), Zwei Ansätze der politischen Ökonomie, Frankfurt a.M.: Athenäum 1974, S. 223-240, hier S. 228f.

47 Vgl. hierzu die Stellungnahmen zum Gesetzvorhaben von Seiten des BDI im Jahresbericht 1970/71, S. 105f.; 1971/72, S. 101; 1972/73, S. 95f.

48 Müller, Umweltpolitik (Anm. 29), S. 90 49 BDI-Jahresbericht 1972/73, S. 95. 50 Der BDI erweiterte seine Forderungen nach Rechtsharmonisierung gleichzeitig auf Europa.

Vgl. z.B. BDI-Jahresbericht 1970/71, S. 104; 1971/72, S. 103. 51 Ebd. S. 100.

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gesellschaftlichen und politischen Reformklima dieser Jahre wachsende Interventions­kapazität des Staates mit distributiven und redistributiven Politiken in der Sozial-, Mit-bestimmungs- und Bildungspolitik52 trugen sicherlich mit dazu bei, daß die Industrie die wachsenden umweltpolitischen Emgriffsmöglichkeiten tolerierte. Je stärker jedoch die Umweltpolitik ab 1972 in einen unmittelbaren Zusammenhang mit dem gesamten Vor­haben der inneren Reformen gestellt wurde, desto stärker wurde die Kritik.

Insgesamt weist diese Phase bundesdeutscher Umweltpolitik ein von der Zeit vor 1969 deutlich zu unterscheidendes Kalkül auf: Zwar ging es immer noch primär um Ent­sorgung und Wiederherstellung akzeptabler Umweltbedingungen, wenn auch präventive Ansätze sichtbar wurden, aber das politisch erklärte Ziel lag nicht in der Erhaltung und Bereitstellung von Ressourcen, sondern in der Dokumentation des Reformwillens und der Schaffung von Lebensqualität. Die initiierenden Akteure waren auch andere, als fünf Jahre zuvor: Der Wille, das umweltpolitische Kalkül in die gesellschaftliche Produk­tion einzubauen, ging eindeutig von der Politik aus5 3.

2.4. Umweltpolitik 1974 -1982: Wahrung des Erreichten

Die relative Einträchtigkeit zwischen Wirtschaft und Politik im Umweltschutz in den Jahren von 1969 bis Anfang 1974 fand durch veränderte wirtschaftliche Rahmenbedin­gungen nach der sogenannten Ölkrise im Winter 1973/74 ein jähes Ende. Aber nicht nur die - wenn auch deutlich dominierenden - ökonomischen Gesichtspunkte veränderten die Umweltpolitik, auch die Politisierung des Umweltschutzes und die Polarisierung von Interessen im Zuge der Auseinandersetzungen um die Kernenergie trugen mit dazu bei, daß die Abwehrhaltung der Industrie gegenüber ökologischen Gesichtspunkten wuchs.

Der Konjunktureinbruch 1974/75 markierte gleichzeitig den Wendepunkt von der Reformpolitik zum Krisenmanagement54. In dieser Situation und mit dem im Mai 1974 vollzogenen Kanzlerwechsel von Willy Brandt zu Helmut Schmidt veränderten sich auch die Prioritäten in der Regierungspolitik. Der B D I artikulierte 1974 zunächst vorsichtig, in der Folgezeit jedoch zunehmend offener seine Klagen über den Umweltschutz. Äußerte er in seinem Jahresbericht 1973/74 noch zurückhaltend, daß die Zielkonflikte aus der Konfrontation zwischen Umweltschutz und anderen Belangen deutlicher als bis­her in Erscheinung getreten seien, so wurde ein Jahr später bereits von den Auswirkun­gen verzögerter oder unterbliebener Investitionen gesprochen. Die wachsende Abwehr­haltung der Industrie gegen die Umweltpolitik fand auf Seiten der Bundesregierung Ge-

52 Vgl. Schmidt, 'Politik der inneren Reformen' (Anm. 37); vgl. auch Bernhard Weßels, Fede-ral Republic of Germany: Business Profits from Politics, in: Rinus van Schendelen/Robert Jackson (Hrsg.), The Politicization of Business in Western Europe, London & Sidney: Croom Helm 1987.

53 Vgl. Müller, Umweltpolitik (Anm. 29), S. 51. Wey, Umweltpolitik (Anm. 11), S. 205. 54 Vgl. Horst W. Schmollinger, Veränderung und Entwicklung des Parteiensystems, in: Gert-

Joachim Glaeßner/Jürgen Holz/Thomas Schlüter (Hrsg.), Die Bundesrepublik in den siebzi­ger Jahren - Versuch einer Bilanz, Opladen: Westdeutscher Verlag 1984, S. 32-52, hier S. 43.

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hör. Im Juni 1975 fand auf Schloß Gymnich eine vom Bundeskanzleramt vorbereitete umweltpolitische Tagung statt, die insbesondere Vertretern der Industrie und der Ge­werkschaften die Möglichkeit gab, Problemthemen auf die Tagesordnung zu setzen.

Diese Tagung war die Wende in die umweltpolitische Stagnation. E s waren drei Ar­gumente, die die Industrie und die Gewerkschaften vortrugen und die die Bundesregie­rung veranlaßten, konjunkturelle Erwägungen über umweltpolitische Gesichtspunkte zu stellen: ein angeblich 50 Milliarden D M betragender Investitionsstau aufgrund geneh­migungsrechtlicher Unsicherheiten, die Gefährdung der Energieversorgung durch Luft-reinhalteauflagen sowie die Gefährdung von Arbeitsplätzen aufgrund der wirtschaftli­chen Überforderung der Unternehmen und Betriebe durch den Umweltschutz.

Der BDI hatte für seine Argumente bereits 1974 vorgearbeitet. In seiner Stellung­nahme "Umweltschutz und Verursacherprinzip" grenzte er letzteres ein, indem er auf die ökonomischen Folgen der Internalisierung externer Kosten hinwies. Im Jahresbe­richt 1974/75 sprach er von einem "Zielkonflikt Umweltschutz/Energieversorgung"56

und bezog sich beim Argument Arbeitsplatzgefährdung auf den D G B , mit dem er sich insoweit einig sah, als auch dieser "Widerstand gegen einen 'unsozialen' Umweltschutz" angekündigt hatte57.

Sowohl die Entwicklung des Wirtschaftswachstums als auch die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt unterstrichen die Forderungen der Wirtschaft. Das Wachstum des Brutto­sozialprodukts war 1974 auf unter ein Prozent gesunken (1973 hatte es noch +5 Prozent betragen) und 1975 kam es sogar zu einer negativen Veränderungsrate von -3,2 Pro­zent58. Auch die Zahl der Arbeitslosen überstieg 1975 die Millionengrenze. Die Bundes­regierung, durch eine von ihr nicht verschuldete Wirtschaftslage und durch die 'konzer­tierten' Interessen von Industrie und Gewerkschaften in die Zange genommen, reagierte entsprechend. Was sich in den Thesen zu "Umweltpolitik und Wirtschaft", die die Bun­desregierung nach der Klausurtagung in Gymnich veröffentlichte, so unbestimmt an­hörte, hatte ganz reale Konsequenzen zur Folge. Hinter der Formulierung "Unzumut­bare kurzfristige oder sektorale Belastungen können durch angemessene Stufen- oder Übergangsregelungen aufgefangen werden"59, verbargen sich nun verlängerte Anpas­sungszeiten für Auflagen nach dem Bundesimmissionsschutzgesetz und eüie Senkung

55 Zunächst bereitete die Abteilung Wirtschaftspolitik die Tagung vor. Nach kanzler­amtsinternen Auseinandersetzungen und Protesten der Gruppe für Umweltangelegenheiten ging die Vorbereitungsarbeit auf letztere über. Vgl. Müller, Umweltpolitik (Anm. 29), S. 97f.

56 BDI-Jahresbericht 1974/75, S. 91, Absurderweise gereichte nicht nur in der Bundesrepublik, sondern beispielsweise auch in den USA die Energiekrise den Gegnern des Umweltschutzes als probates Mittel, Forderungen nach dem Zurückfahren von Auflagen durchzusetzen. Warum es gelungen ist, die in den Umweltschutz nahtlos passende Notwendigkeit des Ener­giesparens als Argument gegen den Umweltschutz zu wenden, ist wohl ein Geheimnis der Ideologen. Vgl. Cynthia H. Enloe, The Politics of Pollution in a Comparative Perspective, New York: McKay 1975, S. 145-189.

57 BDI-Jahresbericht 1974/75, S. 91. 58 In Preisen von 1962. Wirtschaft und Statistik (1977), H. 2. 59 Umwelt Nr. 42 (25.7.1975), S. 1.

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der Abgabentarife für Abwässer nach dem 1976 verabschiedeten Abwasserabgabenge­setz um mehr als die Hälfte 6 0 .

Die Industrie war augenscheinlich mit den Ergebnissen aus den Gymnicher Gesprä­chen sehr zufrieden. Für den BDI stand nun fest, daß die von ihm wiederholt bekräftigte Auffassung, "daß Umweltschutz nicht isoliert betrieben werden darf, sondern in engem Zusammenhang mit den sonstigen Aufgaben von Staat und Gesellschaft gesehen werden muß", inzwischen weitgehend Zustimmung gefunden hatte61.

Die Jahre von 1975 bis 1980 wurden zu einer Flaute umweltpolitischer Gesetzgebung. Zwar verabschiedete der Bundestag 1975 und 1976 noch vier Gesetze, die aber schon vor 1974 vorbereitet worden waren. Die Kreativität der Ministerialbürokratie be­schränkte sich darauf, wie z. B. beim Abwasserabgabengesetz, die Auflagen herunter zu setzen. Trotz des Erfolges, den die Industrie errungen hatte, hielten die negativen Stel­lungnahmen zur Umweltpolitik an. Immer wieder forderte der B D I eine "Umweltpolitik mit Augenmaß" und "die Berücksichtigung der wirtschaftlichen Folgen der Umweltge­setzgebung"62. 1977 wurde erneut massiv der - seit Gymnich für die Bundesrepublik ein­geräumte - Vorrang der ökonomischen vor den ökologischen Interessen gefordert:

"Die heutige Umweltpolitik der Bundesregierung wurde im wesentlichen in einer Zeit der Vollbe­schäftigung und Prosperität konzipiert, die die durch die Umweltpolitik ausgelösten Zielkonflikte zunächst verdeckte und den Blick auf die Leistungsgrenzen der Industrie verstellte. Die ver­schlechterte Wirtschaftslage sowie der starke Kostendruck auf die Industrie erfordern, daß sich alle Maßnahmen auf die nachhaltige Stärkung der Investitionsfähigkeit und -neigung der Unter­nehmen konzentrieren."63

Insbesondere die wachsende Anzahl von EG-Richtlinien war es, gegen die die Indu­strie ihre Einwände erhob. Ab 1978 waren es dann aber wieder Vorbereitungen bundes­republikanischer Gesetzgebungsvorhaben, die den Widerstand des B D I und speziell des potenten Verbandes der Chemischen Industrie hervorriefen. Allerdings hatte die Bun­desregierung, sich der Konfliktträchtigkeit eines solchen Vorhabens wie des Chemikali­engesetzes bewußt, auf eine eigene Initiative verzichtet. Vielmehr mußte eine ab 1975 vorbereitete und 1979 verabschiedete EG-Richtlinie national umgesetzt werden64. Gleichzeitig fing der B D I an, sich mit den Bürgerinitiativen und der Ökologiebewegung auseinanderzusetzen. Zwar waren bereits seit 1969/70 eine Vielzahl von Bürgerinitiati-

60 Vgl. Plötzl, Stückwerk (Anm. 1), S. 109f. Der BDI argumentierte 1972 zur Abwasserabgabe noch: "Gegen die Forderung einer Abwasserabgabe (kann) kaum etwas eingewandt werden, soweit diese zum Ausgleich von Vorteilen dient, die Abieiter nicht genügend gereinigter Abwässer gegenüber solchen Betreibern haben, die ihre Abwässer ausreichend reinigen..." {BDI-Jahresbericht 1972/73, S. 97). Bereits 1973, noch schärfer 1974, wandte der BDI gegen die geplante Abwasserabgabe ein, daß sie in zahlreichen Fällen die Existenz von Betrieben gefährde und eine "Fehlentscheidung" sei (1973/74, S. 130; 1974/75, S. 92).

