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express . D-63020 Offenbach . PF 10 20 63 . (069) 88 50 06 . Fax (069) 82 1116 . Nr. 11-12/2005 . 43. Jahrgang . ISSN 0343-5121 . Preis: Euro 3,50 G e w e r k s c h a f t e n I n l a n d Wilfried Schwetz: »Boykottiert, was Euch kaputt macht!«, Kleine Boykottkunde, Teil I S. 2 Anne Allex/Harald Rein: »Arbeits- dienst republikfähig« S. 5 »Agenturschluss« – bilanziert, aus dem »Schwarzbuch Hartz IV« S. 5 Rainer Roth: »Fliegende Teppiche«, Wettbewerbsfähigkeit – erstrebens- wertes Ziel für Gewerkschafter und Belegschaften? S. 13 »Wohltuende mb-Forderungen?«, zur Debatte um den TVöD S. 16 »Forderung nach Urabstimmung über den TvöD...« ... ging ver.di ein bisschen zu weit S. 16 B e t r i e b s s p i e g e l Anton Kobel: »Lidl und der Menschen Recht«, zu Stand und Perspektiven der Lidl-Kampagne S.1 A.S.: »No Go Area«, WalMart will Privatleben verbieten S. 4 »Traumjobs«, Aktionstag gegen Gate Gourmet in Düsseldorf, Berlin, Frankfurt S. 14 H G L a n g z u m S i e b z i g s t e n »Da geht noch was: Leben an der Basis« – aus demVorwort der Broschüre S. 9 Jens Huhn: »Immer neue Aufbrüche« S. 10 Eberhard Schmidt: »Verkehrte Welt«, betriebsnahe Tarifpolitik gestern und heute S. 11 Edgar Weick: »Betrachtungen zum ›aufrechten Gang‹« S. 12 E u r o p a / I n t e r n a t i o n a l e s A.S.: »Recht auf Organisierung? Was ist das?«, wieder massives Union Busting in Sri Lanka S. 17 R e z e n s i o n Frank-Uwe Betz: »Lenkung der Arbeit«, historische Vorläufer der Arbeitsverwaltung, über Dieter G. Maier: »Anfänge und Brüche der Arbeitsverwaltung bis 1952...« S. 7 Rolf Euler: »Sechs Tage der Selbstermächtigung«, über das gleichnamige Buch von Jochen Gester und Willi Hajek zum Opel-Streik in Bochum S. 8 Wolfgang Völker: »Soziale Sicherheit durch Recht«, über das neue Buch von Robert Castel: »Die Stärkung des Sozialen. Leben im neuen Wohlfahrtsstaat«, Teil I S. 18 alle bilder dieser ausgabe: verein der freunde und förderer des hessischen landesmuseums darmstadt (hrsg.), »tiefe blicke – kunst der achtziger jahre«, köln 1985, ISBN 3-7701-1740-9 L idl und der Menschen Recht Anton Kobel zu Stand und Perspektiven der Lidl-Kampagne Weltweit ist der US-amerikani- sche Einzelhandelskonzern Wal- Mart bekannt für seinen giganti- schen Umsatz – 285 Milliarden US-Dollar in 2004 – und Ge- winn – 10,3 Milliarden Dollar in 2004 – sowie seinen rabiaten Umgang mit Beschäftigten und deren Gewerkschaften, mit Liefe- ranten, mit Politikern und Orga- nisationen, die andere Ansichten vertreten. WalMart-freundliche Politiker werden mit großzügigen Spenden verwöhnt und gefügig gehalten. Unnachgiebig versucht WalMart jegliche gewerkschaftli- che Organisierung zu verhindern bzw. zu zerschlagen. Letzteres auch im wörtlichen Sinne. So geschehen Mitte der 1990er in Windsor/Kanada. Dort war der Handelsgewerkschaft in der CAW die Organisierung der Be- schäftigten bei WalMart gelun- gen. Nach – auch in der Folge noch – jahrelangen Auseinander- setzungen wurde die CAW aus dem Laden getrieben. Die US- Gewerkschaft UFCW (United Food and Commercial Workers) kann Bände voll schreiben zu Fällen gewerkschaftlicher Unter- drückung bei WalMart. So glie- derte WalMart im Jahr 2000 in Arkansas die eigenen Metzgerei- en im gesamten Unternehmen aus, nur um die gewerkschaftliche Organisie- rung der Metzger zu verhindern. Seitdem ver- kauft WalMart in seinen SB-Warenhäusern nur noch abgepackte Fleischwaren. Anfang 2005 schloss der Konzern in Jonquiere/Kanada eine Filiale mit 190 Beschäftigten. Diese hatten sich in der UFCW organisiert. Die Ansiedlung von WalMart-Filialen ruft immer wieder örtliche Proteste hervor. Träger dieser Proteste sind Kleinhändler, die in der Konkurrenz mit Wal- Mart chancenlos sind, Umweltschützer wegen der ökologischen Schäden der Großprojekte, Lokalpolitiker wegen der zerstörerischen Fol- gen für die Innenstadtkerne, Beschäftigte und Gewerkschaftsmitglieder im ortsansässigen Einzelhandel, die gegen das von WalMart praktizierte Lohndumping und »union ba- shing« – Zerschlagen der Gewerkschaft – kämp- fen. Zunehmend kommt es zu Allianzen gegen WalMart. Derzeit kämpft im Bundesstaat Maryland eine solche Allianz für eine bessere Krankenversicherung der WalMart-Beschäftig- ten, mit guten Chancen auf ein entsprechendes Votum im Parlament. Landauf, landab gibt es immer wieder Initiativen, damit den Beschäf- tigten die ganze geleistete Arbeitszeit bezahlt wird. Bekannt wurden 2004 umfangreiche Prozesse gegen die Diskriminierung von Frauen bei WalMart. Proteste, vor allem von 3. Welt-, Frauen- und Kirchen-Gruppen gegen die Arbeitsbedingungen bei WalMart-Lieferan- ten in sog. freien Produktionszonen allüberall in der Welt sind an der Tagesordnung. Entscheidende, d.h. die Politik von Wal- Mart nachhaltig verändernde Erfolge konnten bisher nirgendwo erzielt werden. Der Konzern setzt auf Umsatz und Profit und ordnet diesen Maßstäben alles unter. Sein Image interessiert ihn bisher nicht. Lidl am Pranger Vor einem Jahr, am 10. Dezember 2004, dem internationalen Tag der Menschenrechte, hat ver.di den deutschen Lidl-Konzern (ca. 35 Mil- liarden Euro Umsatz in 2004) öffentlich an den Pranger gestellt (s. express 1/2005). Seit- dem vergeht keine Woche, in der nicht über fragwürdige, rechtswidrige oder unmoralische Praktiken dieses Konzerns berichtet wird. ver.di hat mit seinem »Schwarzbuch – Billig auf Kosten der Beschäftigten« in zahlreiche Wespennester gestochen. Tausende Reaktionen – vor allem von Beschäftigten im Discount- Einzelhandel – bestätigten und ergänzten die menschenfeindlichen Umgangsformen bei Lidl und seinen Konkurrenten. Innerhalb weniger Wochen war auch die 3. Auflage des Schwarz- buchs vergriffen. ver.di fordert von Lidl tarifliche Vereinba- rungen zur Wahl von effektiv arbeitsfähigen Betriebsräten, Jugend- und Auszubildenden- vertretungen sowie Vertretungen der Schwer- behinderten. Durch deren Arbeit sollen zahl- reiche Missstände in den Lidl-Filialen behoben werden, vor allem unbezahlte Arbeitszeiten, ungeregelte Arbeits-, Pausen- und Freizeiten, ungesetzliche Praktiken bei der Personalkon- trolle, Mobbing, Aufhebungsverträge u.ä. Lidl auf den Spuren WalMarts Bisher haben der Lidl-Eigen- tümer Dieter Schwarz und seine Manager jedes Gespräch mit ver.di verweigert, von Vereinbarungen ganz zu schweigen. Stattdessen handelt der nach außen bis zum Be- ginn der ver.di-Kampagne »schweigsame Riese« im In- nern. Dabei wütet er gegen gewerkschaftliche Regungen in Filialen. Die Verhinderung von Ansätzen für Betriebsrats- wahlen durch Gespräche, Druck, geringfügige Zuge- ständnisse und Versprechun- gen auf Besserung gehören da- bei zu den »humanen« Metho- den. Hausverbote für Gewerk- schaftssekretäre sind Standard. Und dennoch existiert auch bei Lidl ein »rebellisches Potential«. Dagegen setzen die Lidl-Herren ihre ganze Macht, verbunden mit zahlreichen fragwürdigen Tricks zur Um- gehung von gesetzlichen Rech- ten der Beschäftigten und zur Bekämpfung bzw. Ausschal- tung von Betriebsräten. Im fränkischen Forchheim bei Bamberg hatte die Filial- belegschaft einen aktiven Be- triebsrat gewählt. Um Vernet- zungen mit anderen Filialen desselben Lidl- Unternehmens zu verhindern, wurde die Filiale in einen Schnäppchenmarkt ohne Lebensmit- tel verwandelt und als einziger Betrieb in ein neues Lidl-Unternehmen ausgegliedert. Die- sem Unternehmen verliehen die Oberen den Firmennamen »Schnapp’s GmbH & CoKG« mit Sitz bei Rostock! Eine Lidl-Filiale in Bamberg, ebenfalls mit Betriebsrat, wurde aus dem vorherigen Unter- nehmen ausgegliedert. Mit diesen juristischen Tricks soll die von diesen beiden Betriebsräten beabsichtigte Bildung eines Gesamtbetriebsra- tes verhindert werden. In Calw/Nordschwarzwald schloss Lidl zum 30. September 2005 die Filiale, obwohl der Mietvertrag noch dreieinhalb Jahre weiter- gilt. Auch die 13 Beschäftigten dieser Filiale hatten einen aktiven Betriebsrat gewählt. Und noch etwas prädestinierte diese für eine Lidl- typische Sonderbehandlung. Sie hatten sich im Juni wie ihre Kolleginnen in Forchheim und Bamberg an einem Warnstreik während der Tarifrunde Einzelhandel beteiligt. Das schien nun doch ein Übermaß von Inanspruchnahme demokratischer Rechte zu sein. Von September bis November 2005 spielte sich ein Krimi ab. Umsatz und Kosten spielten für Lidl keine Rolle. Die gewinnbringende Filiale wurde wi- derrechtlich ohne ordnungsgemäße Beteiligung des Betriebsrates geschlossen. Auch eine einst- weilige Verfügung des Arbeitsgerichtes Pforz- heim mit der Androhung von 250 000 Euro Ordnungsgeld gegenüber Lidl blieb ohne Ein- druck. Die Lidl-Oberen ließen Ware abtrans- Deutsche Post AG Postvertriebstück D 6134 E Gebühr bezahlt AFP Postfach 10 20 63 63020 Offenbach express Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit

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Gewerkschaften Inland

Wilfried Schwetz: »Boykottiert, was Euch kaputt macht!«, Kleine Boykottkunde, Teil I S. 2

Anne Allex/Harald Rein: »Arbeits-dienst republikfähig« S. 5

»Agenturschluss« – bilanziert, ausdem »Schwarzbuch Hartz IV« S. 5

Rainer Roth: »Fliegende Teppiche«,Wettbewerbsfähigkeit – erstrebens-wertes Ziel für Gewerkschafter und Belegschaften? S. 13

»Wohltuende mb-Forderungen?«, zur Debatte um den TVöD S. 16

»Forderung nach Urabstimmungüber den TvöD...« ... ging ver.di ein bisschen zu weit S. 16

Betriebsspiegel

Anton Kobel: »Lidl und der Menschen Recht«, zu Stand und Perspektiven der Lidl-Kampagne S.1

A.S.: »No Go Area«, WalMart will Privatleben verbieten S. 4

»Traumjobs«, Aktionstag gegen Gate Gourmet in Düsseldorf, Berlin, Frankfurt S. 14

HG Lang zum Siebzigsten

»Da geht noch was: Leben an der Basis« – aus demVorwort der Broschüre S. 9

Jens Huhn: »Immer neue Aufbrüche« S. 10

Eberhard Schmidt: »Verkehrte Welt«, betriebsnahe Tarifpolitik gestern und heute S. 11

Edgar Weick: »Betrachtungen zum ›aufrechten Gang‹« S. 12

Europa/Internationales

A.S.: »Recht auf Organisierung? Was ist das?«, wieder massives Union Busting in Sri Lanka S. 17

Rezension

Frank-Uwe Betz: »Lenkung der Arbeit«, historische Vorläufer der Arbeitsverwaltung, über Dieter G. Maier: »Anfänge undBrüche der Arbeitsverwaltung bis 1952...« S. 7

Rolf Euler: »Sechs Tage der Selbstermächtigung«, über das gleichnamige Buch von Jochen Gester und Willi Hajek zum Opel-Streik in Bochum S. 8

Wolfgang Völker: »Soziale Sicherheitdurch Recht«, über das neue Buchvon Robert Castel: »Die Stärkung des Sozialen. Leben im neuen Wohlfahrtsstaat«, Teil I S. 18

alle bilder dieser ausgabe:

verein der freunde und förderer des hessischen landesmuseums darmstadt(hrsg.), »tiefe blicke – kunst der achtziger jahre«, köln 1985, ISBN 3-7701-1740-9

Lidl und der Menschen RechtAnton Kobel zu Stand und Perspektiven der Lidl-KampagneWeltweit ist der US-amerikani-sche Einzelhandelskonzern Wal-Mart bekannt für seinen giganti-schen Umsatz – 285 MilliardenUS-Dollar in 2004 – und Ge-winn – 10,3 Milliarden Dollar in2004 – sowie seinen rabiatenUmgang mit Beschäftigten undderen Gewerkschaften, mit Liefe-ranten, mit Politikern und Orga-nisationen, die andere Ansichtenvertreten. WalMart-freundlichePolitiker werden mit großzügigenSpenden verwöhnt und gefügiggehalten. Unnachgiebig versuchtWalMart jegliche gewerkschaftli-che Organisierung zu verhindernbzw. zu zerschlagen. Letzteresauch im wörtlichen Sinne. So geschehen Mitte der 1990er inWindsor/Kanada. Dort war derHandelsgewerkschaft in derCAW die Organisierung der Be-schäftigten bei WalMart gelun-gen.

Nach – auch in der Folgenoch – jahrelangen Auseinander-setzungen wurde die CAW ausdem Laden getrieben. Die US-Gewerkschaft UFCW (UnitedFood and Commercial Workers)kann Bände voll schreiben zuFällen gewerkschaftlicher Unter-drückung bei WalMart. So glie-derte WalMart im Jahr 2000 inArkansas die eigenen Metzgerei-en im gesamten Unternehmenaus, nur um die gewerkschaftliche Organisie-rung der Metzger zu verhindern. Seitdem ver-kauft WalMart in seinen SB-Warenhäusern nurnoch abgepackte Fleischwaren. Anfang 2005schloss der Konzern in Jonquiere/Kanada eineFiliale mit 190 Beschäftigten. Diese hatten sichin der UFCW organisiert. Die Ansiedlung vonWalMart-Filialen ruft immer wieder örtlicheProteste hervor. Träger dieser Proteste sindKleinhändler, die in der Konkurrenz mit Wal-Mart chancenlos sind, Umweltschützer wegender ökologischen Schäden der Großprojekte,Lokalpolitiker wegen der zerstörerischen Fol-gen für die Innenstadtkerne, Beschäftigte undGewerkschaftsmitglieder im ortsansässigenEinzelhandel, die gegen das von WalMartpraktizierte Lohndumping und »union ba-shing« – Zerschlagen der Gewerkschaft – kämp-fen. Zunehmend kommt es zu Allianzen gegenWalMart. Derzeit kämpft im BundesstaatMaryland eine solche Allianz für eine bessereKrankenversicherung der WalMart-Beschäftig-ten, mit guten Chancen auf ein entsprechendesVotum im Parlament. Landauf, landab gibt esimmer wieder Initiativen, damit den Beschäf-tigten die ganze geleistete Arbeitszeit bezahltwird. Bekannt wurden 2004 umfangreicheProzesse gegen die Diskriminierung von Frauen bei WalMart. Proteste, vor allem von 3. Welt-, Frauen- und Kirchen-Gruppen gegendie Arbeitsbedingungen bei WalMart-Lieferan-ten in sog. freien Produktionszonen allüberallin der Welt sind an der Tagesordnung.

Entscheidende, d.h. die Politik von Wal-Mart nachhaltig verändernde Erfolge konnten

bisher nirgendwo erzielt werden. Der Konzernsetzt auf Umsatz und Profit und ordnet diesenMaßstäben alles unter. Sein Image interessiertihn bisher nicht.

Lidl am Pranger

Vor einem Jahr, am 10. Dezember 2004, deminternationalen Tag der Menschenrechte, hatver.di den deutschen Lidl-Konzern (ca. 35 Mil-liarden Euro Umsatz in 2004) öffentlich anden Pranger gestellt (s. express 1/2005). Seit-dem vergeht keine Woche, in der nicht überfragwürdige, rechtswidrige oder unmoralischePraktiken dieses Konzerns berichtet wird.ver.di hat mit seinem »Schwarzbuch – Billigauf Kosten der Beschäftigten« in zahlreicheWespennester gestochen. Tausende Reaktionen– vor allem von Beschäftigten im Discount-Einzelhandel – bestätigten und ergänzten diemenschenfeindlichen Umgangsformen bei Lidlund seinen Konkurrenten. Innerhalb wenigerWochen war auch die 3. Auflage des Schwarz-buchs vergriffen.

ver.di fordert von Lidl tarifliche Vereinba-rungen zur Wahl von effektiv arbeitsfähigenBetriebsräten, Jugend- und Auszubildenden-vertretungen sowie Vertretungen der Schwer-behinderten. Durch deren Arbeit sollen zahl-reiche Missstände in den Lidl-Filialen behobenwerden, vor allem unbezahlte Arbeitszeiten,ungeregelte Arbeits-, Pausen- und Freizeiten,ungesetzliche Praktiken bei der Personalkon-trolle, Mobbing, Aufhebungsverträge u.ä.

Lidl auf den Spuren WalMarts

Bisher haben der Lidl-Eigen-tümer Dieter Schwarz und seine Manager jedes Gesprächmit ver.di verweigert, von Vereinbarungen ganz zuschweigen. Stattdessen handeltder nach außen bis zum Be-ginn der ver.di-Kampagne»schweigsame Riese« im In-nern. Dabei wütet er gegengewerkschaftliche Regungenin Filialen. Die Verhinderungvon Ansätzen für Betriebsrats-wahlen durch Gespräche,Druck, geringfügige Zuge-ständnisse und Versprechun-gen auf Besserung gehören da-bei zu den »humanen« Metho-den. Hausverbote für Gewerk-schaftssekretäre sind Standard.Und dennoch existiert auchbei Lidl ein »rebellischesPotential«. Dagegen setzen dieLidl-Herren ihre ganze Macht,verbunden mit zahlreichenfragwürdigen Tricks zur Um-gehung von gesetzlichen Rech-ten der Beschäftigten und zurBekämpfung bzw. Ausschal-tung von Betriebsräten.

Im fränkischen Forchheimbei Bamberg hatte die Filial-belegschaft einen aktiven Be-triebsrat gewählt. Um Vernet-

zungen mit anderen Filialen desselben Lidl-Unternehmens zu verhindern, wurde die Filialein einen Schnäppchenmarkt ohne Lebensmit-tel verwandelt und als einziger Betrieb in einneues Lidl-Unternehmen ausgegliedert. Die-sem Unternehmen verliehen die Oberen denFirmennamen »Schnapp’s GmbH & CoKG«mit Sitz bei Rostock!

Eine Lidl-Filiale in Bamberg, ebenfalls mitBetriebsrat, wurde aus dem vorherigen Unter-nehmen ausgegliedert. Mit diesen juristischenTricks soll die von diesen beiden Betriebsrätenbeabsichtigte Bildung eines Gesamtbetriebsra-tes verhindert werden.

In Calw/Nordschwarzwald schloss Lidlzum 30. September 2005 die Filiale, obwohlder Mietvertrag noch dreieinhalb Jahre weiter-gilt. Auch die 13 Beschäftigten dieser Filialehatten einen aktiven Betriebsrat gewählt. Undnoch etwas prädestinierte diese für eine Lidl-typische Sonderbehandlung. Sie hatten sich imJuni wie ihre Kolleginnen in Forchheim undBamberg an einem Warnstreik während derTarifrunde Einzelhandel beteiligt. Das schiennun doch ein Übermaß von Inanspruchnahmedemokratischer Rechte zu sein. Von Septemberbis November 2005 spielte sich ein Krimi ab.Umsatz und Kosten spielten für Lidl keineRolle. Die gewinnbringende Filiale wurde wi-derrechtlich ohne ordnungsgemäße Beteiligungdes Betriebsrates geschlossen. Auch eine einst-weilige Verfügung des Arbeitsgerichtes Pforz-heim mit der Androhung von 250 000 EuroOrdnungsgeld gegenüber Lidl blieb ohne Ein-druck. Die Lidl-Oberen ließen Ware abtrans-

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A2 express 11-12/2005

sigkeit in Zukunft erfolgen könnten. Ein de-taillierter Blick ist auf jeden Fall sinnvoll.

Zunächst ist es wichtig, zwischen demBoykottaufruf und dem Boykott selbst zuunterscheiden. Die rechtlichen Situationenunterscheiden sich bei den verschiedenenBoykottformen. Wie oben gesehen ist eineForm des Boykotts die Verweigerung. Diesekann legal oder illegal sein. Zum Beispielkönnen Kunden die Herausgabe persönli-cher Daten im Supermarkt (für Kundenkar-ten, Preisausschreiben) verweigern. Anderer-seits ist auch die Verweigerung verlangterHandlungen möglich, z.B. die Weigerung,Daten in nationalen Zensus-Erhebungenherauszugeben, oder die Verweigerung oderReduzierung von Steuern und Abgaben(Kürzung der Stromrechnung wegen Atom-strom etc.). In solchen Fällen ist der Boykottnicht legal, kann aber legitim sein. Ein Kon-sumboykott gehört zu den legalen Verweige-rungen; der Boykottierende kann nicht ge-zwungen werden, ein spezielles Produkt oderin einem bestimmten Laden einzukaufen.Dies bleibt in der Entscheidungsgewalt desKonsumenten (Konsumentensouveränität,Duffner et al. 1993, S. 15f.). Beispiele fürBoykottaufrufe und das Recht auf freie Mei-nungsäußerung:

a) »Lüth«-UrteilGrundlegend für die Bewertung der Legalitätvon Boykottaufrufen ist in Deutschland eineEntscheidung des Bundesverfassungsgerichtsvon 1958. Diesem Urteil liegt der Aufruf desMitglieds der Bremer Bürgerschaft, Lüth, zu-grunde, der den Boykott eines Films des Re-gisseurs Veit Harlan beabsichtigte. Harlanwar im Dritten Reich für antisemitische Pro-pagandafilme wie »Jud Süß« verantwortlich.Obwohl der aktuelle Film unpolitisch er-schien, rief Lüth zum Boykott auf, um aufHarlans frühere Rolle aufmerksam zu ma-chen. Das BverfG entschied, dass ein öffent-licher Boykottaufruf zulässig sein kann,wenn jemand aus ethischen Motiven gegenden Verkauf einer Ware oder deren Konsumankämpft, selbst wenn es dabei im Falle desErfolges zu einer wirtschaftlichen Schädi-gung oder zum Verlust von Arbeitsplätzenkommen sollte (Binkert 1981, Kreuzpointer1990).

