Politik und Öffentlichkeit - In Abhängigkeit vereint?

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    Ham| mel | sprung, der;

    (1) parlamentarisches Abstimmungsverfahren, bei

    dem die Abgeordneten den Plenarsaal verlassen und

    ihn zur Zählung ihrer Stimmen durch eine von drei

    Türen betreten, die jeweils für Ja, Nein oder Enthaltung

    stehen;

    (2) überparteiliches und unkommerzielles politisches

    Magazin an der NRW School of Governance in Duis-

    burg, von Studierenden gegründet und im Dezember

    2009 erstmalig erschienen.

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    verschiedenheit als teil der krise?mediale nationalisierung vs. transnationalisierung europas?respektive: existiert eine europäische öffentlichkeit?europa, wo bist du?

    einblick für die öffentlichkeitverzweiflungstat zur modernisierung undwählermobilisierung oder basisdemokratie 2.0?drei fragen an ... oliver gedender shitstorm als hetzmasse shitstorm – ein digitales phänomen außer kontrolle?vom katastrophen- zum katastrophalen journalismus?von der pionierbewegung zum jahrhundertprojekt –gesellschaftlicher wandel am beispiel der energiewendedie verwundbare stelleder verteidiger-ministergoethe, fleiß und fußball: öffentlichkeitsarbeit

    für deutschland als „dritte säule der außenpolitik“der hammelsprung: sollte die europäische kommissiondie eingriffe der polnischen nationalkonservativenregierung in die justiz- und medienrechte sanktionieren?with a little help from my friends – musiker und politik was mit medien

    editorialgrußwortkein kommentarimpressum

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    Liebe Leserinnen und Leser,

    das Jahr 2016 ist für den hammelsprung ein besonderes: Bei dem vorliegenden Hefthandelt es sich um die zehnte Ausgabe unseres Magazins. Seit seiner Gründung vonStudierenden der NRW School of Governance, die in diesem Jahr ihr zehnjährigesBestehen feiert, wurde eine Vielzahl von Themen behandelt – von der ersten Ausga- be, die sich mit dem Thema „Politik und Internet“ befasste über „Politik und Sport“und „Politik und Ethik“ bis hin zur aktuellen Ausgabe, die sich mit dem Thema „Po-litik und Öffentlichkeit“ beschäftigt.

    Obwohl sich der hammelsprung inzwischen als festes Magazin etabliert hat und seit Jahren von den Studierenden der NRW School of Governance mit Beiträgen un-terstützt wird, zeigt auch die vorliegende Ausgabe, dass die Themen aktueller sinddenn je. Zwar handelt es sich bei der politischen Öffentlichkeit um ein generell wie-der viel beachtetes Thema, aber wie sehr diese Thematik in all ihren Facetten in denletzten Monaten im Mittelpunkt stehen sollte, war bei der Planung dieser Ausgabenur bedingt absehbar. Die Vielfalt der Beiträge dieser Ausgabe spiegelt die Breite desThemas wieder: Ob Öffentlichkeit und Energiewende, Musik und Politik, Basisde-mokratie 2.0, Shitstorm oder Katastrophenjournalismus – stets beschäftigten sichdie Autorinnen und Autoren mit der Wechselwirkung zwischen Politik und Öffent -lichkeit auf ihre ganz eigene Art. Wir danken allen Autorinnen und Autoren für ihrefundierten wie auch differenzierten Beiträge.

    Der hammelsprung lebt jedoch nicht nur von den Beiträgen der Studierenden, son-dern eben auch von den vielen Gastbeiträgen der gesellschaftlichen Akteure. Auchdieses Mal haben wir wieder viele prominente Gastautorinnen und Gastautoren, diemit ihren Beiträgen unser Heft bereichert und zu einer umfassenden Vielfalt beige-tragen haben. So konnten wir für die vorliegende Ausgabe Dr. Christine Bergmann –Familienministerin a.D. für das Grußwort, sowie Dr. Jürgen Brautmeier – Direk-tor der Landesanstalt für Medien Nordrhein-Westfalen, Dr. Oliver Geden – Leiterder Forschungsgruppe EU/Europa der Stiftung Wissenschaft und Politik, Prof. Dr.Klaus Hänsch – ehemaliger Präsident des Europäischen Parlamentes, Prof. Dr. Kor-te – Professor für Politikwissenschaft an der Universität Duisburg-Essen und LukasObholzer – London School of Economics Fellow in Europäischer Politik für weitere

    Beiträge gewinnen. An dieser Stelle möchten wir uns für ihre Unterstützung aus-drücklich bedanken.

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    Diese Gastautoren stehen in einer Reihe mit den vielen Gastautorinnen und Gastau-toren, die in den letzten zehn Ausgaben zu einem kontroversen, interdisziplinärenund erfolgreichen Magazin beigetragen haben. Zu nennen sind stellvertretend fürviele Peer Steinbrück, Günter Verheugen, Franz Müntefering, Jürgen Trittin, VolkerBouffier, Armin Laschet und Sylvia Löhrmann. Wir sind dankbar, in den letzten Jah-ren eine so breite Unterstützung bekommen zu haben und sind uns sicher, mit un-serem Magazin auch in Zukunft zu kritischen und reflektierten Debatten anzuregen.

    Darüber hinaus möchten wir unserem Gestalter Benjamin Brinkmann und unseremFotografen Bendix Wulfgramm für die visuelle Unterstützung danken. Die Her-ausgabe dieses Heftes ist zudem nur durch großzügige finanzielle Unterstützungmöglich, die wir von der Fakultät für Gesellschaftswissenschaften der UniversitätDuisburg-Essen erhalten haben. Hierfür bedanken wir uns und hoffen, dass derhammelsprung als Magazin für politische Entscheidungen auch in Zukunft weitergefördert werden kann.

    Gerne würden wir mit dem Heft weitere Diskussionen anregen. Die Möglichkeitdafür stellen wir bereit: Mit unserer Homepage www.hammelsprung.net bieten wireine Plattform, die weiteres Diskutieren ermöglicht. Wir freuen uns auf Kritik undAnregungen.

    Die ChefredaktionLuca Elena Bauer, Lisa König, Leon Arvid Lieblang,Hanna Marlena Sander, Felix Schenuit, Stephanie Streich

    Editorial

     

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     Jahren. Wie groß war doch der Wi-derstand, zu akzeptieren, wie sehr die Wehrmacht in den Holocaust verstricktwar. Diese Tabuisierung der nationalso-zialistischen Vergangenheit fand im Üb-rigen auch in der DDR statt, die zwar fürsich in Anspruch nahm, als der antifa-

    schistische Staat alle notwendigen Kon-sequenzen aus der NS-Vergangenheitgezogen zu haben. Auch wenn in denDDR-Medien die öffentliche Debatte inder Bundesrepublik verfolgt wurde, gabes keine mediale Auseinandersetzungmit der Verstrickung der eigenen Bür-gerinnen und Bürger in das Naziregime.Diese Auseinandersetzungen erfolgtenausschließlich im privaten Raum. In-wieweit Tabus dem Zeitgeist unterliegenund sich an herrschenden politischenund gesellschaftlichen Verhältnissen

    orientieren, kann man gut an den offizi-ellen und inoffiziellen Redeverboten imgeteilten Deutschland erkennen.

    In einem autoritären System sind Ta- bubrüche mit existentiellen Risikenverbunden. Die Vorstellung von derEinheit Deutschlands war ein Tabu imOsten Deutschlands. „Lass uns dir zumGuten dienen Deutschland einig Va-terland“ diese Zeile aus der National-hymne der DDR wurde zum Tabu, die

    Nationalhymne wurde nicht mehr ge-sungen sondern nur noch gespielt. KeinSportler sang bei der Siegerehrung mit.Über die Mauer, über Mauertote, überMöglichkeiten, die DDR zu verlassenund vieles andere wurde öffentlich nichtgesprochen. Es galten die vorgegebenenParolen, die nicht infrage zu stellen wa-ren, obwohl die Mehrheit der Bürgerin-nen und Bürger zunehmend mehr dasTotschweigen der Realität nicht mehr

    Welche Rolle spielen Tabus in einer aufgeklärten modernen Gesellschaft noch? Gibtes überhaupt noch Tabus oder kann nicht längst jedes Thema in irgendeiner Wei-se in die Öffentlichkeit gebracht werden. „Tabubrüche“ jedenfalls erleben wir in deröffentlichen Debatte in regelmäßigen Abständen. Mediale Aufmerksamkeit ist denAuslösern in der Regel sicher. Die tabulose Gesellschaft wird beklagt. Medien, dievor nichts mehr Halt machen, alles skandalisieren, sind dabei im Blickfeld ebenso wiedie Werbung, die mit Schockbildern ihr Produkt verkaufen will, aber auch Autorin-

    nen und Autoren oder Politikerinnen und Politiker, die keine Tabus mehr respektie-ren. Aber ebenso werden Tabus, die den gesellschaftlichen Wandel behindern, dienicht mehr in die Zeit passen, nicht mehr akzeptiert werden, gebrochen, verändertoder aufgehoben. Tabubruch wird also beklagt und gefordert zugleich.

    Wenn auch der Tabubegriff uneinheitlich gebraucht wird, ist doch festzustellen, dasswir heute weithin darunter verstehen, Grenzen des Handelns, Redens und Denkenszu markieren, bestimmte Dinge nicht zu tun oder über sie zu sprechen. „Das tut mannicht“ oder „darüber spricht man nicht“ lernen schon die Kleinkinder. Tabus bildeneine besonders starke moralische Norm jenseits der Gesetze. Sie beruhen weitgehendauf einem gesellschaftlichen Konsens, werden nicht hinterfragt und von den meistenMenschen geachtet, sind häufig wirksamer als direkt ausgesprochene Verbote undGesetze. Verletzungen von Tabus können von der Gemeinschaft Sanktionsmecha-

    nismen wie Ausschluss aus der Gemeinschaft zur Folge haben.

    Dieses heutige Verständnis von Tabus hat sich erst im 20. Jahrhundert herausgebil-det. Die ethnologische Forschung stellte fest, dass wir den Begriff Tabu auf unsereeigenen Sitten und Anschauungen anwenden, die selbst keine Tabus im Sinne der Ta-bukulturen darstellen. Im positiven Sinne regeln Tabus das soziale Zusammenleben,stellen moralische Regeln auf, tragen zur Stabilität einer Gemeinschaft bei. Zugleichkönnen sie instrumentalisiert werden. Tabubrüche sind notwendig, um Gesellschaf -ten offener zu machen.

    Margarete und Alexander Mitscherlich sprechen von einer „Denkhemmung“ im Zu-sammenhang mit dem faktischen Verbot, das von einem Tabu ausgeht. Sie beziehen

    sich dabei auf das politische Tabu der jüngsten Vergangenheit. St att Aufarbeitung derVerstrickung, auch der Einzelnen, in das Naziregime erfolgt Verdrängung, Tabuisie-rung. Der notwendige Tabubruch erfolgte erst durch die Generation der Kinder derOpfer und Täter, die Studentenbewegung und die 1968er-Bewegung. Natürlich wa-ren die Fakten bekannt, gab es Bücher, Filme, Berichte in den Medien, Forschungs-ergebnisse, war das Tabu eigentlich schon gebrochen. Dieses Wissen wurde jedochnicht breit in der Gesellschaft diskutiert, verhindert durch die quasi neue Tabuisie-rung durch die Täter, Mitläufer und Mitwisser. Keiner hat es gewusst, keiner konnteetwas tun, die Schuld hatte allein Hitler. Offensichtlich gelingt ein wirklicher Ta-bubruch erst, wenn nicht nur Einzelne an verdrängtes Geschehen rühren, das einerMehrheit unangenehm ist. Erinnern möchte ich in diesem Zusammenhang an dieheftigen öffentlichen Diskussionen um die Wehrmachtsausstellung in den 1990er

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    aushielten und das Schweigen durchbra-chen. Tabus im politischen Raum sindmit Machtansprüchen verbunden, mitAufrechterhaltung von Macht, so dassein Rütteln an den Tabus die Machtfragestellt und erhebliche existentielle Folgenhaben kann. Erfolgt der Tabubruch den-

    noch, sind Veränderungen nicht mehrweit. Die Machtfrage wird gestellt undöffentlich gestellt. Das gesellschaftlicheKlima wandelt sich. Was undenkbar war,geschieht. So wie 1989 die Gründungvon Bürgerinitiativen und Parteien.