61 BDI-Jahresbericht 1975/76, S. 125. 62 BDI-Jahresbericht 1976/77, S. 130. 63 BDI-Jahresbericht 1977/78, S. 146. 64 Vgl. Müller, Umweltpolitik (Anm. 29), S. 134.

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ven vorwiegend mit Umweltproblemen befaßt , zwar wurde 1972 der Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz (BBU)ins Leben gerufen, Bürgerinitiativen und Grup­pierungen der alternativen Szene jedoch formierten sich erst Mitte der siebziger Jahre unter einem gemeinsamen ökologischen Nenner. Dieser war aber weniger inspiriert durch den Protest gegen den Einbruch der Umweltpolitik seit 1974, er war vielmehr eine Radikalisierung des ökologischen Protests durch die Formierung einer "Negativkoali­tion" gegen Atomanlagen60. E s waren insbesondere die kommunalpolitischen Aktivitä­ten der Bürgerinitiativen, die zu von der Industrie nicht gewünschten Verzögerungen oder Auflagen bei Genehmigungsverfahren führten. Der B D I versuchte die Bürgeri­nitiativen mit dem Appell, die "Verpflichtung gegenüber der Allgemeinheit" zu beach­ten, von ihrem "erheblichen politisch-moralischen Druck auf die planenden, genehmi­genden und überwachenden Behörden" abzubringen67. Aber ab 1978 war der politische Aufstieg einer auch ökologisch orientierten Opposition nicht mehr zu bremsen. Zuerst zogen zwei Abgeordnete grüner Listenverbindungen in das Hamburger Parlament ein, danach bis 1982 weitere in fünf andere Länderparlamente 6 8, und 1983 zogen sie in den Bundestag ein. Das sinkende Vertrauen von Teilen von Bürgern in etablierte Parteien -die F D P scheiterte 1978 bei den Landtagswahlen in Niedersachsen und Hamburg an der Fünf-Prozent-Grenze -, eine ökologisch orientierte Opposition und der sich verstär­kende Protest gegen Atomkraft und Umweltverschmutzung lösten neue umweltpoliti­sche Aktivitäten aller Parteien und der Bundesregierung aus.

Zunächst versuchte das Bundesinnenministerium die angesichts des Widerstandes der Industrie bestehende umweltpolitische Klemme und die legislativen Durchsetzungs­schwierigkeiten durch freiwillige Absprachen mit der Industrie zu kompensieren. 1979 wurde die Bundesregierung jedoch offensiver. Sie erteilte dem Umweltbundesamt den Auftrag, ein Ökologieprogramm zu erstellen, das den medialen und auf Entsorgung ge­richteten Ansatz bisheriger Umweltpolitik aufgeben und ein umfassendes ökologisches Konzept, orientiert am Vorsorgeprinzip, enthalten sollte69. Staatssekretär Hartkopf vom Bundesinnenministerium proklamierte, es sei Zeit für eine "ökologische Wende"70. Die Industrie reagierte prompt und schroff: "Es besteht... weder Anlaß, noch erlaubt es der gegenwärtige Erkenntnisstand, einen Umbruch in der Umweltpolitik im Sinne einer 'ökologischen Wende' zu fordern." Eine "Fortentwicklung der Umweltpolitik, das For-

65 Vgl. Joachim Scharioth, Gesellschaftliches Engagement der Bürger, in: Hans Matthöfer (Hrsg.), Bilrgerbeteiligung und Bürgerinitiativen, Villingen: Neckar-Verlag, S. 332-343; Udo Kempf, Bürgerinitiativen - Der empirische Befund, in: Bernd Guggenberger/Udo Kempf (Hrsg.), Bürgerinitiativen und repräsentatives System, Opladen: Westdeutscher Verlag 1978, S. 358-374.

66 Vgl. Roland Roth, Neue soziale Bewegungen in der Bundesrepublik, in: Karl-Werner Brand (Hrsg,), Neue soziale Bewegungen in Westeuropa und den USA, Frankfurt a.M.: Campus 1985, S. 20-83, hier S. 49ff.

67 BDI-Jahresbericht 1977/78, S. 147. 68 1979 in Bremen, 1980 in Baden-Württemberg, 1981 in Berlin und 1982 in Hessen und Nie­

dersachsen. 69 Vgl. Abschlußbericht der Projektgruppe "Aktionsprogramm Ökologie", in: Umweltbrief, Nr.

29 (28.10.1983). 70 Umwelt, Nr. 69 (12.3.1979), S. 1.

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mulieren neuer Aufgaben und Ziele" dürfe nicht ohne wesentliche Beteiligung der Indu­strie geschehen71.

Der Widerstand der Industrie, aber auch Widerstände anderer Ressorts, insbeson­dere des Bundeslandwktschaftsministeriums, gegen eine Ökologisierung des Umwelt­schutzes führten zwar nicht dazu, daß diese Perspektive aufgegeben wurde, schoben sie aber auf die "lange Bank": Die Projektgruppe erhielt drei Jahre Zeit, ihr Progamm zu erarbeiten72.

Die Industrie behielt ihre ablehnende Haltung dennoch bei und formulierte Anfang der achtziger Jahre erneut - und verschärft - ihren Widerstand: Umweltpolitik "muß mit Augenmaß betrieben werden. Die Industrie muß daher den vor allem im politischen Raum erkennbaren Bestrebungen entgegentreten, die zukünftige Politik vornehmlich nach ökologischen Gesichtspunkten auszurichten."73

Durch den vorzeitigen Regierungswechsel 1982, der 1983 durch die vorgezogenen Bundestagswahlen bestätigt wurde, fiel diese Perspektive unter den Tisch. Innemnmister Friedrich Zimmermann (CSU) nahm zwar 1983 den Bericht der Projektgruppe "Ökolo­gieprogramm" entgegen, Konsequenzen für die Umweltpolitik wurden jedoch nicht ge­zogen.

Diese Phase der Umweltpolitik ging sozusagen sang- und klanglos zu Ende, ohne daß auch nur ansatzweise an die Erfolge von 1969 bis 1974 angeknüpft werden konnte. Trotzdem war sie die wohl spannungsreichste Phase der Umweltpolitik, vornehmlich deshalb, weil die Industrie unter Berufung auf die Wirtschaftslage massiv gegen jede umweltpolitische Maßnahme opponierte. Die Bundesregierung stand spätestens ab 1978 zwei Gegnern gegenüber: der Industrie und den sich auch parlamentarisch formierenden ökologisch orientierten Kräften. Von den umweltpolitischen Optionen wurden nur die notwendigsten vorangetrieben, dabei aber gleichzeitig der Versuch unternommen, die Legitimation der Umweltpolitik durch lediglich angekündigte Offensiven zu erhalten. Insofern unterlag diese Phase der Umweltpolitik stärker als die vorhergegangenen dem Legitimationskalkül der Bundesregierung, aber auch dem der etablierten Parteien.

2.5. Eine neue Welle?Marktkonformes Umweltmanagement

Zwar knüpfte die neue Bundesregierung von C D U / C S U und F D P mit Helmut Kohl als Bundeskanzler notwendigerweise an die durch ihre Vorgänger geschaffenen umweltpoli­tischen Instrumente an. Die ohnehin stark dezimierte umweltpoltische Programmatik der Regierung Schmidt setzte sie allerdings nicht fort. Mit Erleichterung nahm der B D I zur Kenntnis, daß der Bericht der Steuerungsgruppe "Aktionsprogramm Ökologie" "auch von der jetzigen Bundesregierung mit Zurückhaltung" aufgenommen wurde74.

71 BDI-Jahresbericht 1979/80, S. 158,160. 72 Müller, Umweltpolitik (Anm. 29), S. 129f. 73 BDI-Jahresbericht 1980-82, S. 146. 74 BDI-Jahresbericht 1982-84, S. 111.

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Die Hypothek der defensiven Umweltpolitik, insbesondere bei der Luftreinhaltung, zwang jedoch die neue Bundesregierung zu einer gewissen Kontinuität hinsichtlich der medial orientierten Maßnahmen. Die 1981 beginnenden Auseinandersetzungen und die Politisierung des Umweltschutzes durch das Waldsterben setzten Bundesinnenminister Zimmermann unter Handlungszwang. Die Novellen zum Bundesimmissionsschutzgesetz und zur TA-Luft waren 1980 gescheitert. Allerdings hatten sich Bundesinnenminister Baum, Bundeswirtschaftsrninister Graf Lambsdorff und Bundesverkehrsminister Hauff Mitte 1981 um eine freiwillige Absprache mit der Automobilindustrie zur vorzeitigen Absenkung der Abgaswerte bemüht. Eine weitere Verhandlungsrunde sollte ein Jahr später stattfinden. Der neue Innenminister Zimmermann brüskierte jedoch zunächst die Industrie dadurch, daß er den kooperativen Umgangsstil zugunsten der Ankündigung eines bundesrepublikanischen Alleingangs in der Europäischen Gemeinschaft zur Ab­gasreduktion mit amerikanischen Grenzwerten für 1986 aufgab. Die Reaktion führender Automobilhersteller war scharf, und der B D I bemerkte: "Politisch motivierte Ankündi­gungen kurzer Einführungsfristen für Abgaskatalysatoren und unverbleites Benzin ver­unsicherten ... die Automobilindustrie und die Mineralölwirtschaft, die bereits mit der Entwicklung eines abgestimmten Konzepts begonnen hatten,"75

Die Schlappe Zimmermanns in der Europäischen Gemeinschaft und die damit ver­bundenen Abstriche an seinem Konzept führten jedoch recht schnell zu einer Strategie­änderung, die von der Industrie entsprechend wohlwollend aufgenommen wurde. Insge­samt setzte die Bundesregierung in der Luftreinhaltepolitik nunmehr auf marktwirt­schaftliche Regelungsmechanismen. Zwar legte die Industrie gegen die Großfeuerungs-anlagenverordnung von 1983 noch einmal Protest ein, sie wurde andererseits aber als "ein in Europa einzigartiger Schritt zur vorsorgenden Immissionsminderung" beurteilt, der indes auch ohne Verordnung durch freiwillige Zusagen hätte erreicht werden kön­nen. Da dieser Weg nun bei der Festlegung von Übergangsregelungen beschritten werde, seien die verlangten Maßnahmen vielfach vorzeitig und teilweise mit besserem Ergebnis durchzusetzen gewesen76.