In der letzten Zeit wurde häufiger die Fragediskutiert, inwieweit die Konsumenten Ein-fluss auf Unternehmensentscheidungen neh-men können und ob Boykotte ein Beitragzur Verteidigung von Sozialstandards undArbeitsplätzen sein können. Die Frage vonKonsumentenboykotten taucht regelmäßigim Zusammenhang mit Vorgängen wie de-nen um Lidl auf, ohne jedoch zu einer inten-siveren Debatte in Gewerkschaftskreisen ge-führt zu haben.

Diese seltsame Scheu Boykottaktionengegenüber ist erstaunlich, hängt möglicher-weise jedoch mit einem zu geringem Wissenüber ihre rechtlichen Rahmenbedingungen,d.h. der Angst vor Kriminalisierung zusam-men sowie mit der wenig ausgeprägten Vor-stellung, wie Boykotte als Kampfmittel inArbeits- und Sozialkonflikten eingesetzt wer-den können. Ein genauerer Blick auf dierechtliche Seite wie auch die Aufklärungüber verschiedene Boykottformen könntendie Diskussion voranbringen. Auf beide Ge-sichtspunkte soll im Folgenden genauer ein-gegangen werden, bevor ich abschließendeine Bewertung ihrer möglichen gewerk-schaftlichen Relevanz versuchen möchte.

I. Was ist ein Boykott?

Ein Boykott kann definiert werden als »sozia-le, wirtschaftliche oder politische Nicht-Zu-sammenarbeit«1 oder in Zusammenhang mitArbeit als eine »Weigerung mit einem Arbeit-geber zusammenzuarbeiten, wobei der Kaufvon Produkten, die Arbeit selbst oder beidesverweigert wird«2. Der Boykott ist eine Waffein sozialen Konflikten und ist bestimmt alseine dreiseitige Beziehung zwischen Boykott-Aufrufer, Boykottierenden und Boykott-Ob-jekt (Kreuzpointer 1980, S. 30). Das Ziel ei-nes Boykotts ist die Ausübung von Druck,um die boykottierte Seite zur Verhaltensän-derung oder zur Akzeptanz der Forderungender Boykott-Aufrufer zu zwingen.

Unter der Überschrift Boykott lässt sichzwischen vier verschiedenen Formen unter-scheiden: Streik, sozialer Boykott (sozialeÄchtung), Verweigerung und Konsumboy-kott (Rennerberg 2005, S. 225ff., Duffner etal. 1993, S. 7ff.).

Streik: Don’t work! Streiks sind selbstver-ständlich auch Boykotte. In einem Streiknutzen die Arbeiter ihre Macht auf dem (be-trieblichen) Arbeitsmarkt und verweigernden Verkauf ihrer Arbeitskraft. Dies unter-bricht die wirtschaftliche Beziehung zwi-schen Arbeitgeber und Beschäftigten.

Sozialer Boykott: Don’t talk! Dies meintdie Unterbrechung sozialer Kontakte zu ei-ner spezifischen Person oder Gruppe.

Verweigerung: Don’t do! Dabei wird dieErbringung bestimmter erwarteter oder ver-langter Leistungen verweigert, z.B. die Her-ausgabe persönlicher Daten oder die Zah-lung von Steuern und Gebühren.

Konsumboykott: Don’t buy! Hier werdenProdukte und Dienstleistungen nicht konsu-miert. Dabei lassen sich Kaufboykott undProduktboykott unterscheiden. Letzterer ist– unabhängig vom jeweiligen Verkäufer –gegen bestimmte Produkte gerichtet, z.B.Teppiche aus Kinderarbeit. Der Kaufboykottstellt ein bestimmtes Unternehmen in dasZentrum des Boykotts.

Im Allgemeinen kann man Boykotte in er-klärte und stille Boykotte teilen. Stille Boy-kotte entwickeln sich ohne formalen Aufrufaus sich selbst heraus; die Entscheidung zumBoykott hat der individuelle Konsument ineigener Verantwortlichkeit getroffen. Einstiller Boykott kann eine starke Eigendyna-mik entfalten (wie im Schlecker-Boykott)und ein Massenphänomen werden. ErklärteBoykotte werden von Gruppen oder Organi-sationen durch öffentlichen Aufruf initiiertund bedürfen i.A. eines größeren organisato-rischen Aufwandes.

II. Die rechtliche Zulässigkeitvon Boykotten

Bevor ich weiter in die Boykotthematik ein-steige, möchte ich auf die rechtlichen Rah-menbedingungen zu sprechen kommen, d.h.unter welchen Umständen sie legal sind, wiedie boykottierte Seite versucht, gegen sie vor-zugehen, und welche Angriffe auf ihre Zuläs-

portieren, montierten das Telefonab, die Schlösser und Schilder wur-den von Detektiven ausgewechselt,des Nachts wurden die Scheiben imLagerraum eingeschlagen. Die Obe-ren verbreiteten Märchen, wonachdie Filiale wegen Renovierung ge-schlossen bleibe, später hieß es dann»... zum 1. Oktober ‘05 stillgelegt...«. Von fehlendem Umsatz war dieRede, von der Unmöglichkeit, inCalw an anderer Stelle eine neue Fi-liale zu bauen und während derBauzeit die bisherige weiterzubetrei-ben.

Die Belegschaft erhielt ungeahn-te Unterstützung vor Ort von denKunden, Pfarrern, Politikern. Dieehemalige Justizministerin Däubler-Gmelin, der ehemalige IGM-Vizeund Arbeitsminister a.D. WalterRiester, der Krimi-Autor Felix Hubyintervenierten. Lidl musste akzeptie-ren, dass sich die Belegschaft seitdem 1. Oktober in einer Dauer-Be-triebsversammlung befand. Die Kos-ten für den Tagungsraum in einemHotel übernahm Lidl. Offensicht-lich waren keine Kosten und keinImageverlust zu groß, um die

Schließung der Filiale und damit dieAuflösung der Belegschaft und ihresBetriebsrates zu betreiben. Lidl woll-te wohl Zeichen setzen in den Spu-ren von WalMart.

Am 1. Dezember wurde in einerEinigungsstelle ein Interessenaus-gleich und Sozialplan abgeschlossen.Die Filiale bleibt zu, die Beschäftig-ten werden in nahegelegene Filialenmit sozialen Absicherungen versetztbzw. können aus dem Unternehmenmit Abfindung ausscheiden. Der Be-triebsrat bleibt noch bis zum 30.Juni 2006 im Amt. Lidl zahlte einenhohen Preis, um eine organisierteBelegschaft loszuwerden. Ein Ge-heimnis von ver.di BaWü bleibt es,warum es zumindest für die Lidl-Filialen in Baden-Württemberg keineinziges Flugblatt zum Konflikt inCalw gegeben hat.

In München wollte die Beleg-schaft der Filiale Berg-am-Laim imJuli 2005 einen Betriebsrat wählen.Ein Gebietsverkaufsleiter führtestundenlang Gespräche mit den Be-triebsratswilligen, die mehrheitlichnach und nach von ihrem Vorhabenabließen. Zum Schutze der Wahl

hatte ver.di dies öffentlich gemachtund Prominente als Paten gewon-nen. Selbst der Münchner Oberbür-germeister Ude, zahlreiche Künstlerund Prominente sowie eine großePresseöffentlichkeit konnten dieWahl nicht mehr ermöglichen. Trotzdieser Unterstützung von außenkündigte Lidl einer der Initiatorin-nen der BR-Wahl. Lidl begründeteöffentlich und schriftlich diese Kün-digung: »... Die Kündigung, die als›menschenverachtendes Vergehen‹dargestellt wurde, gründete einzigund allein auf der Tatsache, dass amTag nach der gescheiterten Wahl an-dere Kollegen von dieser Mitarbeite-rin auf das Gröbste beleidigt undunhaltbare Verleumdungen ausge-sprochen wurden. Eine weitere Zu-sammenarbeit im Sinne unsererGrundsätze von Fairness und gegen-seitigem Respekt aller Mitarbeiterwurde damit unmöglich und allenanderen Mitarbeitern in der Filialenicht mehr zumutbar ...«

Im ganzen Konzern nehmen dieKontrollen zu. Das Personal steht of-fensichtlich unter dem Generalver-dacht zu klauen. Im Dienstleistungs-

zentrum Geisenfeld, das zum Kon-zernunternehmen Kaufland Logistikgehört, wurde den eigenen Beschäf-tigten und denen der Leasingfirmenam 16. September 2005 die »Anwei-sung transparente Taschen« über-reicht. Danach »... dürfen ab Mon-tag, den 3. Oktober 2005 keine Ta-schen, Beutel, Rucksäcke, Handta-schen usw. mit auf das Gelände ...genommen werden. Damit Sie aberweiterhin Wechselkleidung undBrotzeit mitbringen können, werdenwir gegen Unterschrift an der Pfortevom 29. September 2005 bis 2. Ok-tober 2005 transparente Taschenausgeben, die innerhalb des Gelän-des verwendet werden dürfen. JedemMitarbeiter steht eine Tasche zu,welche von Kaufland gestellt wird(diese Ausgabe wird per Unter-schriftsliste festgehalten). Jeder wei-tere Bedarf an transparenten Taschenkann an der Pforte mit einem Betragvon Euro 0,50 erworben werden.Beim Verlassen des Geländes (Aus-gang Pforte) wird vom Wachpersonalfolgendes kontrolliert: Einsicht in dietransparente Tasche, Einsicht in ver-schlossene Behälter (Brotbox etc.) in

transparenten Taschen, Einsicht inden Inhalt der Jackentaschen... BeiVerstößen gegen diese Anweisungwird mit arbeitsrechtlichen Maßnah-men vorgegangen. Mit freundlichenGrüßen Thomas E. Wahl, Namensund im Auftrag des GeschäftsführersHerrn Friedrich«

Zahlreich sind Diffamierungenvon ver.di. Dem Personal scheintnicht zu trauen zu sein. Vielleichtwollen die sich doch irgendwo aus-kotzen, Rat holen gegen ungerechteBehandlungen, unbezahlte Arbeits-zeit u.ä. Aber auch da bietet Lidl ei-nen internen Ausweg: »Neu bei Lidl... gibt es den Mitarbeiter für Perso-nal und Soziales. Für alle Probleme,die Sie nicht mit ihrem Vorgesetztenklären können oder wollen, steht Ih-nen Herr Eppert ab sofort gern zurVerfügung. Dinge, die Sie bewegen,können jederzeit diskret in einemKlima des Vertrauens besprochenwerden, um gemeinsam Lösungswe-ge zu finden, die Ihnen das Arbeitenim Unternehmen erleichtern: Offen-heit schafft Vertrauen und hilft Pro-bleme zu lösen!« (aus einer Lidl-inter-nen »Mitarbeiter-Information Aug.

Über Kampagnenarbeit als neue Ar-beitskampfform wird auch in ver.di mitt-lerweile breiter diskutiert, nicht zuletztvor dem Hintergrund sinkender Mitglie-derzahlen und schwindenden gewerk-schaftlichen Einflusses. Ausdruck dessensind Pilotprojekte wie die – gescheiterte– Gesundheitskampagne, die laufendeLidl-Kampagne, deren Budget erst vorKurzem verlängert wurde, oder auchein neues Organizing-Projekt in Ham-burg, bei dem junge Aktivisten nach US-amerikanischem Vorbild als »Organi-zer/Campaigner« ausgebildet werdensollen, finanziert aus ver.di-Bundesmit-teln. Eine ausführliche Beschäftigungmit dieser Thematik fand auch im Rah-men der von etwa 80 TeilnehmerInnenüberwiegend aus dem Gewerkschafts-spektrum (ver.di, NGG, IG BAU, IGM)und von attac »querbeet« besuchten Ta-gung »Kampagnen – Eine Kampfformder Gewerkschaften und Sozialen Bewe-gungen« vom 25.–27. November inOberjosbach statt, zu der ver.di-Nord,Mannheim/Heidelberg, OrKa (Organi-sierung und Kampagnen), express undKdA-Baden eingeladen hatten. (Die Grü-nen-nahe Heinrich Böll Stiftung zog kurzvor Beginn der Tagung ihre Finanzie-rungszusage zurück!) Einem ausführli-chen Bericht über die Veranstaltung undden Zusammenhang von Kampagnenund Organisierung in der kommendenAusgabe des express schalten wir einenBeitrag von Wilfried Schwetz voran, dersich auf das Terrain des Boykotts alsneuer/alter Arbeitskampfform begibt.Der Beitrag schließt an den Artikel vonAnton Kobel (»Streik & Boykott«) in ex-press Nr. 2/2005 und den Bericht vonHeinrich Geiselberger (»Tomaten desZorns«) über die Voraussetzungen desSiegs der US-LandarbeiterInnen gegenTaco Bell in express Nr. 6–7/2005 anund präzisiert diese in Hinsicht auf dievielfach unbekannten rechtlichen Di-mensionen von Boykotten. Diese dürf-ten auch – neben der in Deutschlandproblematischen Geschichte des Boy-kotts jüdischer Geschäfte im National-sozialismus, auf die auf der Kampa-gnentagung auch hingewiesen wurde –ein Grund für die gewerkschaftlicheZurückhaltung gegenüber Boykottensein, während diese in den USA als not-wendiges Arbeitskampfmittel geradekleinerer, schwach organisierter Beleg-schaften (wieder-)entdeckt wurden.

Boykottiert, was Euch kaputt Kleine Boykottkunde von Wilfried Schwetz*,

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‘05«) Lidl-interne, unternehmensei-gene Vertrauensleute und Problem-löser statt Betriebsräte scheinen alsMittel geeignet!

Lidl und die Öffentlichkeit

Der öffentlichkeitsscheue Konzernhat unmittelbar im Zusammenhangmit dem ver.di-Schwarzbuch einePR-Agentur gemietet, die auf Ab-wehr-Kampagnen spezialisiert ist.Neben goodwill-Aktivitäten – hiermal eine Spende, dort mal eine Ko-operation – wurde auch größeresKaliber aufgefahren. So wurde eineaufwändige Fernsehwerbung ge-schaltet: »1 000 Superazubis« sollen»in diesem Jahr für Deutschland«gewonnen werden. Wenn man denLidl-internen Veröffentlichungenglaubt, sollen sich Tausende bewor-ben haben: »Allein in Lampertswal-de bewarben sich über 3 500 Ju-gendliche...«, und an gleicher Stellesteht zu lesen: »Unsere Gesellschafthat allein mit 30 Azubis in diesemJahr dazu beigetragen, dieses Ziel zu

verwirklichen.« 117 Bewerbungenauf eine offene Stelle! Kein sehr ori-gineller Reklamegag, um von Miss-ständen im Konzern abzulenken.Niemand kann kontrollieren, obdiese 1 000 Superazubis tatsächlicheingestellt wurden, und wenn ja, obes dann 1 000 zusätzlich waren. Undkein Wort darüber, dass der Konzernalles tut, um die Wahl von Jugend-und Auszubildendenvertretungengenauso zu verhindern wie die vonBetriebsräten und Vertretungen fürSchwerbehinderte.

Wenn die soften Gags zur Ima-geverbesserung nicht ausreichen,wird die Anzeigenmacht von Lidleingesetzt. Damit sollen wohl nichtnur Kunden gewonnen, sondernauch die regionalen Zeitungen ge-wogen gemacht werden. Auch dalangen die Lidl-Herren zu.

Der Fall einer Journalistin derBadischen Neuesten Nachrichten/Karlsruhe (BNN) bezeugt die vorde-mokratische Gutsherrenart der Lidl-Manager. Die Journalistin hatte ineinem Bericht über das Lidl-Lager inBietigheim bei Rastatt/Karlsruhe dieÜberschrift »Handarbeit bei bis zu

24 Grad minus« gewählt, damitleicht kritisch über die Arbeitsbedin-gungen im Lager berichtet und imText das ver.di-Schwarzbuch er-wähnt. Das war alles zuviel der Kri-tik. Die Lidl-Manager ließen dieGeschäftsführung der BNN nachNeckarsulm, dem Sitz des Konzernskommen. Die Chefredaktion legtWert auf die Feststellung, dass sieaus freien Stücken gereist sei. Ergeb-nis war die fristlose Kündigung derJournalistin. Der Fall erregte sovielAufsehen und die Kündigung warrechtlich so unhaltbar, dass die Kün-digung zurückgenommen wurdeund das ganze Wochen später miteiner Abmahnung für die Journalis-tin endete.

Auch dies kein Lehrbeispiel fürdie Achtung demokratischer Rechtedurch Lidl.

ver.di attackiert, undviele treffen Lidl

Nach der Veröffentlichung desSchwarzbuchs hat ver.di eine langge-zogene Kampagne gegen Lidl gestar-

tet. Vielerorts sind schon relevanteTeile von ver.di einbezogen. EinSchwergewicht liegt auf den Akti-vitäten vieler ver.di-Mitglieder in ih-rer Rolle als Kunden bei Lidl. Sieversuchen, den Lidl-BeschäftigtenMut zu machen für Betriebsratswah-len und gewerkschaftliche Organi-sierung. Bisher sind drei die Kampa-gne begleitende Schwarz-Markt-Zei-tungen erschienen. Zwei Lidl-Kun-denwochen, umfangreiche Pressear-beit, Filialbesuche trotz Hausverbo-ten, Prominente und Künstler, so-ziale Netzwerke und Zusammenar-beit mit Gruppen aus den NeuenSozialen Bewegungen wie attac ma-chen die Kampagne so richtig buntund schlecht berechenbar.

attac hat bundesweit seit dreiMonaten eine aktive eigene Kampa-gne gegen die Discounter im Einzel-handel mit dem Schwerpunkt Lidllaufen („Lidl ist nicht zu billigen!“,s. auch die Beilage in dieser Ausgabedes express). Die vielfältigen Protestevor Lidl-Filialen machen Lidl ner-vös, und sie zeigen Wirkung. Lidlsucht mittlerweile das Gespräch mitattac, Greenpeace u.a.: So gab es am

8. Dezember 2005 ein erstes Ge-spräch des Lidl-Chefs Gehrig, seinerKommunikationschefin Böttner undeines weiteren Managers mit Vertre-tern von attac, Bananafairs und demBauernverband, der Lidl seit Mona-ten wegen der Dumping-Milchprei-se angreift.

Die plötzliche Gesprächsbereit-schaft von Lidl, wenn auch (noch)nicht mit ver.di, hat Gründe. Lidlentwickelt sich nach Schlecker zumbundesweit anerkannten und ver-achteten geldgierigen und rechts-scheuen Buhmann. Ende 2004machte ihm schon die Verleihungdes Big Brother Award wegen seinesUmgangs mit Verkäuferinnen zuschaffen. Nun kam noch attac dazu.Gerade als sich Lidl entschlossenhatte, attac nicht mehr zu ignorie-ren, kam der nächste Treffer. Green-peace verlieh Lidl die Negativ-Aus-zeichnung, die am meisten vergiftetenLebensmittel im deutschen Einzel-handel zu verkaufen. Das war nundoch zu viel der Ehrung! Lidl schal-tete großflächige Anzeigen dagegen,in denen es seine von Greenpeacebesser bewerteten Konkurrenten mit

A express 11-12/2005 3

gesprochenen Leute kein Zwang, wie z.B.durch Blockaden oder wirtschaftlichenDruck, ausgeübt werden (Binkert 1981,Kreuzpointer 1990).

c) Boykottaufruf und ArbeitskampfFür Boykottaufrufe im Zusammenhang mitArbeitskonflikten ist die Frage wesentlich, obder Boykott in bestehende arbeitsvertraglicheBeziehungen eingreift oder nicht. Von dieserUnterscheidung hängt ab, welche rechtlichenRegelungen zur Anwendung kommen.

Das Arbeitskampfrecht gilt nur für Boy-kotte, in denen Beschäftigte zu Aktionenaufgerufen werden, die ihre arbeitsvertragli-chen Verpflichtungen verletzen würden, z.B.wenn eine Gewerkschaft andere Arbeiterdazu auffordert, die Geschäftspartner einerFirma, mit der die Gewerkschaft einen Kon-flikt hat, nicht zu bedienen. Häufig vorkom-mende Beispiele hierfür sind das Nicht-Lö-schen von Schiffen unter Billigflagge, um dieReeder zum Abschluss von Tarifverträgen zuzwingen. In diesen Fällen ist die Frage derLegalität eines Boykotts vor dem Hinter-grund des Arbeitskampfrechts zu beurteilen.

b) »Blinkfüer«-UrteilIn einem zweiten Fall von 1969 bestätigtedas BverfG, dass ein Boykottaufruf durchdas Grundrecht auf freie Meinungsäußerunggedeckt ist (Art. 5 Abs. 1Satz 1 GG). In diesemFall hatte der Eigentümerdes Springer-Verlages,Axel Springer, die Ham-burger Kiosk-Betreiberzum Boykott des linkenTV-Magazins »Blinkfüer«aufgerufen, weil diesesauch DDR-TV-Program-me abdruckte. Anderen-falls würde Springer dieBelieferung der Kioskemit seinen eigenen TV-Magazinen einstellen –was aufgrund der Domi-nanz dieser Zeitschriftenauf eine schwere wirt-schaftliche Schädigungder Kioskbetreiber hin-ausgelaufen wäre.

Das BverfG ent-schied, dass selbst in Fäl-len, in denen der Boykot-taufrufer in wirtschaftli-chen Beziehungen zumBoykottziel steht (hier:Wettbewerber), der Boy-kottaufruf durch Art. 5GG gedeckt sein könnte.Auch ein bestehendesMachtungleichgewichtallein würde kein Argu-ment gegen die Ein-schränkung der freien Meinungsäußerungliefern. Allerdings entwickelte das Gerichtdas Prinzip, dass die Durchsetzung des Boy-kotts mit grundrechtskonformen Mitteln er-folgen muss, d.h. sie muss auf intellektuellenArgumenten basieren, und der angesproche-ne Dritte muss stets die Gelegenheit zur frei-en Entscheidung behalten, dem Aufruf zufolgen oder nicht. Wegen der marktbeherr-schenden Stellung des Springer-Konzerns beiTV-Zeitungen und der damit einhergehen-den fehlenden »Wahlfreiheit« der Kioskbesit-zer wurde der Boykottaufruf vom Gerichtverworfen. Das bedeutet: Es darf auf die an-

Diese Boykottaktionen kann man aber auchals Solidaritätsstreiks bezeichnen (Geffken1979).

Sind Verpflichtungen aus dem Arbeits-vertrag nicht verletzt, folgt die Beurteilungder Legalität eines Boykottaufrufs den allge-meinen juristischen Grundsätzen. Das Rechtzur Ausübung eines Gewerbes schützt nichtvor Aufrufen an Dritte, auf das Zustande-kommen eines Vertrages (z.B. Kauf einerWare) zu verzichten. Grenzen sind lediglichin § 826 BGB (sittenwidrige Schädigung) zu

finden (Däubler 1987, S. 874,Kissel 2002, S. 885).

Innerhalb eines legalen ge-werkschaftlichen Aufrufs zumArbeitskampf stellt ein an dieKunden gerichteter Boykott-aufruf ein legitimes Mittel des Arbeitskampfes dar undbegründet keinen ungesetzli-chen Eingriff in einen Gewer-bebetrieb. 1976 hat dasBverfG Boykotte als traditio-nelles Arbeitskampfmittel an-erkannt. Speziell sind Boy-kottaufrufe immer dann legal,wenn auch der Aufruf zumArbeitskampf legal ist. Dieswurde vom Berliner Arbeits-gericht in zwei Urteilen 1965und 1989 bestätigt (hbv, Bin-kert 1981).