    In der Medienwelt einer demokratischenGesellschaft finden wir eine völlig ande-re Situation vor als in einer autoritärenGesellschaft. Die Aufmerksamkeit inder Konkurrenz der vielen Akteure lässtsich auch durch Inszenierung eines Ta-

     bubruchs erringen. Pseudotabus werden benannt, um als Tabubrecher eine positi-ve Rolle zu spielen. „Das wird man dochnoch sagen dürfen“ – dieser Satz ist unswohl bekannt. Reden über eine Sachewird zum Tabu erklärt, um sich dann ef-fektvoll in Szene zu setzen. Ein beliebtesMittel in der politischen Auseinander-setzung bei populistischen oder rechtenParteien.

    An dem Umgang der Gesellschaft mit

    dem Thema „sexueller Kindesmiss- brauch“ wird deutlich, welche Verän-derungen ein Tabubruch hervorrufenkann. Sexuelle Gewalt an Kindern ist ein

    Öffentlichkeit und Tabuthemen

    Grußwortvon Dr. Christine Bergmann

    Dr. Christine BergmannIst Bundesfamilienministerin a.D., ehemalige Bür-germeisterin von Berlin und ehemals UnabhängigeBeauftragte zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs.

    tief in der Gesellschaft verwurzeltes Tabu. Es tut weh, sich vorzustellen, was Kindhäufig über Jahre erleiden müssen. Aber gleichzeitig war die Angst vor Imageschädvon Institutionen, aber auch Familien größer als die Verantwortung für die OpfDer Tabubruch erfolgte bereits in den 1970er Jahren durch die Frauenbewegung, dauf den sexuellen Missbrauch von Mädchen in Familien hinwies und in den 1980 Jahren auch den Missbrauch von Jungen thematisierte. Es blieb eine Debatte in dFachöffentlichkeit. Selbst als 1989 eine Veröffentlichung über Missbrauchsfälle in d

    Odenwaldschule in der Frankfurter Rundschau erschien, wurde das Thema nicht öfentlich aufgegriffen. Erst 21 Jahre später, 2010, nachdem Betroffene renommierEinrichtungen wie Odenwaldschule, Canisius-Colleg, Kloster Ettal und andere, die Öffentlichkeit gingen und Unterstützung fanden, wurde der Skandal zu eine breit diskutierten öffentlichen Thema, bekamen Betroffene Anerkennung und Hfen, werden Präventions- und Interventionsmaßnahmen umgesetzt. Aber es zesich auch, dass ein Tabubruch nicht unbedingt die Aufhebung eines Tabus mit si bringt. Noch jeder neu bekannt gewordene Fall in einer Einrichtung wird zunächinfrage gestellt oder als bedauerlicher Einzelfall hingestellt. Und mit dem Hinweauf den „bösen Fremden auf dem Spielplatz“ wird die Tatsache, dass die meistMissbrauchsfälle in der Familie vorkommen, verschwiegen.

    Trotz aller Widerstände, habe ich doch ein Diskussionsklima erlebt, in dem Tabuth

    men im breiten und sachlichen Diskurs besprochen werden können. Auch in dThemenkomplexen Gesundheit und Tod ist es nach meiner Einschätzung gelungein einer von gegenseitigem Respekt getragene Diskussion diese Themen zu ent buisieren. Ein gesellschaftlicher Konsens bestand, der zu positiven Veränderunggeführt hat. Über Krankheiten, über die lange nicht öffentlich gesprochen werdkonnte, wird diskutiert, erscheinen Bücher und Filme. Das führte zu einem veständnisvolleren Umgang der Gesellschaft mit den Kranken. Ich halte das für einzivilisatorischen Fortschritt, der lange gebraucht hat. Und auch die jüngste breDebatte zur Sterbehilfe hat gezeigt, dass es möglich ist, in einem guten Diskussionklima kontroverse Auffassungen zu diskutieren. In diesem positiven Sinne könnwir Tabubrüche begreifen als notwendige Korrektive, um Gesellschaften lebendig erhalten.

    Dass Magazine wie der hammelsprung die Möglichkeit bieten, auch über Themwie diese zu diskutieren, begrüße ich daher sehr. Allen Leserinnen und Lesern wüsche ich nun eine interessante Lektüre der neuen Ausgabe!

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    verschiedenheitals teil der krise?

    Das Konzept der repräsentativen De-

    mokratie war historisch eine Antwortauf Verschiedenheit. Anders als nochim überschaubaren attischen Stadtstaatmuss eine moderne Demokratie aufGröße reagieren, strukturell zu Flächen-staaten passen und mit Vielfalt umgehenkönnen. Wenn heute mehr Differenzund Vielfalt als Problem wahrgenom-men werden, dann steckt darin auch einZeichen für die Krise der politischenRepräsentation. Viele Bürgerinnen undBürger fühlen sich in ihrer Vielfalt nichtausreichend in den Parlamenten reprä-

    sentiert. Sie zweifeln an der Legitimitätder Entscheidungen. Politiker wiederumwerden mit Verachtung konfrontiert,wenngleich sie sich bemühen, stellver-tretend für die Zivilgesellschaft Proble-me zu lösen. Alles spielt sich zurzeit voreinem Epochendurcheinander ab. HoheZuwanderung, instabile Weltregionen,wachsende Risiken durch radikale Grup-pen und neue ideologische Antagonis-men zwischen West und Ost, die längstüberholt schienen.

     Vor allem die kommunale Demokratieist nicht nur in Bewegung, sondern unterenormen Druck. Flüchtlinge sind in denStädten und Gemeinden Ausdruck vonneuer Verschiedenheit. Diese Verschie-denheit nehmen viele auch als Ungleich-heit wahr. Wie viel Ungleichheit verträgtdie Demokratie? Wie viel brauchen wir? Welche müssen wir unabänderlich hin-nehmen und mit welcher dürfen wir unsniemals abfinden? Ungleichheiten kann

    man aushalten, bei einem Bekenntnis

    zu gemeinsamen kulturellen Grundla-gen. Aber auch eine breite Beteiligungder Bürger am politischen System kanndazu beitragen, Ungleichheiten hinzu-nehmen. Wichtig bleibt, diese Verschie-denheiten demokratisch auszuhandeln.Nur das kann die Angst vor Differenznehmen.

    Fremdsein im eigenen Land

    Überall beunruhigt Heterogenität dienationalen Gesellschaften. In der Regel

    entsteht diese Art von Beunruhigungnicht durch die Asylsuchenden oder dieFlüchtlinge selbst, sondern dadurch,dass Bürger meinen, in ihrer vertrau-ten Umgebung plötzlich fremd zu sein.Fremdsein im eigenen Land, Entheima-tungsängste – all das sind Phänomenevon Wahrnehmungen, die durch Ein-wanderung und Flüchtlinge ausgelöstund verstärkt werden können. Identitäts-fragen sind komplex. Sie werden vor al-lem nicht rational gestellt, sondern durch

     Wahrnehmungsmuster virulent. Dabeistellt sich gar nicht die Frage, ob Hete-rogenität gut oder schlecht für eine Ge-sellschaft ist. Die kluge Frage wäre, wieviel Heterogenität ist für alle am besten,sowohl für die reichen Ländern, in dieausgewandert wird, als auch für die Her-kunftsländer, die wichtige Akteure dereigenen Zivilgesellschaft verlieren. Kul-turelle Verschiedenheit – real oder auchnur wahrgenommen – nutzt bis zu einemgewissen Grad einer Gesellschaft. Das ist

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    von Karl-Rudolf Korte

    evidenzbasierter Forschungsstand. Aber

    wann kippt der Nutzen und führt zu For-men der Desintegration?

    Vertrauen als Ressource

    Moderne Gesellschaften benötigen vielwechselseitiges Vertrauen. Ohne dieses Vertrauen in Verfahren, Institutionenund Prozesse bricht dieses System zu-sammen oder wird dysfunktional. Bei zuviel wahrgenommener Verschiedenheitsinkt das gegenseitige Vertrauen. Zu we-nig Verschiedenheit verhindert Kreativi-

    tät als Schatz der Bereicherung. Zu viel Verschiedenheit zerstört in der Wahr-nehmung vieler Bürger das Vertrauen indie täglichen Ablaufmuster der Demo-kratie. Insofern müssen Gesellschaftennicht nur versuchen, eine Balance zuhalten, sondern auch offensiv, transpa-rent, diskursiv darüber verhandeln, wieviel Heterogenität sie wollen. Politikmuss immer unterschiedliche Interessenmanagen. Sie muss dabei gleichzeitig in-tegrieren. Denn in der Regel sehen jun-

    ge Menschen – und auch das klassischeBildungsbürgertum – mehr Vorteile alsNachteile, durch die vielen innovativenSchübe, die Verschiedenheit automa-tisch auslöst. Andere haben Angst vorzu viel Fremdheit im eigenen Land. Dassollte und kann die Politik nicht einfachwegdiskutieren. Die Angst der Mehrheitvor der Minderheit ist ein weltweitesPhänomen. Nur durch Erfahrung undvor allem durch Begegnung lassen sichsolche Ängste abbauen. Angst kennt kei-

    ne sozialen Grenzen. Sie lässt sich auch

    nicht rational lindern. Doch Angst führtzur Tyrannei der Mehrheit, weil alle gernmit den Wölfen heulen. Andere Stim-men kommen dann nicht mehr durch, sieverstummen.

    Demokratie muss den Bürgern die Angstnehmen. Die Themen der bürgerlichenAngst-Mitte sind insofern von den Par-teien der Mitte auch ernst zu nehmen. Wer die Themen – auch Ressentimentsgegen das Fremde – nur den Extremistenoder Populisten überlässt, verliert den

    Anspruch Volkspartei zu sein oder seinzu wollen. Die Mitte der Gesellschaft,die sich auch an Wahlen aktiv beteiligt,muss sich mit den Differenz-Themenauseinandersetzen. Moderne Gesell-schaften brauchen die Solidarität unterUngleichen. Im Moment scheint die bun-desdeutsche Gesellschaft solidarischerzu sein als noch in den 1990er Jahren.Ob das so bleibt, sollte nicht dem Zufallüberlassen werden.

    Prof. Dr. Karl-Rudolf KorteIst Professor für Politikwissenschaft an der UniversDuisburg-Essen im Fachgebiet „Politisches Systemder Bundesrepublik Deutschland und moderneGovernance-Theorien“. Seit ihrer Gründung im Jahr2006 ist er Direktor der NRW School of Governanc

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    „mediale nationalisierungvs. transnationalisierungeuropas? respektive:

    existiert eine europäischeöffentlichkeit?“

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    von Anne Böhmer

    Anne Böhmerist seit 2014 Master-Studentin an der NRW SchooGovernance. Zuvor studierte sie Politikwissenschaftund Germanistik. Praktische Erfahrung sammeltesie unter anderem im Deutschen Bundestag und imInnenministerium des Landes NRW.

    Prof. Dr. Klaus HänschPräsident des Europäischen Parlaments a.D., ehe-maliges Mitglied des Präsidiums des EuropäischenVerfassungskonvents.

    Herr Hänsch, das Thema der aktuellen Hammelsprung-Ausgabe lautet„Politik und Öffentlichkeit“. Recht kontrovers wird in der Regel die Fragediskutiert, ob innerhalb Europas eine gemeinsame europäische Öffentlichkeit existiert. Seit mehr als fünf Jahrzehnten besteht nun das einzigartigeProjekt einer Europäischen Gemeinschaft, welches seitdem kontinuierlichin einen Prozess der wirtschaftlichen und politischen Vertiefung eingebettet war. Hat dieser Integrationsprozess ihrer Meinung nach auch zu einer

    Veränderung von Öffentlichkeit respektive der Medien in Europa geführt?