Auch die ökonomischen Anreize für schadstoffarme Automobile durch Steuerreduk­tionen bzw. -Befreiung für die Käufer und die angekündigte Kompensationslösung für die neue TA-Luft fanden die Anerkennung der Industrie. Trotz aller anfänglichen Frik­tionen zwischen Industrie und Bundesregierung, insbesondere bei Zimmermanns Vor­stoß zur Reduktion der Autoabgase und bei der Großfeuerungsanlagenverordnung, wurde das Klima freundlich, und die Industrie versuchte zunehmend, den kooperativen Stil zu pflegen. Die Umweltpolitik 1982-1985 war medial deutlich geprägt von dem Pro­blem der Luftverschmutzung und von der Suche nach marktkonformen Instrumenten. 1983 wurden die betroffenen Ressorts beauftragt zu prüfen, inwieweit Regelungen zur Luftreinhaltung durch marktwirtschaftlich orientierte Instrumente ergänzt werden könn­ten 7 7. Anfang 1984 stimmte das Bundeskabinett einem entsprechenden Bericht zu. In ihm wurden Emissionszertifikate zwar als ungeeignet angesehen, flexible Kompensati-

75 Ebd., S. 105. 76 Ebd., S. 104. 77 Vgl. Umwelt, Nr. 104 (24.7.1984).

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onsregelungen, wie sie in den USA bereits seit Mitte der siebziger Jahre diskutiert und erfolgreich angewendet wurden (Offset- und Bubble-Lösungen) 7 8, jedoch befürwortet. Diese Regelungen gewähren den Betreibern von Anlagen durch eine relativ flexible Handhabung, Standards der Luftreinhaltung einzuhalten. So kann z.B. der Betreiber ei­ner Anlage mit mehreren Verschmutzungsquellen entscheiden, an welcher Stelle er ent­sprechende Reinigungstechnologien einsetzt. E s kommt lediglich darauf an, eine festge­setzte Gesamtmenge an Emissionen nicht zu überschreiten. E in derartiges System kommt der Industrie insoweit entgegen, als sie die Technologie und den kostengünstig­sten Punkt wählen kann, an dem sie ansetzt. Der seit den fünziger Jahren anhaltende Widerstand der Industrie gegen Vorschriften, die den Stand der Technik vorschreiben, zeigt, wie attraktiv solche Regelungen für die Wirtschaft sind. So begrüßte der B D I auch bei den Regelungen zu den Autoabgasen, "daß die Bundesregierung von ihrer ursprüng­lichen Absicht abgegangen ist, eine bestimmte Technik vorzuschreiben. Damit wird der Innovation mehr Spielraum gegeben werden."79

Die seit 1982 anhaltende neue Phase der Umweltpolitik in der Bundesrepublik unter­scheidet sich damit von den vorangegangenen in mehrfacher Hinsicht. Einerseits hat es in der Umweltpolitik niemals vorher ein derartig freundliches und kooperatives Klima gegeben. Zum anderen steht die Ökonomie wieder deutlich an erster Stelle vor dem Umweltschutz. Nicht Erhaltung von Lebensqualität, sondern Standort- und Rohstoffvor­sorge stehen im Vordergrund der Umweltpolitik. Auf einer Vorstandssitzung des D I H T am 12. Februar 1985 formulierte Bundesinnenminister Zimmermann dies sehr deutlich: "Umweltschutz gewinnt für die Unternehmer in der Bundesrepublik und darüber hinaus in allen Industriestaaten zunehmend an Bedeutung... Dabei dürfte mittlerweile jeder­mann in der Wirtschaft klargeworden sein: Umweltschutz bedeutet in ökonomischer Hinsicht Standort- und Rohstoffvorsorge."80 Damit ist die Umweltpolitik wieder zurück­gekehrt zu den Kalkülen, mit denen sie in den fünfziger Jahren begann: dem Ressour­cen- und Entsorgungsmanagement. Die Vorzeichen sind allerdings deutlich andere. Die Belastung der Umwelt ist bedrohlich geworden, die Interventionskapazität des Staates hat sich erhöht, und marktwirtschaftliche Prinzipien haben in verschiedene Regelungen Eingang gefunden.

3. Strategie und Handlungswandel des Bundesverbandes der Deutschen Industrie in der umweltpolitischen Auseinandersetzung

Betrachtet man die Geschichte der Umweltpolitik der Bundesrepublik und ihre Kontro­versen mit der Wirtschaft, speziell der Industrie, so wird deutlich, daß es bei aller Konti­nuität und Beharrlichkeit wirtschaftlicher Interessen in einer industriekapitalistischen Gesellschaft durchaus keine vollständige Durchgängigkeit von Strategien und Hand-

78 Vgl. Harald Müller-Witt, Der Polhition-Rights-Ansatz und seine Auswirkungen auf die amerikanische Luftreinhaitepolitik, in: Zeitschrift ßr Umweltpolitik, 3/81, S. 371-398.

79 BDI-Jahresbericht 1982-84, S. 105. 80 Abgedruckt in: Umwelt, Nr. 2 (17.4.1985).

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lungskonsequenzen von Seiten der Industrie gegenüber einer solchen Politik gibt . Vielmehr verändern sich Konfliktkonstellationen über Zeit, wandeln sich mit gesell­schaftlichen, politischen und ökonomischen Bedingungen.

Im folgenden wird der Versuch unternommen, die Reaktionen und Reflexionen der Umweltpolitik durch den exponierten Vertreter der deutschen Industrie, den BDI, sy­stematisch-empirisch zu analysieren und die Bedingungen von Konsens und Konflikt zwischen Wirtschaft und Staat in diesem Politikfeld zu bestimmen. Die Ergebnisse dürf­ten nicht nur auf diesen korporativen Akteur bezogen aussagekräftig sein, sondern in ei­nem gewissen Grad ein Indikator für die gemeinsamen Wertvorstellungen der industri­ellen Unternehmerschaft sein8 2. Zwar vertritt der BDI ein sehr komplexes wirtschafts­politisches Interesse. Dennoch dürfte Hondrich zuzustimmen sein, daß die Verbandsi­deologie die Aufgabe besorgt, "latente in manifeste Interessen umzuformen" und daß "diese Bewußtmachung von Interessen durch den Verband [...] ihrerseits wieder gewisse Konsequenzen für die Formulierung der Interessen" und für die politische Auseinander­setzung hat8 3,

Nun kann die Frage nach Konsens und Konflikt in sehr vielfältiger Weise gestellt werden. Denkbar wären z.B. Analysen von Auseinandersetzungen bzw. Kooperationen bei konkreten Gesetzgebungsvorhaben oder von tagespolitisch motivierten Stellung­nahmen und Reaktionen des B D I zur Umweltpolitik. Da diese Analyse jedoch darauf abstellt, am Beispiel des Umweltschutzes die allgemeinen Bedingungen des Verhältnis­ses des B D I zum Staat zu klären und es damit um eher langfristige Dispositionen geht, die zudem noch "repräsentativ" für den Verband und von einer zumindest gewissen Bin­dungswirkung für seine Mitglieder sein sollen, werden als Quelle die BDI-Jahresberichte herangezogen. Bei ihnen handelt es sich zwar nicht im strengen Sinne - wie etwa bei in­nerparteilich demokratisch legitimierten Parteiprogrammen - um kollektiv verbindliche Dokumente84, wohl aber um ein kollektives Dokument, an dem sich der B D I von außen und innen messen lassen muß und das er seinen Mitgliedern auf der Jahreshauptver­sammlung präsentiert. Von ihm geht eine Handlungsverpflichtung für den Verband aus, und die Mitglieder orientieren sich an ihm. Zur Analyse herangezogen werden die Pas­sagen der BDI-Jahresberichte von 1960/61 bis 1984-86 (insgesamt 23 Berichte für knapp 27 Jahre), die sich mit Umweltschutz befassen85.

81 Stitzel stellt in seiner Analyse von vier Eingaben des BDI zu Umweltregelungen ebenfalls fest, das eine durchaus "flexible Kritikhaltung" vorliegt und es keine eindeutig standardi­sierten argumentativen Vorgehensweisen des BDI gibt. Michael Stitzel, Unternehmerver­halten und GesellschaftspoMk, Stuttgart usw.: Kohlhammer 1977, S, 112.

82 Vgl. analog zu diesem Argument für die USA V. O. Key, Key, Politics, Parties, and Pressure Groups, New York: Cowell 1958, S. 83. Key schreibt Uber die Ziele der Unterneh­merverbände der USA: "the goals should provide a microcosmic indicator of the common values of American business".

83 Karl Otto Hondrich, Die Ideologie von Interessenverbänden, Berlin: Duncker & Humblot 1963, S. 152.

84 Vgl. hierzu die Aktivitäten und Analysen von Hans-Dieter Klingemann und Andrea Volkens über das Verhältnis von Regierungs- sowie Parteiprogrammen und Policy Output bzw. Ein­stellungen politischer Eliten, von denen dieses Vorhaben inspiriert wurde.

85 Dabei ist anzumerken, daß der BDI bis zum Jahresbericht "1969/70" die Abschnitte ressour-cen- und entsorgungsbezogen betitelte (z.B. "Wasserwirtschaft, Immissionsschutz und Ab-

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Dabei gilt das Augenmerk einerseits den Problemen, die der B D I im Zusammenhang mit Umweltschutz thematisiert, andererseits der sich in den Formulierungen präsentie­renden Haltung zum Staat - oder spezifischer: es gilt den Funktionen, die der Industrie­verband dem Staat zubilligt, die er fordert oder ablehnt. Ziel ist es, mit Hilfe der quanti­fizierenden Inhaltsanalyse und dem Hinzuziehen von politischen und wirtschaftlichen Kontextfaktoren Aufschluß über die Entwicklungsdynamik der mit dem Umweltschutz assoziierten Problemdefinitionen und über den Strategiewandel des B D I bzw. die sich verändernde Konfliktstruktur zwischen Staat und Industrie zu gewinnen.

3.1. Die Entwicklung des umweltschutzassoziierten Problemhaushalts aus der Sicht des BDI

Die Frage, wo Probleme gesehen und wie sie definiert werden, hat zweifellos direkte Folgen für die politische Diskussion und Auseinandersetzung. Dies gilt erst recht für Umweltprobleme, entstehen hier doch Gefährdungslagen, die oft nicht mehr an den Ort ihrer Entstehung zurückgebunden sind, die meistens unsichtbar und lediglich argumen­tativ vermittelbar sind 8 6. Die vielfach gegebene Unsichtbarkeit von Belastungen und ihre sich häufig erst später manifestierenden Folgen machen politisch-staatliches Handeln davon abhängig, welche Definitionen und Kausalitätskriterien sich politisch in einer Ge­sellschaft und im politischen Raum durchsetzen (lassen).

Diese "Wissensabhängigkeit" (Beck) 8 7 beim Umweltschutz ist der Politik schon seit ihrer umweltpolitischen Offensive von 1970 bewußt. Nicht umsonst hieß es im Umwelt­programm der Bundesregierung 1970, daß die Kooperation mit der Industrie wegen ih­rer Kompetenz und ihres Wissens um Produktionsverfahren und -ablaufe gesucht wer­den müsse 8 8 . Die Industrie, namentlich der BDI, hat denn auch nie versäumt, an den Zielformulierungen im Umweltschutz mitzuwirken89. Daß die Industrie die Umweltpro­bleme dabei kaum im Zusammenhang mit Problemen der Lebensqualität, mit Proble­men der Gefährdungs- und Risikoverteilung thematisiert, geschweige denn versucht, eine ökologische Betrachtungsweise anzulegen, mag nicht verwundern. Vielmehr werden

fallbeseitigung") und erst danach mit "Umweltfragen" überschrieb. Der Berichtszeitraum, der hier analysiert wird, umfaßt exakt den Zeitraum von Mai 1960 bis November 1986.