Ein neueres Urteil liegtvom Landgericht Düsseldorfüber einen Boykottaufruf ge-gen die Citibank vor. Das Ge-richt entschied, dass Boykott-aufrufe in Fällen von Tarif-flucht oder wenn sich ein Ar-beitgeber generell weigert, Ta-rifverträge abzuschließen,zulässig sind. Zusätzlich ver-wies es auf Art. 9 Abs. 3 GG(Rennerberg 2005, S. 231).

Damit ist die Legalität vonBoykottaufrufen im Zusammenhang mit Ar-beitskonflikten gesichert.

III. Kriterien für legale Konsumboykotte

In den letzten Jahren hat die deutsche Recht-sprechung verschiedene Vorbedingungenund Beschränkungen für die Rechtmäßigkeitvon Boykottaufrufen entwickelt. Wenn diefolgenden Kriterien erfüllt sind, sollten sielegal sein (Duffner et al. 1993, ARD-Ratge-ber Recht 1997) – was allerdings nicht heißt,

macht!Teil I

Geneigte Leserinnen und Leser,

ursprünglich sollte hier unser Redak-tions-Poll mit den Jahres-Hochs und -Tiefs stehen, doch zu einem Rückblickauf das vergangene Jahr kamen wirvor lauter Rückblicken noch nicht sorichtig: Auf S. 9–12 dieser Ausgabehaben wir Beiträge zur Broschüre fürHG Langs 70sten Geburtstag doku-mentiert, auf dass Ihr, zumindest alsVorgeschmack auf den Rest, an unse-rer kleinen »Gewerkschaftsgeschichtevon unten« und was sich aus ihr nochentwickeln mag, teilhaben könnt. Unddann ist da auch noch die zeitaufwän-dige Sache mit der vorausschauendenPlanung: In eigener Sache weisen wirauf unseren Spendenaufruf für das»Rentenprojekt« hin, bitten um Beach-tung und Unterstützung für diesesVorhaben (S. 20). Alles andere, womitwir uns zwischendurch beschäftigt ha-ben und was wir Euch zur Beachtungempfehlen wollen, steht ohnehin da-zwischen, davor und dahinter – in denVorspännen und Beiträgen dieserAusgabe. Der Poll wird nachgereicht,versprochen – bis dahin wünschen wirEuch entspannte Feiertage, anregen-de Lektüre und alles Gute für’s Neue,das – wie immer – nur besser werdenkann.

Erratum:Im Vorspann des Beitrags »Stärkergeworden« auf S. 7 der Nr. 10/2005muss es richtig »kampfunerfahrenen«statt »kampferfahrenen Beschäftig-ten« heißen.

Wir trauern um den express- und links-Autor

Aike Blechschmidt

21. September 1942 – 16. November 2005

Aike Blechschmidt war Professor an der FHFrankfurt/M., Fachbereich Wirtschaft undRecht. Immer noch und wieder lesenswertsein Buch: »Löhne, Preise und Gewinne1967–1973. Materialien zur Lohn-Preis-

Spirale und Inflation«, Lampertheim 1974

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ins schmutzige Boot zog: »DeutscheLebensmittelhändler kaufen in derRegel ihr Obst und Gemüse vonden gleichen Lieferanten/Erzeugernin Deutschland, Spanien, Italien,Holland, usw...« Gleichzeitig wolltees sich selber von den Problemenfreisprechen mit dem Hinweis: »An-erkannte, vereidigte Sachverständige,wie zum Beispiel: Labor Piorr/Neu-lussheim ... bestätigen in über 4 500Gutachten pro Jahr die Qualität vonObst und Gemüse bei Lidl...«. DieseBehauptung war ein Gau! Am 13.Dezember 2005 ließ Labor PiorrLidl diese Behauptung gerichtlichuntersagen und verlangt eine gleich-große Richtigstellung. Das wärenimmerhin 1–2 ganze Seiten.

Lidl boykottieren?

Allerorten finden Diskussionen überden Boykott von Lidl statt. VieleMenschen tun dies schon jetzt. Die

einen gehen schon immer nicht hin,andere verweigern seit demSchwarzbuch ihre Euros, anderekaufen bewusst wenig und gezieltbei Lidl, z.B. die wenig gewinn-trächtigen Sonderangebote, wiederandere machen nur kleine Umsätze,um die Gelegenheit zum Gesprächmit den VerkäuferInnen zu haben.Der Gau mit den vergifteten Le-bensmitteln und der Falschbehaup-tung wird den Boykott verstärken.Eine für Lidl verlustträchtige Aus-sicht zum Jahresende 2005. Undwas bringt das Jahr 2006? Wahr-scheinlich eine Internationalisierungdes Konflikts. Von WalMart kannnicht nur Lidl lernen, sondern auchdie alte soziale Bewegung Gewerk-schaft, und die Neuen Sozialen Be-wegungen sowieso. Letztere sind zurZeit in den USA und Kanada dieGegner, die WalMart am meisten zuschaffen machen.

R U B R I K4 express 11-12/2005

dass einzelne Rechtsauffassungen durch an-dere Gerichte oder höhere Instanzen nichtauch wieder verworfen werden können:● Keine rein wirtschaftlichen oder privatenMotive. Dies ist eine sehr wichtige Ein-schränkung, denn sie erfordert, dass derKonflikt von allgemeinem öffentlichen In-teresse sein und die Öffentlichkeit bewegenmuss. Die Initiatoren müssen aus ethischenMotiven handeln und nicht aus eigenemökonomischen Interesse.● Die Initiatoren müssen die angesproche-nen Personen überzeugen; jede Form vonDruck wie Blockaden oder die Ausnutzungmarktbeherrschender Positionen sind verbo-ten.● Ein Konflikt ist nicht mit anderen juristi-schen Mitteln lösbar, wie z.B. einer Klagebeim Arbeitsgericht oder einer Beschwerdebei Kontrollbehörden (Kreuzpointer 1980, S. 120ff.).● Es werden keine Empfehlungen für kon-kurrierende Produkte oder Firmen ausge-sprochen.● Der Boykott ist keine Strafaktion für ver-gangenes Verhalten, sondern ist auf die Zu-kunft gerichtet.● Die behaupteten Fakten müssen wahr sein.● Meinungsäußerungen sind erlaubt, Ver-unglimpfungen und Beleidigungen aber ver-boten.● Der Boykottierte muss für die Ungerech-tigkeit verantwortlich sein oder starken Ein-fluss auf sie haben (Duffner et al. 1993, S.68). In einer nicht-restriktiven Auslegungdieser Bedingung wären auch indirekte Boy-kotte erlaubt, z.B. wenn der Hauptabnehmereiner angegriffenen Firma boykottiert wird(wie im Taco Bell-Boykott).● Der Boykott muss verhältnismäßig sein;es gilt das Übermaßverbot. Dies gilt hin-sichtlich der Größe der angesprochenenGruppe und des Ausmaßes der boykottiertenProdukte oder Firmen, z.B. wenn zum Boy-kott aller angebotenen Produkte aufgerufenwird, obwohl nur eines in der Kritik steht.

IV. Widerstreitende Grundrechte

Neben dem Grundrecht auf freie Meinungs-äußerung existieren natürlich auch die Grundrechte der boykottierten Seite. Grund-sätzlich kann ein gegen eine Firma gerichte-ter Boykott als Eingriff in das individuelleRecht zur Ausübung eines Gewerbebetriebesgemäß § 823 BGB interpretiert werden. DasRecht zur Ausübung eines bestehenden undlaufenden Unternehmens ist geschützt durchArtikel 12 und 14 GG (Freiheit der Berufs-ausübung und Eigentumsschutz) und kannin Opposition zum Recht auf freie Mei-nungsäußerung stehen. Beide Rechte müssen

verhindern, könnten sich Staaten veranlasstsehen, Boykotte, d.h. insbesondere die Boy-kott-Aufrufer, zu kriminalisieren. Obwohldas MAI nicht zustande gekommen ist, wirdweiterhin versucht, seine Prinzipien in derWTO und in anderen bi- und multilateralenHandelsabkommen unterzubringen.

Ein weiterer interessanter Versuch, gegeneinen Boykott mit juristischen Mitteln vor-zugehen, fand im Rahmen des schon öfterangeführten Danone-Boykotts4 in Frank-reich statt. Im Jahre 2001 rief eine breite Ko-alition von NGOs, Gewerkschaften undProminenten einen Boykott gegen Danoneaus, da der Markeneigentümer Gervais-Da-none seine bereits beeindruckenden Gewin-ne durch Werksschließung und Entlassun-gen weiter zu steigern suchte.

Als Reaktion auf den Boykottaufruf star-tete Gervais-Danone eine breite juristischeKampagne gegen die Initiatoren und klagte

vor französischen Gerichten wegen Verlet-zung des Markennamens auf den Internet-seiten der Boykottinitiatoren. Danone be-stand auf seinem absoluten und unteilbarenRecht am Markennamen und beanspruchteeine finanzielle Entschädigung von über100 000 FF. Ein französisches Gericht be-stätigte Danones intellektuelles Eigentums-recht am Label. Als Ergebnis musste die an-gegriffene Website vom Netz genommenwerden. Mit diesem Vorgehen eröffnete Da-none letztendlich ein neues Konfliktfeld:Der Kampf um Arbeitsplätze verwandelte

daher vor dem Hintergrund des jeweiligenFalles gegeneinander abgewogen werden.

Versuche der angegriffenen Firmen, ei-nen Boykottaufruf als unzulässigen Eingriffin die Ausübung eines Gewerbebetriebes un-tersagen zu lassen, schlagen üblicherweisefehl. Deshalb wird meist versucht, die ange-führten Fakten als unwahr oder verleumde-risch anzugreifen. Dies verdeutlicht dieWichtigkeit umfassender und intensiver Re-cherche im Vorfeld einer Boykottaktion.Außerdem bedarf es einer stringenten Argu-mentation.

Ebenso kann die Gegenseite behaupten,der Boykott sei an die falsche Adresse gerich-tet – in Fällen von Arbeitskonflikten aller-dings eine wenig überzeugende Argumenta-tion. In Fällen von indirekten Boykottenlässt dies Raum für Interpretationen, z.B. beiBoykotten gegen Firmen wegen Verletzun-gen von Arbeitsrechtsnormen bei ihren Zu-lieferern.

Eine mögliche (zukünftige) juristischeGegenmaßnahme könnte die Behaup-tung darstellen, der Boykott würde zurwirtschaftlichen Zerstörung des Unter-nehmens beitragen. Multis könnten die-ses Argument in Bezug auf ihre formalselbständigen Tochterfirmen oder Fran-chise-Partner vorbringen (Übermaßver-bot). Andererseits ist ein solches Argu-ment in einer Wettbewerbsgesellschaftnicht wirklich überzeugend.

V. Gefährdungen durchWelthandelsabkommen

Grundsätzlich birgt die Notwendigkeitder Abwägung zwischen widerstreitendenRechten eine potentielle Gefahr. Wenndas Eigentumsrecht prioritär wird, kannes passieren, dass das Recht auf freie Mei-nungsäußerung ihm gegenüber zurück-treten muss. Dies ist eine sehr reale Be-drohung, denn wir befinden uns in ei-nem Prozess, der das Eigentumsrecht indas absolut vorrangige Grundrecht ver-wandelt. Internationale Investitionsab-kommen oder WTO-Regelungen wärengeeignete Orte, dies zu kodifizieren. Ent-sprechende Versuche waren bereits im (fehl-geschlagenen) Multinational Agreement onInvestment (MAI) der OECD gestartet wor-den.3 Zentrales Ziel des MAI war, Investorenvor Zwisten (engl. strife) jeglicher Art zuschützen, die ihre Geschäfte stören könnten.Die Regelungen waren so vage, dass auchBoykotte darunter gefallen wären, was denInvestoren die Möglichkeit eröffnet hätte,vor einem Streitschlichtungsorgan die »Not-wendigkeit« des Boykotts zu erörtern undauf Grundlage des Urteils finanzielle Kom-pensation zu verlangen. Um solche Fälle zu

sich in einen Kampf um das Recht auf freieMeinungsäußerung.

Daher könnte der Schutz intellektuellerEigentumsrechte Firmen ein Werkzeug indie Hand geben, Kritik zu unterdrücken undBoykottkampagnen zu zerstören. In dieserBeziehung muss in Zukunft ein speziellesAugenmerk auf die TRIPS-Verhandlungenim Rahmen der WTO gelegt werden.

VI. Boykott-Typologie

Bevor man sich überlegt, Boykotte in (Ar-beits-)Konflikten zu nutzen, sollte man sichdringend über die verschiedenen Formen vonBoykotten klar werden. Jede Form unter-scheidet sich hinsichtlich Ziel, Mittel, Strate-gie und organisatorischem Aufwand, oderbesser: Das Ziel und die jeweiligen äußerenUmstände sollten die Wahl des Boykott-Typs

beeinflussen. Eine de-taillierte Boykott-Ty-pologie zu der folgen-den Kurzübersicht fin-det sich in der Boy-kottbroschüre vonDuffner et al.:

Was ist das Ziel –Veränderung oderAbschaffung?Der Abschaffungsboy-kott richtet sich aufdie komplette Ab-schaffung eines Pro-dukts, z.B. Gen-Food;es geht nicht um dieVerbesserung der je-weiligen Produktions-bedingungen. Boykot-te, die auf Verände-rung zielen, suchenmeist das Produktoder die Art seinerProduktion zu verän-dern. In Arbeitskon-flikten zielen Boykot-te üblicherweise aufVeränderung.

Wer boykottiert – die Betroffenen odereine unterstützende Gruppe?Die Beziehung zwischen den Boykotteurenund dem zu Grunde liegenden Problem istsehr wichtig für die Wahl der Strategie undfür die Erfolgsaussichten. Es können die be-troffenen Personen selbst zum Boykott grei-fen, oder es kann sich um eine Solidaritäts-aktion handeln. Im ersten Fall müssen dieBetroffenen bei Konsumboykotten selbstüber eine relevante Marktmacht verfügen,meistens erfolgen solche Boykotte als Ver-weigerungen jeglicher Art, z.B. die Univer-

Mit dem Versuch, das Liebesleben sei-ner Mitarbeiter zu regulieren, ist derHandelskonzern WalMart im No-vember 2005 vor dem Landesarbeits-gericht Düsseldorf gescheitert. Derentsprechende Passus in der so ge-nannten »Ethik-Richtlinie« des Un-ternehmens verstößt laut Gericht ge-gen das Grundgesetz. Weitere Bestim-mungen, z.B. über die Annahme vonGeschenken, »unangemessenes Ver-halten« sowie eine Denunzianten-Hotline zum anonymen Anschwärzenvon Kollegen, müssen mit dem Ge-samtbetriebsrat abgestimmt werden.

Die »Ethik-Richtlinie« hat dasUS-Unternehmen Anfang des Jahresauch auf seine rund 12 500 Mitarbei-ter in Deutschland ausgedehnt. Darin

wird u.a. verboten, mit Kollegen zumAbendessen auszugehen oder gar eineLiebesbeziehung zu beginnen, wenneiner der Beteiligten den Arbeitsplatzdes anderen »beeinflussen« kann.WalMart will damit in erster LinieBeziehungen zwischen Vorgesetztenund Untergebenen im Auge gehabthaben. Das Gericht zeigte sich davonjedoch unbeeindruckt: »Dies greifttief in die Persönlichkeitsrechte einund verstößt gegen §§ 1 und 2 desGrundgesetzes«.

Die Grenzen der anderen in der»Ethik-Richtlinie« enthaltenen Be-stimmungen müssen laut Urteil, wievon der Arbeitnehmervertretung ge-fordert, in Abstimmung mit demGesamtbetriebsrat festgelegt werden.

Das gilt z.B. für die neue Denunzi-anten-Hotline: Das Unternehmenhatte seine Mitarbeiter darauf ver-pflichten (!) wollen, beobachtete,aber auch bloß vermutete (!) Ver-stöße von Kollegen anonym (!) übereine Telefon-Hotline anzuzeigen.

Der Gesamtbetriebsrat war mitseiner Klage gegen die »Ethik-Richt-linie« zuvor bereits in erster Instanzerfolgreich gewesen. Gegen die aktu-elle Entscheidung des Landesarbeits-gerichts wurde eine Beschwerdebeim Bundesarbeitsgericht zugelas-sen. WalMart will den Gerichtsbe-schluss jedoch zuvor genau prüfen.

A.S.

Weitere Informationen rund um dasLeben und Überleben im Krieg derEinzelhandelsgiganten im demnächsterscheinenden Newsletter des »Ex-Chains-Projekts«, hrsg. von: tie bil-dungswerk e.V. Download unter: www.exchains.verdi.de

No Go Area!WalMart will Privatleben verbieten

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W

sität zu besuchen (Studierendenstreiks) –eine häufige Boykottform im Kampf gegenDiktaturen.

Solidaritätsboykotte werden von nicht di-rekt Betroffenen zur Unterstützung durchge-führt. Solidaritätsboykotte können durchauszu Konflikten mit den Betroffenen führen,wenn sie nicht mit ihnen abgesprochen sind,und sind über längere Zeit schwieriger auf-recht zu erhalten.

Wie wird boykottiert – direkt oder indirekt?Ein direkter Boykott ist unmittelbar ver-knüpft mit dem kritisierten Produkt, einerFirma oder Institution. Ein solcher direkterBoykott ist nicht immer möglich, angemes-sen oder erfolgversprechend, z.B. in Fällenvon hochgradig verwobenen internationalenFirmen oder wenn zu boykottierende Pro-dukte nicht auf dem Markt sind. So existiertbspw. kein Markt für Landminen. Ein indi-rekter Boykott ist daher oft eine erfolgver-sprechende Alternative, wobei auf ein ande-res Produkt derselben Firma oder auf eineandere Firma/Institution gezielt wird, diemit der angegriffenen Firma verbunden ist.Der Taco Bell-Boykott (s. express, Nr. 6-7/2005) wie auch die Gucchi-Kampagne (s. express, Nr. 4/2003) sind Beispiele fürdiese Strategie.

Wie stark wird boykottiert – selektiv oder total?Bei einem totalen Boykott werden alle Pro-dukte einer Firma in der Erwartung ange-gangen, (nur) dadurch einen relevanten wirt-schaftlichen Schaden verursachen zu können.

Selektive Boykotte können hinsichtlichProdukten oder Firmen eine Auswahl vor-nehmen. Welche der beiden Arten sinnvollerist, hängt von den konkreten Umständen ab.Selektive Boykotte bieten die Möglichkeit zueiner eskalierenden Strategie. Sie sind ten-denziell erfolgreicher, da Produkte von hohersymbolischer oder wirtschaftlicher Bedeu-tung boykottiert werden können und/oderfür die Alternativen leicht verfügbar sind.Außerdem können sie helfen, das wirtschaft-liche Beziehungsgeflecht der Firmen zu tei-len, indem z.B. Geschäftspartner Nachteilebefürchten, wenn sie weiterhin Geschäftemit der boykottierten Firma machen.

Wichtig ist ebenso, dass mit einem selek-tiven Boykott die Propagierung einer »Ver-zichtsethik« vermieden werden kann – etwas,was die meisten Leute nicht oder nur fürkurze Zeit zu unterstützen pflegen. In ihrerMehrzahl wollen die Menschen auf be-stimmte Produkte oder Dienstleistungennicht völlig oder für immer verzichten, kön-nen aber vielleicht dazu veranlasst werden,auf solche mit besseren (Sozial-, Umwelt-)Standards auszuweichen.

Wie ist die Boykottorientierung – instrumentell oder expressiv?Eine erfolgreiche Boykottkampagne bedarfhoher organisatorischer Vorbereitung undBegleitung. Deshalb müssen sich die Organi-satoren selbstkritisch fragen, ob sie die dazunotwendigen Mittel haben, d.h. ob manwirklich ein konkretes Ziel erreichen willoder ob die Boykotterklärung bereits derEndpunkt der Aktion sein soll. Letztereskann man als expressiven Boykott bezeich-nen, da mittels Boykottaufruf auf ein Pro-blem aufmerksam gemacht wird und dieserbewusstseinsbildend wirken soll. Solche Boy-kotte sind eher auf der symbolischen Ebeneangesiedelt.

Ein instrumenteller Boykott ist auf einbestimmtes Problem gerichtet, und die In-itiatoren haben ein konkretes Ziel vor Au-gen, etwa, in Verhandlungen mit dem Kon-fliktgegner zu treten. Die Boykottkampagnehat den Zweck, durch Druckaufbau ein be-stehendes Machtungleichgewicht auszuglei-chen. Erst wenn annähernd ein Macht-gleichgewicht hergestellt ist, werden Ver-handlungen mit dem Ziel aufgenommen, soviele Forderungen wie möglich durchzuset-zen. Am Ende der Kampagne kann man zu-meist eine konkrete Bewertung der Erfolgevornehmen.

Welche Strategie wird verfolgt – eskalierend oder nicht-eskalierend?In Fällen nicht-eskalierender Boykotte wer-den alle möglichen Aktionen gleich zu Be-ginn eingesetzt. Wenn der erste Aufruf fehl-schlägt, hat man nichts mehr nachzulegen.

Eine eskalierende Strategie gibt die Mög-lichkeit zur spezifischen Ausweitung derboykottierten Produkte oder Firmen. Außer-dem können Begleitaktionen wie Demon-strationen, öffentliche Diskussionen, Solida-ritätsveranstaltungen etc. durchgeführt wer-den. Besonders während des Verhandlungs-prozesses kann es hilfreich sein, noch etwasin der Hinterhand zu haben.

Der zweite Teil folgt im nächsten express.

* Wilfried Schwetz, Diplom-Sozialwirt, lebt in Hanno-ver, betreibt Unternehmensforschung und engagiert sich inder globalisierungskritischen Bewegung sowie im Aufbautransnationaler Kampagnen.

Anmerkungen:1) The Albert Einstein Institution. 427 Newbury Street,

Boston, MA 02115, USA <www.fiu.edu/~fcf/glossary.html>

2) American Labour Studies Centre, New York,<www.labor-studies.org/glossary.htm>

3) Public Citizen (1998), MAI Proposals and Propositi-ons: An Analysis of the April 1998 Text; prepared byMichelle Sforza, Research Director, Public Citizen’sGlobal Trade Watch, <www.citizen.org/trade/issues/mai/articles.cfm?ID=7415>

4) <www.heise.de/tp/r4/artikel/7/7607/1.html>

Am 25. Juni 2005 fand in Berlin dievon der Stiftung »Menschenwürde undArbeitswelt« (und u.a. dem express)unterstützte Tagung »Arbeitsdienst –wieder salonfähig« statt. An der Ta-gung nahmen, bei heute verlockenderscheinenden 40 Grad im Schatten,38 TeilnehmerInnen aus zehn verschie-denen Städten der Republik teil. AchtReferentInnen untersuchten aus so-zial- und arbeitswissenschaftlicher, po-litökonomischer, historischer und juris-tischer Sicht die Frage, ob es legitimist, die Entwicklung der Arbeitsgele-genheiten zur Mehraufwandsentschä-digung mit den Formen des Arbeits-dienstes in der Weimarer Republikund dem Nationalsozialismus zu ver-gleichen bzw. welche gesellschaftli-chen Entwicklungslinien und Ähnlich-keiten das gegenwärtige Phänomender »1-Euro-Jobs« hinsichtlich der his-torischen Vorläufer der Arbeitsver-pflichtung aufweist. Wir verweisen indiesem Zusammenhang auf den Bei-trag von Frank Uwe Betz zur Sozialpo-litik im NS in dieser Ausgabe sowie aufdie Dokumentation der Arbeitsdienst-tagung (s.u. Bestellhinweis).