    Eindeutig ja. Nationale Öffentlichkeit bildet sich aus der Betroffenheit der Bürger uden Kontroversen zwischen ihnen, die europäische zusätzlich auch aus der Betroffeheit der europäischen Völker und den Kontroversen zwischen ihnen. Nehmen wir dZeit um die erste direkte Wahl zum Europäischen Parlament 1979 als ReferenzpunDie Notwendigkeit der Einigung Europas war nicht umstritten, die Medien und dBürger hielten sie für wichtig, aber nur im Grundsatz, nicht für ihr tägliches LebeFolglich kam „Europa“ im Fernsehen und auch im Boulevard aller Mitgliedstaatkaum vor, selbst in renommierten überregionalen Zeitungen nur bruchstückhaft,lokalen und regionalen Medien gar nicht. Es gab nicht nur keine europäische, es gnicht einmal nennenswerte nationale Öffentlichkeiten für europäische ProblemEuropaweit kontrovers war eigentlich nur die Gemeinsame Agrarpolitik mit ihr

    damals systematischen Erzeugung landwirtschaftlicher Überschüsse in Gestalt v„Butterbergen“ und „Milchseen“.

    Dreißig Jahre später ist das Feld für Betroffenheit und Kontroversen sehr viel breter geworden – und fruchtbarer. Der Binnenmarkt ist fast vollendet, die europäisc Währung nicht mehr nur eine Zukunftsidee, sondern krisenhafte Realität, Europische Verbraucher- und Umweltpolitik längst mehr als nur ein Derivat der Wettbwerbsregelungen. Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik spielt in den Koflikten in der Ukraine, mit dem Iran und in afrikanischen Bürgerkriegen eine eigeRolle. In der Innen- und Justizpolitik ist die Zusammenarbeit ein gutes Stück vorangkommen. Das einst so bürgerfern erscheinende Europa ist den Bürgern immer nähgerückt, manchen zu nahe.

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    Auf diesem Feld prallen natürlich auch nationale Diskurse aufeinander. Schließlichkönnen ganze Regierungen über Brüsseler Entscheidungen stürzen oder ihre Mehr-heit verlieren wie in Griechenland, in der Slowakei, Italien und Spanien geschehen.Zunehmend werden aber auch nationale Kontroversen über die „richtige“ Wirt-schafts-, Umwelt- oder Gesellschaftspolitik Teil der europäischen Öffentlichkeit. Daszeigt sich gerade in der europaweiten Debatte über die verschieden Wege zur Lösungder griechischen Krise in der Währungsunion. Da geht es eben nicht nur um deut-

    sche Sparauflagen und griechisches Reformversagen, sondern auch um die „richtige“Wirtschafts- und Finanzpolitik in der gesamten Eurozone.

    Weil in allen Mitgliedstaaten die Betroffenheit von europäischem Handeln um einVielfaches gestiegen ist, haben sich auch die Kontroversen darüber europaweit insGrundsätzliche hinein verschärft. Die Debatten sind hemdsärmeliger geworden. Inallen Medien, vor allem in den sozialen. So ist es nun mal, wenn das Volk mitredet.

    Vor dem Hintergrund einiger schwieriger europäischer Situationen in dervergangenen Zeit, wie der Wirtschafts- und Finanzkrise, kann beobachtetwerden, dass Probleme inhaltlich auf einzelne Mitgliedsländer heruntergebrochen, faktisch nationalisiert werden. Häufig ist auch eine sprachli-che Abgrenzung feststellbar, beispielsweise durch die Verwendung eines

    Kollektivsingulars – wenn die Rede ist von „dem Griechen“ oder „demDeutschen“ – was in aller Regel zu einer Verallgemeinerung sowie Verein-fachung der Thematik führt. Wird Europa als ein nationales Problem kons-truiert und kommt den Nationalstaaten in der medialen Betrachtung mehr,vielleicht sogar zu viel, Bedeutung zu?

    Probleme wie die Schulden- und Finanzkrise werden nicht auf einzelne Mitgliedstaa-ten „heruntergebrochen“. Es geht ja tatsächlich auch um den nationalen Umgang mitder gemeinsamen Währung und deren Auswirkungen auf die gesamte EU. Im Übri-gen und ganz allgemein: Das Nationale ist und bleibt ein konstitutives Element derEuropäischen Einigung. In einem Europa der nationalen Vielfalt ist es normal, dass inder medialen Aufmerksamkeit das eigene Volk und der eigene Staat eine bedeutende

    Rolle spielt, vielleicht hier und da und hin und wieder eine zu große.

    Ich will nicht übertreiben: Wohl jeder von uns hat in den vergangenen Jahrzehntenschon mal „beim Italiener“ oder „beim Griechen“ gegessen. Das meinte aber denGastwirt um die Ecke und war keine schrumpfköpfige Reduktion auf einen Volkscha-rakter. Die zunehmende Verwendung des Kollektivsingulars erinnert an meine Kind-heit am Ende des Zweiten Weltkrieges. Da war es gang und gäbe, von „dem Amerika-ner“, „dem Engländer“, „dem Russen“, wenn nicht gar vom „Iwan“, zu sprechen. Dasmeinte nicht bloß das andere Volk, sondern den Feind.

    Soweit ist es nirgendwo in Europa. Aber es zeigt uns, dass die europäische Einigungkein Prozess ist, der sich selbst generiert, wenn man die Völker nur machen ließe. Er

     braucht Institutionen, die Verständi-gung, Zusammenarbeit und Kompromis-se erzwingen und vorantreiben. Ohnesie hätte eine europäische Öffentlichkeitkeinen realen Bezugspunkt. EuropäischeÖffentlichkeit herbeiwünschen und eu-ropäische Institutionen verachten. Das

    passt nicht zusammen.

    Kann derzeit von einer transnati-onalen Öffentlichkeit respektivevon einer europäischen politischenDiskurskultur die Rede sein?

     Ja – unter der Bedingung, dass transnati-onale Öffentlichkeit als losgelöst von dennationalen Öffentlichkeiten verstandenwird. Ich will noch einmal auf die Zeitvor 30 oder 40 Jahren zurückkommen:Damals war es, etwa im deutschen Fern-

    sehen, undenkbar, dass ausländischePolitiker mit ihren nationalen Stand-punkten so häufig und so ausführlich zu Wort kommen wie in den vergangenenMonaten. Die Reaktionen auf RusslandsRolle in der Ukraine, oder die Abwehrdes internationalen Terrorismus, oderder Umgang mit den Bootsflüchtlin-gen im Mittelmeer werden heute euro-paweit kontrovers diskutiert. Und daskeineswegs nur von unterschiedlichennationalen Positionen her, sondern eben

    auch zwischen den verschiedenen öko-nomischen, ökologischen oder außen-politischen Ansichten der politischenLager innerhalb der Nationalstaaten. Da- bei bilden sich immer mehr und häufigereuropäische Standpunkte heraus. Dasmag immer noch zu wenig sein, geht aberdoch schon längst über den bloßen Aus-tausch nationaler Argumente hinaus.

    Brauchen wir eine gemeinsameeuropäische Öffentlichkeit und ließe

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     sie sich implementieren? Welche Implikationen und Effekte könnte eine Implementation bewirken und was solltihrer Meinung nach beachtet werden, beispielsweise im Hinblick auf verschiedene Sprachen oder kulturelle Unte schiede?

     Wir brauchen eine europäische Öffentlichkeit. Sie ist ein wesentliches Element einer funktionierenden transstaatlichen Demoktie. Aber wir können sie nicht implementieren und wir sollten es auch nicht versuchen. Sie muss sich selbst „zurechtrütteln“. Dgeschieht immer häufiger. Manchmal gelingt es, manchmal nicht. Es wird jedoch dabei bleiben, dass eine europäische Öffentlic

    keit nie die gleiche Dichte und Wirkung wie eine nationale Öffentlichkeit aufweisen kann.

    Erstens wird es noch auf längere Zeit keine europaweit agierenden, gelesenen, gehörten oder gesehenen Medien geben. Arte deutsch-französisch, die Resonanz von „Euro News“ bleibt weit hinter der nationaler Medien zurück. Ob man in diesem Zusammenhang auf die sozialen Medien setzen kann, weiß ich nicht. Sie scheinen mir eher renationalisierend zu wirken.

    Zweitens lässt die Vielfalt der Sprachen in der Union nicht mehr zu. In jeder von ihnen schwingen die jeweils eigenen kulturelen, historischen, sozialen und politischen Erfahrungen, Befindlichkeiten und Empfindlichkeiten des Volkes mit. Ihre Bilder, Kschees und Wortspiele, die in nationalen Diskursen unmittelbar verstanden werden und lange Erklärungen überflüssig machelassen sich kaum europäisieren. Auch durch beste Übersetzungen nicht. Sie bleiben in aller Regel hinter der direkten Ansprache Wort und Schrift zurück. Was in der einen Sprache ironisch oder entspannend wirkt, kann in der anderen unversehens als Beleidgung oder Drohung empfunden werden.

     Wir kennen doch schon im Deutschen die Anfälligkeit für verletzende Missverständnisse zwischen bayrischem Dialekt odmecklenburgischem Platt, Kölsch oder Ruhrgebietsidiom und dem Hochdeutschen. Europäische Öffentlichkeit muss ohne dvolksnahe Hemdsärmeligkeit nationaler Diskurse auskommen. Sie wird immer diplomatisch abgewogener und blutleerer dahekommen.

    Zum Abschluss ein Gedankenexperiment: Was ist der Grund für das Fehlen einer europäischen Öffentlichkeit?Fehlende politische Macht Europas, die durch eine zunehmende Verflechtung beziehungsweise Ausweitung na-tionaler Politikbereiche hin zu europäischen Politikbereichen aufgelöst werden könnte? Wäre eine europäischeÖffentlichkeit eher gegeben, wenn es beispielsweise eine gemeinsame Finanz- oder Außenpolitik geben würde?

    Ich meine nicht, dass eine europäische Öffentlichkeit generell fehlt, sondern dass ihre Dichte und Wirkung die der nationalen Öfentlichkeiten nicht erreichen kann. Daran würde eine Übertragung weiterer nationaler Souveränitätsrechte auf die Union nich

    ändern. Das würde zwar die Zahl der Themen, aber nicht die Dichte und Wirkung des europäischen Diskurses erhöhen.

     Wir sollten die Bedeutung einer europäischen Öffentlichkeit für die Demokratie auf der Ebene der Union anerkennen, aber nicüberbewerten. Die Europäische Union ist kein Staat, sie ist eine Union von demokratischen Staaten mit deren nationalen Öffenlichkeiten. Sie sind und bleiben konstitutive Teile der Unionsdemokratie. Europäische Öffentlichkeit wird daher immer nur eiErgänzung der nationalen Öffentlichkeiten sein – eine notwendige allerdings.

    Herr Hänsch, vielen Dank für das Gespräch!

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    europa, wo bist du?Frühjahr 2015. Die EU-Regierungschefshadern mit dem griechischen Minister-präsidenten Alexis Tsipras um eine Lö-sung im griechischen Schuldendilemma.Das polnische Fernsehen berichtet: nicht.

    800 Flüchtlinge ertrinken im Mittelmeerauf der Flucht aus ihrer lybischen Hei-mat. Das polnische Fernsehen berichtet: begrenzt. Im Mai stehen die Wahlen despolnischen Präsidenten an. Das polnischeFernsehen berichtet: pausenlos.