86 Vgl. Ulrich Beck, Risikogesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986, S. 29, 35ff. 87 Die Wissensabhängigkeit wurde auch auf dem jüngsten Umweltformum (1988) wieder deut­

lich. Der nordrhein-westfälische Umweltminister Matthiesen prognostizierte für das Altla­stenproblem, daß die Menge des in der Bundesrepublik anfallenden Sondermülls bis zum Jahre 2000 noch steigen werde, denn durch verfeinerte Analyseverfahren würden heute mehr chemische Stoffe als gesundheitsgefährlich erkannt.

88 Umweltprogramm der Bundesregierung (Anm. 34), S. 37. 89 Staatssekretär Hartkopf auf dem "1. Koordinierten Umweltdialog": "Ohne den sachver­

ständigen Rat und die Anregungen der Experten der Wirtschaft hätte das Umweltprogramm der Bundesregierung nicht die Fassung erhalten, die es heute hat. In allen Projektgruppen haben Vertreter der Wirtschaft mit Rat und Tat mitgewirkt...", Umweltschutz (29.5.1972),14/5

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die Probleme fast ausschließlich mit ökonomischen Fragen assoziiert. Das, was der B D I an Problemkreisen90 festgestellt hat, läßt sich in fünf Kategorien recht gut zusammenfas­sen.

Durchgängig an erster Stelle, gemessen an der Gesamtzahl der genannten Probleme in den Jahresberichten von 1960 bis 1986, stehen wirtschaftliche Probleme. Darunter dominieren deutlich einzelwirtschaftliche Themen wie Kostenbelastung und Finanzie­rung durch bzw. von Umweltauflagen. "Große Fragen" wie der Zielkonflikt zwischen Ökonomie und Ökologie, negative Auswirkungen der Umweltpolitik auf Wachstum und Investitionen oder Wettbewerbsverzerrungen machen nur einen relativ kleinen Teil aus. Im Durchschnitt sind fast 40 Prozent der durch den BDI thematisierten Probleme un­mittelbar wirtschaftlicher Art 9 1 .

Eine ebenfalls sehr große Rolle spielte in den sechziger Jahren eine zweite wirt­schaftliche Problemkategorie, die ressourcenbezogene, versorgungs- und entsorgungsbe-zogene Defizitaussagen enthält. Noch weit über die fünfziger Jahre hinaus, in denen die Auseinandersetzungen um das Wasserhaushaltsgesetz die umweltpolitische Diskussion bestimmte, blieben Wasserversorgung und -entsorgung ein Problem für die Industrie, jedoch mit deutlich abnehmender Tendenz. Zwischen 1960 und 1966 befaßten sich 30 Prozent aller Aussagen des B D I mit diesem Problemkreis, heute sind es lediglich sechs Prozent. Lediglich zwischen 1979 und 1981 stieg die Bedeutung dieses Gesichtspunktes noch einmal leicht an (um vier Prozentpunkte), allerdings unter gänzlich anderen Vor­zeichen als in den sechziger Jahren: Jetzt war es die sich verstärkende Opposition gegen die Kernkraft, die das Thema Energieversorgung für den B D I noch einmal wichtiger machte, dann aber setzte sich wieder der Trend nach unten fort.

Typisch für beide Kategorien ist, daß sie unmittelbar die Sicherstellung von Produk­tions- und Verwertungsbedingungen der Industrie betreffen. Zielformulierungen umfas-sen das, was Hartmann "the primacy of the economy" bezeichnet hat . Der B D I defi­niert hier die Problemlage, insbesondere in den sechziger Jahren, Mitte der siebziger Jahre und Anfang der achtziger Jahre politisch erfolgreich, d.h. seine Zielprioritäten er­langen weitgehend Geltung in der Politik.

Eine weitere Klasse von Aussagen des B D I richtet ihr Augenmerk auf konkrete rechtliche Maßnahmen oder Vorhaben. Sie sind insofern konkret politikvermittelt, wer­den aber auch ausschließlich auf der Folie ökonomischer Ziele zum Problem. Wenn Rechtsgestaltung als defizitär im Sinne der Industrie bewertet wird, dann mit folgenden Argumenten: Sie stelle einen Eingriff in das Privateigentum dar, benachteilige die Wirt­schaft, schaffe ökonomische Unsicherheit, verhindere das zeitliche Erreichen von Pla­nungszielen der Wirtschaft durch Bürokratisierung oder verzögere es zumindest.

90 Als Problem wurde in dieser Analyse jede Äußerung des BDI in den Jahresberichten klassi­fiziert, die in positiver oder negativer Form eine Defizitaussage, sei sie auch implizit, enthält. Immer dann, wenn etwas als zu wenig, zu viel, zu groß, zu klein, zu schwach, zu stark o.a. be­zeichnet wurde, galt dies als Defizitaussage, als Aussage über eine Differenz zwischen Sein und Sollen bzw. zwischen zu Erwartendem und zu Wünschendem.

91 Vgl. hierzu und zu folgendem Tab. 1. 92 Vgl. Heinz Hartmann, Authority and Organization in German Management, New Jersey.

Princeton Univ. Press 1959, S. 228.

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Tabelle 1: Die Entwicklung des umweltschutzassozierten Problemhaushalts in den BDI- Jahresberichten 1960-1984

Perioden: Regierung:

1960-1965 1966-1968 1969-1973 1974-1978 1979-1981 1982-1984 CDU/FDP^r . Koal. Brandt Schmidt Schmidt Kohl

Problembereich

Wirtschaftliche Probleme 41% 29% 39% 46% 32% 41%

Ressourcenbe­zogene Probleme 30% 21% 11% 6% 10% 6%

Legitimations­probleme 5% 16% 4% 13% 12%

Probleme der Be­teiligung und Mit­sprache 3% 6% 8% 13% 16% 12%

Probleme in der Rechtsgestaltung 21% 35% 26% 31% 29% 29%

N=100% 117 48 74 68 31 17

1) Ab 1961 mit FDP 2) Als Probleme gelten Defizitaussagen im jeweiligen Bereich. Wirtschaftliche Probleme umfas­

sen die Kategorien Kostenbelastung, Finanzierung, Wettbewerbsverzerrung, Investitionsstau, Fehlinvestition, Wachstumshemmung, Verursacherrisiko, technologische Anpassung, Innova­tion und Zielkonflikt Ökonomie/Ökologie; ressourcenbezogene Probleme die Kategorien Ressourcennutzung, Entsorgung, Versorgung; Legitimationsprobleme die Kategorien Schuld­zuweisung, Artikulation, Meinungsdruck; Probleme der Beteiligung die Kategorien Beteili­gung der Wirtschaft, Eigenleistung der Wirtschaft und Informationsdefizite; Probleme der Rechtsgestaltung die Kategorien Unsicherheit, Bürokratisierung, Eingriff in Eigentum, Be­nachteiligung der Wirtschaft und rechtliche Einschränkung.

Wie stark ökonomisch orientiert sich die Bewertung der konkreten gesetzlichen Maß­nahmen und der Rechtsgestaltung insgesamt darstellt, zeigt sich auch darin, daß Rechtsprobleme in wirtschaftlichen Krisenphasen,' etwa 1966/67 und 1974/75, eine größere Bedeutung haben, als in relativ stabilen Jahren. Insgesamt sind sie, stellt man

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den Rückgang von Ressourcengesichtspunkten in Rechnung, nach den unmittelbar wirt­schaftlichen Problemen der wichtigste Problemkomplex. Hier liegt denn vielleicht auch die größte Definitionsmacht der Industrie, was als Umweltproblem anzusehen und wie es zu lösen ist. Durch seine Beteiligung an der "Kleinarbeit" in Kommissionen auf Län­der-, nationaler und internationaler Ebene und durch die Mitarbeit bzw. Einflußnahme im Gesetzgebungsprozess kann er die medial orientierte Umweltpolitik häufig in Bah­nen lenken, die zuallererst ökonomische Gesichtspunkte berücksichtigt.

Dennoch stellt sich die Forderung nach Beteiligung und Mitsprache der Industrie als für den B D I zunehmend bedeutsamer dar. Vor dem Hintergrund der gewachsenen In­terventionskapazitäten des Staates bis hinein in die betriebliche Sphäre mag dies nicht verwundern. Noch in den sechziger Jahren war Umwelt- bzw. Ressourcen- und Ent-sorungspolitik maßgeblich von der Industrie bestimmt. Was das Wasserhaushaltsgesetz angeht, so kann der B D I sogar als Mitinitiator angesehen werden. Mit der Änderung der Zielperspektiven im Umweltschutz - überzogen formuliert: vom Primat des ökonomi­schen hin zum Primat des Gesellschaftlichen, wie sich das in der Verknüpfung von Um­weltschutz und Lebensqualität ab 1969/70 andeutet - wird die Politik jedoch die trei­bende Kraft in diesem Politikfeld. Verstärkt durch gesellschaftliche Artikulation und Mobilisierung, zunächst in Bürgerinitiativen, dann in der Anti-Kernkraftbewegung, wird politisch, was bis dahin unpolitisch war. "Plötzlich regieren Öffentlichkeit und die Politik in den Intimbereich des betrieblichen Managements hinein - in Produktplanung, techni­sche Ausstattung usw."93 Mitsprache und Beteiligung, möglichst Dominanz im umwelt­politischen Willensbildungsprozeß werden zu einem immer größeren Problem. Dement­sprechend wächst die Bedeutung dieses industriellen Problemkomplexes im Vergleich zu den anderen umweltschutzassoziierten Fragen seit Ende der sechziger Jahre kontinuier­lich.

Unmittelbar hiermit im Zusammenhang stehen die wachsenden Legitimationspro­bleme der Industrie. Das Thema wird nicht mehr nur - wie noch in den fünfziger und sechziger Jahren - von einigen wenigen Experten hinter weitgehend verschlossenen Tü­ren oder zumindest doch ohne größeren öffentlichen Aufmerksamkeitswert behandelt, sondern es bestimmt die tagespolitische Diskussion, erzeugt längst Betroffenheit bei al­len Bürgern. Damit aber geraten die unerwünschten Nebenfolgen der 150jährigen deut­schen Industriegeschichte in die Kritik der Öffentlichkeit. B D I und Industrie sehen sich zunehmend mit Schuldzuweisungen, einem öffentlichen Meinungs- und Artikulations­druck direkt, aber auch vermittelt über die hierauf reagierende Politik, konfrontiert. Längst hat die Industrie erkannt, daß das Bewußtsein über Umweltprobleme Definiti-ons- und Informationsabhängig ist9 4. Seit mehreren Jahren ist insbesondere die chemi-

93 Beck, Risikogesellschaft (Anm. 86), S. 31. 94 Schon in den fünfziger Jahren wurde sich der BDI angesichts des geringen Enthusiasmus in

der Bevölkerung für traditionelle Werte in den Nachkriegsjahren der Notwendigkeit von Öf­fentlichkeitsarbeit bewußt. Nicht zuletzt diese Auffassung war Anlaß für die Gründung des Deutschen Industrieinstituts 1951 durch BDI und BDA. Angesichts neuer Problemlagen und mit einer weniger kapitalismus- (wie damals) als wachstumskritischen "Gegenöffentlichkeit" konfrontiert, haben der BDI und die Industrieverbände ihre Public-Relations-Aktivitäten erneut verstärkt. Vgl. zur Öffentlichkeitsarbeit des BDI in den fünfziger und sechziger Jah-

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sehe Industrie mit ganzseitigen, kostspieligen Anzeigen in regionalen und überregiona­len Tageszeitungen bemüht, des Deutschen traditionelles Symbol, den Rhein, für sauber und gesund zu erklären als Folge der umwelttechnischen Maßnahmen der Industrie. An dieser Strategie hat auch die solche Aussagen konterkarierende Baseler Katastrophe nichts geändert.