1. Zum Dienste an der Gemeinschaftverpflichtet zu sein, die Leistungen

zum Lebensunterhalt gewährt oder auchnicht, hat eine lange Tradition. Sie reicht bisin das 17. Jahrhundert zurück. Damals wur-de z.B. Bettlern und anderen Nichtsesshaf-ten mittels drakonischer, z.T. lebensbedrohli-cher Zwangsmethoden das Arbeiten beige-bracht, um ihnen das unstete Leben abzuge-wöhnen und sie in die Gemeinschaft zu ›in-tegrieren‹. Noch heute ist die Auffassung,dass Erwerbslose schuld an ihrer Lage seienund Dienste für die »Gemeinschaft« leistenmüssten, fest im Alltagsbewusstsein veran-kert. Diese häufig völlig unhinterfragte Ver-pflichtung zur Arbeit zieht sich als roter Fa-den durch die Sozialgesetzgebungen seit1920, wenngleich sie in verschiedenem Ge-wande erscheint. Doch damals wie heute

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Für den Fall, dass kurz vorknapp noch Weihnachtsge-schenke fehlen sollten, hat dieRedaktion noch einen Tipp: Tau-frisch erschienen ist das»Schwarzbuch Hartz IV«, indem die AktivistInnen von»Agenturschluss«, einer auf derKonferenz »Die Kosten rebellie-ren« 2004 entstandenen Initia-tive zur peniblen Überwachungder Vorgänge in den »Arbeits-agenturen« und Koordinationvon Protesten gegen Hartz IV-Maßnahmen, ihr Fazit ziehen.Was hat sich entwickelt – einJahr nach der Auftaktveran-staltung von »Agenturschluss«,dem zentralen Aktionstag vor

den Arbeitsämtern am 3. Janu-ar 2005? Wir dokumentierenaus dem Editorial.

➤ Auf einer Konferenz im Januar2010 zum 5. Jahrestag von Agentur-schluss wird im besetzten Jobcenter»Paul Lafargue« in Jüterbog eine lan-desweite Kampagne unter dem Mot-to »Dreimal, und es gibt Ärger« ge-gen übereifrige SachbearbeiterInnenvorgeschlagen. JedeR FallmanagerIn,die permanent wegen Schikanen ge-gen AntragstellerInnen auffällt, solltezwei schriftliche Verwarnungen er-halten. Werden diese nicht beachtet,wird ein Foto der Person als Plakat

gedruckt, auf dem steht, was sie ge-tan hat; das wird dann in der Ge-gend plakatiert. Gelsenkirchner Ak-tivistInnen schlugen eine andereStrategie vor: Wenn eine Sanktionverhängt wurde, sollte eine Telefon-kette von AntragstellerInnen akti-viert werden, die dann zum JobCen-ter kommen und es besetzen, bis dieAmtsleitung die Sanktion zurück-nimmt. ➤ Die Prüfdienste vom Arbeitsamtwerden seit Januar 2006 regelmäßigvon freundlichen Nachbarn mit ei-ner Kissenschlacht empfangen.Zahnbürsten regnen auf die Sozial-schnüffler herab, im Ehebett tum-meln sich die Bedarfsgemeinschaf-ten. Zwangsumzüge scheitern, weilder Möbelwagen nicht kommt, dennviele FreundInnen blockieren dieZufahrt. ➤ Die 1-Euro-JobberInnen der Ca-ritas haben in allen Diözesen (bis aufFulda) bezahlte Gottesdienstbesucheund zahlreiche Gebets- und Früh-

stückspausen in der Dienstzeitdurchgesetzt, die besonders gern vonAtheisten und Protestanten weit wegvon der Kirche wahrgenommen wer-den. Die 1-Euro-JobberInnen derevangelischen Straffälligenhilfe Wi-chernhaus e.V., die in der Grünanla-gensäuberung in Wuppertal tätigsind, fordern für ihre Arbeit schnel-lere Minibagger, die sie zur Schwarz-arbeit, aber auch zu Aktionen derKampagne »Agenturschluss« nutzenkönnen. Die 1-Euro-Köchinnen derWaldorfschulen protestieren seitWochen im Eurythmieschritt, zitie-ren unentwegt Rudolf Steiner undservieren für das Lehrerkollegiumnur noch ungenießbare Rumford-Suppen.1

➤ ver.di erkennt bereits 2009, dassdie mittlerweile zwei Millionen 1-Euro-JobberInnen eine Gefahr fürdie regulär Beschäftigten des öffent-lichen Dienstes darstellen. Nach der2006 verlorenen Kampagne »Rettetdie Müllabfuhr« hatten Caritas und

Diakonie freundlicherweise dieMüllabfuhr übernommen und kur-zerhand 1-Euro-JobberInnen für die-se gemeinnützigen und zusätzlichenArbeiten »eingestellt«. ver.di möchtedeswegen auch bei der neuen Wohl-fahrts-Müllabfuhr die Mitglieder-werbung starten und Betriebsräte so-wie Lohnfortzahlung im Krankheits-fall durchsetzen.

ir wissen nicht, ob unsereWünsche die nächsten Jahre so

oder anders in Erfüllung gehen. Aberwir wissen, dass der Widerstand ge-gen Hartz IV in all seinen Formenund an allen Orten davon lebt, dasswir uns weiter einmischen, Partei er-greifen und die eigenen Interessenwirkungsvoll vertreten lernen.

Als wir am 3. Januar 2005 in vie-len Städten die Arbeitsämter bela-gerten und zu besetzen versuchten,war es vollkommen unklar, ob sichnach den Montagsdemonstrationenund den Massendemonstrationen

geht es um die Verwertung des Wertes derWare Arbeitskraft zur Erlangung von Profitvon Kapitaleignern und Konzernen. DieVerpflichtung zur Arbeit ist mehr als ein of-fensichtlicher Ausdruck für die gewandeltenKräfteverhältnisse, die man spätestens nachdem Untergang der »sozialistischen« Staatenkonstatieren kann. Das deutsche Kapitalnimmt aktiv am Kampf um eine Neuauftei-lung der Welt hinsichtlich Ressourcen undEinflussgebieten teil. Lediglich eine Erschei-nungsform dessen ist die AufrüstungDeutschlands und seine Teilnahme an Krie-gen innerhalb des NATO-Arrangements.Andere Erscheinungsformen sind die Mobi-lisierung gigantischer neuer Arbeitskraft-armeen im Ausland und die verstärkte Aus-beutung der inländischen Erwerbsfähigendurch massive Lohnabsenkungen und Ent-wertungen der Arbeitskraft. Ein Aspekt die-ses Prozesses ist die politisch legitimierteAusweitung von Billigarbeit und unbezahlterqualifizierter Arbeit in »1-Euro-Jobs.«

2. Mit der Abschaffung des Bundesso-zialhilfegesetzes (BSHG) schiebt sich

die Verpflichtung der LeistungsbezieherIn-nen zu »aktiven Leistungen« zwecks Einglie-derung in Arbeit vor den bisherigen Rechts-anspruch auf Leistungen zur Führung einesmenschenwürdigen Lebens. Speziell im Sozi-algesetzbuch II ist damit quasi der Rechtsan-spruch auf die Führung eines menschenwür-digen Lebens abgeschafft, obgleich die Sozi-algesetzbücher lt. Paragraf 1 SGB I dazu bei-tragen sollen, ein menschenwürdiges Daseinzu sichern. Durch das Sozialgesetzbuch IImit der Grundsicherung für Arbeitssuchendewird ein neuer juristischer Kontext gesetzt,der »Leistung gegen Gegenleistung« nachdem Workfareprinzip abfordert. Diese Ent-wicklung wurde mit den Experimenten zur»Arbeit statt Sozialhilfe« seit 1998 im Rah-men des BSHG vorbereitet und eingeleitet.Sie ist Teil einer Sozialstaatsentwicklung, diein wachsendem Maße auf Disziplinierungsetzt und die Repression kontinuierlich ver-schärft. Sie vereint Formen der Disziplinie-rung von Erwerbslosen und einer verstärktendirekten Verwertung der Arbeitskraft Er-werbsloser. Die Vorstellung, unter Bezug-nahme auf das Grundgesetz gegen diese For-

Arbeitsdienst republikfähigThesenpapier von Anne Allex & Harald Rein

»Agenturschluss« – bilanziert

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des Jahres 2004 auch nach der Ein-führung von Hartz IV ein Protest-netzwerk entwickelt, das sich gegendie Zumutungen von Hartz IVwirksam wehren kann. Auch wennviele von uns den mäßigen Erfolgbei den Mobilisierungen am 3. Ja-nuar beklagen, schätzen wir »Agen-turschluss« als Versuch, auf dem Fel-de der sozialen Auseinandersetzungwieder eine explizit linke Alternativezu entwickeln. Wir wollen anknüp-fen an die widerständigen Traditio-nen der Schwarze Katze- und Er-werbslosengruppen der 80iger Jahrein der BRD2, und lassen uns inspi-rieren von den Kämpfen der US-amerikanischen Erwerbslosenbewe-gungen in den 30er und 60er Jah-ren.3

Wir schrieben vor einem Jahr imAufruf »Wir wollen die Nötigungund Beschneidung unseres Lebensanhalten und einen Raum schaffenfür den Ausdruck unserer Ängste,unserer Wut und unserer eigenen

Vorstellungen von einem würdigenLeben. Ob wir mit den jetzt stattfin-denden Demonstrationen, Kundge-bungen und Aktionen die notwen-dige gesellschaftliche Kraft entfal-ten, damit die Regierung die»Hartz-Gesetze« zurücknimmt, wis-sen wir nicht. Unsere Wut und un-sere Phantasie sind aber noch langenicht aufgebraucht. Selbst wenn die»Hartz-Gesetze« Alltag werden, wirdder soziale Protest und Widerstanddagegen nicht zu Ende sein. Es sindschon andere Gesetze wieder ge-kippt worden. Weisen wir das gesell-schaftliche Elend, das uns jetzt ver-sprochen wird, zurück (...) VieleMenschen begreifen, dass der An-griff auf uns und unsere Bedürfnissegleichermaßen für Erwerbslose wiefür Lohnarbeitende gilt. Für diejeni-gen, die lohnarbeiten, als Erpres-sung zu Mehrarbeit und Lohnver-zicht. Für diejenigen, die erwerbslossind, als Leistungskürzung undZwang in Billigjobs. Immer mehr

Aufwendungen für Renten- undKrankenversicherung kommen füralle dazu. Dass ausgerechnet diegroßen Sozialverbände wie Caritas,Diakonie oder AWO von der Ein-führung des nur symbolisch ent-lohnten Pflichtdienstes für »Arbeits-losengeld-II-BezieherInnen« profi-tieren wollen, macht sie zu klarenGegnern im Widerstand gegen die»Hartz-Gesetze«. Im gemeinsamund gleichzeitig erlebten Alltag derBedrohung mit Arbeit und Arbeits-losigkeit gibt es keinen Unterschiedmehr zwischen Erwerbstätigen undErwerbslosen. Darin liegt aber auchdie Möglichkeit, im Protest undWiderstand, nicht nur gegen die»Hartz-Gesetze«, zusammen zukommen.«4

Agenturschluss ist auch heutenoch eine Initiative von sozialpoli-tisch engagierten Gruppen aus meh-reren Städten. Sie entstand 2004 aufdem Kongress »Die Kosten rebellie-ren – Internationale Versammlung

zu Prekarisierung und Migration«und wurde auf einem bundesweitenTreffen Anfang August 2004 konkre-tisiert. Als ebenfalls im August 2004urplötzlich in vielen Städten Ost-deutschlands Montagsdemonstratio-nen entstanden, wurde es richtig in-teressant. Nicht nur wir waren sehrgespannt, ob die Einführung vonHartz IV problemlos und ohne Wi-derspruch gelingt. Auch nach dem 3.Januar 2005 haben wir weiterge-macht, im Bewusstsein, dass jetzt dieAuseinandersetzungen um Hartz IVerst anfangen und dass wir einen lan-gen Atem brauchen.

Unser erstes Projekt nach dem 3.Januar 2005 war daher der Beginneiner umfassenden Untersuchungs-arbeit. Für unsere weiteren politi-schen Interventionen in den Äm-tern, auf den Straßen, an den 1-Euro-Einsatzstellen und vor denPrivathäusern von unverschämtenAmtsleitern benötigen wir Informa-tionen. Zusammen mit Labournet,

der BAG-SHI und Tacheles e.Ventwickelten wir eine Umfrage zuden Auswirkungen von Hartz IVund zu den 1-Euro-Jobs, die seitMärz 2005 im Internet online war,die aber auch in gedruckter Formüberall von Erwerbslosengruppenund MontagsdemonstrantInneneingesetzt wurde. Wir woll(t)en al-les wissen: Wer schikaniert die Er-werbslosen, wie werden Zwangsum-züge durchgesetzt, welche Einrich-tungen holen sich die billigen 1-Euro-JobberInnen, in welcher Stadtarbeiten schon die Prüfdienste? DieUmfrage hatte verschiedene Funk-tionen. Neben dem Informations-gewinn für die Erwerbslosengrup-pen konnten sich die Betroffenenanonym zu Wort melden. Und dieBeschäftigten der Arbeitsämter unddie Verantwortlichen für die HartzIV-Umsetzung durften sich kon-trolliert fühlen, was auf deutschenAmtsstuben nicht selbstverständ-lich ist.

R U B R I K6 express 11-12/2005

men des Arbeitszwanges klagen zu können,scheiterten bisher an dem juristischen Postu-lat, dass der Artikel 12 (Zwangsarbeit) nurauf jene Zustände während des Nationalso-zialismus zugeschnitten sei, in denen eineVerweigerung der Zwangsarbeit zu direktemSchaden an Leib und Leben führte. Die Ver-fassung des nach bürgerlichen Normenfunktionierenden Staates schützt demnachweite Teile der Bevölkerung nicht vor Un-freiheit und erweist sich als breit auslegbar.

3. Trotz einer scheinbar gänzlich andersgelagerten politischen Gemengelage

in der Weimarer Republik und im National-sozialismus treten gegenwärtig Phänomeneim Rahmen der Arbeitsmarkt- und Sozialpo-litik in Erscheinung, die Ähnlichkeiten mitdem Freiwilligen Arbeitsdienst (z.B. Mobili-sierung, Sanktionierung, Arbeitszwang fürJugendliche) und dem Reichsarbeitsdienst(zugewiesene Arbeit zur Erlangung von So-zialleistungen bei gleichzeitiger Unterstel-lung, Weisungsabhängigkeit, Residenz-pflicht, strenger Aufsicht und Kontrolle derArbeit) und den sie begleitenden Formenwie Arbeitsverpflichtung, Notstandsarbeitu.a. aufweisen. Dies betrifft weniger offizielleParameter wie die Höhe der registrierten Er-werbslosigkeit oder den quantitativen Um-fang der von den Formen des damaligen Ar-

staat entwickelt eine neue Qualität des Ar-beitszwangs, der über die Arbeitspflicht hin-ausreicht und erste Erscheinungen des Ar-beitsdienstes aufweist.

5. Der kapitalistische Sozialstaat impli-ziert immer auch das Prinzip des au-

toritären Staates, in dem er stärker repressiveFormen wie schärfere Kontrolle, Überwa-chung, Durchleuchtung und Zurichtungvon Erwerbslosen und Beschäftigten anwen-det. Die Offenlegung persönlicher, familiärerund sozialer Beziehungen bei Erwerbslosen,sanktionsbewehrte Leistungen, Arbeits-dienstmethoden zählen ebenso dazu wie bio-politische (Biometrik, Diagnostik) und mo-bilitätsverfolgende Eingriffe (Melde- undResidenzpflicht) sowie Kontrollmaßnahmenaller Art. Beschäftigte und Erwerbslose wer-den mittels repressiver Arbeitspolitik zu kon-formem, uniformem Verhalten und zur Ak-

zeptanz politisch gesetzter Konventionen(Sachzwänge) erpresst. Die Sozialpolitik wirddurch sozialdisziplinierende bzw. polizei-staatliche Maßnahmen wie »Verfolgungsbe-treuung«, strenge Anrechnungen von Ein-kommen und Vermögen, Hausbesuche,Kontendurchleuchtung, Straf- und Bußgel-derlasse gegen Arme ergänzt; sie wird immermehr in die Richtung polizeilicher Metho-den entwickelt – ganz nach der Philosophie,dass »gefährliche Klassen« wie Bettler, Er-werbslose, Arme, psychisch Kranke usw. inSchach zu halten seien. Aus diesen Entwick-lungen kann massenhaft rechtlose, steuerba-re Marionetten-Arbeitskraft entstehen. Sol-

beitsdienstes betroffenen Personen, als viel-mehr das Konglomerat von rechtloser undunfreier öffentlich-rechtlicher Beschäftigung,den Ausbau neuer Formen der Verwertungder Arbeitskraft, die Sozialdisziplinierung,neue repressive Methoden gegen Erwerbsloseund den medialen Krieg gegen die Erwerbs-losen. Die Verknüpfung von Workfare alsZurichtung des Individuums (egal ob es sichum das Entfernen von Hundekot unter Auf-sicht oder die Verpflichtung zu ›produktiven‹Pflichtarbeiten als sog. Wahlfreiheit han-delt), und Meldepflichten in Trab haltenund der Gleichsetzung von Arbeitslosen mitParasiten und Sozialschmarotzern sind Aus-druck davon.

4. In der sich in eine wirtschafts- undmilitärpolitische Expansionsstrategie

des deutschen und europäischen Kapitalseinbettenden Beschäftigungskrise wird einmassiver Abbau von Rech-ten von Beschäftigten undErwerbslosen betrieben. Indiesem Rahmen werden öf-fentliche Pflichtaufgaben,die im Zivildienst oder derArbeitsförderung betriebenwurden, nunmehr von qua-lifizierten Arbeitskräftenzum Nulltarif ohne Arbeit-nehmerrechte, bei Unter-stellung zu Weisungsbefug-ten und bei Sanktions-androhung ausgeübt. DieZielrichtung, »unqualifizier-te Arbeitsunerfahrene anArbeit zu gewöhnen«, wirdabgelöst durch den Ansatzder Erhaltung bzw. Wieder-erlangung der Beschäfti-gungsfähigkeit von erwerbs-losem Arbeitskräftepotenzi-al. Denn es sind vorrangigund überwiegend qualifi-zierte Arbeitskräfte, diemassenhaft in den Arbeits-gelegenheiten zur Mehrauf-wandsvariante eingesetztwerden – verbunden mit der Behauptung,dass sie »Zusatzjobs« und »Hilfstätigkeiten«leisten würden. Die Folge ist ein Abbau re-gulärer Beschäftigung, Selbständigkeit undFreiberuflichkeit sowie des Handwerksdurch konkurrenzlos billige Arbeitskraft. DieArbeitsgelegenheiten funktionieren als»Durchlauferhitzer« für den Abbau arbeits-rechtlicher und tarifrechtlicher Standards.Sie sind Indiz für ein »Gelingen« des»Schlanken Staates«, in dem nur noch inKernbereichen tariflich bezahlte Arbeitskräf-te tätig sind; zur Aufrechterhaltung der öf-fentlichen und sozialen Infrastruktur jedoch»nur« die Dienstverpflichteten. Der Sozial-

che Prozesse bilden auch Brücken zurschweigenden Hinnahme einer tendenziellenMilitarisierung der Arbeitspolitik, die Ar-beitskräfte auch auf militärische Zweckset-zungen vorbereitet.

6. Mit der inhaltlichen Neubestim-mung des Begriffes »Zusätzlichkeit«

(Arbeiten, die sonst nicht, nicht in diesemUmfang oder zu diesem Zeitpunkt verrichtetwürden) und der Einführung des Begriffes»Öffentliches Interesse« statt des engerenKriteriums der »Gemeinnützigkeit« werdenArbeitsgelegenheiten zum Türöffner für dieInanspruchnahme durch die deutsche Indus-trie. Der Einsatz von rechtlosen JobberInnenverstärkt den Druck auf die regulär Beschäf-tigten, ihre Rechte nicht mehr in Anspruchzu nehmen bzw. die Abschaffung derselbenhinzunehmen. Die Gewerkschaften predigenin dieser Situation eine Stillhaltepolitik. In-

stitutionell nehmen sie als Ordnungsmachteine vergleichbare Haltung ein wie in derWeimarer Republik. Ähnliche Erscheinun-gen wie damals sind in Institutionen wieWohlfahrtsverbänden, Trägervereinen undOrganisationen zu erkennen, die sich vordem »Sachzwang« beugen und dabei der »1-Euro-JobberInnen« bedienen. Nur wenigevon ihnen haben sich im Verlauf des Gesetz-gebungsprozesses kritisch positioniert; kaumöffentlicher Protest war vernehmbar gegendie Zuweisung der gesetzlich geregelten Rol-le, mit den Arbeitsagenturen die Eingliede-rung in Arbeit zu regeln und aktiv den Leis-tungsmissbrauch aufzudecken.

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7. Tendenziell wird deutlich, dass dieArbeitslosenversicherung abgeschafft

und die Arbeitslosen der Verantwortung derKommunen überantwortet werden sollen.Dies kappt bundeseinheitliche Leistungenbzw. Maßstäbe der Arbeitsförderung undsetzt Erwerbslose und Bedürftige den will-kürlichen Entscheidungen der kommunalenVerwaltungen, der Arbeitsagenturen und derJobcenter aus. Erste Signale einer solchen aufAufgrenzung zielenden Politik gibt es bei derAuslegung des SGB II gegen Leistungsge-minderte, Kranke, Schwerbehinderte undAlleinerziehende. Krasse Disziplinierungs-maßnahmen, die durchaus hinsichtlich derNutzung des faktischen Zwangs mit demFreiwilligen Arbeitsdienst vergleichbar sind,werden gegen Jugendliche angewandt.

8. Die Rechtlosigkeit von bedürftigenErwerbslosen im ALG II-Bezug wird

ergänzt durch die relative Rechtlosigkeit beiden sog. »Arbeitsgelegenheiten«. Arbeitsge-legenheiten sind keine Arbeitsverhältnisseim Sinne des Arbeitsrechts. Demzufolgegibt es keinen Lohn, keine genau bestimm-ten Arbeitszeiten, keinen Kündigungs-schutz, keine direkte Pflicht der Darlegungund Begrenzung des Arbeitsinhaltes, keineBestimmung zur Ortseingrenzung, keineRegelung der Interessenvertretung. Unddas, obwohl 1-Euro-JobberInnen wie Be-schäftigte tätig werden und weisungsgebun-den arbeiten, wie selbst die Bundesagenturfür Arbeit in ihren Verwaltungsregelungenausführt. Für Arbeitsgelegenheiten geltenzwar Bundesurlaubsgesetz, Krankenversi-cherungs- und Arbeitsunfallschutz, eineHaftung für Schäden sowie die Zahlung ei-ner kleinen Aufwandsentschädigung. Dochhäufig wird von Beschäftigungsträgern ver-sucht, auch die Anwendbarkeit dieser be-scheidenen Regelungen zu torpedieren. Un-ter kapitalistischen Produktionsverhältnis-sen wird der stumme Zwang der Verhältnis-se, seine Arbeitskraft verkaufen zu müssen,um zu existieren, durch einen zusätzlichenstaatlichen Zwang ergänzt. Die Arbeitskraftder ihrer Rechte beraubten erwerbslosenHilfebedürftigen wird umfassend verwertet.Massenhafter staatlicher Arbeitszwang beiqualifizierter und weisungsgebundener Ar-beit ohne Rechte und als einziges Überle-bensmittel bei ständiger physischer Exi-stenzbedrohung (Existenzangst, Hunger,drohender Wohnungs- oder Mobilitätsver-lust wegen Miet-, Strom-, Heiz-, Telefon-,Handy- oder Internetkostenschulden, keineNotgroschen für Krankheit) beschreibt eineneue Qualität des Arbeitszwanges – nämlichden Beginn eines Prozesses hin zu einemstaatlich organisierten Arbeitsdienst. Mitdieser Form der Unterdrückung werden dieSpielräume für die Entfaltung individuellen

und kollektiven politischen Widerstandsenorm verengt.