    Bereits diese knappe Auflistung machtdeutlich, wie es um die Qualität des eu-ropäischen Gemeinschaftsgefühls in denpolnischen Medien steht, nämlich: äu-ßerst dürftig. Dass die ideale Vorstellungeiner europäischen Öffentlichkeit, also

    einer Verschmelzung der europäischenBürger und Medien zu einer Einheit, dieüber nationalstaatliche Grenzen hinweggemeinsam debattiert, sich austauschtund informiert, noch weit entfernte Zu-kunftsmusik ist, darüber sind sich wohldie meisten Wissenschaftler mittlerweileeinig. Dass aber selbst von einer Europäi-sierung nationaler Medien, also einer sichkontinuierlich verstärkenden Berichter-stattung über europäische und europa-politische Themen, in Polen recht wenig

    zu spüren ist, verwundert doch sehr. Esist deshalb verwunderlich, weil die Po-len diejenigen sind, die der EuropäischenUnion im Vergleich zu Bürgern andererEU-Mitgliedsstaaten am positivsten ge-genüberstehen. Laut Eurobarometer derEU aus dem Jahr 2014 gaben 61% der be-fragten Polen an, sie hätten ein positivesBild von der EU, dicht gefolgt von Rumä-nien mit 59% und Irland mit 53%. Im Ver-gleich dazu gaben nur 38% der Deutschenan, dass ihr Eindruck von der EU positiv

    sei. Auch das polnische Meinungsfor-schungsinstitut CBOS kam in seinenUmfragen zu ähnlichen Ergebnissen. Sogaben 90% der Polen im Jahr 2014 an, An-hänger der Zugehörigkeit Polens zur EU

    zu sein und 76% glaubten, der Beitritt Po-lens hatte einen günstigen Effekt auf diepolnische Wirtschaft , Tendenz steigend.

    An einem Desinteresse der polnischenBevölkerung an Europa und der EU dürf-te es deshalb wohl nicht unbedingt liegen,dass die Medien diesen Themenbereichin ihrer Berichterstattung größtenteilsausklammern. Über einschneidende eu-ropapolitische Ereignisse wird berichtet,muss berichtet werden, klar. Den weit-aus größeren Anteil nehmen jedoch na-

    tionale Themen und Ereignisse ein – undwenn doch über Europa oder die Welt berichtet wird, dann vor allem aus einergesellschaftlich-boulevardistischen Pers-pektive. Trauen die polnischen Fernseh-macher ihren Zuschauern etwa nicht zu,Brüssel zu verstehen, und verzichten fürdie Quote deshalb auf EU-Politik in ih-rem Nachrichtenprogramm?

    Das wäre ein möglicher Erklärungsver-such. Ein anderer könnte so lauten: Die

    nationale Selbstbezogenheit der polni-schen Medien ist Ausdruck einer immernoch andauernden nationalen Identitäts-suche und keine absichtliche Abkehr vonder EU, Europa und europapolitischenThemen. Der Zweite Weltkrieg undder Holocaust, der Sozialismus und dieSolidarno-Bewegung, der Tod des pol-nischen Präsidenten Lech Kaczyski beimFlugzeugabsturz von Smolensk im Jahr2010 – all diese geschichtsträchtigen Er-eignisse sind immer noch so präsent im

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    Über den Verbleib eines europäischenWir-Gefühls im polnischen Nachrich-tenfernsehen.

    Ein Kommentarvon Vanessa Pudlo

    Vanessa Pudlostudiert seit 2013 den Masterstudiengang Politik-management an der NRW School of Governance.Praktische Erfahrungen sammelte sie vor allem imPressebereich als freie journalistische Mitarbeiterineiner Tageszeitung.

    gesellschaftlichen und politischen Selbstverständnis der Polen, dass sie sich scheinbar in einem medialen Narzissmus der polnschen Fernsehnachrichten widerspiegeln. Zugleich fühlt sich jedoch vor allem die junge Generation der Polen einem europäisch Wir-Gefühl und einer europäischen Identität wohl deutlich näher als so mancher mit EU-Nachrichten überschütteter DeutschAuf die Frage, was sie von einem einheitlichen europäischen Schlüssel zur gerechteren Verteilung der Flüchtlinge auf alle EU-Mgliedstaaten halten, äußerten beispielsweise viele Warschauer im direkten Gespräch, dass sie diese Maßnahme durchaus begrüß

    würden, die EU habe den Polen schließlich auch bei ihrem wirtschaftlichen Aufbau geholfen. Europäisierung der nationalen Öfentlichkeit in Polen – medial zwar bisher verfehlt, aber gesellschaftlich doch irgendwie verankert?

    Dass der Euroskeptizismus in der polnischen Bevölkerung bisher eher ein Schattendasein führt hängt wohl vor allem mit dem Au blühen der polnischen Wirtschaft nach dem Beitritt Polens zur EU vor mittlerweile elf Jahren zusammen. Womöglich aber auch mder spärlichen Berichterstattung über europapolitische Themen, denn worüber nicht informiert und berichtet wird, das kann mauch nicht wirklich kritisieren. Sollte diese nationale Selbstbezogenheit der Medien weiterhin fortbestehen, dann könnte dies dpro-europäische und europäisierte Einstellung der Polen auf lange Sicht jedoch massiv gefährden. Bei den Präsidentschaftswahlim Mai 2015 konnte sich bereits der tendenziell rechtskonservative Andrzej Duda der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) überschend gegen den liberalen Amtsinhaber Bronislaw Komorowski durchsetzen. Droht die Stimmung in der polnischen Bevölkeruzu kippen? Schwer zu sagen, die Parlamentswahlen im Herbst 2015 könnten, so viel stand im Vornherein fest, zur Richtungswafür oder gegen mehr Europa in Polen werden. Und die Richtung wurde sehr deutlich: mit 37,6 % der Stimmen konnte die nationakonservative Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) bei der Parlamentswahl die absolute Mehrheit für sich verbuchen und löst dam

    die seit acht Jahren regierende liberalkonservative Bürgerplattform (PO) ab.

    Die Europäisierung der polnischen Öffentlichkeit ist ein Paradoxon und seine Aufklärung erschöpft sich wohl kaum in den zwvorgestellten Hypothesen. Dessen ungeachtet müssen die polnischen Medien jedoch endlich ihrer europäischen Informationpflicht nachkommen und den nationalen Narzissmus in ihrer Berichterstattung beenden. Nur so kann die polnische Bevölkerunauch außerhalb der Wirtschaftswunderbrille die EU erleben und den Aussagen ihrer konservativen Politiker kritisch gegenübertrten.

    Medien machen Europäisierung – oder, wie in Polen, eben auch nicht.

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    einblick für dieöffentlichkeit

    Günther Oettinger, der EU-Kommissar für Digitale Wirtschaft und Gesellschaft,

    traf sich in der ersten Jahreshälfte 2015 fast ausschließlich mit Industrie-Lobbyistenwährend er Befürworter von Verbraucherinteressen vernachlässigte. Dies wissenwir dank einer Auswertung der seit neustem veröffentlichten Treffen von EU Kom-missaren mit Interessensvertretern durch Transparency International (siehe: www.integritywatch.eu). Dank der Transparenzregeln der Kommission und der Recher-chearbeit von Transparency International wurde somit eine Debatte in den Medi-en darüber angestoßen, inwieweit es wünschenswert und legitim ist, dass sich einKommissar bestimmten Meinungen nur beschränkt aussetzt.

     Wir sollten ähnliche Möglichkeiten haben, unsere Abgeordneten in Parlamentenzur Rechenschaft zu ziehen und eine informierte Debatte über ihren Umgang mitLobbyisten zu führen. Im Europaparlament legen einige Parteigruppen bereits frei-willig solche Listen vor. Doch Versuche, diese Art von Transparenz verpflichtend zu

    machen, sind bisher gescheitert. Eine Initiative dazu ist der sogenannte „LegislativeFootprint“, mit dem prominent an einem Gesetzgebungsprozess beteiligte Abgeord-nete, wie etwa Berichterstatter im Europaparlament, offenlegen würden, wer bei Ih-nen zu dem Gesetz vorgesprochen hat.

    Das große Potential des Legislative Footprint liegt darin, dass mit seiner Hilfe das bestehende Transparenzregister und der Verhaltenskodex für Abgeordnete ihre volle Wirkung entfalten könnten. Das Transparenzregister der Kommission und des Eu-ropaparlaments beinhaltet Einträge von Firmen und Agenturen, die Interessen inBrüssel vertreten. So werden beispielsweise die Anzahl der Mitarbeiter im Lobbyingund die Ausgaben deutlich. Die Akteure haben einen Anreiz, sich ins Register ein-zutragen, da dies eine Bedingung für Treffen in der Kommission und eine Voraus-

    setzung für unbegleiteten Zugang zum Europaparlament ist. Die Einblicke, die dieÖffentlichkeit dadurch erhält, sind jedoch begrenzt. Zum einen werden die Einträgeoft stiefmütterlich behandelt, zum anderen hat es nur einen begrenzten Mehrwertzu wissen, wer allgemein versucht, EU-Gesetzgebung zu beeinflussen – zumal jederAbgeordnete zusätzlich selbstverständlich beliebige Akteure ins Parlament einladenkann und Treffen natürlich auch anderswo stattfinden.

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    Einblick für die Öffentlichkeit durchden „Legislative Footprint“: ein Plä-doyer für die Offenlegung von Treffenzwischen Abgeordneten und Lobby-isten

    von Lukas Obholzer

    Zusätzlich zum Transparenzregister gibt es einen Verhaltenskodex, der unter ande-

    rem Regeln zu Nebentätigkeiten und der Annahme von Geschenken durch Abge-ordnete beinhaltet. Für sich betrachtet machen diese Transparenzinstrumente Sinn, jedoch erlauben sie uns nicht, einen Zusammenhang zwischen gesetzgeberischenAktivitäten von Abgeordneten, ihren Nebentätigkeiten und Zugang für Lobbyistenherzustellen.

    Erst durch den Legislative Footprint mit seinen Informationen dazu, welche Interes-sensvertreter welche Abgeordnete zu welchem Gesetz getroffen haben, bekommt dieÖffentlichkeit einen Einblick in den Meinungsbildungsprozess ihrer Abgeordneten.Erstens wären auch nicht registrierte Interessensvertreter aufgeführt, sodass die In-formationen über das Transparenzregister hinausgehen. Zweitens wäre es möglich,eine informiertere Debatte über Nebeneinkünfte und ihre möglichen Auswirkungenauf Aktivitäten von Abgeordneten zu führen.

    Leider scheint die Mehrheit der Abgeordneten dies nicht zu wollen oder nicht bereitzu sein, die minimalen Ressourcen zu investieren, um eine Aufstellung der Interes-sensvertreter öffentlich zu machen. Manche Abgeordnete sehen diese Art der Trans-parenz als Eingriff in die Ausübung ihres Mandats. Diese Auffassung ist bedauerlich,da ihr eine Konzeption von Repräsentation zugrunde liegt, laut derer die Rolle derÖffentlichkeit schlicht auf die Wahl der Abgeordneten beschränkt ist. Doch um Po-litikverdrossenheit entgegenzutreten und eine informierte Wahl zu ermöglichen,sollten Abgeordnete Debatten um ihren Kontakt zu Interessensvertretern nichtscheuen, sondern sie als Chance sehen, den Wählern ihre Positionen zu vermitteln.Der Legislative Footprint ist folglich eine Möglichkeit, der Öffentlichkeit Einblick indie Politik und ihre Entscheidungsprozesse zu bieten, die über das Europaparlament

    hinaus auch auf nationaler und regionaler Ebene wünschenswert wäre.

    Lukas Obholzer, PhDpromovierte an der London School of Economics, wer nun als Dozent arbeitet. Seine Forschungsschwepunkte liegen im Bereich der Europäischen Union, vor allem auf Institutionen und Entscheidungsfindun

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    Nach der Bundestagswahl 2013 stimmte die SPD-Basis über die Große Koalition ab, jetzt schlägt aktuell die Juso-Chefin Johanna Uekermann vor, die nächste sozialde-mokratische Kanzlerkandidatur per Urwahl zu bestimmen. Der Parteivorstand derCDU verabschiedet in der Sommerpause eine Parteireform, die jedem einzelnenMitglied mehr Mitbestimmung einräumen und Online-Beteiligungsformate zurvereinfachten Mitbestimmung auch von Neumitgliedern vorsehen soll. Die Grünen,

    selbst gefühlte Vorreiter der Basisdemokratie, nutzen ebenfalls die neuen digitalenMöglichkeiten um – wieder verstärkt – Spitzenkandidaten und Themen von der Basismitbestimmen zu lassen. Und für die angesichts der späteren öffentlichen Fokussie-rung auf die AFD und ihre Spaltung mittlerweile schon fast in Vergessenheit geratenePiratenpartei war die Beteiligungsfrage in der Gründungsphase deutlich wichtiger alsdie inhaltliche Positionierung zu aktuellen politisch-inhaltlichen Fragestellungen.