Auffällig ist, wie flexibel der BDI auf gesellschaftliche Prioritätensetzungen reagiert. Zwar wächst die Bedeutung des Legitimationsproblems in den BDI-Jahresberichten seit Ende der sechziger Jahre deutlich an. Wenn aber, wie in den Krisenjahren 1974 und 1975, Probleme wie Wirtschaftswachstum und Massenarbeitslosigkeit die tagespolitische Agenda dominieren, nehmen die legitimationsbezogenen Probleme des B D I deutlich ab. In welchem Maße die Problemdefinitionen des B D I eine Wirkung in der Öffentlichkeit hinterlassen, läßt sich wohl kaum bestimmen93. Da die Äußerungen in den Jahresberich­ten jedoch für die Argumentationsfiguren von Industrievertretern vor der Öffentlichkeit, vor politischen und administrativen Instanzen typisch sein dürften, sollten ihre Wirkun­gen jedoch nicht als minimal eingeschätzt werden. Zwar dürfte ihr Effekt auf die breite Öffentlichkeit gering sein, das zeigt nicht zuletzt die starke Erosion des "Wachstumspa­radigmas" in der Bevölkerung. Mittelfristig dürfte ihr Einfluß auf politische und admini­strative Stellen von größerer Bedeutung sein. Die überall durchscheinende ökonomische Bedeutungszuweisung, die die Probleme aus der Sicht des BDI selbst bei Legitimations­problemen erhalten96, verdeutlicht, wie groß das Konfliktpotential zwischen traditionel­ler wirtschaftlicher Zielsetzung (Wachstumsparadigma) und ökologischen Zielsetzungen ist. Die eigentlichen Auseinandersetzungen finden aber weniger zwischen Industrie und Bürgern, als vielmehr zwischen Industrie und dem von der Gesellschaft zum Handeln aufgeforderten Staat statt. Umweltpolitische Belange mit dem einzigen Mittel, das Ver­braucher haben, nämlich selektives Marktverhalten, durchzusetzen, bleibt so gut wie wirkungslos. Die umweltgerechte Gestaltung von Produktionsabläufen und -verfahren kann, wenn überhaupt, nur qua Rechtssetzung und Kontrolle, mithin durch das staatli­che Gewaltmonopol, erwirkt werden. Wie aber reagiert der B D I auf den Bedeutungszu­wachs des "flankierenden Subsystems"97 Staat bei der Bearbeitung von Folgeproblemen privatisierter Austauschverhältnisse? Die Entwicklung im umweltschutzbezogenen Pro­blemhaushalt der Industrie legt es nahe, liier nicht von einer Konstanz als vielmehr von Wandlungsprozessen im Konfliktpotential zwischen Wirtschaft und Staat auszugehen.

ren Gerard Braunthal, The Federation of German Industry in Politics, Ithaca, N.Y.: Cornell University Press 1965, S. 65-87.

95 Schon Braunthal (ebd., S. 86) stellte zur Öffentlichkeitsarbeit des BDI in den fünfziger und sechziger Jahren fest: "The success of the BDI in the public relations field cannot be measu-red statistically because of the many factors involved - for example, the State of the economy, political crisis, and the effectiveness of the Opposition."

96 So jüngst im BDI-Jahresbericht 1984-86: "Gerade im Wettbewerb stehende Unternehmen sind schon aus Gründen der Selbsterhaltung und wegen ihrer Einbettung in Märkte, die viel­fältige Wertvorstellungen widerspiegeln und laufenden Wertveränderungen unterworfen sind, gegenüber gesellschaftlichen Strömungen sehr sensibel." Ebd., S. 131 (Hervorhebung; der Verf.).

97 Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1981, S. 200ff.

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3.2. Bedingungsfaktoren des Konfliktpotentials zwischen Industrie und Staat im Um­weltschutz

Die Frage, wie sich Kooperation und Konfrontation, Konsens und Konflikt zwischen In­dustrie und poUtisch-administrativen System entwickeln, wodurch die jeweilige vorherr­schende Konstellation hervorgerufen wird, ist, so gestellt, zweiseitig: Sie zielt ab auf ein Verhältnis, das durch zwei komplex organisierte Akteure bestimmt ist. In dieser Analyse geht es jedoch vielmehr darum, wie sich das Verhältnis der Industrie, genauer: des BDI , zum Staat entwickelt hat und wovon es maßgeblich geprägt ist.

Das Verhältnis der Wirtschaft zum Staat ist in kapitalistisch geprägten Gesellschaften ohnehin prekär 9 8, dies gilt erst recht im Umweltschutz. Zwar werden dem Staat selbst in liberaler Tradition wichtige Funktionen zugestanden bzw. auferlegt. So formuliert Adam Smith die drei Pflichten des "Souveräns": die Gesellschaft nach innen und außen vor Gewalt zu bewahren, die Gesellschaftsmitglieder vor Unrecht und Unterdrückung zu schützen und gewisse öffentliche Arbeiten bzw. Institutionen bereitzustellen bzw. zu un­terhalten, d.h. für Landkultivierung zu sorgen, durch freie Kommunikation und Ver­kehrsinfrastrukturen freie große Märkte zu gewährleisten und einen gewissen Bildungs­grad der Arbeitskräfte zu garantieren99. Die Interventionen des modernen Staates ge­hen, zumal in der Wohlfahrtspolitik, erst recht jedoch in der Umweltpolitik, weit über diese klassisch-liberalen Staatsfunktionen hinaus. Der BDI hat in seinem Jahresbericht 1969/70 seine Positionen hinsichtlich der Aufgaben und Pflichten des Staates dargelegt und billigt ihm, ganz im Sinne Smith's "weitgehende Eingriffsbefugnisse"100 hinsichtlich dessen zu, was er unter dem Sammelbegriff "Infrastruktur" faßt. Hierzu gehört die Be­reitstellung einer möglichst breiten Palette von Verkehrsmöglichkeiten, die Versorgung der Verbraucher durch Leitungsnetze mit Energie, insbesondere Strom, die Wasserver-und -entsorgung101, die Raumordnung, Landes- und Regionalplanung, die Bereitstellung einer "personellen Infrastruktur" (Bildung und Ausbildung) sowie die Förderung von Forschung und Entwicklung. Dabei kann man wohl davon ausgehen, daß sich dies - in aktualisierter und entsprechend der wirtschaftlich-technologischen Entwicklung modernisierten Inhalten - nicht über den von Smith gesteckten Rahmen hinausbewegt.

98 Vgl. Claus Offe, Krisen des Krisenmanagements, in: Martin Jänicke (Hrsg.), Herrschaft und Krise, Opladen: Westdeutscher Verlag 1973, S. 197-223.

99 Adam Smith, An Inquity Into the Nature and Causes of Wealth ofNations, Chicago usw.: En-cyclopaedia Brittannica 1977, S. 300ff, auch S. 63, 403. "According to the System of natural liberty, the sovereign has only three duties to attend to; first, the duty of protecting the society from violence and invasion of other independent societies; secondly, the duty of pro­tecting, ..., every member of the society from the injustice or oppression of every member of it...; and, thirdly, the duty of erecting and maintaining certain public works and certain pu­blic institutions ..." (Ebd, S. 300.)

100 BDI-Jahresbericht 1969/70, S. 37. 101 Wobei der BDI sich hier gegen "monopolistische Formen der Betätigung, sei es Privater

oder der öffentlichen Hand" ausspricht und für die Eingliederung in die Wettbewerbswirt­schaft, "und sei es nur in der Form des Als-ob-Wettbewerbs", plädiert. Ebd., S. 40.

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Über seinen Rahmen hinaus weisen jedoch die Zugeständnisse bzw. Forderungen an den Staat in Umweltfragen, geht es bei ihnen doch "um die Folgen der modernen Indu­striegesellschaft"102. Der BDI vermerkt hierzu:

"Hiernach geht es vordringlich zunächst einmal um die Beseitigung der bereits eingetretenen Miß­stände ... Sie [die Umweltpolitik] muß darüber hinausgehend gleichzeitig sicherstellen, daß bei al­lem, was wir in Produktion und Konsum heute und morgen unternehmen, auch die sich hieraus ergebenden Folgen im Interesse einer weitmöglichen Verhinderung künftig eintretender Nachteile schon jetzt berücksichtigt werden."103

Diese sehr weitgehende Handlungsfreiheit, die der B D I der Politik in dieser Passage zubilligt, wird jedoch insofern eingeschränkt, als für den BDI fraglich bleibt, "wo ent­sprechend unserer Wirtschaftsverfassung die Grenzen staatlicher Betätigung liegen."104. Zwar äußert sich der B D I an gleicher Stelle noch zu einigen umweltökonomischen Vor-und Rahmenbedingungen, letztendlich bleibt seine Position jedoch ungeklärt oder bes­ser unerklärt. Indes zeigt die Geschichte der Umweltpolitik, daß der B D I jeweils in der konkreten Befassung mit einem umweltpolitischen Vorhaben eine Grenze zieht. Dabei bleibt das Verhältnis zwischen Funktionen, die er dem Staat zubilligt, und denen, die er als "Grenzüberschreitung" ablehnt, genauso ambivalent, wie es sich in der für die BDI-Jahresberichte einmaligen Auseinandersetzung mit den Staatsfunktionen im Jahresbe­richt 1969/70 darstellt.