9. Gleichzeitig ist auf die Erfolge derErwerbslosenbewegung wie die un-

abhängige Demo vom 1. November 2003,eine breite Informationskampagne, eine sehrbreit geschätzte unabhängige Beratung so-wie erste Erfolge regionalen Widerstandeszu verweisen. Neben individueller Depressi-on und Resignation entwickelt sich eineVielfalt von individuellen und kollektivenFormen des Widerstandes. Sie reichen vonresistentem, widerständigem Verhalten Be-troffener über Beratung, Aneignung vonRechten bis zum direkten Kampf darum.Kollektiver Widerstand beginnt sich zu ent-wickeln durch den Austausch zwischen un-terschiedlichen bestehenden Netzwerken,durch Entwicklung von Aktionen, Bildunginformeller Informationsketten und neueInteressengemeinschaften. Die Formen desindividuellen Selbsterhaltes reichen vonSitzprotesten, Begleitschutz und Infovertei-lung im Jobcenter, lautem Protestieren beiInfoveranstaltungen der Jobcenter, Wider-sprüchen, Klagen, persönlichem Beistand zuHause, wenn die Gläubiger kommen, Erleb-nisberichterstattung im Internet, über Mai-linglisten, in Radio und Fernsehen, indivi-dueller Widerständigkeit in »1-Euro-Jobs«bis hin zur Landnahme auf Friedhöfen oderöffentlichen Rasenstreifen und Gebüschenzum eigenem Anbau von Gemüse zur ge-sunden Ernährung. Kollektive Formen undResistenz drücken sich aus im Zusammen-schluss von kleinen Selbständigen in Kollek-tivbetrieben, Sozialgenossenschaften, Free-lancer-Gemeinschaften über die Eroberungsozialer Zentren, Widerstand gegen die Zer-schlagung von Hausgemeinschaften, Ange-boten zum zeitweisen Unterkommen, Bil-dung von Tauschringen, Organisation vonKleidertauschaktionen, Auftreibung vonnötigem Mobiliar und Kinderspielzeug,Mobilitätsinitiativen, gegenseitiges Zum-Es-sen-Einladen, Kochgruppen, Nachbar-schaftshilfe usw. Die Vielfalt und Unüber-sichtlichkeit der Formen erinnert an diemassenhaften kleinen und durchaus unorga-nisierten Formen der Gegenwehr Erwerbslo-ser in der Weimarer Republik und im Na-tionalsozialismus.

FALZ (Hrsg.): »Arbeitsdienst – wieder salon-fähig! Autoritärer Staat, Arbeitszwang undWiderstand«, Fachhochschulverlag, Frankfurtam Main 2005, ISBN 3-936065-57-8,136 Seiten, 9 EuroBestellungen über: Fachhochschulverlag, Kleist-str. 31, 60318 Frankfurt am Main, email: [email protected], Tel. (069) 15332820

Heute sehen sich die Arbeitslosen der Zu-mutung ausgesetzt, die Schuld an der Ar-beitslosigkeit selbst zugewiesen zu bekom-men. Der Dammbruch zur Umsetzung neo-liberaler Ideologien und zum Umbau des So-zialstaats in Deutschland wurde von Rot-Grün vollzogen, hat Albrecht Müller in sei-nem Buch über die »Reformlüge« festgehal-ten. Ein Systemwechsel war und ist Ziel die-ser Politik; propagandistisch angefeuert wirdsie von Glaubenssätzen und Lügen. Er-kämpfte Errungenschaften in Bezug aufRechte, Arbeitszeit und -bedingungen undöffentliche Daseinsvorsorge sollen abgebautwerden. Diese staatsparteilich reformierteGesellschaft scheint eine grundlegend entso-lidarisierte und »a-sozialisierte« Gesellschaftzu werden, in der gesellschaftliche in ver-ängstigte, betäubte, leidende Individuen all-zeitiger Leistungs- und Konsumtionsbereit-schaft oder -versagung gewandelt werden.

Wie Arbeitsverwaltungen mit Arbeitslo-sigkeit umgingen, verdeutlicht Dieter Maier,Dozent im Bereich Arbeitsverwaltung an derFachhochschule des Bundes in Mannheim,in einem Buch zur Geschichte der Arbeits-verwaltung, in dem er seine in Mitarbeiter-zeitschriften veröffentlichten Beiträge zusam-mengefasst hat. Schwerpunkte seiner Dar-stellung sind die Anfänge dieser Geschichteund die besondere Rolle der Arbeitsämter inder Nazizeit. Bezüge zwischen dem früherenund dem aktuellen repressiven Umgang mitArbeitslosen und Arbeitenden sind leider un-verkennbar.

Zunächst waren es »bürgerliche Sozialre-former«, die sich für kommunale paritätische

R U B R I K express 11-12/2005 7

ie Agenda 2010 und die verschie-denen Hartz-Gesetze stellen eine

neue Dimension des sozialen An-griffs in der BRD dar, die zukünftigzu verschärften sozialen Konfronta-tionen führen wird. Wir nehmendeswegen den Zeitpunkt »Ein JahrHartz IV« zum Anlass für eine theo-retisch-praktische Einordnung undBewertung des fortschreitenden sozi-alpolitischen Angriffs.

Ein wichtiger Aspekt des Buchesist die Auswertung einer bis Ende2005 durchgeführten bundesweitenBefragung von Arbeitslosen zu ihrerSituation in den Arbeitsagenturenund bei den externen Trägern vonZwangsmaßnahmen. Dazu enthältder Band eine Reihe konkreterTipps und Tricks für Arbeitslose,die von den beteiligten Beratungs-initiativen zusammengestellt wur-den – unter anderem bei verschärf-ter Verfolgungsbetreuung durchden sozialschnüffelnden Prüfdienst.In einem Beitrag zur Praxis des Pro-

filing und zur Etablierung der so ge-nannten 1-Euro-Jobs wird der mehrals nur disziplinierende und ent-rechtende Charakter dieser Zwangs-instrumente untersucht. Den histo-rischen Wurzeln und der Entwick-lung dieser Konzepte widmet sichdas Buch in einem Artikel über dieGeschichte von Zwangsdiensten.Eine besondere Bedeutung kommtin diesem Buch den Prozessen derSelbstorganisierung innerhalb derSozialproteste zu, die sich unabhän-gig von gewerkschaftlichen Positio-nierungen entwickeln, ohne denBlick auf basisgewerkschaftliche In-itiativen zu vernachlässigen. Es ent-hält eine Chronik, die den Wider-spruch und Widerstand gegen denSozialen Angriff seit Verabschie-dung des Hartz’schen Gesetzespa-kets im Herbst 2002 dokumentiert.Darüber hinaus werden die spezifi-schen Konsequenzen der Eingriffefür Flüchtlinge und MigrantInnenanalysiert.

Vergleichend richten zwei derAutorInnen ihren Blick auf die Ent-wicklung des Sozialraubs und diedamit verbundenen Konflikte inEngland und Frankreich. Hierschließt eine politökonomischeAnalyse des Neoreformismus an.Denn Hartz IV ist nicht für sich al-lein zu begreifen. Die darin ange-setzten Strategien sind nicht einmalspezifisch für den »Sozialsektor«. Siebetten sich ein in eine umfassendeOffensive, die arbeitstechnische, so-zialtechnische, informations- undtelekommunikationstechnische Sei-ten, Kontrolltechniken des öffentli-chen Raums, Zugangsgrenzen etc.miteinander vereint. Im Artikel»Abrichtung und Revolte« wird die-ser Zusammenhang, auch anhandseiner historischen Vorläufer, be-leuchtet.

Zum Abschluss wagt der Sam-melband eine Diskussion über neueFormen und Visionen des Sozialenjenseits von Arbeit und Staat.

Arbeitsvermittlungen einsetzten, die auchmit Arbeitslosenunterstützung und Berufs-beratung befasst sein sollten. Relativ vieledieser Pioniere waren assimilierte jüdischeDeutsche – wie Fritz Elsas, der 1945 im KZSachsenhausen ermordet wurde. An der Ent-wicklung der Berufsberatung waren Frauenvon Anfang an federführend beteiligt. 1902erschien bereits die erste wissenschaftlichePublikation über Arbeitsmarkttheorie und -politik in Deutschland, organisierte »Ar-beitsnachweise«, Arbeitsvermittlungsbüros,erschienen als bestes Mittel gegen das Risikoder Arbeitslosigkeit.

Bis zum Ersten Weltkrieg lehnten Staatund Unternehmen die Einführung einerstaatlichen Arbeitslosenversicherung als un-begründet ab. Infolge vorübergehend hoherArbeitslosigkeit sah sich das Deutsche Reichab 1915 gezwungen, Gemeinden zu unter-stützen, die eine Erwerbslosenfürsorge»außerhalb der Armenpflege« an bedürftigeund arbeitswillige Einwohner zahlten, Ende1918 wurde dies in einer Verordnung überErwerbslosenfürsorge geregelt. Zu dieser Zeitschlossen in Folge des Weltkriegs die deut-schen Arbeitgeberverbände und die Gewerk-schaften einen »Burgfrieden« – den Gewerk-schaften wurden für den Verzicht auf einesozialistische Umgestaltung der Wirtschafts-ordnung in befriedender Absicht Zugeständ-nisse gemacht: Z.B. wurde den Forderungender Tarifautonomie, der betrieblichen Mit-bestimmung, des Achtstundentags nachgege-ben; eine »Gemeinsame Regelung und pa-ritätische Verwaltung des Arbeitsnachweises«wurde vorgesehen.

Die neue Reichsanstalt für Arbeitsver-mittlung und Arbeitslosenversicherung, diedie örtliche Selbstverwaltung der Arbeitsäm-ter nicht ersetzen sollte, entstand 1928gemäß dem ein Jahr zuvor verabschiedetenGesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeits-losenversicherung (AVAVG), das als Pflicht-aufgabe der Reichsanstalt auch die Berufsbe-ratung bestimmte. Dem Verwaltungsrat derAnstalt gehörten etwa GewerkschaftssekretärHans Böckler, 1949 erster DGB-Vorsitzen-der, sowie als dessen kurzzeitiger Vertreterder Gewerkschafter Wilhelm Leuschner,

»Lenkung der Arbeit«Historische Vorläufer der ArbeitsverwaltungEine Rezension von Frank-Uwe Betz

Dieter G. Maier: »Anfänge undBrüche der Arbeitsverwaltung

bis 1952. Zugleich ein kaum bekanntes Kapitel der

deutsch-jüdischen Geschichte«,Schriftenreihe der Fachhochschu-

le des Bundes für öffentlicheVerwaltung, Nr. 43, 275 S.,

Brühl 2004

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Bestellungen: agenturschluss (Hrsg.):»Schwarzbuch Hartz IV. Sozialer An-griff und Widerstand – Eine Zwi-schenbilanz«, ISBN 3-935936-51-6,S. 180 Seiten, 11 Euro, email: [email protected]

Anmerkungen:1) Von Graf Rumford zur kostengünstigen

Armenspeisung entwickelte Suppe.2) Dirk Hauer: »Wir holen uns, was uns zu-

steht. Soziale Aneignungsbewegung inHamburg«, in: ak – analyse + kritik –Zeitung für linke Debatte und Praxis, Nr.439, 8. Juni 2000; Dirk Hauer:»Schwarze Katzen in der Hängematte.Aneignungsbewegung in den 1980er Jah-ren – ein Rückblick aus aktuellem Anlass«,in: Nr. 487, 17. September 2004.

3) Frances F. Piven/Richard A. Cloward:»Aufstand der Armen«, Frankfurt 1986

4) Aufruf zum Agenturschluss.

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(1944 in Berlin Plötzensee gehenkt wegenBeteiligung am Attentat vom 20. Juli 1944),und Konrad Adenauer an. In organisatori-scher Hinsicht knüpfte die spätere bundes-deutsche Bundesanstalt für Arbeitsvermitt-lung und Arbeitslosenversicherung (BAVAV)an der von 1927 an – samt deren Fehlernder Schematisierung und Zentralisierung,wie Maier bemerkt. Das Unterstützungssys-tem nach dem AVAVG war dreigliedrig undbestand aus der beitragsfinanzierten Arbeits-losenunterstützung (Arbeitslosengeld), auf dieArbeitslose einen Rechtsanspruch erhielten,der überwiegend vom Staat getragenen Kri-senunterstützung (Arbeitslosenhilfe) und derkommunalen Wohlfahrtsunterstützung (So-zialhilfe). Ideologisch verklärte das AVAVG»Notstandsarbeiten« zur »wertschaffendenArbeitslosenfürsorge«, die faktisch Arbeits-kraft billig volkswirtschaftlich nutzbar mach-te, angeblich aber die Arbeitskraft »in kör-perlicher und sittlicher Beziehung« erhaltenund den Arbeitswillen prüfen sollte. Schonvorher waren die Arbeitsnachweise in dieKritik geraten, da die Mitarbeiter derReichsanstalt durch ihre ständige Kontrolleauf Dauer nicht das Vertrauen der Arbeitsu-chenden erwerben könnten, wenn sie zum»Anpeitscher« zur Arbeit würden. Entspre-chend wurde zum Misslingen der Arbeitsver-mittlung im Jahr 1928 festgestellt, es gehe

die in Form von Karteikarten auch beim Ar-beitsamt verzeichnet wurden, zu jedem Ar-beitenden oder Arbeitslosen fest. Die Reichs-anstalt erhielt 1935 das Alleinvermittlungs-recht. Die Arbeitsämter wirkten so an derAufrüstungspolitik und Kriegsvorbereitungdes Regimes mit – Arbeitsvermittlung, Be-rufsberatung und finanzielle Leistungenwurden zu politischen Instrumenten des»Arbeitseinsatzes«. Gegner der NSDAP wur-den von der Arbeitsvermittlung ausgeschlos-sen, solange die Arbeitslosigkeit hoch war,demgegenüber wurden Altnazis in Arbeit ge-bracht. Bei der »Aktion Arbeitsscheu«, bei

der gegen arbeitsfähige Personen vorgegan-gen wurde, die sich »asozial und volks- bzw.staatsfeindlich« dem vom Regime vorgesehe-nen »Arbeitseinsatz« entzogen, kooperiertedie Arbeitsverwaltung 1938 mit der Gesta-po. Ab Kriegsbeginn unterlag ihr die voll-ständige Lenkung des »Arbeitseinsatzes« –jede Einstellung und Kündigung, jeder Be-triebswechsel war nur noch mit Zustim-mung des Arbeitsamts möglich. Das betrafauch den Einsatz von Zwangsarbeitern: DieBetriebe meldeten ihren »Bedarf« anZwangsarbeitern bei den Arbeitsämtern an,anerkannte Anträge wurden an das Landes-arbeitsamt und nötigenfalls ans Reichsar-beitsministerium weitergeleitet. So war die

dabei offenbar »weniger darum, brotlosenMenschen Arbeit zu geben, als ihre für denUnterstützungsanspruch (erforderliche) Ar-beitswilligkeit zu prüfen. (...) Wer will arbei-ten? Nicht ein Prozent der arbeitslosen Men-schen scheut die Arbeit als solche, sondernscheut sie fast nur deshalb, weil die Art derTätigkeit, die Dauer, überhaupt die ganzenArbeitsbedingungen in keinem Verhältnis zudem zu erzielenden Gewinn stehen.« (S. 67)

Wie die wirtschaftliche Krisensituationverängstigte, zeigt die Tatsache, dass ab 1929»(a)ngesichts einer rasch wachsenden Zahlvon Arbeitslosen ... niemand Überstundenzu verweigern oder gar blau zumachen« (S. 78) wagte. DieHöchstzahl an Arbeitslosen wird1932 mit über 6,1 Millionen an-gegeben, womit etwa jeder dritteLohnabhängige ohne Arbeit war– zudem gab es 1-2 Millionen»unsichtbare« Arbeitslose.

Ab 1929/30 wurden Gesetze-sänderungen vorgenommen, »bisschließlich am Ende der Weima-rer Republik kaum noch etwasvon der Substanz des ursprüngli-chen Gesetzes [des AVAVG] übrigblieb« (S. 80). Sozialleistungenwurden abgebaut, Notverordnun-gen reduzierten die Leistungenfür Arbeitslose und verschärftendie Anspruchsvoraussetzungen:Die Zahl registrierter Arbeitsloservervierfachte sich von 1928 bis1932, die Zahl der Leistungsemp-fänger sank gleichzeitig von 61auf 19 Prozent; unter 21-Jährigewurden vom Leistungsbezug aus-geschlossen und auf familiärenUnterhalt verwiesen, besondersverheirateten Frauen wurden Ver-sicherungsleistungen nicht mehrgewährt.

Zur Nazizeit wurde die Reichs-anstalt personell und organisato-risch umgekrempelt. Mindestens6 000, das waren etwa 22 Prozentaller Mitarbeiter, wurden entlassen: »Die Nazis brüsteten sich, bei keiner anderenBehörde so ausgeräumt zu haben wie in derReichsanstalt« (S. 95) – neu eingestellt aberwurden Tausende »alte Kämpfer« der Nazis –also Parteimitglieder vor 1933. Noch 1933wurde die Selbstverwaltung der Einrichtungbeseitigt. Ein Arbeitsbeschaffungsprogrammsollte der Umsetzung politischer Ziele die-nen, die Landwirtschaft fördern (Landhilfe)und Frauen auf die Mutterrolle festlegen(»Doppelverdienerkampagne«). 1934 gingdas Regime von der Arbeitsbeschaffung zurArbeitslenkung über. Ein »Arbeitsbuch« hieltab 1935 verpflichtend alle berufswichtigenAngaben und jede berufliche Veränderung,

Arbeitsverwaltung maßgeblich für den Ein-satz der ZwangsarbeiterInnen – kein Unter-nehmen aber wurde vom Staat zu deren Be-schäftigung gezwungen.

Aber damit nicht genug. Mit Beginn deszweiten Weltkrieges zogen Arbeitsamtsmitar-beiter direkt hinter der kämpfenden Truppeetwa in Polen ein. Sogar in Ghettos wurdenNebenstellen der Arbeitsämter eingerichtet.Im Rahmen früherer Publikationen hat Mai-er die Politik des »Einsatzes« jüdischerZwangsarbeiterInnen und die Rolle der Ar-beitsverwaltung darin bereits eingehend ana-lysiert. Die Arbeitsverwaltung hat an der

Diskriminierung und Ent-rechtung der Juden mitge-wirkt und war letztlichauch an deren Deportationbeteiligt – Arbeitsämtermeldeten der Gestapo »ent-behrliche« jüdische Arbei-ter und ersetzten diesedurch ausländischeZwangsarbeiter.

Wie das weithin Ver-drängte gleichsam unbe-merkt wiederkehrt, dafürliefert ein seit dem Jahr2000 genutztes Gebäudedes Bildungszentrums Wei-mar der Bundesagentur fürArbeit ein Beispiel: Es han-delt sich dabei um die ein-stige Weimarer Dienstvillavon Fritz Sauckel, Reichs-statthalter in Thüringenund ab 1942 Generalbe-vollmächtigter für den Ar-beitseinsatz und als solcherverantwortlich für die Ver-schleppung von Millionenausländischer Zwangsarbei-terInnen ins Reich. Sauckelwurde dafür vom Militär-gerichtshof in Nürnbergzum Tod verurteilt und1946 hingerichtet.

LiteraturMaier, Dieter 1990: »Arbeitsverwaltung und nationalso-

zialistische Judenverfolgung in den Jahren 1933-1939«, in: Arbeitsmarkt und Sondererlass. Menschen-verwertung, Rassenpolitik und Arbeitsamt, Beiträgezur nationalsozialistischen Gesundheits- und Sozialpo-litik, Berlin, Bd. 8, S. 62-136

Maier, Dieter 1994: »Arbeitseinsatz und Deportation.Die Mitwirkung der Arbeitsverwaltung bei der natio-nalsozialistischen Judenverfolgung in den Jahren1938-1945«, Publikationen der Gedenkstätte Hausder Wannsee-Konferenz, Hg. Wolfgang Scheffler/Ger-hard Schoenberner, Berlin

Maier, Dieter 2004: »Arbeitsverwaltung und nationalso-zialistische Judenverfolgung«, in: Betz, Frank-Uwe/Anton Kobel: Antisemitismus – Verfolgung –Zwangsarbeit: Nazizeit im Raum Schwetzingen. Tex-te und Dokumente, Mannheim, S. 59-66

Ein Jahr nach den eindrücklichenKampftagen bei General Motors/Opel in Bochum ist es Jochen Gesterund Willi Hajek gelungen, in einemlesenswerten Buch die Stimmen deraktivsten KollegInnen zu versam-meln, die über Vorgeschichte, Ablaufund Ergebnisse dieser »Selbster-mächtigung« berichten. Dabei kon-zentriert sich das Buch auf Kollegen,die seit Jahren in der Betriebsgruppeder GOG oppositionelle Betriebs-,Vertrauensleute- und Betriebsratsar-beit machen.

Sie berichten ausführlich überihre persönliche Entwicklung, übergute und schlechte Erfahrungen mitSolidarität im Betrieb, über selbstän-dige Kampfaktionen der Opelaner in

Bochum, die – in der Regel gegenden Willen der IG Metall und derBetriebsratsmehrheit – zum Teil er-folgreich abliefen.

Ergänzt werden diese Interviewsmit Kapiteln über die Vorgeschichte,über die Haltung der IG Metall,über die internationale Verknüpfungund einige theoretische Schlussfol-gerungen.

Wer das Buch liest, lernt die Arbei-terbewegung an einem guten Beispielin ihrer Vielfältigkeit, Begrenztheit,mit allen Gefährdungen und (Teil-)erfolgen kennen. Wir sehen in denInterviews erneut die Notwendig-keit, diesen Arbeitskampf zu führen,unabhängig davon, ob andere mit-

machenoder dage-gen arbei-ten. Wirhören erneutdie »Lust imWiderstand«

heraus, die Befreiung von Zwängenim Kopf, die diese Woche bei denBeteiligten ausgelöst hat.

Es wird aber auch deutlich, dasses in Bochum einige Besonderheitengab, die den Kampf möglich mach-ten, obwohl andere GM-Betriebenicht mitzogen. Da ist einmal dieverhältnismäßig kämpferische Tradi-tion von Berg- und Stahlarbeitern,die von Anfang an zu Opel gewech-selt waren. Da ist die Nähe der Uni-versität, aus der heraus oppositionelleGruppen eine politisierende Rollespielen konnten. Und da ist die über30-jährige Tradition der GOG, diesich zu allen wichtigen innerbetrieb-lichen, gewerkschaftlichen und ge-sellschaftlichen Problemen radikal

äußerte, mit ihren Flugschriften undihrer Arbeit in den Betriebs- undVertrauenskörpern mit anderen un-schätzbare Vorarbeit für das Entste-hen unabhängiger Kräfte bei derVorbereitung und Durchführung desArbeitskampfes leistete.