    In Zeiten des Internets und Social Media scheint Bürger- oder Basisbeteili-gung für Parteien einfacher und unausweichlicher denn je zu sein.

    Die aktuellen Schlagzeilen belegen den Versuch der deutschen Parteien, die Öffent-lichkeit vermehrt in die Willensbildung einzubinden. Basisdemokratie 2.0, 3.0., 4.0.?

    Doch welche Wünsche und Hoffnungen stecken hinter diesen Partizipationsoffen-siven? Kann die Mehrung und der Wunsch nach direktdemokratischer Partizipationin deutschen Parteien etwa auf Krisenmomente, Mitgliederschwund, Stimmverlus-te und die breitere Adaption „basisdemokratischer“ Momente in und durch anderekonkurrierende Parteien zurückgeführt werden und eine angemessene Antwort aufeine krisenhafte Entwicklung der Demokratie sein?

    Sozialwissenschaftliche Untersuchungen stellen einen gewachsenen gesellschaftli-chen Wunsch nach einer Erweiterung der politischen Teilhabe fest. Die politischenParteien folgen diesem Trend und passen sich dem gesellschaftlichen Anspruch an.Ohne basisdemokratische Elemente glaubt heute keine Partei erfolgreich sein zukönnen. So scheint die in den Gründungszeiten der GRÜNEN von anderen Parteien

    verzweiflungstatzur modernisierung undwählermobilisierung

    oder basisdemokratie 2.0?

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    von Hanna Marlena Sander

    Hanna Marlena Sanderist Studentin an der NRW School of Governanceund hat zuvor Politikwissenschaft und Hispanistik inGöttingen studiert. Sie hat neben einem Auslandsaenthalt in Spanien praktische Erfahrungen im LandtNRW und dem Europäischen Parlament gesammelt

    und Medien belächelte Basisdemokratie heute bei gewandelten Beteiligungselemeten ein unverzichtbarer Erfolgsfaktor aller Parteien geworden zu sein. Basisdemokrtie: Gelebt und in die deutsche Politik getragen von den Grünen, war als innerpartlicher Partizipationsversuch der Anfangszeit Ausdruck der tiefen Überzeugung under Ablehnung des etablierten Politik- und Machtbetriebs. Die Beteiligungsmodealler Parteien heute scheinen dagegen auch der Wiedererlangung und Etablieruvon Regierungsmacht dienen zu sollen. Ein Paradox? Oder basisdemokratische Ma

    nahmen zur Machtgewinnung oder auch Machterhaltung?

    Ganz allgemein stellt sich im Zeitalter der digitalen Partizipation und der Alltälichkeit von politischen Meinungsumfragen die Frage, welche Zukunft basisdemkratische Partizipationskonzepte noch haben und wie ernsthaft die Beteiligung tsächlich gewünscht ist und wirken kann. Gehört es heute einfach zum politischShow-Geschäft dazu, oder sind ernsthafte Veränderungen hin zu einem Mehr an Bteiligung zu verzeichnen? Halbherzige Versuche um den neuen öffentlichen Ansprchen gerecht zu werden genügen dann sicher nicht. Die neuen deliberativen Elemete, die dank des Mit-Mach-Internets möglich geworden sind, sollten nur ernsthgenutzt werden, statt sie zum Verschönern einer modernen Parteifassade zu nutze Wie Reinhard Bütikofer es in einem Zeitungsinterview treffend formuliert, handes sich nicht um einen „Mitmach-Spielplatz“. Beteiligung zum Schein wird den Pa

    teien vielleicht kurzfristig helfen, am Ende aber nicht die gewachsene Entkoppeluvon Parteien, Parteibasis und Wählerinnen beheben können. Im Gegenteil: Fällt dSchwindel auf, könnte sich die Krise noch verstärken. Um bei Öffentlichkeit unParteibasis an Glaubwürdigkeit zu gewinnen, muss auch abseits der medial vermartungsfähigen Beteiligungsformate auch eine moderne Parteiorganisation Mitbestimmung und Beteiligung der Basis unterstützen. Hier stehen die Parteien sicher noam Anfang und crossmediale Projekte, Online-Beteiligungsverfahren in Verbindumit Offline-Debatten, können nur ein Anfang sein.

    Bereits ein Versuch der Definition der „Partizipationsoffensive“ der Parteien offe bart Grenzen und Schwierigkeiten dieses Trends. Verstehen wir Basisdemokraals umfassende Einbindung aller, in der die Basis als Souverän aufgefasst wird, ste

    sich die Frage: Wer ist die Basis? Referieren die Parteien auf Parteimitglieder odalle Interessierten und Wahlberechtigten BürgerInnen und EinwohnerInnen? V„Schnuppermitglschaftsversuchen“ abgesehen ist bei SPD und CDU weiterhin d

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    Parteimitgliedschaft Voraussetzung zur parteilichen Partizipation. Hier haben dieGrünen mit der Green Primary zur Europawahl 2014 einen ersten Schritt in eineneue Richtung gewagt: Alle EU-Bürgerinnen und Bürger, die mindestens 16 Jahre altwaren konnten an der Wahl zum europäischen Spitzenkandidaten der EGP (Euro-pean Green Party) teilnehmen. Parteienforscher weisen seit langem darauf hin, dasssich BürgerInnen immer seltener an politische Parteien binden. Vielmehr findet sichheute themenbezogenes und zeitlich begrenztes Engagement. Die Frage wer die Ba-

    sis stellt und somit partizipieren darf ist demnach aktueller denn je.

    Ist der neue Hype der Beteiligung und die zahlreichen Vorteile durch Online Basis-Beteiligung aber tatsächlich schon umsetzungsfähig und ausgereift? Bei dem Versuchder Grünen mit der Vorwahl Spitzenkandidaten zur Europawahl zu küren wurdebeispielsweise kritisiert, dass zur Teilnahme Handynummer und Email-Adresseeingegeben werden mussten. Datenschutztechnisch also kein Vorzeigeprojekt! Zu-dem verletzen solche Maßnahmen oft das Prinzip der Gleichheit der Wahl, da dieMöglichkeit der mehrmaligen Abstimmung über verschiedene Endgeräte möglichist. Wie kann zudem das Wahlalter kontrolliert werden? Auch der Grundsatz derAllgemeinheit der Wahl wurde hier in Bezug auf den digital divide immer wiederkritisiert. Schon an diesen „Kleinigkeiten“ wird deutlich, dass wir noch am Anfangstehen und die Beteiligungsformate noch nicht ausgereift sind.

    Natürlich ist Basisdemokratie 2.0 auch ein Wagnis für jede Partei. Bürgerbeteiligungist unberechenbar! Sie schränkt die Steuerungsfähigkeit von Parteien ein, dessenmüssen sie sich bewusst sein, wenn sie diese in wahrhaftiger Form einsetzen wollen.Wenn die Angebote der Parteien Verbindlichkeit versprechen, also offensichtlichwird wie Ideen und Vorschläge in die Parteiarbeit einfließen, ist ein erster Schritt indie richtige Richtung getan. Dann besteht die Möglichkeit, dass die Basis andere Per-sonen und Inhalte in den Vordergrund rückt als die Parteispitze.

    Echte Partizipation schränkt den Machtrahmen der Parteioberen ein. Und so stehendie Parteien am Scheideweg: Partizipation als Mittel des Machterhalts oder als wirkli-che gelebte direktere Demokratie!

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    drei fragen an ...oliver

    geden *

     * Dr. Oliver GedenIst Leiter der Forschungsgruppe EU/Europa derStiftung Wissenschaft und Politik. Seine Forschunggebiete umfassen vor allem die EU-Energiepolitik,Klimapolitik und Politische Ordnungen.

    Im Verhältnis von Politik und Öf-fentlichkeit scheinen Experten einezunehmend wichtige Rolle einzu-nehmen. Was macht die Rolle desExperten dabei aus?

    Hier gibt es sicher Unterschiede zwi-

    schen einzelnen Politikfeldern. Generelllässt sich jedoch festhalten, dass Experteninsbesondere zwei Funktionen erfüllen.Zum einen analysieren und bewertensie zunehmend komplexer werdendeSachfragen und formulieren Handlungs-empfehlungen für Politik und Adminis-tration. Zum anderen dient die wissen-schaftliche Politikberatung, vor allem dieAuftragsforschung, Politik und Adminis-tration aber immer auch dazu, Entschei-dungen eine zusätzliche Legimitation zuverschaffen.

    Wie viel Einfluss haben die Expertendabei auf die umgesetzte Politik?Leben wir mittlerweile in einer Exper-tokratie?

    Ich würde nicht sagen, dass wir in einerExpertokratie leben. Sicherlich kommtdie Politik nicht mehr ohne wissenschaft-liche Beratung aus. Doch die grundlegen-de Funktionsweise der Politik verändertsich dadurch nicht. Wissenschaftliche

    Expertise findet nur dann Eingang inpolitische Entscheidungen, wenn ihreErkenntnisse politisch-administrativen

    Akteuren opportun erscheinen. Mittler-weile sollte man sich eher fragen, welchenEinfluss diese Interaktionsbeziehung aufdie Wissensproduktion der Experten hat.In der Energie- und Klimapolitik beob-achte ich einen zunehmenden Trend zum„policy-based evidence making“, weil der

    weitgehend drittmittelfinanzierte Marktfür Expertise sich fast nur noch darauf beschränkt, von den Ministerien aufge-worfene Fragen zu beantworten, undzwar in einer Weise, die die Chance aufzukünftige Aufträge nicht verbaut. Wis-senschaftlichkeit im Sinne von Erkennt-nisoffenheit bleibt dabei weitestgehendauf der Strecke, von einem „evidence- based policy making“ kann man hier invielen Bereichen nicht mehr sprechen. Sowerden beispielsweise klimaökonomi-sche Modelle immer risikofreudiger und

    realitätsferner gerechnet, um das politi-sche gesetzte 2°C-Erderwärmungsziel alsnoch einhaltbar erscheinen zu lassen.

    Wie kommt es dazu, dass wissen- schaftliche PolitikberaterInnen dieWissenschaftlichkeit nur als einesunter mehreren Kriterien für ihreArbeit sehen? Gibt die Wissenschaftihre Unabhängigkeit auf?

    Einen so allgemeinen Schluss sollte man

    daraus nicht ziehen. Aber: Die Politikbe-raterInnen stecken in einem Dilemma:Entweder sie entscheiden sich für einen

    gewissen politischen Pragmatismus odsie werden von Politik und Administraon ignoriert.Public Policy-ForscherInnen bewegsich in einem hart umkämpften Drimittelmarkt, in dem die größten Vlumina nicht von den klassischen Fo

    schungsförderungsorganisationen wder Deutschen Forschungsgemeinschverwaltet werden, sondern von der EUKommission, Bundesministerien unachgeordneten Fachbehörden. Wsenschaftlichkeit der Expertise ist selbverständlich eine Grundvoraussetzunpolitische Passförmigkeit der zu erwtenden Ergebnisse aber oft der entschdende Faktor. Das bedeutet nicht, dadie BeraterInnen selbst einer politischPartei nahestehen müssten, aber oft wierwartet, dass sie sich bei der Auswa

    von Grundannahmen für Policy-Studian den sehr engen Vorstellungen der plitischen Verwaltung orientieren. Seviel größere Freiräume genießen Betungsorganisationen mit einem hohAnteil institutioneller Grundförderunetwa der Sachverständigenrat zur Beguachtung der gesamtwirtschaftlichen Enwicklung oder auch die Stiftung Wisseschaft und Politik. Am größten sind dinhaltlichen Freiräume nach wie vor den Universitäten, was möglicherwe

    ihre begrenzte Bedeutung in der angwandten Policy-Beratung erklärt.