Im folgenden soll der Versuch gemacht werden, diese Ambivalenz, die phasenweise Dominanz von Billigung und Ablehnung von staatlichen Handlungsoptionen, im Um­weltschutz nachzuzeichnen und darüber hinaus zu einer Bestimmung der Bedingungs­faktoren dieser Dynamik von Konsens zu Konflikt zu kommen. Anhand der BDI-Jah­resberichte von 1960/61 bis 1984-86 wird untersucht, wie sich das Staatsverständnis des Verbandes konkret problembezogen darstellt. Dabei wird auf einen Kategorienrahmen zurückgegriffen, den Heidrun Abromeit in ihrer quantifizierenden Inhaltsanalyse zahl­reicher Publikationen von Wirtschaftsverbänden zur Untersuchung des "Staatsverständ­nis der Wirtschaftsöffentlichkeit" entwickelt hat 1 0 5. Jedoch werden in dieser Analyse le­diglich drei der sieben von ihr entwickelten Hauptkategorien und innerhalb der Haupt­kategorien wiederum nur ein Teil derjenigen Unterkategorien genutzt, und zwar solche, die sich nicht umfassend auf das Staatsverständnis allgemein, sondern auf das Politikfeld Umweltschutz beziehen lassen. Das sind die Hauptkategorien "Staatsabwehr", die "geforderte Staatsfunktion" und die "Verflechtung von Staat und Wirtschaft":

Die " Staatsabwehr" erfaßt die liberal geprägten, traditionell negativen Einstellungen des privaten Unternehmers zum Staat. Sie beinhaltet allgemein die Auffassung, daß der Staat sich für keine

102 Ebd. 103 Ebd. 104 Ebd., S. 41. 105 Heidrun Abromeit, Staat und Wirtschaft, Frankfurt a.M./New York: Campus 1981.

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Aufgabe zuständig machen darf, die von der Gesellschaft oder der Wirtschaft selbst bewältigt werden kann106. Sie umfaßt in dieser Analyse drei Unterkategorien: 1. "Abwehr staatlicher Reglementierung"; hier steht der Grundsatz im Vordergrund, daß Gesetze und Vorschriften die Entscheidungsfreiheit des Unternehmers nicht über das sachlich gebotene Maß einschränken dürfen1 0 7; 2. "Forderung nach Reduzierung der vom Staat auferlegten Belastungen"; sie ist auf das Problem der Steuerlast, der Sozialabgaben und der zusätzlichen Kosten für Maßnahmen der Infrastruktur gerichtet108; 3. "Internationalismus"; hier geht es um die Forderungen, gesetzliche Regelungen wettbewerbs­neutral auszulegen109.

Die Hauptkategorie "geforderte Staatsfunktion" betrifft allgemein die Garantie von Ruhe und Ord­nung, aber auch zunehmend die staatlichen Versorgungsaufgaben110. Unterkategorien sind: 1. "Sicherung der Produktionsbedingungen", bei der es im wesentlichen um den Infrastrukturaus­bau geht, also auch um die Sicherung der Rohstoff- und Energieversorgung111; 2. Übernahme externer Kosten der Produktion", die sich explizit auch auf Umweltausgaben rich­tet112; 3. "Übernahme der Verantwortung für Fehlentwicklungen", das heißt, der Adressat von Schuldzu­weisungen und von Vorwürfen hat nicht die Industrie, sondern der Staat zu sein113.

Die Hauptkategorie "Verflecluung von Staat und Wirtschaft" beinhaltet zwei Unterkategorien: 1. "Gemeinsame Verantwortung"; diese richtet sich auf abstrakt-allgemeine Forderungen nach partnerschaftlicher Zusammenarbeit114; 2. "Forderung nach Mitsprache auch in der Politik". Sie richtet sich insbesondere darauf, daß eine Beteiligung nicht nur an den Kosten des Umwelt­schutzes, sondern auch an den EntScheidungsprozessen in der Umweltpolitik gewährleistet sein muß l l s .

Erfaßt wurden in den drei Hauptkategorien jeweils, a) wie oft staatliche Regelungen angesprochen wurden, b) wie oft Staatsfunktionen insgesamt angesprochen wurden, und c) wie oft Kooperation und Verflechtung thematisiert wurden. Innerhalb dieser "Ereig­nisse" wurde unterschieden, ob sie lediglich angesprochen oder abgelehnt bzw. gefordert wurden 1 1 6.

Neben diesen eher allgemeinen Elementen des Staatsverständnisses - welche sich je­doch, der Strategie des BDI entsprechend, in jeweils aktuellen politischen Auseinander­setzungen manifestieren - spielen konkret maßnähme- und sachbezogene Probleme, ins­besondere in den Problemfeldern "Recht" und "Wirtschaftliche Fragen", eine große Rolle für die Industrie, wie im letzten Abschnitt gezeigt. Hier ist es für das Verhältnis

106 Vgl. ebd., S. 54. 107 Vgl. ebd., S. 58-61. 108 Vgl. ebd., S. 68-70. 109 Vgl. ebd., S. 70-71. 110 Vgl. ebd. S. 87. 111 Ebd., S. 90-92. 112 Ebd., S. 93-94. 113 Vgl. ebd., S. 102-104. 114 Ebd., S. 114-115. 115 Ebd. S. 116-118. 116 Siehe Übersicht 1.

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von Staat und Industrie kennzeichnend, ob derartige Probleme lediglich thematisiert werden, oder ob darüber hinaus die Industrie bzw. der B D I den hiermit verbundenen realisierten oder angestrebten Maßnahmen Kritik und gegebenenfalls Widerstand ent­gegensetzt. Während die beiden letztgenannten sowie die Kategorie "Staatsabwehr" In­dikatoren für gewisse Spannungen, für Konflikte zwischen Wirtschaft und Staat darstel­len, zeugen die Kategorien "geforderte Staatsfunktion" und "Interdependenz" von einer gewissen Staatsbezogenheit. Insofern spiegeln sich in dem jeweiligen Verhältnis von Staatsabwehr und Staatsbezogenheit auch das jeweilige Selbstverständnis und die jewei­lige Rolle wider, die der B D I im politischen System spielt. Zwar kann wohl kaum von der Exklusivität von politischer und ökonomischer Rolle gesprochen werden. Dement­sprechend kann man den B D I wohl auch kaum eindeutig als entweder politischen oder ökonomischen Verband bezeichnen117. Selbst wenn die Staatsbezogenheit dominiert, kann man von einer politischen Gruppierung (gegenüber einer ökonomischen Interes­senvertretung) erst dann reden, wenn ein Verband wie der BDI die Beeinflussung von Politik (Unterkategorie "Mitsprache") und die Inkorporation in das politische System (Unterkategorie "Gemeinsame Verantwortung") zu seinem vordringlichsten Ziel

118

macht und damit nicht nur ein Rezipient staatlicher Garantieleistungen sein will, son­dern selbst beteiligt ist.

Übersicht 1: Die inhaltsanalytischen Kategorien

Insgesamt erfaßte Kategorie

Staatseingriff genannt

Zielvariable Haupt­kategorie

Staatsabwehr

Zielvariable Unter­kategorie

Abwehr staatlicher Reglementierung

Forderung nach Redu­zierung der vom Staat auferlegten Bela­stungen

Internationalismus

Staatsfunktion genannt

Verflechtung von Staat und Wirt­schaft genannt

Staatsfunktion gefordert

Verflechtung von Staat und Wirt­gefordert

Sicherung der Produk­tionsbedingungen Übernahme externer Kosten der Produktion

Übernahme der Verant­wortung für Fehlent­wicklungen

Gemeinsame Verantwortung

Mitsprache der der Wirt­schaft in der Politik

117 Vgl. auch Abromeit, Wirtschaft und Staat (Anm. 105), S. 39. 118 Vgl. ebd., S. 38.

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Wie Walter Huppert meint, ist angesichts der sich besonders stark in den siebziger Jahren entfaltenden Handlungsoptionen des Staates "das Bedürfnis nach öffentlicher Mitarbeit der Industrieverbände" gegenüber früher, als die Interessenvertretung "als die beherrschende oder sogar allein bestimmende Verbandsaufgabe" galt, "bedeutend ge­stiegen"119. Auch die Diskussion über die veränderte Einbindung der Verbände und

120

Gewerkschaften in das politische System in der Theorie des Neo-korporatismus spricht eher für eine wachsende Staatsbezogenheit des Verbandssystems und somit auch des BDI.

Eine erste These zum Verhältnis von Konsens und Konflikt zwischen Industrie und Staat könnte also lauten, daß mit zunehmender Staatsintervention bzw. zunehmender Interventionskapazität die Staatsbezogenheit des B D I wächst. Diese war die politische Hypothese. Während diese These angesichts des relativ kontinuierlichen Anwachsens staatlicher Steuerungskapazitäten eine ebenso kontinuierliche Entwicklung zu erhöhter Staatsbezogenheit erwarten läßt, betont eine ökonomische These eher die Diskontinui­tät: Die funktionale Interdependenz von Wirtschaft und Staat und die Funktion des po­misch-administrativen Systems hinsichtlich der Vermeidung konjunktureller Krisen, der Regulierung sozialer Konflikte (insbesondere zwischen Arbeit und Kapital) und hin­sichtlich der Garantenrolle für die Produktionsbedingungen sprechen dafür, daß die Wirtschaft in Zeiten ökonomischer Krise nach entsprechenden korrigierenden und kompensierenden Maßnahmen verlangt121, in Zeiten stabilen Produktions- und Markt­geschehens sie sich hingegen stärker auf ihre Autonomie beruft.

Allerdings ist auch die alternative ökonomische These in Betracht zu ziehen, daß sich die "Staatsabwehr" gerade in Phasen wirtschaftlicher Rezession verstärkt. Zwar scheint sich in Krisenzeiten die Unternehmersolidarität aufzulösen und sich ihre Machtposition damit zu verschlechtern. Die Opposition und der Widerstand gegen staatliche Interven­tionen verstärken sich jedoch offenbar, wie historische Beobachtungen zeigen1 2 2. Auch Heidrun Abromeits Analysen des Staatsverständnisses der Wirtschaft für die Jahre 1967, 1972 und 1975 scheinen eher die alternative These zu rechtfertigen123.

Betrachtet man die Entwicklung der Haltung des BDI zum Staat in den verschie­denen umweltpolitischen Phasen, so fällt zunächst auf, daß die "Staatsabwehr" stets den gewichtigsten Teil der Äußerungen in den Jahresberichten ausmacht. Hierdurch allein

119 Walter Huppert, Industrieverbände, Berlin: Duncker & Humblot 1973, S. 39. 120 Vgl. Ulrich von Alemann/Rolf G. Heinze (Hrsg.), Verbände und Staat, Opladen: Westdeut­

scher Verlag 1979, und die dort angegebene Literatur. 121 So konstatiert Herbert von Beckerath in Zeiten wirtschaftlicher Rezession einen verstärkten

Wunsch der Unternehmer nach staatlicher Koordination und Kontrolle des volks­wirtschaftlichen Prozesses. Vgl. Abromeit, Wirtschaft und Staat (Anm. 105), S. 163.

122 So in der schwierigen wirtschaftlichen Situation der Ruhrindustrie 1919/20. Die Indu­striellen "waren mittlerweile an einem Punkt angelangt, wo sie rücksichtslos ihre eigenen In­teressen voranstellten, selbst auf die Gefahr hin, die Regierung vor den Kopf zu stoßen". Gerald D. Feldman/Heldrun Homberg, Industrie und Inflation: Studien und Dokumente zur Politik der deutschen Unternelmter 1916-1923, Hamburg: Hoffmann und Campe 1977, S. 78-93, Zitat S. 86.

123 Abromeit, Wirtschaft und Staat (Anm. 105), S. 163ff.

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läßt sich die Beziehung zwischen Industrie und Staat jedoch nicht hinreichend beschrei­ben. Vielmehr ist zu berücksichtigen, wie sich das Verhältnis zwischen "Staatsabwehr" und Staatsbezogenheit über die Zeit verändert. Danach lassen sich die oben abgegrenz­ten umweltpolitischen Phasen durch das Staatsverständnis des BDI wie auch durch seine Problemeinschätzung charakterisieren.