So ist dieses Buch über die Bedeu-tung des Bochumer Kampfes hinausein Zeitdokument, ein lesenswertesBekenntnis zu »französischen Ver-hältnissen« in der Arbeiterbewegung.

Rolf Euler

Jochen Gester / WilliHajek: »Sechs Tage derSelbstermächtigung«,

Verlag Die Buchmacherei,Berlin, Oktober 2005,

226 S., 10 Euro,ISBN 3-00-017269-6

»Sechs Tage der Selbstermächtigung«

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Am 17. November hatte Heinz GünterLang, express-Redaktionsmitgliedüber Jahrzehnte, Geburtstag, am 18.haben wir im Mannheimer Gewerk-schaftshaus mit rund 100 Freunden,ehemaligen und noch Kolleginnen sei-nen 70. Geburtstag gefeiert, zurückund voraus geblickt. Unser Geschenkneben dem Fest: eine Broschüre mitarchivarischen und neueren Textenvon HG sowie Beiträgen von Wegge-fährten aus mehr als 50 Jahren, dieein kleines Kompendium der Gewerk-schaftsgeschichte von unten ergebenhaben – von der Wiederaufrüstungder BRD bis zur Gründung der Ge-werkschaftslinken. Wir dokumentie-ren ausgewählte Beiträge und begin-nen mit unserem Vorwort:

Am 70. Geburtstag von HG erinnern wiruns. Wir erinnern uns an unsere Begegnun-gen mit ihm, und an seine politischen Tätig-keiten. Ein »Erinnern« zu festlichem Anlasssetzt sich zwangsläufig dem Verdacht aus, eshandle sich hier um die Art der Erinnerung,die Bloch »die Unlust gegenüber dem Mögli-chen« nannte. Es werden Tatsachen aufge-reiht und in eine Ordnung gebracht, und da-mit Vergangenheit zu einem fertigen Produktorganisiert. Derartiges Erinnern ist oft nichtsanderes als die Vorbereitung zum Vergessenund für den mit solcher Art Erinnerung »Ge-ehrten« drängt sich leicht der Eindruck auf,er befände sich auf seinem eigenen Begräbnisund könne in einer »Festschrift« seinen»Nachruf« lesen. Solches »Gedenken« wärehier vollkommen unangemessen, und wirhoffen, dass der Inhalt dieser Schrift einensolchen Verdacht zerstreuen kann.

Das politische Leben von HG ist ein Le-ben in der Arbeiterbewegung. Kein Leben indieser Bewegung kann als »fertig und abge-schlossen« angesehen werden. Alle Anstren-gungen und Hoffnungen eines solchen Le-bens sind nämlich auf das Ziel einer freienmenschlichen Gesellschaft gerichtet, undvon dieser sind wir bisher weit entfernt. Da-durch gehören alle Biografien über Genera-tionen hinweg in der Arbeiterbewegung zu-sammen. Für eine menschenwürdige freieGesellschaft gibt es zwar objektive Bedin-gungen, aber sie ist dennoch kein Resultatblinder objektiver »Entwicklungen von Pro-duktivkräften«, und sie kommt sicher nicht,wie W. Benjamin spottete, aus der Fabrikar-beit als einer »politischen Tat«. Sie entstehtaus starken Überzeugungen und moralischenEntscheidungen von Menschen, die sie mitihrem Mut, ihrem Verstand, ihrer Fantasie,ihrer List und ihrer Erfahrung praktisch wer-den lassen. Dabei erwerben sie kein techni-sches Wissen, das mit jeder neuen Generati-on und unter veränderten gesellschaftlichenUmständen entwertet wird. Auch finden sichdiese Überzeugungen, Haltungen und Ver-haltensweisen nicht nur bei besonders »be-gnadeten« hervorgehobenen Personen. DieArbeiterbewegung bleibt nicht allein da-durch lebendig, dass sie sich in einer Tradi-tion der Verehrung besonderer Ahnen oderkluger »linker Theorie« bewegt (obwohl manihr heutzutage gerade davon mehr wünschenwürde). Ihr Erbe ist reicher. Es findet sich inden Lebensläufen vieler Generationen vonMenschen, die für eine menschenwürdigeGesellschaft gestritten haben.

Bei oberflächlicher Betrachtung war daspolitische Leben HGs das eines gewöhnli-chen Gewerkschaftsfunktionärs, der, wennauch mit einer Unterbrechung, die »Karrie-releiter« stetig hochgeklettert war. Hier eini-ge wichtige Daten:

● Seit 1952 Mitglied bei der GewerkschaftHBV, wurde HG bald Landesjugendleiter inHessen. 1955 wechselte er zur IG Chemienach Darmstadt, wurde zunächst Jugend-sachbearbeiter und dann Organisationsse-kretär.● 1961 beauftragte ihn der Hauptvorstandder IG Chemie mit dem Aufbau einer Ver-waltungsstelle in Trier.● 1963 wählte ihn die VerwaltungsstelleNeuwied der IG Chemie zum Geschäftsfüh-rer. ● 1964 kehrte er zur IG Chemie nachDarmstadt als gewählter Geschäftsführerzurück. Zeitweise war er Mitglied des Bun-desstreikteams der IG Chemie.● 1973 begann er eine Tätigkeit alspädagogischer Mitarbeiter an der HessischenJugendbildungsstätte in Dietzenbach.● 1983 arbeitete er in der Hauptverwal-tung der HBV.● 1986 wurde er zum Geschäftsführer derHBV Mannheim gewählt und● 1989 zum Landesleiter der HBV Baden-Württemberg.

Solcherlei Daten mögen HG zwar als einen»bedeutenden Mann« erweisen, sind aberzunächst »totes Material«, auch wenn siedurch die Information ergänzt werden, dassHG immer als ein »Linker« galt, von Anfangseines politischen Lebens an in den verschie-denen Friedensbewegungen der Bundesrepu-blik beteiligt, leidenschaftlich in der gewerk-schaftlichen Bildungsarbeit und bis heute im»express« tätig war und ist. Sein Beitrag zurArbeiterbewegung wird erst deutlich in denErinnerungen und Reflexionen seiner Freun-de, Mitstreiter und Weggenossen und in denArtikeln, mit denen er im »express«, in den»Jahrbüchern« (zunächst »Gewerkschaftenund Klassenkampf«, dann »kritisches Ge-werkschaftsjahrbuch«), in Broschüren undBüchern in politische Debatten eingriff.

Ohne den Beiträgen dieser Broschüre vor-greifen zu wollen, sei hier schon Einiges überHGs Haltungen und Überzeugungen gesagt.Dazu eine Bemerkung vorweg: Wenn HGmit Mut und Standhaftigkeit auch in für ihnschwierigen Situationen zu seinen Überzeu-gungen gestanden hat, dann nicht weil sieaus einem theoretischen oder gar religiösenDogmatismus stammen. Es sind, das wird,glauben wir, aus der Lektüre der hier ver-sammelten Beiträge deutlich, kollektive Er-fahrungen aus einer langen Geschichte derArbeiterbewegung.

Es waren nicht sehr viele in der Arbeiter-bewegung davon überzeugt, dass jene Frei-heit, die die bürgerliche Gesellschaft denMenschen zugestand, in einer anderen hu-manen Gesellschaft noch überboten werdenmüsse und dass man dorthin keineswegsüber vorübergehende, Umständen geschul-dete Herrschaft von ZKs, »demokratischemZentralismus« oder »proletarischer Diktatur«gelangen würde. Für HG hat der Zweck nie-mals die »unheiligen Mittel« geheiligt, viel-mehr haben diese ihn unerreichbar werdenlassen. Seine Abneigung gegen Parteien, diesich im »Namen der Befreiung« heeresförmigorganisiert hatten, war und ist notorisch.

In Deutschland hatte das Bürgertum we-der Freiheitsrechte eingeführt noch hinläng-lich verteidigt. Die Freiheitsrechte in derbürgerlichen Demokratie verdankten sichden Anstrengungen der deutschen Arbeiter-bewegung. Obwohl wahre Demokratie erstjenseits der bürgerlichen Gesellschaft mög-lich erschien, mussten bestehende Freiheits-rechte heute schon und immer wieder geradevon der Arbeiterbewegung verteidigt werden.Dort wo sie fehlten, war die Entwicklungder Arbeiterbewegung gehemmt, ihr inneres

Leben durch Illegalität deformiert. Dass aberdie Verteidigung von Freiheitsrechten nichterst dann beginnt, wenn das Organisations-,Versammlungs- oder Streikrecht, das Rechtauf freie Meinungsäußerung angegriffenwerden, wusste HG. Man findet ihn u.a. inder Kampagne gegen die Notstandsgesetze,beim Pfingstkongress des SB und von An-fang als Mitglied im »Komitee für Grund-rechte«. Bei den Bundestagswahlen 1966kandidierte HG sogar in der SPD gegenSchmidt-Vockenhausen, einen glühendenVertreter der Notstandsgesetze, und verpass-te nur recht knapp eine Kandidatur.

Schon zu Anfang des 20. Jahrhundertsbeklagte Rosa Luxemburg die zunehmendeMacht einer Partei- und Gewerkschaftsbüro-kratie, deren einzige Sorge mehr und mehrdarin bestand, den eigenen Erhalt zu sichern,und die versuchte der Arbeiterbewegung ihreeigene institutionelle Logik aufzuzwingen.

Gewerkschaften streikten nicht gegen denKrieg und für einen grundsätzlichen gesell-schaftlichen Umsturz, weil das Streikinstru-ment zu kostbar für den Tarifstreit sei, um es»leichtfertig aufs Spiel zu setzen« (so der da-malige ADGB-Vorsitzende Legien anlässlichder berühmten »Massenstreikdebatte«). Par-lamentarische Fraktionen der SPD versuch-ten ihre politischen, d.h. parlamentarischenEinflussmöglichkeiten zu »verbessern«, in-dem sie die SPD programmatisch und prak-tisch von der Arbeiterklasse zu einem »Volk«hin zu öffnen suchten.

An diesen sich damals abzeichnendenTendenzen hat sich bis heute nichts geändert.Ehemalige Parteien der Arbeiterbewegungwerben in Wahlkampagnen um »alle«, damitsich ihre parlamentarische »Gestaltungs-macht« verbessert. Gewerkschaften fungiereninnerhalb fast durchgehend »verrechtlichterArbeitsbeziehungen« – immer schlechter –überwiegend als »Lohnfindungsmaschinen«,in denen ein vor allem auf Machterhalt ein-geschworener Apparat einer zunehmendgleichgültigen Mitgliedschaft gegenübersteht.Aus Instrumenten, die einst dafür geschaffen

wurden, der Arbeiterklasse in der Arbeit anihrer Befreiung behilflich zu sein, sind über-wiegend »Stützen der Gesellschaft« gewor-den, die aufkommenden Unmut niederhal-ten sollen und absehbar selbst diese Aufgabeimmer schlechter erfüllen. Dass wir es wagenkönnen, heute überhaupt noch von einer Ar-beiterbewegung in Deutschland zu sprechen,verdanken wir nicht zuletzt auch denjenigen,die innerhalb der Apparate an der Idee eineranderen menschenwürdigen Gesellschaft fest-gehalten haben.

Zu ihnen gehört HG. »Gewerkschaftentun gute Dienste als Sammelpunkte des Wi-derstands gegen die Gewalttaten des Kapi-tals«, heißt es bei Marx. Sie sollten »ihre or-ganisierten Kräfte gebrauchen als einen He-bel zur schließlichen Befreiung der Arbeiter-klasse, d.h. zur endgültigen Abschaffung desLohnsystems«. Im schwierigen gewerkschaft-lichen Alltag, der bestimmt ist von den La-

sten einer »Verwaltung von Menschen« undeinem Übermaß an »Verrechtlichung« in denArbeitsbeziehungen, bedeutet dies, Mittelund Wege zu finden, Menschen zusammen-zubringen, ihr Selbstbewusstsein zu stärken,ihre Kenntnisse zu erweitern. Aber dies istnoch nicht alles. Gelingen kann dies nur,wenn zwischen Funktionären und Mitglie-dern ein Prozess in Gang kommt, bei demTheorie und Erfahrung aneinander abgear-beitet werden. Gewerkschaftsarbeit bedeutet,auch im Drang der Geschäfte und auchaußerhalb der dafür »offiziell« vorgesehenenBildungsveranstaltungen Orte und Gelegen-heiten für das, was Oskar Negt später sozio-logische Phantasie und exemplarisches Ler-nen nennen sollte, zu schaffen. Die Beiträgedieser Broschüre zeugen reichlich davon,dass HG sich dieser Art von Gewerkschafts-arbeit verpflichtet fühlte. Er wusste aller-dings auch, dass unter den gegebenen Um-ständen nur Annäherungen an ein solchesIdeal möglich waren. Bei Marx heißt esauch: »[Gewerkschaften] verfehlen ihrenZweck zum Teil, sobald sie von ihrer Machteinen unsachgemäßen Gebrauch machen.

Da geht noch was: Leben an der BasisBroschüre anlässlich HG Langs 70stem Geburtstag erschienen

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Lieber HG,bei unseren Frühstückstreffen mit Edgar ha-ben wir uns auch öfter über die Vergangen-heit, Gegenwart und Zukunft der Arbeiter-bewegung unterhalten. Dabei hast Du Dichüber die Vergangenheit meist nüchtern rea-listisch, über die Gegenwart skeptisch er-nüchtert (um es vorsichtig auszudrücken)und über die Zukunft so gut wie gar nichtgeäußert. Als Maßstab für Deine Einschät-zungen galt Dir offensichtlich dabei die For-derung, oder besser Einsicht von Marx, dassdie »Befreiung der Arbeiterklasse nur dasWerk der Arbeiterklasse selber sein« könne.

Die Geschichte der Arbeiterbewegung, somein Eindruck, ist für Dich eine Geschichteimmer neuer mutiger Versuche und Auf-brüche von Menschen, ihr Schicksal selbst indie Hand zu nehmen, um nicht nur gegenbestehende Herrschaftsverhältnisse, sondernauch gegen bürokratische, sich nur selbst er-haltende Apparate, Besserwisser und ge-schichtsphilosophische Experten in den Rei-hen der Arbeiterbewegung selbst ihrenTraum von der Befreiung zu verwirklichenund ... immer wieder an diesen Mächten zuscheitern. Ich weiß, dass Du dafür keineschlichten Erklärungen hast. Diese Ge-schichte ist für Dich keine, die sich auf dasMuster reduzieren ließe, dass eineverdorbene Führung eine »reine Ba-sis« immer wieder verraten hat. Gera-de Du weißt mehr als viele andere,die ich kenne, von den Ängsten, denGefühlen von Ohnmacht und demAnpassungsdruck, der auf Menschenlastet, die nichts zu verkaufen habenals ihre Arbeitskraft, und der sie im-mer wieder zu Komplizen der eige-nen Unterdrückung werden lässt. FürDich war der Fortschritt der Arbei-terbewegung zu einer Befreiungsbe-wegung an die Entfaltung einer Dia-lektik gebunden, in der sich dieTheorie der Befreiung mit der Erfah-rung der Unterdrückten vermittelt.Und damit war es nun wirklich, ab-gesehen von wenigen Ausnahmesi-tuationen (zu denen es allerdingsauch heute noch kommt, ich denkean Rheinhausen oder Alstom), in die-ser Bewegung schlecht bestellt.

Vielleicht übertreibe ich ja, wennes mir schien, als ob Du inzwischenmeintest, dass der »Siegeszug« dersich selbst erhaltenden Apparate

Knüppel zu beantworten, sondern ihnen, so-weit es die grundsätzlichen Herrschaftsfor-men nicht beeinträchtige, entgegenzukom-men. Davon kann heute immer weniger dieRede sein. Wenn, wie Wallerstein annimmt,die gegenwärtige harte Haltung des Kapitalsgegenüber den Interessen der Lohnabhängi-gen nicht einer vorübergehenden schlechtenKonjunktur, sondern einer grundsätzlichen,in absehbarer Zeit kaum zu behebenden all-gemeinen Krise der Kapitalverwertung ent-springt, dann hat diese Krise eine ebensogrundsätzlich Krise der traditionellen Insti-tutionen und Praxis der Gewerkschaft undderjenigen Parteien zur Folge, die sich ir-gendwie noch als politische »Vertreter« derLohnabhängigen verstanden. Ihr Lebenseli-xier bestand nämlich in der Vertretung »derKlasse« beim Aushandeln von Kompromis-sen. Dies hat ihr inneres Leben und ihreForm bestimmt. Ich schließe mich dem an,es kommt aber noch etwas hinzu: Niemalshaben die Institutionen der alten Arbeiterbe-wegung alle Lohnabhängigen erfasst und or-ganisiert. Ihre Kompromisse waren Kompro-misse für Teile. Ihre Versuche im, wie Negtes nennt, »gesamten proletarischen Lebens-zusammenhang« zu organisieren, sind längstabgestorben oder durch »Dienstleistungen«

nicht mehr aufzuhalten ist, die Ohmacht der»Vertretenen« gegenüber ihren »Vertretern«ein Ausmaß erreicht hätte, das nicht mehrumkehrbar erscheint, die Reste der Arbeiter-bewegung endgültig zu einer Lobby vonGnaden des Unternehmerverbandes mutiertund wir somit am Ende der Geschichte derArbeiterbewegung als Befreiungsbewegungangelangt seien.

Ich schreibe Dir jetzt nicht, um Dir in derBetrachtung der bisherigen Geschichte derArbeiterbewegung grundsätzlich zu wider-sprechen. Ich teile sogar Deine pessimisti-sche Sicht auf den »Pyrrhussieg« der Büro-kratie über ihre Mitglieder. Auch wenn ichdabei mitbedenke, dass unser Alter den Blickauf Unzulänglichkeiten übermäßig schärfenmag. Aber ich möchte Dir auch von einerHoffnung erzählen. Mit dem quälendenSterben alter Institutionen der Arbeiterbewe-gung stirbt diese nicht auch schon selbst. Inseiner Studie »Utopistik« hat Immanuel Wal-lerstein für die Gegenwart das Ende eines»historischen Kompromisses« prognostiziert,der seit der Revolution von 1848 die gesell-schaftliche Entwicklung zunehmend be-stimmte: die Forderungen der jeweils unter-drückten Klasse nicht mehr nur mit dem

ersetzt worden. Von Hobsbawm stammt derHinweis, dass es nie in der Geschichte zuvorso viele Arbeiter (Lohnabhängige) gegebenhabe. Erst jetzt hat sich die Prognose vonMarx, dass die Arbeiterklasse »an sich« zu ei-ner überwältigenden Mehrheit der Weltbe-völkerung werde, erfüllt. In ihrer Zusam-mensetzung sind jene Teile der Klasse, die inden alten Institutionen am besten vertretenwaren, nur noch eine kleine Minderheit. Mirgefällt das Bild von einer von ihren alten Ge-stalten verlassenen Arbeiterbewegung. Ichweiß, dass eine neue Masse noch keine neueBewegung ist. Ich weiß auch aus meiner in-ternationalen Arbeit, dass neue Bewegungenwie etwa die brasilianische CUT ziemlichrasch »alte Gestalten« annehmen können.Aber die alten Formen sind keine »heiligeKuh« mehr. Es werden neue gesucht: Ichnenne hier nur unter vielen die Arbeiterorga-nisationen in Asien oder Lateinamerika, diedie Arbeitsteilung von Partei und Gewerk-schaft aufheben wollen, ich nenne die Frau-engewerkschaften in Korea oder Mexiko.Wenn ich die Diskussionen um den letztenStreik bei Opel Bochum verfolge, dannscheint mir, dass selbst die »heiligste unserheiligen deutsche Kühe«, der Betriebsrat,nicht mehr tabu ist. Die Kolleginnen und

Kollegen dort sind, wenn auch nur imnachhinein, zu dem Schluss gekom-men, dass ihr Kampf eigene, andereVertretungsorgane gefordert hätte. DieGeschichte der Arbeiterbewegung istnicht an ihrem Ende, sie beginnt neuund vielleicht sogar mit der Perspekti-ve, dass es ihr endlich gelingt, unser al-tes Programm zu verwirklichen, dassdie Arbeiterklasse sich wirklich selbstbefreit.

Lieber HG, wir wissen, dass diesnur gelingt, wenn sich dabei die Dia-lektik von Theorie und Erfahrung ent-falten lässt. Für diese Arbeit, wo immersie stattfindet, ob in Bildungs- und an-deren Veranstaltungen, ob in Zeitun-gen oder wo auch immer, brauchen wirkeine Gehirntierchen, Organisations-huber oder Tatsachenfetischisten, son-dern Menschen, also Dich. (...)

Ganz herzliche solidarische Grüße undein schönes Fest Dein Jens

* Jens Huhn ist ehemaliger Redakteur der »links«,Mitglied der »express«-Redaktion und arbeitet imTIE-Bildungswerk e.V.

Jens Huhn*

»Immer neue Aufbrüche«

Sie verfehlen ihren Zweck gänzlich, sobaldsie sich darauf beschränken, einen Kleinkrieggegen die Wirkungen des bestehenden Sys-tems zu führen, statt gleichzeitig zu versu-chen, es zu ändern«.

Oft genug haben diejenigen, die von ih-rer Macht im Gewerkschaftsapparat einen»unsachgemäßen Gebrauch« machten, dieWege HGs gekreuzt. Man kann sogar sagen,dass sie seine ständigen Begleiter waren. DieArt von Gewerkschaftsarbeit, die HG undseinen Mitstreitern vorschwebte, fand nichtin Nischen statt, die von selbstvergessenenApparaten »machtfrei« gelassen wurden, son-dern sie mussten überhaupt erst geöffnetwerden. Dies gelang nicht immer. 1973 hatHG deshalb die IG Chemie verlassen.

Am Anfang des 21. Jahrhunderts ist, an-ders als noch zu manchen früheren Zeiten,keine reale Bewegung mehr auszumachen,die aus dem kapitalistischen Schlamasselhinausdrängt. Deshalb haben sich viele einst»subversive« Gewerkschafter auf den »Klein-krieg gegen die Wirkungen des bestehenden

Systems« verlegt. Auch dabei müssen Men-schen organisiert und mobilisiert werden.

(Insofern lässt er sich oberflächlich nurschwer von einer Gewerkschaftsarbeit unter-scheiden, die sich »als Hebel zur Abschaf-fung der Lohnarbeit« verstehen möchte.) Al-lerdings gibt es in diesem Kleinkrieg heuteimmer weniger Schlachten zu gewinnen,und zumeist ist die Siegestrophäe dabei nurnoch der pure Erhalt eines Arbeitsplatzes.Alle ideologischen Überhöhungen, die die-sen Kleinkrieg begleiten, wie »Mitgestal-tung«, »Zukunftssicherung«, »moderne« Ge-werkschaftspolitik usw. verdecken nur not-dürftig, dass er heute perspektivloser ist dennje. Im 19. und bis in die Mitte des 20. Jahr-hunderts vermochte er oft noch unverzügli-che Abhilfe aus einer elenden Situation undmoralische »Aufrüstung« gegen kränkendeUmstände schaffen. Heute kann nur mühse-lig verbrämt werden, dass die Resultate die-ses überhöhten Kleinkriegs häufig nichts an-deres sind als ein Schlag gegen die Würdeund das Selbstbewusstsein von Menschen.