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    „Kastriert solle er und anschließend ins Arbeitslager geschickt werden, schließlich

    der Grund zur Wiedereinführung der Todesstrafe sein.“ Vor nichts schreckten dieUser der Social Media Kanäle zurück, als es um die Urteilssprechung im Fall Edathyging. Seitdem der Shitstorm für jeden Politiker der am meisten gefürchtete Stol-perstein in einer politischen Karriere ist, bilden die Anschuldigen gegen Edathywohl die Spitze bisher im Social Web beobachteter Empörung. Woher kommt dieseRadikalität der Shitstorms, in denen anscheinend alle Prinzipien des Rechtstaatesaußer Kraft gesetzt werden?

    Die Masse und Macht des Shitstorms

    Als Elias Canetti 1960 sein Buch Masse und Macht veröffentlichte, konnte er nochkeine Vorstellung davon haben, was das Social Web einmal sein könnte. Umso er-staunlicher ist es, dass seine Beobachtungen menschlicher Massen das Verhalten der

    Internetnutzer so treffend beschreibt. Eine Spielart von Canettis Beschreibungen istdabei die Hetzmasse. Als Hetzmasse versteht er eine Masse, die es darauf abzielt zutöten. An diesem Mord will jeder teilhaben. Jeder, der sich in Reichweite befindet,schlägt zu. Die Masse an Schlägern wächst so rasant an, weil niemand mit Sanktio-nen zu rechnen hat. Aus der Masse heraus schlägt es sich nahezu anonym und damitgefahrlos. Dabei sind diese Schläge besonders dann intensiv, wenn es sich bei demOpfer und jemand vormalig Mächtiges handelt.

    Ausnahmslos lässt sich diese Beschreibung auf die viralen Shitstorms übertragen.Virtuelle Hetzmassen, die sich gegen Politiker richten, sind besonders intensiv undauf den politischen Tod der Personen aus. Es gibt genügend Beispiele für Massen imSocial Web, die auf einen solchen politischen Mord hinarbeiteten. Schaut man auf

    die bekanntesten Shitstorms gegen Politiker der vergangenen Jahre, sind die dreiFälle Guttenberg, Wulff und der bereits erwähnte gegen Edathy augenscheinlich.Alle drei Fälle eint, dass die im Internet verfassten Vorverurteilungen keinen Haltvor den privatesten Lebensbereichen der Akteure machten und die Vorverurteilun-gen in ihrem Ausmaß keine Grenzen kannten.

    Die Skupellosigkeit der digitalen Hetzmasse

    Wie skrupellos die hinter einem Hashtag vereinten Massen an Social-Media-Userndabei vorgehen, zeigt vor allem der Umgang mit der Person Sebastian Edathys. Mitdem im Raum stehenden Vorwurf des Kaufs von Kinderpornographie berührt die-ser Skandal ein hochproblematisches und völlig zu Recht maximal sensibles Thema.

    der shitstormals hetzmasse

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    Wie wir den Rechtstaat bei Facebookund Twitter aus den Augen verlieren

    von Felix Schenuit

    Gleichwohl sind die Urteile auf Twitter und Facebook erschreckend: In der Hölle solle er schmoren, sofort kastriert werden undann gefälligst in ein Arbeitslager geschickt werden. Natürlich fehlte auch die Forderung zur Wiedereinführung der Todesstraan dieser Stelle nicht. Die Unschuldsvermutung ist hier nur eines der rechtstaatlichen Prinzipien, die hierbei völlig irrelevant zwerden scheinen.

    Ist es endgültig Zeit, Hoffnungen in einen möglichen aufklärerischen Charakter des Internets zu verlieren? Nein, werden diejenigen sagen, die die Arabellion vor Augen haben und darauf verwiesen, wie hier mit Hilfe von Social Media politische Umwäl

    zungen erreicht werden konnten. Sehr richtig, ich stimme zu, das Internet lässt eine größere Anzahl von Menschen sprechfähiwerden und ermöglicht diesen sich als eine Art Gemeinschaft zu erkennen. Also doch ein Ansatz von demokratischem Potental im Internet. Doch identifiziert sich der Staat, dessen Bürger Edathys Hinrichtung fordern, eben nicht nur durch Demokratiesondern auch durch das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit. Nicht nur die Mehrheit entscheidet über den Verlauf der Dinge, auchder Schutz des Einzelnen ist ein grundlegendes Prinzip. Für letzteres scheint in den Portalen Facebook und Twitter kein Platz zsein. Zumindest begraben Hashtags, die sich wie hier als Hetzmassen in Canettis Sinne entwickeln, die Prinzipien des Recht-staats.

    Radikalität in 140 Zeichen – neu nutzen!

    Die Ursache ist offensichtlich: Will man ein Urteil sprechen, provoziert die Beschränkung auf 140 Zeichen Radikalität.Differenzierte Urteil lassen sich in dieser Form nicht formulieren. Doch eine Kritik des Formates kann nicht die Lösung sein.Schließlich sind es diese Formate, die das Neue und die positiven Effekte von Social-Media-Kommunikation ausmachen.

    Es gilt deshalb zu fragen, ob wir das Social Web lediglich zur (Be-)Wertung und Urteilsverkündung nutzen sollten. Wollen wuns dieser blinden Hetzmasse so einfach anschließen?

     Viel besser als Verurteilungen lassen sich in 1 40 Zeichen gute Fragen formulieren.Zum Beispiel so: Wollt ihr den Rechtstaat wirklich so einfach aufgeben? #edathy

    Felix Schenuitist Chefredakteur des hammelsprung und Studenan der NRW School of Governance. Praktische Erfarungen sammelte er in der Stiftung Wissenschaft uPolitik, der Deutschen Botschaft in Australien, ThysKrupp u. d. Vertretung des Landes NRW in Brüssel.

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    #neuland, Karl-Theodor zu Guttenberg,#aufschrei oder die Handlungswei-se des ADAC – die Netzgemeinde odervielmehr die Nutzer sozialer Netzwerkeschienen tagelang mit diesen Themenoder Personen beschäftigt zu sein – kei-nesfalls positiv gestimmt. Obwohl der„Shitstorm“ ein verhältnismäßig jungerBegriff ist, so wird er durchaus häufig imZusammenhang mit öffentlichen De-

     batten oder Schlagzeilen genannt. SeineBedeutung kann man mittlerweile auchim Duden nachschlagen. Laut Definiti-on handelt es sich um einen „Sturm derEntrüstung in einem Kommunikations-medium des Internets, der zum Teil mit beleidigenden Äußerungen einhergeht“.Selten kommt es zu einer Diskussionoder einem Austausch von Argumenten.Es gilt die eigene Position zu festigen undmit Meinungshoheiten die Massen zumobilisieren. Hashtags oder Facebook-

    Gruppen dienen meist als Knotenpunktder Kommunikation.

    Mechanik und Folgen eines „Shitstorms“Ein Sturm der Entrüstung in sozialenNetzwerken folgt, trotz unterschiedli-chen Beweggründen, bestimmten Re-geln. Anlass für einen „Shitstorm“ kanndie Empörung eines Unternehmens odereiner Privatperson sein, resultierend ausEnttäuschungen oder moralischen Ver-fehlungen. Ob eine derartige Wutwelle

    shitstorm – eindigitales phänomenaußer kontrolle?

    das Potential zum Image-Desaster hat,hängt von ihrer Qualität und Reichweiteab. Legitimität des Anliegens und Glaub-würdigkeit der auslösenden Person oderdes Initiators bestimmen das Gefähr-dungspotential eines „Shitstorms“.Im Anschluss an den Auslöser erfolgt dieMobilisierung der Anhänger. Ein schnel-les Wachstum der Online-Gemeinde istkennzeichnend für dieses Phänomen.

     Während manche Empörungen nur on-line präsent sind, bekommen andere dieAufmerksamkeit der klassischen Medi-en. Die Nähe oder Distanz zu den Jour-nalisten definiert die Geschwindigkeitmit der eine solche Empörung an dieOffline-Medien herangetragen wird.

    Doch ist der „Shitstorm“ nur einSturm im Wasserglas?

    Neben der des öffentlichen Anprangerns

    ist auch die beschädigte Außenwirkungeine negative Konsequenz. Allerdingsgibt es auch positive Auswirkungen. Sokann aus einem Sturm der Entrüstunggelernt werden sowie die Kommunika-tion und der Umgang mit den Nutzernvon sozialen Netzwerken optimiert wer-den. Dadurch kann zukünftiger Reputa-tionsverlustminimiert werden.

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    Ein Sturm von Wut und Empörung kann Massen mitreißen und sich zu einem„Shitstorm“ entwickeln. Die Bedeutung dieses Begriffes und seine Auswirkun-gen sowie Taktiken für einen richtigen Umgang mit dem Phänomen sollen indiesem Artikel beschrieben werden. Eine verlässliche Handlungsanweisung füBetroffene gibt es nicht – jeder „Shitstorm“ verläuft anders. Dennoch gibt esStrategien, die den Schaden begrenzen und zukünftige Ausbrüche eindämmekönnen.

    von Lisa König

    Grundregeln für einen „Shitstorm“ gibtes weniger, aber bestimmte Handlungs-weisen helfen souverän zu agieren undgrößeren Image-Schaden zu vermeiden.Nach dem Journalisten und Kommuni-

    kationsberater Lorenz Steinke ist unteranderem eine schnelle Reaktionszeit fürdie Eindämmungunerlässlich. In sozia-len Netzwerken werden lediglich wenigeStunden auf Reaktionen oder Antwor-ten gewartet. Sind kritische Kommenta-re vorhanden, sollte schnellstmöglich re-agiert werden. Nicht zufriedenstellendeAntworten werden den Sturm der Ent-rüstung wahrscheinlich weiterbeschleu-nigen.

    Im Idealfall sollte die Kommunikati-

    onsabteilung die Kritiker individuellansprechen und Kritik ernst nehmen.Standardisierte Antworten wirken ab-weisend und nicht problemorientiert.Bei beschriebenen Mängeln sollte eineehrliche Entschuldigung an die Öffent-lichkeit und primär den Betroffenengetragen werden. Eine emotionale undmenschliche Reaktion ist ein Zeichenvon Stärke.

    Auch Zensur ist unvorteilhaft im Um-gang mit einem „Shitstorm“. KritischeKommentare sollten von den Zuständi-gen nicht gelöscht werden. Dies kann dieInitiatoren mehr verärgern und wird der

    Außenwirkung weiter schaden.

    Frühwarnsystem ist unverzichtbar

    „Shitstorms“ halten sich bekannter Wei-se nicht an Arbeitszeiten oder Feiertage.Präventive Maßnahmen oder technischeInstrumente gibt es kaum. Die Präsenzin sozialen Netzwerken sollte rund umdie Uhr überwacht werden,damit eineschnelle Reaktion und Bearbeitung desProblems erfolgen kann. Frühwarnsys-teme (beispielsweise extern von Social-

    Media-Agenturen) sollten Entrüstungfrühzeitig erkennen und bearbeiten.Als Grundregel gilt: Nach dem Sturm istvor dem Sturm. Für zukünftige Reaktio-nen muss ein vergangener „Shitstorm“verstanden werden. Die Motivation derInitiatoren musshinterfragt werden, umdem zukünftig entgegen zu wirken undeinen Lerneffekt zu erzielen.

    Lisa Königstudiert seit 2014 an der NRW School of GovernanErste praktische Erfahrungen konnte sie währendredaktionellen Praktika und als studentische Mitar-beiterin im Bereich Presse- und Öffentlichkeitsarbesammeln.

     Wer einen „Shitstorm“ managen w braucht ein Gefühl dafür, wie die Negemeinde funktioniert. Wenn ein Uternehmen oder eine Person des öffenlichen Lebens in sozialen Netzwerk

    unterwegs ist, sollte eine Kommuniktionsstrategie vorhanden sein. Letztligeht es auch ohne Krise darum, Stimmungen in der Online-Community auzufangen.

    Instrumente müssen präventiv in dUnternehmenskultur oder PR-Stragien aufgenommen werden. Für einlangfristigen korrekten Umgang mit dÖffentlichkeit und speziell mit Nutzevon sozialen Netzwerken, müssen dMaßnahmen dauerhaft angelegt sein, s

    fern sie das Image der Firma oder Persschützen sollen.