Nimmt man, wie oben vorgeschlagen, die staatsabwehrenden Äußerungen des B D I als Indikator für Konflikt und die staatsbezogenen eher als Zeichen für Konsens - den Wunsch nach Kooperation mit dem Staat und nach Handeln des Staates -, so lassen sich die Perioden per Saldo im Vergleich wie folgt charakterisieren124: Deutlich von Konflik­ten geprägt waren die Jahre der großen Koalition und die Jahre 1974 -1978. In beiden Phasen hat die Bundesrepublik wohl auch - abgesehen von der Zeit ab Ende 1981 - die ökonomisch rezessivsten Jahre erlebt. Vom umweltpolitischen Interventionspotential her sind sie jedoch sehr unterschiedlich. Mitte bis Ende der sechziger Jahre gab es, bis auf einen Referentenentwurf zur Reinhaltung der Luft und zum Schutz vor Lärm, der aufgrund des Widerstands des B D I und des Bundeswirtschaftsrninisteriums erst in den siebziger Jahren weiterbehandelt wurde, keine konfliktträchtigen Gesetzesvorhaben. Demgegenüber waren die Jahre 1974 - 1978 die, bezogen auf die Zahl der verabschiede­ten Umweltgesetze, wohl produktivsten der Bundesrepublik. Doch muß die große Koali­tion im breiteren Zusammenhang der innenpolitischen Entwicklung bis in die siebziger Jahre gesehen werden. Denn das durch die Wirtschaft anfänglich positiv aufgenommene "liberal-korporatitische Experiment" (Berghahn) der "Konzertierten Aktion" rief relativ schnell auch Kritik hervor. Von der Wirtschaft wegen der außerparlamentarischen Op­position (APO) als innenpolitischer Wendepunkt antizipiert und von neuen Auseinan­dersetzungen um die Montanrnitbestimmung geprägt, war in dieser Phase das Verhältnis zwischen Wirtschaft und Staat ein besonderes125.

Zwar verzeichnet auch die Periode von 1979 bis 1981 einen hohen Anteil an staats­abwehrenden Äußerungen in den Jahresberichten des BDI . Allerdings sind hier staats­bezogene Forderungen ebenfalls sehr stark ausgeprägt. Vergleichsweise konsensual hin­gegen waren die Jahre der Regierung Brandt, wenngleich sie gegenüber den Jahren der CDU-Regierungen von 1960 bis 1966 und ab 1982 wenig Wunsch nach Einbeziehung und Kooperation auf Seiten der Industrie hervorrief. Der politisch-ideologisch geprägte Pessimismus in der Unternehmerschaft war trotz vergleichsweise stark prosperierender Wirtschaftssituation so groß, daß 1971 eine von dem neu gewählten BDI-Präsidenten Sohl initiierte und von weiteren 65 prominenten Industriellen unterzeichnete Erklärung in mehreren Tageszeitungen erschien und gegen die Regierung Brandt mobil machte1 2 6. Das Mißtrauen der Wirtschaft äußerte sich auch in ihrem ökonomischen Verhalten - die

124 Vgl. zu folgendem Tab. 2. 125 Hierzu vermerkt Volker Berghahn: Die "wachsende Distanzierung der Industrie von Schil­

lers liberal-korporatistischen Experiment [ist] nur zu verstehen, wenn man die 'Konzertierte Aktion' zugleich in einen breiteren Zusammenhang der innenpolitischen Entwicklung zwi­schen 1966 und 1973 stellt". Ders., Unternehmer und Politik in der Bundesrepublik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1985, S. 290-318, hier S. 301.

126 Sie trug die Uberschrift "Wir dürfen nicht länger schweigen". Vgl. Volker Berghahn, Unternehmer (Anm. 125), S, 319f.

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Investitionsrate (Investitionen in Prozent des Bruttosozialprodukts) verschlechterte sich zwischen 1970 und 1974 um fünf Prozentpunkte von 26,3 auf 21,5 Prozent -, und auch das Wirtschaftsklima in der Industrie verschlechterte sich rapide (Geschäftsklima-Index des Münchener Ifo-Instituts).

Umweltpolitisch jedoch scheint die sozial-liberale Koalition unter Brandt dem indu­striellen Bedürfnis nach Reduzierung wirtschaftlicher Unsicherheit aufgrund von rechtli­cher Uneindeutigkeit entsprochen zu haben. Die Vorlage eines langfristigen Programms, das, auch wenn es stärkere staatliche Interventionen erwarten ließ, doch klare und zeit­lich kalkulierbare Vorgaben enthielt, scheint hier goutiert worden zu sein. Das drückt sich auch in der Beurteilung der vom BDI angesprochenen Rechtsprobleme aus. In kei­ner anderen Phase wurde so verhältnismäßig wenig Kritik geäußert. Dagegen erwartete der B D I in einem erheblichen Maße negative wirtschaftliche Folgen. Das blieb so bis Ende 1978. Erst danach reduzierte sich die Kritik des BDI an den negativen wirtschaftli­chen Folgen des Umweltschutzes fast wieder auf ein Maß, wie es letztmals Anfang der sechziger Jahre vorgelegen hatte (s. Tab. 2).

Zusammenfassend läßt sich wohl aus der Tabelleninterpretation weder für die politi­sche noch für eine der beiden alternativen ökonomischen Hypothesen zum Verhalten und zur Veränderung der Rolle des B D I eine eindeutige Option gewinnen. Weder läßt sich ein Trend erkennen, daß mit wachsender Interventionskapazität des Staates die "Staatsbezogenheit" des B D I wächst (eher deutet sich - umgekehrt - an, daß, je höher die Staatsintervention, desto höher die Distanz), noch läßt sich, vergleicht man die poli­tischen Perioden, in denen es wirtschaftliche Rezession gab, eine der ökonomischen Thesen unzweideutig stützen. Vielmehr scheinen politische und wirtschaftliche Faktoren die Reaktionen der Industrie auf umweltpolitische Vorgaben gemeinsam zu bestimmen.

Um diese zu vermutetende Multikausalität für das "politische Verhalten" des B D I näher zu bestimmen, soll im folgenden ein pfadanalytisches Modell entworfen und gete­stet werden. Die Analyse der Tabellen legt nahe, die politische Hypothese zu modifizie­ren. Mit einer Erhöhung der Handlungsoptionen des poUtisch-administrativen Systems scheint keine Verstärkung der Staatsbezogenheit als vielmehr eine Verstärkung der "Staatsabwehr" einherzugehen. Auch auf die ökonomische These gibt die Tabellenana­lyse Hinweise: In wirtschaftlichen Krisenzeiten ist (zumindest 1966/67 und 1974/75) die Staatsbezogenheit offenbar eher gering, die staatsabwehrende Haltung dagegen stark ausgeprägt. Insofern wird in das Modell die alternative ökonomische These eingeführt, Allerdings - das zeigt die generelle Haltung der Industrie gegenüber der Regierung Brandt - wirken ökonomische Faktoren nicht unmittelbar durch ihren objektiven Gehalt, sondern werden erst in interpretierter Form verhaltenswirksam. Das zeigt der Wider­spruch zwischen der objektiven volkswirtschaftlichen Situation Anfang der siebziger Jahre und dem Verhalten und der Einschätzung durch die Unternehmer (sinkende Inve­stitionsraten; negative Lageeinschätzung).

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Tabelle 2: Das Staatsbild des BDI in den Jahresberichten 1960-1986

Perioden: 1960-1965 1966-1968 1969-1973 1974-1978 1979-1981 1982-1985 Regierung: CDU/FDP Gr. Koal. Brandt Schmidt Schmidt Kohl

Staatsbild1

Staatsabwehr 32% 51% 27% 40% 57% 30%

Staatsfunktion

gefordert 13% 9% 9% 5% 11% 9%

Interdependenz

gefordert 6% 5% 4% 3% 13% 12%

(N = 100%) 168 75 127 116 54 92 Verhältnis von Staatsabwehr zu Staatsbezug: 1.7 3.6 2.1 5.0 2.4 1.4

Verhältnis von Staatsabwehr zu geforderter Staatsfunktion: 2.5 5.7 3.0 8.0 5.2 3.3

Verhältnis von Staatsabwehr zu Interdependenz: 2.2 1.8 2.3 1.7 0.8 0.8

Kritik an politischen Akteuren im Zusammen­hang mit rechtlichen Problemen (in % der rechtl. Probleme): 32 61 69 65 38 43

Kritik an politischen Akteuren im Zusammen­hang mit wirtschaft­lichen Problemen (in % der wirtschaftl.

Probleme) 74 95 55 75 90 60

1) S. Übersicht 1 im Text zu den Kategorien

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Für das Modell zu spezifizieren sind also folgende (latente) Faktoren: das staatliche In­terventionspotential, der "objektive" wirtschaftliche Ist-Zustand und die Lageeinschät­zung der Industrie. Diese drei Faktoren - so ist zu vermuten - bestimmen zu einem großen Teil das Verhältnis zwischen BDI und Staat, das Konfliktpotential bzw. die Staatsabwehr127.

Die Schwierigkeit bei solchen (modell-)theoretischen Überlegungen besteht darin, entsprechende empirische Indikatoren zu finden, die die theoretischen Faktorenbündel ausfüllen können. Das setzt, bei soziologisch-politischen Faktoren stärker als bei öko­nomischen, bestimmte Annahmen voraus. So läßt sich die "Interventionskapazität" des Staates wohl schwer vollständig erfassen. Hier werden lediglich zwei Indikatoren heran­gezogen: Das ist einmal die Unterscheidung, ob die SPD an der Regierung beteiligt war oder nicht. Nicht nur die Geschichte der Umweltpolitik, sondern in stärkerem Maße noch die Sozial- und die Wirtschaftspolitik zeigen, daß es bisher nur dann, wenn die SPD an der Regierung beteiligt war, zu signifikanten Ausweitungen der staatlichen Handlungsoptionen gekommen ist. Der zweite Indikator ist die Anzahl der pro Jahr ver­abschiedeten Umweltgesetze. Dieser Indikator ist insofern etwas krude, als er lediglich Quantitäten, nicht aber Qualitäten mißt, auf der anderen Seite spiegelt er aber relativ gut den Aktivitätsgrad in der Umweltpolitik wider.

Für die Beschreibung des wirtschaftlichen Ist-Zustands kann sicherlich eine Vielzahl von wirtschaftlichen Variablen herangezogen werden. In den Publikationen des B D I tre­ten allerdings im wesentlichen zwei besonders hervor: die Wachstumsrate des Bruttoso­zialprodukts und die Entwicklung des Unternehmereinkommens. Da es hier um die Verhaltensrelevanz für den BDI geht und nicht um eine möglichst realitätsadäquate Be­schreibung des wirtschaftlichen Ist-Zustands (dann müßten zumindest noch die Ar­beitslosenzahlen herangezogen werden), sollen diese beiden Indikatoren genügen 1 2 8 . Der dritte Faktor, die Lageeinschätzung und die Zukunftserwartungen der Industrie, ist ein mehr oder minder subjektiver Indikator. Hier steht als einziger direkter Indikator

127 Vgl. zur Verknüpfung von inhaltsanalytischen und "externen" Variablen in zeitreihen-analytischer Perspektive: Phillip J. Stone/Exter C. Dunphy/Marshall S. Smith/Daniel M. Ogilvie, The General Inquirer: A Computer Approach to Content Anafysis, Cambridge, Mass./London: M.I.T. Press 1966, S. 251-262. Das dort beschriebene Problem: "In the analy-sis of relationships of content variables to other outer variables, there may be some doubt about which variable precedes the other" (S. 253), besteht in dieser Analyse nicht. Hier gibt es ein deutliches zeitliches Nacheinander: Die Jahresberichte reflektieren die jeweils unmit­telbare Vergangenheit.