Wer in den letzten Jahren mit HG häufi-ger über Gewerkschaften gesprochen hat, derkonnte erfahren, dass er sehr skeptisch war,ob sich eine andere Gewerkschaftsarbeit jegegen eine Politik des bloßen Machterhaltsoder des ideologisch überhöhten Kleinkriegsim Bestehenden durchsetzen könne. Den an-deren »klassischen Zweig« der Arbeiterbewe-gung, die Partei, hatte er – obwohl er überviele Jahre Mitglied der SPD war –, ob in al-ter oder irgendeiner neuen Form, schonlängst als untaugliches Instrument abge-schrieben. Ohne es deutlich auszusprechen,konnte man den Eindruck gewinnen, HGsähe das Ende der Arbeiterbewegung voraus.Zugleich aber beschäftigte er sich neugierigund offen mit allen Ansätzen und Versu-chen, zu einer neuen, anderen Arbeiterbewe-gung zu gelangen. Sein Interesse galt dabeider Entstehung der französischen SUDebenso wie den Days of Action der kanadi-schen Automobilarbeitergewerkschaft CAWoder den Versuchen zur Gründung einerneuen Arbeiterorganisation in den Freien

Produktionszonen Sri Lankas. Wenn HGSkepsis über die Zukunft der Arbeiterbewe-gung hat, dann ist es wohl eine vorsichtige.

Wir überlassen es jetzt dem Leser, weitereAspekte an HGs Leben zu entdecken. Wirgehen davon aus, dass Du selbst, HG, mitdem Bild von Dir, welches Dir hier zurück-gespiegelt wird, nicht immer einverstandenbist. Wenn wir uns an Dich erinnern, dannbeschäftigen wir uns mit uns selbst, werdenvielleicht gewahr, was wir selbst wollten, er-hofften, konnten oder auch nicht konnten.Dass wir dabei vieles Eigne auf Dich proji-zieren ist unvermeidlich. Aber zugleichmacht die Erinnerung an Dich noch etwasanderes deutlich:

»Wir brauchen die Historie, aber wirbrauchen sie anders als sie der verwöhnteMüßiggänger im Garten des Wissensbraucht.« (Nietzsche) Wir brauchen sie, umunser Leben zu bestehen.

In diesem Sinne: Herzlichen Glückwunschzu Deinem 70. Geburtstag

R U B R I K10 express 11-12/2005

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Mitte Juli 1971. An einem schönen Som-mertag versammeln sich aufgebrachte Che-miearbeiter von Caltex, Raunheim, und an-deren hessischen Chemiefirmen vor demvornehmen Hotel Schwarzer Bock in Wies-baden, wo sich im Obergeschoss Vertreterdes Arbeitgeberverbandes der ChemischenIndustrie und der IndustriegewerkschaftChemie-Papier-Keramik unter neutralemVorsitz gegenübersitzen, um eine bundeswei-te Schlichtung im Tarifkonflikt auszuhan-deln. Es gelingt den Arbeitern, an den ent-setzten Portiers vorbei die Treppen des Ho-tels hinaufzustürmen und so die Schlichtungzum Platzen zu bringen. Die IG Chemie-Spitze ist konsterniert. Sie entschuldigt sichbei den Arbeitgebern. Nur der hessischeLandesbezirksleiter Franz Fabian scheintüber diese Entwicklung nicht unzufrieden zusein. Er bereitet weiter den Streik vor.

Worum ging es?

1969 war es einer linken Mehrheit auf demGewerkschaftskongress der IG Chemie ge-lungen, die Organisation von der Notwen-digkeit einer betriebsnahen Tarifpolitik zuüberzeugen. Die Umsetzung sollte 1970 imLandesbezirk Hessen erfolgen. Das Konzepteiner betriebsnahen Tarifpolitik war nichtvon der IG Chemie erfunden worden. FritzSalm, Vorstandsmitglied der IG Metall, hat-te es bereits 1958 auf einem Kongress seinerGewerkschaft propagiert. Aber obwohl sichOtto Brenner noch 1965 dafür einsetzte, be-ließ es die IG Metall in der Folgezeit bei ver-balen Bekundungen, ohne Anstrengungenzu ihrer Realisierung zu unternehmen. ZweiZiele waren mit der betriebsnahen Tarifpoli-tik verbunden. Zum einen ging es darum,mittels betrieblicher Öffnungsklauseln imFlächentarifvertrag die Lohndrift zu verrin-gern, also die Kluft zwischen tariflich verein-barten und effektiv gezahlten Löhnen, dieinzwischen in den Großbetrieben bis zu 30Prozent ausmachte. Die Bedeutung derLohndrift für die Strategie der Unternehmerwar unübersehbar: »Da die übertariflichenLohnanteile keinen Rechtsanspruch beinhal-ten, hängen wichtige Bestandteile der Arbei-tereinkommen von den Entscheidungen derUnternehmensleitungen ab und konstitu-ieren so eine wichtige Quelle der Verhand-lungsmacht der Unternehmer« (Eckart Te-schner: »Zentralisierte Lohnpolitik und be-triebliche Lohnfindung«, in: Otto Jacobi,Walther Müller-Jentsch, Eberhard Schmidt:»Gewerkschaften und Klassenkampf«, Kriti-sches Jahrbuch 1972, Frankfurt/M., S. 144).Der damit verbundenen Schwächung derGewerkschaften sollte aktiv begegnet werdenund, das war das zweite Ziel, den Beschäftig-ten der Zusammenhang zwischen gewerk-schaftlicher Aktivität und Lohnhöhe wiederbewusst gemacht werden. Es sollten dazu be-triebliche Tarifkommissionen gebildet wer-den, in denen Betriebsräte, Vertrauensleuteund einfache Gewerkschaftsmitglieder ver-treten wären, die mit dem Arbeitgeber überentsprechende Regelungen verhandelten.Werner Vitt, stellvertretender Vorsitzenderder IG Chemie, nannte als Regelungsberei-che: Arbeitsordnung, spezielle Lohn- undLeistungssysteme, Prämien und Gratifikatio-nen, Rationalisierungsmethoden etc. (s. ex-press-international, Nr. 91, S. 8).

Die Arbeitgeber der Chemieindustriereagierten sofort mit heftigem Widerstandund einer Kampagne, die die verfassungs-rechtliche Legitimation einer betriebsnahenTarifpolitik dieser Art bestritt. Ihre Koali-

tionsfreiheit sei bedroht, weil die Gewerk-schaften die Arbeitgeberverbände aufzuspal-ten drohten. Da diese Argumentation nichtsehr überzeugend ausfiel und nicht einmalvon allen konservativen Juristen geteilt wur-de, beschritt der Arbeitgeberverband derChemischen Industrie einen wirkungsvolle-ren Weg. Weil der IG Chemie-Vorstand indieser Frage keine einheitliche Meinung ver-trat, zudem unter dem Druck stand, die Ein-kommenspolitik(»Konzertierte Ak-tion«) des SPD-Wirt-schaftsministersSchiller zu unterlau-fen, nutzten die Che-miearbeitgeber dieTarifverhandlungenim benachbarten Be-zirk Rheinland-Pfalzaus und boten dorteinen hohen Tarifab-schluss mit beträchtli-chen Vorauszahlun-gen und hohen pro-zentualen Steigerun-gen an. Entgegen vor-herigen Abspracheninnerhalb der IGChemie stimmte derdortige Bezirksleiterdem günstigen Ab-schluss zu. Das er-munterte die Be-triebsräte der großenhessischen Chemie-unternehmen (insbe-sondere der damali-gen Hoechst AG),ihre gewerkschaftlicheBezirksleitung unterDruck zu setzen. Inihren Betrieben seikeine Streikbereitschaft mehr vorhanden, ar-gumentierten sie. Nur bei Merck in Darm-stadt und bei der Caltex in Raunheim konn-te noch auf Unterstützung gerechnet wer-den, weil hier seit Monaten entsprechendeSchulungsveranstaltungen stattgefunden hat-ten. Das aber reichte für einen Streik nichtaus, und IG Chemie-Bezirksleiter Franz Fa-bian musste zähneknirschend nachgeben.Die Arbeitgeber hatten der Gewerkschaft dastarifpolitische Konzept buchstäblich abge-kauft, mit Lohnerhöhungen, die zu denhöchsten der Nachkriegszeit zählten. EineMitgliederbefragung über das Ergebnis, vonVertrauensleuten gefordert, wurde nicht zu-gelassen.

Und heute?

Betriebsnahe Tarifpolitik ist auf andere Wei-se wiedergekehrt. Differenzierte Tarifstan-dards für bestimmte Beschäftigtengruppen,allgemeine und spezielle Öffnungsklauseln,die nur teilweise von der Zustimmung derGewerkschaften abhängig sind, oder Härte-fallklauseln bei betrieblichen Notlagen sindweit verbreitet. Gewerkschaften, Betriebsräteund Belegschaften werden jetzt auf eine neueStufe der Verbetrieblichung der Tarifpolitikvorbereitet. CDU und FDP haben im Wahl-kampf angekündigt, die neue Regierungwerde gesetzliche Öffnungsklauseln für be-triebliche Bündnisse durchsetzen, die es denUnternehmensleitungen ermöglichen sollen,mit den Betriebsräten ohne Einschaltung derzuständigen Gewerkschaften weitgehendeAbkommen zur Tarifabsenkung abzuschlie-ßen. Die Belegschaften sollen so gezwungen

werden, Regelungen zuzustim-men, die zu Verschlechterungender Entgelt- und Arbeitsbedin-gungen führen. Nach einer re-präsentativen WSI-Umfrage beiBetriebsräten existieren betrieb-liche Bündnisse bereits in über20 Prozent der Betriebe, dieeine gute Auftragslage haben,einen guten Umsatz und guteGewinne machen (Böckler Im-

puls 11/2005, S. 2). Unternehmen machenalso zunehmend von den so genannten Öff-nungsklauseln Gebrauch, mit denen tem-porär von den im Tarifvertrag festgelegtenLeistungen abgewichen werden kann. Öff-nungsklauseln werden nach Meinung vonExperten zunehmend ausgenutzt, um Löhnezu drücken. In der Metallbranche hat sichdie Zahl solcher Sonderregelungen seit 1990mehr als verdreifacht. Dass dabei nicht im-

mer die Ertragslage der Firmen ausschlagge-bend war, verdeutlichen die Zahlen: So wei-sen die Tarifverträge im vergangenen Jahreine durchschnittliche Lohnsteigerung von1,2 Prozent aus. Die effektiven Brutto-Jah-resverdienste stiegen aber nur um 0,3 Pro-zent (www.mdr.de/umschau/1853614.html).

Die Begründung für »betriebsnahe Tarif-politik« hört sich von Arbeitgeberseite heuteso an: »Ziel einer betriebsnahen Tarifpolitikmuss es gerade sein, dass Notsituationen beiden Unternehmen gar nicht erst eintreten.«Das soll aber keinesfalls über tarifvertraglicheRegelungen geschehen: »Ein Ergänzungsta-rifvertrag hat im Übrigen seine rechtliche Ei-genständigkeit und damit auch seine eigeneLaufzeit. Es könnte unterschiedliche Laufzei-ten und damit nicht deckungsgleiche Zeitender Friedenspflicht geben. Vereinbarungenwie die erwähnten gegebenenfalls unterStreikdruck aushandeln zu müssen, würdedem betrieblichen Bedürfnis nach schnellerund sachnaher Klärung zuwiderlaufen. EineGewerkschaft ist nicht so betriebsnah wie einBetriebsrat. Mit einem Ergänzungstarifver-trag droht somit eine Auseinandersetzungüber organisationspolitische Ziele und nichtüber die Lösung eines sachlichen Problemseines Unternehmens.« Deshalb propagiertman ein weicheres Instrument: »Für dieUmsetzung der jeweiligen Differenzierungliegt der Vorteil von Öffnungsklauseln zuGunsten der Betriebsparteien auf der Hand:Geschäftsleitung und Betriebsrat können diebetriebsindividuellen Erfordernisse am be-sten beurteilen. Die Verhandlungen orientie-ren sich an den konkreten Interessen vonUnternehmen und Belegschaft. Außerbe-triebliche Aspekte bleiben außen vor und be-

einträchtigen weder die Verhandlungen nochdas Ergebnis.« (alle Zitate: Dr. UlrichBrocker, Hauptgeschäftsführer Südwestme-tall, bei einem Symposium des IG Metall-Vorstandes mit der Zentralen Verhandlungs-kommission des Arbeitgeberverbandes Ge-samtmetall zum Thema »Differenzierungdurch Tarifverträge« am 19. Oktober 2001in Bergisch-Gladbach).

Widerstand gegen diese Aushöhlung derFlächentarifverträge regt sich in den Ge-werkschaften allenthalben. Nur ein Beispiel:Betriebsräte des Groß- und Einzelhandelshaben gemeinsam mit ver.di die Initiative»Betriebsräte gegen tarifliche Öffnungsklau-seln« gestartet, mit der sie sich an Arbeitge-berverbände und politische Parteien wenden.Darin heißt es u.a.: »Als Betriebsräte wissenwir aus unserer täglichen Arbeit ● wie oft wir und damit die Belegschaftengegeneinander ausgespielt und damit eine

Spirale nach unten in Gang gesetzt werdensoll; ● wie mit dem Argument »entweder ihrverzichtet auf Geld, verlängert die Arbeits-zeit, oder es werden Beschäftigte entlassen«Belegschaften und Betriebsräte unter Druckgesetzt werden, um sich Konkurrenzvorteilezu verschaffen.

Wir wissen als Betriebsräte um die Be-deutung und Wichtigkeit der Tarifverträgeals Schutz für die Beschäftigten. Tarifverträ-ge haben die Aufgabe, Mindeststandards fürEinkommen und Arbeitsbedingungen zu re-geln und zu garantieren. Deshalb lehnen wirtarifliche Öffnungsklauseln, durch die dieseMindeststandards ausgehöhlt und abgesenktwerden sollen, entschieden ab. Wir warnenaber auch all diejenigen Parteien und Politi-ker, die eine Abweichung von Tarifverträgenper Gesetz durchsetzen und damit dasGrundrecht der Tarifautonomie beseitigenwollen. Auch solchen Vorhaben werden wir,wie bereits in der Vergangenheit, unserenWiderstand entgegensetzen.« (ver.di meldetam 16. September 2005, dass inzwischenmehr als 5 300 Betriebsratsmitglieder ausüber 1 000 Betrieben des Handels diesenAufruf unterstützt haben).

Welt verkehrt?

Wofür sich viele linke Gewerkschafter, nichtzuletzt auch Heinz Günter Lang, einmal ve-hement eingesetzt haben, nämlich durcheine betriebsnahe Tarifpolitik eine stärkereBeteiligung der betrieblichen Gewerkschafts-mitglieder an der Gestaltung ihrer Lohn-und Arbeitsbedingungen durchzusetzen,

Eberhard Schmidt*

Verkehrte WeltBetriebsnahe Tarifpolitik gestern und heute

R U B R I K express 11-12/2005 11

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droht also ins Gegenteil verkehrt zu werden.Dabei zeigt sich: Den Unterschied umsGanze macht das Zusammenspiel von Ge-werkschaft und Betriebsräten aus. Wird die-ses Band zerrissen, sei es durch gesetzlicheRegelungen oder eine erpresserische Politikder Unternehmensleitungen, dann wird denBelegschaften die Möglichkeit der Gegen-wehr genommen. Betriebsnahe Tarifpolitikmacht nur dann Sinn, wenn es sich um denAbschluss von Tarifverträgen handelt undwenn die davon Betroffenen am Abschlussbeteiligt werden, nicht aber, wenn einseitigveränderbare Abkommen an ihre Stelle tre-ten. Oder um mit den Worten des ehemali-gen Präsidenten des Bundesarbeitsgerichts,Thomas Dieterich, zu sprechen, Tarifverträ-ge dürften nicht zur unverbindlichen Richt-linie verkommen, die nur so lange Geltungbeanspruchen, »bis ein Arbeitgeber seine Be-legschaft mit Stilllegungsprojekten so langeunter Druck setzt, bis sie alles unterschrei-ben« (Einblick 13/05 v. 11. Juli 2005, S. 3).Betriebliche Bündnisse darf es nur in absolu-ten Notlagen mit Zustimmung der zuständi-gen Gewerkschaften geben. Was sonst heuteunter »betriebsnaher Tarifpolitik« läuft, isteine Mogelpackung.

Die Darstellung des Konflikts über die betriebsnahe Tarif-politik in der IG Chemie geht auf persönliche Erfahrungendes Verfassers zurück, der damals Pressesprecher des IGChemie-Bezirks Hessen war, s. dazu auch: EberhardSchmidt: »Zur Strategie der betriebsnahen Tarifpolitik«,in: Otto Jacobi, Walther Müller-Jentsch, EberhardSchmidt: »Gewerkschaften und Klassenkampf«, KritischesJahrbuch 1972, Frankfurt/M., S. 145-161)

* Prof. (em.) für Politikwissenschaft an der Uni Olden-burg (seit 1974). Damals: Pressereferent beim Vorstandder IG Metall in Frankfurt (1966-1969), Pressesprecherdes IG Chemie-Bezirks Hessen (1970), Redakteur des »ex-press-international«, dann »express« von 1964 – 1973.Mitherausgeber der Jahrbücher: »Gewerkschaften undKlassenkampf. Kritisches Jahrbuch« (später: »KritischesGewerkschaftsjahrbuch«) 1972–1988/89

kenntnis der Geschichte zu politischem Ver-halten und Handeln.

In der persönlichen, aber auch in der kol-lektiven Lebensgeschichte ist diese Schub-kraft auf »erneuerbare Energien« angewiesen.Kaum jemand weiß das besser als derjenige,der die Verhältnisse ändern will und nachNiederlagen nicht nur das Lied aus den Bau-ernkriegen anstimmen will: »Geschlagenkehren wir nach Haus, die Enkel fechtensbesser aus...« Orte, an denen diese Energiengewonnen werden können, sind rar gewor-den. Auch der utopische Vorrat scheint auf-gezehrt. Kostbarsind die verbliebe-nen Erkenntnissegeworden, dienoch auf eine an-dere, eine bessereWelt verweisen.Daher ist das Ver-bliebene zu hütenund zu pflegen wieeine kostbareWahrheit, mit derman nicht zu ver-schwenderisch um-gehen darf. Undneue Anläufescheinen notwen-dig, die Gangartweiter zu üben undim unwegsamenGelände der Ge-genwart das Ni-veau zu erreichen,von dem ausÜberblicke undAusblicke zu ge-winnen sind. Dienotwendige Aus-dauer und langerAtem ist nichts,was wir von Geburt an mitbekommen. Bei-des gewinnt man durch Übung, durch Pra-xis. Politische Kondition ist also durchausüber die Lebensjahre zu gewinnen und lässtsich erhalten in der Lust am Aufspüren derWidersprüche, im öffentlichen und tätigenEinspruch und in gelebter Freundschaft.

HG – wie er unter Freunden genanntwird – ist, solange ich ihn kenne, das gelebteBeispiel meiner Betrachtungen. Wir sind uns1953 als junge Gewerkschafter im Darm-städter Gewerkschaftshaus in der Rhein-straße begegnet. Es war die Zeit der hinter-hältig geplanten Wiederaufrüstung. Wirgründeten und warben für den Verband derKriegsdienstverweigerer. Wir organisiertenmit ganz wenigen Gleichgesinnten die erstenöffentlichen Demonstrationen gegen die Po-litik der Wiederaufrüstung. Es war für HGeine Selbstverständlichkeit, sich der Oster-marschbewegung und der Kampagne fürDemokratie und Abrüstung anzuschließenund aktiv im Hessischen Ausschuss mitzuar-beiten. Sein Name steht unter dem damalsweit verbreiteten »Darmstädter Aufruf«. HGengagierte sich in den Aktionen gegen dieNotstandsgesetze. Er hielt als hauptamtlicherFunktionär der IG Chemie in allem demDruck stand, der auf diejenigen ausgeübtwurde, die mit der außerparlamentarischenOpposition auf die Politik in Bonn Einflussnehmen wollten.

Als hauptamtlicher Gewerkschaftsfunk-tionär war er gegen alle Machenschaften desApparats ein unbeugsamer Verteidiger derinnergewerkschaftlichen Demokratie. In ei-nem Konflikt um die Kandidatenaufstellungbei den Betriebsratswahlen der Fa. Merck in

Natürlich wird jeder für sich beanspruchen,aufrecht durchs Leben gegangen zu sein.Wer will schon zugeben, dass er sich ge-beugt, geduckt, versteckt, gedrückt hat? Werwill dazu stehen, dass er ausgewichen ist, denWiderspruch und Widerstand gescheut hat,wo es nötig gewesen wäre, nein zu sagen?Wer bekennt sich dazu, dass er Konfliktenam liebsten aus dem Weg geht, das geringereÜbel akzeptiert und so gut über die Jahre ge-kommen ist? Den Vorwurf des Opportunis-mus will niemand einstecken, der sich fürdas Pragmatische entschieden hat und damitauch Erfolge vorweisen kann. Aufrecht sindalle durchs Leben gegangen, die nicht verle-gen sind, die Elastizität und Flexibilität ihresCharakters zu erklären und zu begründen.

Wovon soll also hier die Rede sein? Vonder Geradlinigkeit auf den krummen Wegendes Lebens. Von der Unbeugsamkeit, wo dasAnschmiegen und Mitmachen erwartet wird.Von der Unverzichtbarkeit politischer undletztlich auch moralischer Prinzipien in einerZeit, in der der angebliche »Wandel« alleszur Disposition stellt. Aufrechter Gang alsKategorie des Politischen in einem emphati-schen Sinne, davon soll hier die Rede sein.

Verschlissen scheint der Begriff zu sein,der allzu oft und billig verwendet wird.Kleingeredet wurde er, seiner Herkunft undseines Gehalts beraubt. Erkennbar sind dieFolgen dieses Verschleißes. Es hat nichtsmehr Bestand, was dem Menschen in derAussichtslosigkeit dieser Zeit Orientierungund Maßstab für sein Verhalten geben könn-te. Warum dennoch an diesem Bild einerhumanen Existenz unter den Bedingungendes Inhumanen, an diesem Begriff, der ineine andere Zukunft weist, festhalten?

Für Ernst Bloch, dem dieser Begriff zuge-schrieben wird, ist der »aufrechte Gang« un-mittelbar und zielbestimmend mit dermenschlichen Würde verbunden. Sie hat fürihn naturrechtlichen Ursprung, steht im Ge-gensatz zu einem auf Herrschaft bezogenenRecht, dem Recht der Obrigkeit, das Ein-ordnung erzwingen soll. »Naturrecht ist vonHaus aus revolutionär«, sagt Bloch in einemGespräch, es ist das Recht des Menschen aufseine Befreiung. Ihr gesellschaftlicher Ort istdas Soziale, ihr Ziel ist Solidarität und herge-stellte Würde, ihre Instrumente sind die er-kämpften Rechte und Freiheiten der Mei-nungsäußerung, des Versammlungsrechts,des Koalitionsrechts, des Streikrechts. »Auf-rechter Gang« ist die einzig mögliche Bewe-gungs- und Verkehrsform des Gewerkschaf-ters. Gewerkschaftsarbeit kann und darf da-her nichts anderes sein, als die ständigeEinübung und Ausübung dieser Gangart,denn anders wären die Ziele nicht zu errei-chen, für die die Gewerkschaften historischeinmal angetreten sind. Schon der gedankli-che Verzicht muss notwendigerweise zurprogrammatischen und strategischen Unter-ernährung und damit zum Dahinsiechenführen.