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    vom katastrophen-zum katastrophalenjournalismus?

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    Medien erfüllen in demokratischen Systemen grundlegende Funktionen: Sie solldas Volk informieren, mittels Diskussion und Kritik zur Meinungsbildung der Bvölkerung beitragen und Partizipationsmöglichkeiten schaffen.

     Was passiert aber, wenn Journalismus an seine Grenzen stößt? Wenn aus objektivBerichterstattung blanke Sensationsgier und Effekthascherei wird? Der Absturz dGermanwings-Maschine 4U9525 am 24. März 2015 bietet Anlass für eine kritisc

    Auseinandersetzung um die Beschaffenheit des modernen Journalismus. 430 Bschwerden, so viele wie nie zuvor, gingen im Zusammenhang mit der Berichterstatung nach dem Unglück beim Deutschen Presserat ein. Wie groß ist der Schritt voKatastrophen- zum katastrophalen Journalismus? Und welche Rolle spielt dabei dÖffentlichkeit?

    Stephanie Streich  Das Haus des Co-Piloten wurde im Fernsehen gezeigt, sevollständiger Name in verschiedenen Medienberichterstattungen verwendet uauf sämtlichen sozialen Netzwerken verbreitet. Hinzukommen die mehr als voreigen Spekulationen, die sich rückwirkend betrachtet einer objektiven Einsicht sowo bezüglich der Person selbst als auch der Umstände der Tat nahezu vollständig entzgen haben – ganz zu schweigen von fragwürdigen Formulierungen der „Berichtestattung“. Besonders die Frage, ob man das unverpixelte Foto des Co-Piloten zeig

    und seinen vollen Namen nennen darf, ist selbst unter Juristen nicht unumstritteallerdings werden die Informationsrechte der Öffentlichkeit im Zweifel in der Gwichtung höher eingestuft. Anmerken lässt sich dabei nur, ob man das, was jurtisch gestattet ist, auch ethisch oder als gerechtfertigt erachten kann. Letzteres ausz blenden sollte angesichts des Ausmaßes journalistischer Sonderwege rund um dGermanwingsabsturz mehr als nur kritisch gesehen werden: Welchen wirklichInformationswert hat neben den Nahaufnahmen von weinenden Schülern, verzwfelten Eltern und dem Haus der Familie des Co-Piloten die Nennung der vollständ

    Eine Gratwanderung zwischen Ethik, Qualität und Wettbewerb

    Streitgespräch zwischen Christian Klaeßen und Stephanie Streich

    Stephanie Streichist Chefredakteurin des hammelsprung  und Stu-dentin an der NRW School of Governance. PraktischErfahrungen sammelte sie in einem Institut und in eNGO. Zudem arbeitet sie am Lehrstuhl für das politische System Deutschlands & moderne Staatstheori

    Christian Klaeßenist seit 2014 Masterstudent an der NRW School ofGovernance. Zuvor studierte er an der UniversitätDuisburg-Essen Politikwissenschaft. Praktische Er-fahrungen sammelte er unter anderem im nordrheinwestfälischen Landtag in Düsseldorf.

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    gen Namen weiterer Beteiligter? An die-ser Stelle hat eine Grenzüberschreitungstattgefunden, da selbst Angehörige zuOpfern der medialen Aufmerksamkeitwerden, anstatt ihre Schutzwürdigkeitund Selbstbestimmung zu gewährleis-ten.

    Christian Klaeßen  Dass im Zuge derBerichterstattung über 4U9525 Dingegeschehen sind, die außerhalb jeglicherRechtfertigungsversuche oder gar Ent-schuldbarkeit liegen, steht außer Frage.Eine Pauschalverurteilung der Medienist jedoch mehr als unangebracht. DieFrage muss immer lauten, was im Detailan der Berichterstattung kritisiert wer-den kann. Das Bedrängen von Angehöri-gen in der tiefsten Phase der Trauer oderder Versuch, Berichte von Zeugen zu

    kaufen, worüber immer wieder berich-tet wurde, bringt einen ganzen Berufs-stand in Verruf. Selbstverständlich. Undnatürlich hätte auch auf die Veröffent-lichung von Fotos und Klarnamen desCo-Piloten verzichtet werden können.Bekommen hätte man diese Informati-onen aber in jedem Fall, ob die deutschePresse sich beteiligt hätte oder nicht.Ein solches Ereignis bewegt Menschenauf der ganzen Welt, folglich wird auchnahezu überall darüber berichtet. In der

     britischen und amerikanischen Presse-landschaft ist die Veröffentlichung vonDetails um die Identität vermeintlicherTäter gang und gäbe. Wird hier mit fal-scher Zurückhaltung agiert, verliert manlediglich im internationalen Nachrich-tenwettbewerb an Boden und informiertseine Leser- bzw. Zuhörerschaft einfachschlechter. Dies kann nicht im Interesseeiner um Aufklärung bemühten Gesell-schaft liegen.

    Eine weitere Tatsache, die häufig kri-tisiert wurde, ist die Dauerpräsenz derBerichterstattung um das Unglück.Doch wie lässt sich diese Präsenz be-gründen? Einige Beispiele: Wenige Tagenach dem Unglück reisten führende Po-litiker aus mehreren europäischen Staa-

    ten an die Absturzstelle, unter anderendie Deutsche Bundeskanzlerin. Nachden Anschlägen auf die Redaktion desCharlie Hebdo in Paris im Januar diesen Jahres beteiligten sich die Staats- undRegierungschefs aus fast 50 Nationenan einem Trauermarsch durch die Stadt.Immer, wenn es Ereignisse gibt, die dieMenschen auf zutiefst emotionale Artund Weise berühren, ist die Politik nichtweit. Da ist es doch selbstverständlich,dass die Medien auch und gerade dannverstärkt darüber berichten. Wer das

    nicht möchte, muss die Politik dazu an-halten, sich in Zurückhaltung zu üben,und kann nicht die Journalistinnen und Journalisten dafür verantwortlich ma-chen.

    Stephanie Streich  Sensationsmel-dungen und -reportagen um Großer-eignisse rechtfertigen allerdings keineidentifizierende Berichterstattung. Einverstärktes Informieren und Berichtenaus einem gegebenen Anlass heraus (un-

    abhängig davon, ob es sich um ein trau-riges oder feierliches Ereignis handelt),an welchem führende Staats- und Regie-rungschefs (An-)teil nehmen, liegt in derNatur der Sache journalistischer Arbeit begründet. Warum sollte man die Politikzur Zurückhaltung raten, wenn nach wievor die Medienarbeit im Zentrum der ge-führten Debatte steht? Nicht die medialeInszenierung von politischen Akteurenmacht die Debatte um kritische jour-nalistische Recherchemethoden, Be-

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    richterstattungen und Kommentierungen aus, sondern die Journalisten selbst. Die(Selbst-)Darstellung von Politikern in solchen Zusammenhängen muss da an andererStelle diskutiert werden.

    Christian Klaeßen  Allen Für und Widern zum Trotz muss aber nicht zuletzt auchdie schwierige Situation bedacht werden, in der Journalisten heutzutage ihre Arbeitverrichten. In Zeiten der digitalen Echtzeitkommunikation wird erwartet, dass neue

    Informationen sofort übermittelt werden, besser gestern als heute. Gleichzeitig wirdund muss man erwarten, dass die Medienakteure ihr Handeln auf die möglichenFolgen ihrer Veröffentlichungen hin ausrichten. Was dabei nicht außer Acht gelas-sen werden darf, sind die so genannten ad-hoc-Öffentlichkeiten, wie sie durch dasHashtag-System über Twitter und Co. erzeugt werden. Durch sie entstehen immerneue Strudel an Spekulationen, Halbwahrheiten und Nachrichten, von denen selbsterfahrene Publizisten oft nur mitgerissen werden. Das Interesse an skandalöser Be-richterstattung ist vorhanden, die Dynamik entsteht mitunter auch ohne journalis-tisches Zutun.

    Stephanie Streich Die Berichterstattung über 4U9525 oder ähnlich gelagerte Fäl-le, wie z.B. der Amoklauf im US-Bundesstaat Connecticut in der Kleinstadt New-town 2012 mit 26 Toten, einen die zunehmende Dominanz eines Speed over Ac-

    curacy, d.h. dass im Wettlauf mit der Konkurrenz die Medienakteure zunächst aufGeschwindigkeit, statt auf Richtigkeit der Inhalte setzen. Durch eben diese Schnel-ligkeit schleichen sich jedoch häufig folgenschwere Fehler ein und die Konsequenzentragen dabei nur selten die Journalisten selbst – vielmehr geraten dabei abermals dieOpfer und Beteiligten in den Sog medialer Aufmerksamkeit, aber auch Unbeteilig-te sind im Zuge „journalistischer Ermittlungen“ nicht außen vor. Ganz nach demMotto: „Lieber raushauen, was man an vermeidlichen Informationen zur Verfügunghat und sich im Nachhinein um Inhalte bemühen.“ Auch wenn Fehlermeldungenex post korrigiert werden, kommt es bei der Publikation zu nichtintendierten Fol-gen, die sich mittels eines double-checkings vermeiden ließen. Dabei handelt es sichdann nicht um eine utopische Anforderung an den Journalismus, sondern um dieNotwendigkeit einer Debatte bezüglich der Frage, wie sich die mediale Berichter-

    stattung unter dem Eindruck entscheidender Ereignisse verändert ohne, dass dabeidie journalistische Arbeit bei Einhaltung ethische Regelungen und Methoden einem Wettlauf um den Scoop unterliegt.

    Zu wissen, wann über einen Sachverhalt, ein Thema oder einen Skandal berichtetoder besser geschwiegen werden sollte, ist oft eine schmale Gratwanderung zwischender Ethik des Journalismus, der Qualität der Berichterstattung und dem Wettbewerbin der internationalen Medienlandschaft. Wenn dieser an einigen Stellen bewusstüberspitzte Kommentar eines aufgezeigt hat, dann ist es hoffentlich die Chance, diein der Notwendigkeit einer Debatte liegt. Einer Debatte darüber, nach welchen Kri-terien Journalismus in einem sich stetig beschleunigenden Bild von Öffentlichkeitarbeiten und nach welchen Maßstäben er bemessen werden kann und sollte.

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    von der pionierbewegungzum jahrhundertprojekt –

    gesellschaftlicherwandel am beispiel derenergiewende

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    Die als Energiewende bezeichnete Transformation von einer auf fossilen Energieträ-gern hin zu einer auf erneuerbaren Energien basierenden Energieversorgung ist ein Jahrhundertprojekt. Die Öffentlichkeit – wobei diese sowohl eine breite Öffentlich-keit von Bürgerinnen und Bürgern als auch organisierte Interessengruppen umfasst– hat im Politikfeld der Energiepolitik seit jeher eine entscheidende Rolle gespielt.Die Pioniere und Vordenker der Bewegung waren Bürgerinitiativen und einzelnePersonen, die dazu beitrugen, dass sich die Leitidee nach und nach den Weg bahnte.

    Energiepolitische Themen sorgten dafür, dass sich Anfang der 80er Jahre eine neuePartei gründete und ebenso, dass diese Partei Jahrzehnte später ihren ersten Minis-terpräsidenten stellte. Energiepolitische Erwägungen sorgten dafür, dass Bundes-ministerien umstrukturiert wurden und die Energiepolitik im politischen Mehre- benensystem in den letzten Jahren überproportional an Bedeutung gewonnen hat.Die Erklärung hierfür ist eine vergleichsweise einfache: Die Energiewende ist einProjekt, welches alle Lebensbereiche betrifft: neben der Stromversorgung die Mo- bilität und Forschung, aber eben auch Aspekte der Generationengerechtigkeit oderEntwicklungszusammenarbeit. Kurz: Die Energiewende ist omnipräsent. Sie isteine gesamtgesellschaftliche Aufgabe und Herausforderung – dies impliziert jedochzugleich, dass sie, mehr noch als andere Politikfelder, ohne gesamtgesellschaftlicheAkzeptanz nicht gedacht werden kann. Diese Akzeptanz ist historisch gewachsen,

    zugleich aber aufgrund der zunehmenden Komplexität des Politikfeldes gefährdet.