128 Beide Datenreihen werden um ein Jahr gegenüber den Jahresberichten zurückversetzt (Lag = 1 Jahr), weil ein derartiger Bericht eine etwas verzögerte Reaktion auf eine vergangene Realität ist. Ein Jahr dürfte die reale Reaktionszeit vielleicht nicht ganz treffen. Methodisch sind durch die Jahresberichte jedoch Jahresabstände vorgegeben. Daten aus verschiedenen Quellen: u.a. Werner Glastetter/Rüdiger Paulert/Ulrich Spörel, Die wirtschaftliche Ent­wicklungin der Bundesrepublik 1950-1980, Frankfurt a.M./New York: Campus 1983; Statisti­sches Bundesamt (Hrsg.), Datenreport 1985, Bonn: Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bd. 226,1985.

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und als kontinuierliche Zeitreihe das sogenannte Klimabarometer des Ifo-Instituts in 129

München zur Verfügung . Indirekt geht in diesen Faktor aber auch der wirtschaftliche Ist-Zustand ein. Als das

Konfliktpotential beschreibende bzw. aus ihm resultierende Handlungen des B D I und seine Positionen zum Staat werden die schon eingeführten Stellungnahmen zu umwelt­politischen Problemen in den BDI-Jahresberichten in das Modell übernommen. Insge­samt arbeitet es also mit vier Blöcken manifester Variablen, von denen drei als Indika­toren für die drei latenten Variablen "Interventionspotential", "Lageeinschätzung" und "wirtschaftlicher Ist-Zustand" fungieren. Diese drei latenten Variablen wirken wiederum direkt, bzw. wirkt eine davon indirekt auf die latente Variable "Konfliktpotential", wel­che die letztendlich bestimmende Variable für das Verhalten des B D I ist, wie es sich in den Jahresberichten darstellt. Dieses so spezifizierte Pfadmodell mit latenten Vari­ablen 1 3 0 "erklärt" die Bedingungen von Konsens und Konflikt zwischen B D I und staat-hch-administrativen System recht gut, wenn natürlich auch nicht umfassend131. Immerhin läßt sich ganz klar feststellen, daß die modifizierte politische und die ökonomische These die Bedingungen des realen Prozesses gut umreißen. Ganz wie erwartet, trägt ein steigendes Interventionspotential des Staates zu einem verstärkten politischen Konflikt­potential bei. Der B D I gerät also bei real oder erwartbar wachsender staatlicher Aktivi­tät in eine Abwehrhaltung. Sie ist, wie die bisherige Analyse ergab, zwar im Schwer­punkt mehr oder minder konkret wirtschaftlich motiviert, hat aber auch die allgemeine Komponente, wo der B D I die Grenze für staatliche Aktivität zieht bzw. wo er die Auto­nomie der Industrie einfordert. Diese Grenzen sind ja - so hat es der B D I zumindest implizit im Jahresbericht 1969/70 als Strategie dargelegt - bewußt nicht staatstheoretisch von ihm vordefiniert, er legt sie in den jeweils konkreten Auseinandersetzungen fest.

Dagegen macht das Modell deutlich, daß eine von der Industrie als positiv empfun­dene wirtschaftliche Situation die Lage zwischen Staat und Wirtschaft entspannt. Diese Einschätzung ist zu einem großen Teil an die reale Entwicklung gebunden, aber nicht ausschließlich durch sie bestimmt. Verblüffend dabei ist, daß die wirtschaftliche Lage­einschätzung und die Zukunftserwartung in der Industrie weder einen kleineren noch einen größeren, sondern einen genauso starken Einfluß auf die Entwicklung des Kon­fliktpotentials haben wie die politische Entwicklung. Beide - politische und ökonomische These - können damit den gleichen Anspruch erheben, die Bedingungsfaktoren für Kon­flikt und Konsens zu benennen. Aber erst beide Thesen und die in ihnen formulierten Zusammenhänge in ihrer Interaktion leisten einen wirklichen Erklärungsbeitrag für das Verhalten des BDI . Je höher das Interventionspotential und je schlechter die wirtschaft­liche Lageeinschätzung, desto größer die Staatsabwehr und desto negativer die Äuße-

129 Ifo-Institut für Wirtschaftsforschung e.V., Spiegel der Wirtschaft 1975/76 sowie 1984/85, Frankfurt/New York: Campus 1976 und 1985.

130 Gerechnet wurde das Modell mit LVPLS, einem von Jan-Bernd Lohmöller entwickelten Programm. Vgl. ders., LVPLS-program Manual: Latent Variables Path Analysis with Partial-Least-Squares Estimation, Köln: Zentralarchiv für empirische Sozialforschung 1984.

131 Siehe Schaubild 1, Fit und Reliabilität des Modells sind von hinreichender Güte. Der Anteil erklärter Varianz des Gesamtmodells (Redundanz entspricht einem R ; beträgt immerhin 32 Prozent.

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rungen zu rechtlichen und wirtschaftlichen Problemen, die mit dem Umweltschutz asso­ziiert sind. Umgekehrt erhöht sich die Staatsbezogenheit, ausgedrückt in der Zubilligung und der Forderung staatlicher Garantieleistungen und im Wunsch nach Inkorporation in die Politik, dann, wenn die wirtschaftliche Lage positiv und das staatliche Interventions­potential als eher schwach anzusehen ist. Dabei stellt sich die Frage, was an der Um­weltpolitik für die Industrie negativ besetzt ist. Werden diese Befunde an die Charakte­risierung der umweltpolitischen Phasen in Abschnitt 2 und die Entwicklung des umwelt­assoziierten Problemhaushalts der Industrie in Abschnitt 3.1. rückgekoppelt, so legt dies den Schluß nahe, daß sich immer dann eine Tendenz zum Konsens hin ergibt, wenn Umweltschutz als ein technisches Problem begriffen wird und die Politik an Gesichts­punkten der Ressourcenknappheit ausgerichtet wird. Wird hingegen Umweltschutz in einen gesellschaftspolitischen Rahmen eingebettet, z.B. in das Konzept der "inneren Re­formen", oder wird Umweltschutz durch massive Konflikte als gesellschaftliches Problem erkannt und auf die politische Agenda gesetzt wie beim Protest gegen Kernkraftnutzung, steigt das Konfliktpotential zwischen Industrie und Staat deutlich an. Dabei kann die ökonomische Entwicklung die jeweilige Tendenz verstärken - so eine positive den Kon­sens, eine negative den Konflikt - oder abschwächen.

Ob hieraus der Schluß gezogen werden kann, die allgemeinen Kriterien des B D I für seine "Grenzziehung" zwischen Industrie und Staat hätten sich durch die Analyse seiner jeweils auf relativ konkrete Maßnahmen beziehenden Reaktionen offenbart, bleibt al­lerdings fraglich. Dazu scheinen die Reaktionen auf unmittelbar wirtschaftliche Belange und die Bedingtheit der Reaktionen durch wirtschaftliche Faktoren doch eine zu große Bedeutung für das Handeln und das Verständnis des BDI zu haben. Seiner Strategie nach ist er politischer wie ökonomischer Verband. Welchem der beiden Elemente er den zeitweiligen Vorrang einräumt, ist eine Frage politischer und wirtschaftlicher Um­stände. E r richtet sich hier sowohl nach politischen Opportunitäten als auch nach öko­nomischen Notwendigkeiten.

4. Schlußbetrachtung

Die Frage nach den Bedingungen von Konflikt und Konsens zwischen Industrie und Staat im Politikfeld Umweltschutz kann nur empirisch132 beantwortet werden. Die Dy­namik im Verhältnis der Industrie, namentlich des BDI, zum Staat und ihre Strategie, die Grenze zum Staat und des Staates nur am konkreten Problemfall zu ziehen, lassen keine nicht-dynamischen theoretischen Annahmen zu. Es zeigt sich am Beispiel Um­weltschutz, daß die Reaktionsweisen des BDI gleichermaßen von politischen und öko­nomischen Faktoren geprägt sind und gerade dieses interaktive Wirken von Faktoren­bündeln das Verhalten des B D I sehr vielfältig macht und es sich als hoch flexibel er­weist. Dennoch sind die Eckpunkte, die über das Konfiiktpotential zwischen Industrie

132 Empirisch ist dabei weiter zu verstehen als quantifizierend. Gerade die empirische Er­fassung des Kontextes wird vielfach erst durch zeitgeschichtliche Analyse möglich.

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und Staat entscheiden, recht gut zu benennen. Zum einen ist das Staatsbild durch die jeweilige ökonomische Situation bestimmt. Die vielfach vertretene These, daß die Staatsbezogenheit des B D I sich in wirtschaftlichen Krisenzeiten erhöht, mußte jedoch verworfen werden, Vielmehr stellt sich gerade dann die Distanz und das Konfliktpoten­tial zum Staat als sehr groß heraus. Zwar könnte man einwenden, daß dies lediglich für die Umweltpolitik gelte. Jedoch weisen auch die Ergebnisse von Abromeits umfassender Analyse des Staatsverständisses der Wirtschaftsöffentlichkeit in dieselbe Richtung. Zum anderen bestimmt sich das Konfliktpotential zwischen Industrie und Staat aus einem ganzen Bündel politischer Faktoren, die nicht alle einer quantifizierenden Analyse zu­gänglich sind. Auch hier widersprechen die Ergebnisse einer in der Literatur vertretenen plausiblen These. So ergibt sich kein Trend zu einer wachsenden Staatsbezogenheit und zu einem wachsenden konsensualen "konzertierten" Verhältnis zwischen B D I und Staat durch wachsende staatliche Steuerungskapazitäten. Vielmehr nimmt der B D I gerade in politischen Phasen mit einem hohen staatlichen Interventionspotential eine abwehrende Position ein. Hierbei scheint zudem wichtig zu sein, ob die Umweltpolitik jeweils in eine allgemeinere gesellschaftspolitische Programmatik eingebettet, oder eher technisch und ressourcenbezogen ausgerichtet ist. Erhebt sie keinen gesellschaftspolitischen Anspruch wie in den fünfziger bis Mitte der sechziger Jahre und wieder ab 1982/83, ergeben sich auch kaum Spannungen zwischen Industrie und Staat. Auch wenn dieses politische Kal­kül des BDI einen maßgeblichen Einfluß auf seine Reaktionsweisen hat, so ist er den­noch nicht primär ein politischer Verband. Vielmehr beinhalten seine Interpretation und sein Verständnis des umweltschutzbezogenen Problemhaushalts eine starke Domi­nanz wirtschaftlicher Überlegungen. Sein Versuch, Umweltschutzprobleme fast aus­schließlich als ökonomische Fragen zu definieren, zeitigt zwar häufig den Erfolg, daß die Politik sich diese Sicht zu eigen macht oder doch bei der Politikgestaltung berücksich­tigt. Aber gerade dies weist ihn als ökonomischen Verband aus.

Insofern läßt sich das Konfliktpotential zwischen B D I und Staat im Umweltschutz auch durch seine Funktionen umreißen. Bei negativer wirtschaftlicher Entwicklung und erhöhtem staatlichen Interventionswillen kommt es zu starken Abwehrreaktionen, er reagiert als ökonomischer Verband. Bei - zumindest in seiner Wahrnehmung - positiver wirtschaftlicher Entwicklung hingegen erscheint es ihm eher opportun, die Nähe zum Staat zu suchen, in gemeinsamer Verantwortung zu handeln, als politischer Verband zu fungieren.

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