    Das Trägheitsprinzip des gesellschaftlichen Wandels

     Wie deutlich der Wandel stattgefunden hat, lässt sich mit einem Blick in die Vergangenheit aufzeigen. Mehr als 30 Jahre liegt inzwischen die Inbetriebnahmevon Growian, der „Großen Windenergieanlage“ zurück. Zur Zeit ihrer Errichtungdie größte Windenergieanlage der Welt, wurde wenige Jahre später der Betriebaufgrund technischer Probleme eingestellt. Nicht alle waren mit diesem Ergebnisunzufrieden: der Vorstand eines großen Energieversorgungsunternehmens führteauf einer Hauptversammlung aus, man bräuchte Growian, um zu beweisen, „dassGrowian so etwas wie ein pädagogisches Modell sei, um Kernkraftgegner zum

    wahren Glauben zu bekehren“. Das Scheitern war abzusehen: Es war, so beschriebes die Zeit, „als hätte man Otto Lilienthal nach seinen ersten Flugversuchen mitdem Bau eines Überschalljets beauftragt“. Es war eben vornehmlich ein Projekt, um

    von Leon Arvid Lieblang

    Leon Arvid Lieblangist Chefredakteur des hammelsprung  und Studenan der NRW School of Governance. Zuvor studierte in Erfurt Staatswissenschaften. Praktische Erfahrungsammelte er in einem Industrieverband, einer Agentdem Bundestag sowie als Mitarbeiter an Lehrstühle

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    der Öffentlichkeit die Grenzen der erneuerbaren Energien aufzuzeigen, da längst dieBedeutung ersterer erkannt wurde. Langfristig überzeugen konnte der Versuch dieÖffentlichkeit jedoch nicht.

    Doch erst das Unglück von Fukushima im Jahr 2011 vermochte es, den entscheiden-den Schritt zu einer Abkehr von der Atomenergie zu initiieren. Zwar gab es bereitsvor dem Reaktorunfall eine solide Basis, die einen Umstieg befürwortete; auch ein

    Atomausstieg wurde bereits beschlossen, anschließend jedoch wieder zurückge-nommen. Direkt nach dem Unglück zeigten Umfragen jedoch einen deutlichenRückgang der Kernkraftbefürworter, der schließlich zu einem Umdenken auch inder schwarz-gelben Bundesregierung führte. Vielleicht war es letztlich der zwang-lose Zwang des besseren Arguments, der überzeugt hat. Dass sich an der Sicherheitder Kernkraftwerke durch das Unglück faktisch nichts geändert hat, deutet jedochauf auch einen interessanten Nebenaspekt hin – nämlich jenen der irrationalen Mei-nungsfindung, der der öffentlichen Meinung teilweise unterliegt.

    Ein Projekt als gesamtgesellschaftliche Herausforderung

    Der Weg von Growian bis zur Gegenwart verdeutlicht einmal mehr, dass die lexprima Newtons – das Trägheitsprinzip – auch auf den gesellschaftlichen Wandel

    übertragbar ist. Er zeigt jedoch nicht nur, dass gesellschaftlicher Wandel langsamvonstattengeht, sondern eben auch, welche bedeutende Rolle der Öffentlichkeitbei der Hinterfragung tradierter Auffassungen zukommt. Nicht ohne Grund schautdie Welt bei der Energiewende nach Deutschland – einem hochindustrialisiertenLand, das sich auf den Weg gemacht hat, seine Energieversorgung von Grund auf zuverändern. Mehr als 370.000 Beschäftigte zählt die Branche insgesamt. Die Beant-wortung von Energiefragen, national wie global, wird inzwischen als eine der zen-tralen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts anerkannt. Es zeigt sich aber auch,dass ein gesellschaftlicher Konsens hinsichtlich der Verständigung auf ein Ziel nichtbedeutet, dass unweigerlich die Wahl der Mittel festgeschrieben ist oder der einmalgetroffene Konsens nicht aufgebrochen werden kann.

    Fortbestehende Akzeptanz als zentrale Herausforderung

    Ganz im Gegenteil: ohne die Bedeutung zu hinterfragen, liegt die eigentliche He-rausforderung nicht darin, ein gesellschaftliches Umdenken zu erreichen. Inzwi-schen ist die Befürwortung und Akzeptanz des Ausbaus überwältigend: Je nachUmfrage sind mehr als 90 Prozent für den weiteren Ausbau erneuerbarer Energien.Das Projekt Energiewende muss nun zeigen, dass die ambitionierten Ziele umzu-setzen sind. Es besteht ein in seiner Wirkung nicht zu unterschätzender Rechtferti-gungsdruck.

    Das bedeutet insbesondere, die Zieltrias aus Klima- und Umweltverträglichkeit,Versorgungssicherheit und Bezahlbarkeit umzusetzen. Und auch dabei wird der

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    Öffentlichkeit eine entscheidende Rolle zukommen. Nachdem anfangs vor allemeine grundsätzliche Akzeptanz im Vordergrund stand, wird es zukünftig vor allemdarum gehen, allgemeinverträgliche Lösungen für spezifische Probleme zu finden. Während aus einer rein technischen Perspektive eine vollständig auf erneuerbarenEnergien basierende Energieversorgung bereits 2030 für möglich erachtet wird, istdas Jahr 2050 als realistischer einzuschätzen. Wie schnell das Ziel erreicht wird, isdavon abhängig, wie sehr die Öffentlichkeit diesen Wunsch äußert und wie sehr s

     bereit ist, existierende Probleme vor dem Hintergrund langfristiger Ziele zu akzeptieren bereit ist.

    Zwei Elementen wird dabei zukünftig eine besondere Rolle zukommen: Zumeinen kommt es zu einer zunehmenden Komplexität des Systems. Während eineFörderung mittels Einspeisevergütung noch durchaus nachvollziehbar ist, führt di Weiterentwicklung der notwendigen Verordnungen und Gesetze dazu, dass negative Börsenstrompreise, Intradayhandel oder das Demand-Side-Management denKomplexitätsgrad steigern. Dass es hier nicht zu einer Kapitulation vor der Komplxität kommt, ist für die Akzeptanz von grundlegender Bedeutung.

    Oftmals wird als Allheilmittel nicht nur für die zunehmende Komplexität dieBürgerbeteiligung gesehen. Vor dem Hintergrund der Ursprünge und auch aus

    demokratietheoretischen Beweggründen ist dies durchaus unterstützenswert; docauch hier lauern Risiken. Gegenwärtige Projekte wie die geplante Einführung einePrimats der Erdverkabelung entsprechen einer Forderung, die lange von Bürgerinitiativen aufrechterhalten wurde. Doch es zeigt sich bereits, dass nicht ein Wille deÖffentlichkeit besteht, sondern sich die Positionen durchaus entgegenstehen. Hieeinen Ausgleich zu finden und damit die Ziele der Energiewende mit einer hohenAkzeptanz zu verbinden ist unabdingbar, um eine der größten Herausforderungenunserer Zeit zu bewältigen.

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    die verwundbare stelle

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    Der Umstieg auf erneuerbare Energienist in Deutschland beschlossene Sache:Bis 2020 sollen 18 Prozent der Energie-ausregenerativen Ressourcen gewonnenwerden. Jetzt müssen die Pläne nur nochin die Tat umgesetzt werden. Und hierkommen die Stolpersteine ins Spiel. Der

    wohl größte Brocken sind die Bürgerin-nen und Bürger der Republik. Zwar spre-chen sich laut einer Umfrage von PWC92 Prozent der Deutschen für die Ener-giewende aus. Geht es aber um die kon-krete Umsetzung vor Ort, sieht die Lageganz anders aus. Große Bauprojekte wieStromtrassen, Windparks oder Ener-giespeicher, die für die Energiewendewichtig sind, stoßen lokal immer wiederauf großen Widerstand. Denn in der un-mittelbaren Nachbarschaft sollen solcheBauwerke dann doch nicht stehen.

    Im August diesen Jahres wurde der Baueines Pumpspeicherkraftwerks in Laminder Operpfalz aufgegeben. Grund warenProteste vor Ort. Ein Bürgerentscheidendete mit einem Nein zum Kraftwerk,sodass sich die zuständigen Behördendazu gezwungen sahen, das gerade lau-fende Raumordnungsverfahren einzu-stellen. Auch der Bau neuer Stromtras-senstößt auf ähnliche Probleme. SolcheTrassen sind nötig, um im Norden ge-

    wonnenen Windstrom in südliche Regi-onen Deutschlands zu bringen. Entlangder bislang festgelegten Route bilden

    sich immer wieder lokale Aktionsbünd-nisse gegen die langen Leitungen.

    Klar ist, derartige Projekte stellen zwangs-läufig einen Eingriff in den Lebensraumvon Menschen dar und führen zu Kon-flikten. Doch was steckt dahinter? War-

    um sind die Bürgerinnen und Bürger soempfindlich, wenn es um Baustellen vorihrer Haustür geht? Dabei finden dochalle die Energiewende ganz gut.Hier gibtes einen Zielkonflikt.

    Eine Befragung der Universität Tübin-genrund um ein geplantes Pumpspei-cherkraftwerk im Schwarzwald nahe derSchweizer Grenze ergab, dass die Bürge-rinnen und Bürger den Zielkonflikt zwarerkennen, aber nicht auflösen. Stattdes-sen wird das von Mancur Olson prog-

    nostizierte Verhalten von Akteuren ge-genüber kollektiven Gütern bestätigt.Die persönlichen Interessen werden denkollektiven Interessen vorgezogen. Eslässt sich hier auch vom St. Floriansprin-zip sprechen. Es geht auf eine volkstüm-liche Weisheit zurück. Der vermeintlichfromme Spruch lautet: „Heiliger SanktFlorian, verschon‘ mein Haus, zünd‘ an-dere an!“

    Den Tübinger Forschern gelang es, eine

    Reihe von Schlüssen aus der Befragungzu ziehen. So gab es bei den Bürgerinnenund Bürgern die Vermutung gegenüber

    Bis die Energiewende in Deutschland erreicht ist, dauert es noch eine Weile.Auch ein paar Windräder und Stromtrassen müssen wohl noch gebaut werdenDoch da stehen schnell wieder die Wutbürger auf dem Plan – dabei ist dieEnergiewende eigentlich Konsens.

    von Bendix Wulfgramm

    Bendix Wulfgrammist seit 2014 Masterstudent an der NRW School ofGovernance. Berufliche Erfahrungen sammelte er imStaatsministerium in Baden-Württemberg und in veschiedenen Zeitungsredaktionen. Außerdem engager sich in der kirchlichen Jugendarbeit.

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    Politik und Behörden, dass diese aus eigenen Interessen das Bauvorhaben unterstüt-zen. Das führt zu Misstrauen und Ablehnung. Dennoch ist es möglich, das verlorengegangene Vertrauen in die Politik wiederherzustellen. Lässt man die von einemBauprojekt betroffenen Menschen aktiv die Planung mitgestalten, stehen sie diesemviel offener gegenüber. So wünschten sich die Anwohner des geplanten Pumpspei-cherkraftwerk im Schwarzwald vor allem, Gehör zu finden und in die Planung miteinbezogen zu werden.

    Diverse Unsicherheiten bezüglich des Bauvorhabens führen ebenfalls zur Ableh-nung.Hier zeigen sich die Befragten besorgt, die sehr nahe an den geplanten Stand-orten der großen Wasserbecken des Pumpspeicherkraftwerks wohnen. Sie fürchtenbei einem Dammbruch Haus und Hof zu verlieren. Diese Sorgen können durch mög-lichst große Transparenz in der Planungsphase eines Bauprojekts verringert werden.Gewährt man den Betroffenen Einblick in die Baupläne, so hilft das diffuse Ängsteauszuräumen. Unterstützt wird solch ein offener Umgang mit den Betroffenen durchdie Bereitstellung glaubhafter und unabhängiger Informationen. Am besten sogardurch unabhängige Dritte, die das Vertrauen der Bevölk