Das Bild des »aufrechten Gangs« hat dengesellschaftlichen Gegenentwurf zu den ka-pitalistischen Ausbeutungs- und Herrschafts-verhältnissen aufgenommen, vorstellbar, mitKlang und Kraft. Das muss man wollen, mitungebrochenem Entschluss und anhaltenderEntschiedenheit und mit dem moralischenHintergrund, der in die Autonomie des Sub-jekts die Leidensgeschichte aufnimmt, derdoch ein Ende bereitet werden soll. Das Bilddes »aufrechten Gangs« hat eine mensch-heitsgeschichtliche Begründung und in ho-hem Maße eine unverzichtbare alltagsethi-sche Schubkraft. Sie erst führt aus der Er-

Darmstadt war 1972 für ihn der Punkt er-reicht, an dem er sich entscheiden musste:Für die gewählten gewerkschaftlichen Ver-trauensleute oder ein Paktieren mit Betriebs-räten, die ihre eigenen und auch von obengedeckten Interessen verfolgen wollten. HGkündigte sein Arbeitsverhältnis als Ge-schäftsführer der IG Chemie-Verwaltungs-stelle Darmstadt.

Die Wege des aufrechten Gangs sind sel-ten die geradlinigen. Sie führen manchmalabseits der von den Großorganisationen be-tonierten Pisten des Politischen. Für einige

Jahre fand er an der JugendbildungsstätteDietzenbach ein Betätigungsfeld, das es ihmerlaubte, in der Bildungsarbeit die Ziele auf-rechtzuerhalten, für die er als Gewerkschaf-ter seit seiner Jugend eingetreten war. Dasgerade in Hessen beschlossene Bildungsur-laubsgesetz bot einen Rahmen für kreativeFormen der politischen Bildung. Der Bruchmit den Oberen der IG Chemie war gerade-zu die Gewähr für eine basisorientierte Bil-dungsarbeit, die nicht nur in der IG Chemieausgegrenzt und diffamiert wurde. Dietzen-bach war ein gesuchter Ort zur Regenerie-rung gewerkschaftlicher Energien. Dass esHG zurück zu einer hauptamtlichen Funkti-on drängte, die er dann bei der Gewerk-schaft HBV fand, mag nach seinen Erfah-rungen verwunderlich sein. Doch dies ge-schah in einer Zeit und unter Umständen,die mit der Hoffnung und gar nicht mit derZuversicht verbunden waren, wieder unmit-telbarer auf gewerkschaftliche Praxis Einflussnehmen zu können. Hoffnung kann ent-täuscht werden, sonst wäre sie keine Hoff-nung. Unbeugsam auch dieser Enttäuschungstandzuhalten, das ist in Zeiten der Dürredie einzige Chance, die Kategorie der Mög-lichkeit geschichtsmächtig zu erhalten. Aufseinem Weg ist HG nicht alleine. Wir wün-schen ihm und uns, noch viele Jahre seineBegleiter sein zu können.

* Edgar Weick, Jahrgang 1936, in den 50er Jahren in dergewerkschaftlichen Jugendarbeit und in der SPD-Linkenin Darmstadt engagiert, in den 60er Jahren Referent inder gewerkschaftlichen Bildungsarbeit, beruflich bis 1999in der Erwachsenenbildung tätig. Im Sozialistischen BüroMitarbeit an der Sozialistischen Betriebskorrespondenzund viele Jahre Mitglied der express-Redaktion.

Edgar Weick*

Betrachtungen zum »aufrechten Gang«

Broschüre mit Texten von H.G. Lang und seinem

alter ego A.D. Timm im express und in verschie-

denen Büchern sowie Beiträge von Weggefähr-

ten: Manfred Birkhahn, Peter Grohmann, Wolf-

gang Günther, Kirsten Huckenbeck/Nadja Ra-

kowitz, Jens Huhn, Otto Jacobi, Anton Kobel,

Hans-Werner Krauß, Sybille Laturner, Mia Linde-

mann, Ulrich Mückenberger, Mathias Münter-

Elfner, Walter Müller-Jentsch, Hinrich Oetjen,

Knut Riedel, Bernd Riexinger, Eberhard Schmidt,

Edwin Schudlich, Wolfgang Stather, Norbert

Trautwein, Karin Volkmer/Ernst Dohr, Ewald

Wehner und Edgar Weick. (198 Seiten)

Zu beziehen über die Redaktion des express

für 9 Euro zzgl. Porto und Versand

[email protected], Tel. (069) 88 50 06

R U B R I K12 express 11-12/2005

Da geht noch was:Leben an der Basis

Heinz-Günter Lang zum 70sten

»Ohne ... freien Meinungskampf

erstirbt das Leben in jeder öffentlichen Institution,

wird zum Scheinleben,

in dem die Bürokratie allein das tätige Element bleibt.«

(Rosa Luxemburg)

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Stärkung, Sicherung, Wiederherstel-lung der Konkurrenz- bzw. Wettbe-werbsfähigkeit, so lauten die Formeln,mit denen Öffnungsklauseln inFlächentarifen durchgesetzt, Betriebs-vereinbarungen mit Lohnabsenkun-gen begründet, nationale oder eu-ropäische Sozialpartnerabkommenverabschiedet werden. Ob diese Be-griffe auch eine konsistente Orientie-rungsgröße für Belegschaften undihre Gewerkschaften darstellen kön-nen, dieser Frage ging Rainer Roth aufder Herbst-Tagung der Autokoordina-tion vom 29.-30. Oktober in Bad Sas-sendorf nach. Wir dokumentieren sei-nen überarbeiteten Beitrag:

In der Pforzheimer Vereinbarung von Febru-ar 2004 bekannten sich IG Metall und Ge-samtmetall ausdrücklich zum Ziel, die Wett-bewerbsfähigkeit zu sichern. Lohnsenkungenund Arbeitszeitverlängerungen bis auf 40Stunden sollen mit Zustimmung der Ge-werkschaft auch dann schon möglich sein,wenn dadurch die zukünftige Wettbewerbs-fähigkeit gestärkt werden könnte, nicht nurdann, wenn eine aktuelle Krise zu bewälti-gen ist. Im Gegenzug sollen Arbeitsplätze ge-sichert werden. Viele Kollegen erhoffen sichvon der Stärkung der Wettbewerbsfähigkeitihrer Unternehmen ebenfalls, dass sie ihreArbeitsplätze und damit die Voraussetzungfür den Verkauf ihrer Arbeitskraft sichernkönnen.

Was ist Wettbewerbsfähigkeit?

Wettbewerbsfähigkeit heißt nicht in ersterLinie, besser zu arbeiten als andere oder imWettbewerb mit anderen bestehen zu kön-nen. Die Wettbewerbsfähigkeit bezieht sichletztlich ausschließlich auf die Rendite einesUnternehmens: »Unternehmen müssen sichso aufstellen, dass sie sich im internationalenWettbewerb behaupten können. Das Umfeldspielt eine große Rolle. Kündigen Sparkassenan, dass sie ihre Eigenkapitalrendite auf 15Prozent verbessern wollen, klingt das maß-voll im Verhältnis zur Deutschen Bank. Die-

se kündigte Umstrukturierungen mit demZiel an, ihre Eigenkapitalrendite von 17 auf25 Prozent zu steigern. Dabei ist aber zuberücksichtigen, dass sich die DeutscheBank an ihrer internationalen Konkurrenzorientieren muss, wieetwa den Schweizer Ban-ken UBS und CreditSuisse, der Citigroup,der Royal Bank of Scot-land oder der HSBC.Dort sind Renditen vonmehr als 20, ja sogar vonüber 30 Prozent vorSteuern üblich.« (BDI-Präsident Thumann, Fi-nancial Times Deutsch-land, 4. April 2005)Kern der Wettbewerbs-fähigkeit ist die Renditein einer bestimmtenHöhe und sonst garnichts. Das gilt für alleWirtschaftszweige, nichtnur für die Banken.

Bezogen auf ein Landals Standort bedeutetWettbewerbsfähigkeit:»Die Rentabilität deseingesetzten Kapitals bestimmt ... maßgeb-lich ... die Standortqualität eines Landes.«(Deutsche Bundesbank, Monatsbericht10/2000, S. 31)

Doch wie hoch muss die Rendite sein,damit Wettbewerbsfähigkeit besteht? Das istunklar.

Die Wettbewerbsfähigkeit ist auf jedenFall immer dann nicht ausreichend, wenndie Renditen unterdurchschnittlich sind. Daaber niemand einen Überblick über die Ren-diten insgesamt hat, weil sie auf Privatei-gentümer entfallen, orientiert man sichzunächst an der Konkurrenz. Wenn Porsche13 Prozent Rendite hat und Daimler nurvier Prozent, gilt Daimler als nicht wettbe-werbsfähig. Wenn aber Toyota noch höhereRenditen aufweist, Toyota ebenfalls nicht.

Das Kapital will zumindest eine durch-schnittliche Rendite erreichen. Unterdurch-schnittlich bedeutet eigentlich schon »unren-tabel«. »Das führt immer wieder zu derschwierigen Lage, dass Mitarbeiter auch beiordentlicher Gewinnsituation von Unterneh-men bei Umstrukturierungen entlassen wer-

den.« (Thumann)Eben deswegen, weildie Rendite im Ver-hältnis zu Renditenvon Konkurrenten zuniedrig ist.

Allerdings ist derHorizont des Kapitalsnicht auf den jeweili-gen Wirtschaftszweig

beschränkt. Das Kapital orientiert sich auchan der Rendite von Finanzanlagen. Dieseschließt auch Kursgewinne ein, die mitWertsteigerungen von Unternehmen usw. zuerzielen sind. Das Kapital zieht sich aus allen

Bereichen zurück, in denen kurz- oder lang-fristig keine ausreichende Rendite zu erzielenist.

Letztlich kann das Kapital aber mit kei-nem Stand der Wettbewerbsfähigkeit, d.h.mit keiner Rendite zufrieden sein. Kapitalstrebt nach einer möglichst überdurch-schnittlichen Rendite, insbesondere wenn esnur Geldkapital ist. Die Wettbewerbsfähig-keit wäre aber selbst dann zweifellos nochhöher, wenn der Abstand der Rendite zurKonkurrenz noch größer würde.

Das Bedürfnis des Kapitals nach Profit istinsofern unstillbar. Die Konkurrenz der Ka-pitalien untereinander erzwingt das. DennKonzerne, die heute noch an der Spitze derProfitraten stehen, können morgen schonzurückgefallen sein. Peter Hartz, der Verflos-sene, und immer noch IG Metall-Mitglied,äußert dazu: »Wettbewerb heißt heute, aufeinem Teppich laufen, der unter einem fort-gezogen wird, um gleichzeitig beweglicheZiele zu treffen. Das Gefühl der Sicherheitkennt nur noch derjenige, der schnellerläuft, als der Boden entgleitet.« (Hartz: »Job-

R U B R I K express 11-12/2005 13

Die Forderungsdiskussion inder IGM läuft auf Hochtouren:Aus dem Vorstand kamen – vorRedaktionsschluss dieser Aus-gabe – Forderungen von bis zufünf Prozent, während Gesamt-metallchef Kannegießer 1 bis1,4 Prozent, »besser darunter«,als Ausgleich entlang des Pro-duktivitätsfortschritts für an-gemessen hält – und damit dieInflation gar nicht mehr berück-sichtigt wissen will. KollegInnenaus der Autokoordination, ei-nem Zusammenschluss kriti-scher Automobilbetriebsräte,haben unterdessen beschlos-sen, politisch gesetzte Einfluss-faktoren auf die Höhe der Le-

benshaltungskosten in die For-derungsdiskussion einzubezie-hen. Im Labournet ist zudemmittlerweile ein Diskussionsfo-rum zur Vorbereitung der Me-tall-Tarifrunde eingerichtet.

Zur Zeit flattern uns saftige Rech-nungen mit Preissteigerungen fürStrom und Gas ins Haus, die überkurz oder lang auf alle Waren draufgeschlagen werden, von den angezo-genen Kraftstoffpreisen ganz zuschweigen. Weitere Belastungendurch die Umverteilungspolitik derBundesregierung (Kürzung Pendler-pauschale, Mehrwertsteuererhöhung

etc.) sind auch schon beschlosseneSache.

In den Diskussionen aus den Be-trieben wird deutlich, dass wir end-lich wieder spürbare Reallohner-höhungen brauchen und den Trendder mäßigen Lohnentwicklung dervergangenen 10 Jahre (0,9 ProzentReallohnverlust) umkehren müssen.

Arbeitgeber kündigen LRTV II

Die im Lohnrahmentarifvertrag IIfestgelegten, relativ strengen Bestim-mungen bezüglich der Leistungsfest-setzung in Akkordbereichen und dieSteinkühlerpause sind den Arbeitge-bern schon lange ein Dorn im Auge.Ihre Strategie, die Erholzeitpausen

und die vermögenswirksamen Lei-stungen (VWL) in einer Mogel-packung mit der Tarifrunde zu ver-rechnen, darf nicht aufgehen. Erhol-zeiten brauchen wir angesichts im-mer kürzerer Taktzeiten mehr dennje, und auch die VWL muss es wie-der für alle geben!

Für die zuständigen Gremienund den IG Metall Vorstand gibt eskeinen Grund, hinter die Diskussionin den Betrieben zurück zu fallen!Und zur Durchsetzung muss recht-zeitig der Einsatz der vollen gewerk-schaftlichen Kampfkraft vorbereitetwerden! Wir können ganz anders,wenn wir wollen!

Forderungen aus den Betrieben:DC Untertürkheim: 6 Prozent undkeine »Verrechnung« mit LRTV IIund VWLDC Wörth: 9,5 Prozent und Kündi-gung des Pforzheimer AbkommensDC Hamburg: 270 Euro, mindestens8 Prozent

Porsche Stuttgart: 7 Prozent

Quelle: alternative – für die Kolleginnen undKollegen im DaimlerChrysler-Werk Unter-türkheim, Nr. 12, Dezember 2005

revolution«, Frankfurt 2001, S. 121) Die ru-helose Unersättlichkeit und chronische Un-zufriedenheit des Kapitals liegt folglich inseiner – gesellschaftlichen – Natur.

Wenn LohnarbeiterInnen das Ziel derSteigerung der Wettbewerbsfähigkeit akzep-tieren, unterwerfen sie sich damit demHeißhunger des Kapitals nach Profit undverlieren jede Selbständigkeit dabei, ihre In-teressen zu vertreten. Sie müssten sich dafüreinsetzen, dass die Profitrate z.B. von zehnProzent auf 15 Prozent steigt und zu diesemZweck befürworten, dass sie bei geringeremLohn mehr arbeiten. Sie wären von vornher-ein in der Defensive. Eine Arbeiter- bzw. Ge-

werkschaftsbewegung mitselbständigen Interessen ist aufdieser Basis nicht möglich.Nur Ohnmacht und Resigna-tion bzw. das Sich-Fügen inLohnsklaverei bliebe übrig,verbunden mit dem Appell andas Kapital, doch ein Einse-hen zu haben.

Dagegen schwächt derKampf um höhere Löhne oderVerkürzung der Arbeitszeitbzw. für alle Forderungen, dieauf eine Verbesserung der Ver-kaufsbedingungen der WareArbeitskraft abzielen, dieWettbewerbsfähigkeit, weil erdie Profite und damit die Pro-fitraten mindert. An das Kapi-tal zu appellieren, sich dochmit einem Gewinn als sol-chem zufrieden zu geben, istder vergebliche Versuch, so et-was wie »Gerechtigkeit« und

eine »soziale Balance« in das Verhältnis zwi-schen Lohnarbeit und Kapital einzubauen.

Exkurs: zur Relevanz vonUmsätzen und Exportraten

Wenn das Kapital Lohnsenkungen und Ar-beitszeitverlängerung fordert, um seine Ren-dite zu steigern, halten Gewerkschaftsführeroft entgegen: »Aber wir sind doch Export-weltmeister, sind also schon wettbewerbs-fähig, sonst wären wir doch kein Exportwelt-meister. Deshalb könnt ihr uns doch inRuhe lassen. Was wollt ihr eigentlich?«

Die Wettbewerbsfähigkeit drückt sichaber nicht in erster Linie in der Höhe desUmsatzes bzw. des Exportüberschusses aus,sondern in der Höhe der Rendite. Ford hatseinen Umsatz von 2000 bis 2003 gesteigert,seine Rendite aber ist gefallen, weil 2003 1,1Mrd. Euro Verlust ausgewiesen wurden. (FR,5. November 2004) Höherer Umsatz kannauch durch Rabattschlachten zustande kom-men.

Fliegende TeppicheWettbewerbsfähigkeit – erstrebenswertes Ziel für Gewerkschafter und Belegschaften?

Reale LohnerhöhungenAlternative-Kollegen zur Metall-Tarifrunde 2006

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Der Streik der DüsseldorferGate Gourmet-Beschäftigtengeht in die zehnte Woche,nachdem es kurzzeitig so aus-sah, als ob ein Kompromisszwischen GG und NGG gefun-den worden wäre. Doch die Eu-ropa-Zentrale von GG zog ihreZustimmung zurück. Für den17. Dezember haben daher So-lidaritätskomitees, z.T. in Ko-

operation mit beiden (!) betrof-fenen Gewerkschaften, NGGund ver.di, Aktionen an denFlughäfen in Frankfurt a.M.,Berlin und Düsseldorf geplant.»Der Widerstand gegen Nied-riglöhne und verschärfte Ar-beitshetze, das Ausspielen ver-schiedener Standorte durch ei-nen multinationalen Konzernhat exemplarische Bedeutung

für viele Branchen,« begründetdie Workers Center InitiativeRhein Main, an der wir uns alsexpress beteiligen, die geplan-te Solidaritätsaktion in Frank-furt a.M.: »Wir suchen die Öf-fentlichkeit am Flughafen, weilder Streikbruch auch über eineGate Gourmet-Niederlassunghier in der Nähe organisiertwird und weil hinter der Glitzer-

zone des Airports immer mehrprekäre Arbeitsverhältnissegeschaffen werden.« Das be-trifft nicht nur GG, sondernauch den Branchenprimus, dieLufthansa-Tochter LSG Sky,worauf die Workers Center In-itiative mit einem ihrer Beiträ-ge für den kommenden Protest-tag aufmerksam machen will:

Der Flughafen als angebliche »Job-maschine« der Region und insbe-sondere der geplante Flughafenaus-bau schafft Arbeitsplätze in gerade-

zu unglaublichen Dimensionen, soversprechen unisono die FRA-PORT als Betreiberin des Rhein-Main-Flughafen und die hessischeLandesregierung. Doch welche Artvon Arbeit hat der Flughafen imAngebot? Was spielt sich in Wirk-lichkeit hinter den Glitzerfassadendes Flughafens wirklich ab?

Im Sicherheitsdienst oder imFrachtumschlagbereich und in denBetrieben, die die FRAPORT ausihrem Unternehmen outgesourcthat, arbeiten Beschäftigte inzwischenunter haarsträubenden Bedingun-gen, vor allem in den Betrieben, die

R U B R I K14 express 11-12/2005

Die USA z.B. haben ein riesiges Handels-bilanzdefizit. Dennoch waren dort die Net-toprofitraten des verarbeitenden Gewerbeszumindest von Mitte der 80er Jahre bis weitin der 90er Jahre im Durchschnitt höher alsin Deutschland. (Vgl. Brenner: »Boom &Bubble«, Hamburg 2002, S. 53) Die USAgalten deshalb als wettbewerbsfähiger.

Die maßlose Exportabhängigkeit Deutsch-lands ist auch eine Folge dessen, dass der Bin-nenmarkt in Deutschland bei gleichem Kapi-taleinsatz und gleicher Produktivität erheb-lich kleiner ist als der der USA, so dass dieExportlastigkeit umso größer sein muss. Dar-aus eine höhere Wettbewerbsfähigkeit, d.h.höhere Renditen abzuleiten, zielt ins Leere.

Der bloße Verkauf von Waren ist genau-so wenig das wichtigste Ziel des Kapitals wiedie Schaffung bzw. Erhaltung von Arbeits-plätzen oder die Zahlung von möglichst ho-hen Löhnen, um möglichst viele Waren ver-kaufen zu können. Waren zu verkaufen,Marktanteile zu erobern und Lohnarbeiterzu beschäftigen, all das sind ausschließlichMittel zum Zweck der Kapitalverwertung.Die Stolz darauf, Exportweltmeister zu sein,übersieht, dass es für das Kapital keinenGrund zur Bescheidenheit geben kann, auchwenn man es noch so sehr dazu auffordert.

Leider gibt es keine Berechnungen, wiehoch die Renditen einzelner Konzerne derAutomobilindustrie sind bzw. der Brancheals Ganzer (und wenn es sie geben sollte,spielen sie in der Argumentation keine Rol-le). Dazu müsste man sich einen Überblickdarüber verschaffen, wie hoch das in Sachan-lagen, Gebäuden und Vorräten investierteKapital ist, sowie über das für Personal aus-gegebene Kapital, insbesondere das für Ar-beiterInnen. Die Gewinne müssten vor Steu-ern, Zinsen und Mieten/Pachten und nachderen Zahlung berechnet werden. Darauswürde sich dann z.B. ergeben, dass die Ren-dite von Daimler 2004 oder auch 2005 im-mer noch niedriger war als die z.B. von2000, dem Jahr des Höhepunkt des letztenAufschwungs. Nicht zuletzt daraus lässt sichauch die Aggressivität ableiten, mit derDaimler die Rendite durch Lohnsenkungenund Arbeitszeitverlängerung zumindest aufdas alte Niveau anheben will.

Mit Aussagen wie: »Heute schwimmendie Konzerne in einer Profitflut, ersaufenschier im Geld und geizen dennoch mit In-vestitionen. Jahr für Jahr steigen die Profite,zuletzt explodierten sie förmlich ...,« werdendie Probleme vertuscht. (Fred Schmid/Con-rad Schuhler: »Bilanz 2004«, isw-wirtschafts-info 37, April 2005, S. 35) Auch bei steigen-den Gewinnen können die Renditen fallen.Investitionszurückhaltung ist nicht zuletzteine Folge »zu niedriger« Profitraten. Diegrößere Aggressivität des Kapitals, mit der esLöhne senken will, ebenso.

Arbeitsplatzsicherung durchWettbewerbsfähigkeit?

Arbeitgeber, Bundesregierung und DGB ha-ben sich 1998 in einem Bündnis für Arbeitverpflichtet, »gemeinsam auf einen Abbauder Arbeitslosigkeit hinzuarbeiten und dieWettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft nach-

kurrenten aus dem Feld schlagen kann, kannes unter Umständen seine Produktion bzw.seine Verkaufszahlen auf Kosten andererstärken. Dadurch kann es in der Lage sein,die Zahl seiner Beschäftigten zu erhaltenbzw. sogar noch zu erhöhen. Konkurrenz istja immer auch Konkurrenz von Einzelunter-nehmen untereinander.

Während so z.B. der Einzelhandel insge-samt die Zahl der Arbeitsplätze verringerthat, haben einzelne Konzerne die Zahl ihrerBeschäftigten auf Kosten anderer erhöht.Dasselbe gilt auch für die Konkurrenz unterkapitalistischen Ländern. Wenn Deutsch-land Exportweltmeister ist, bedeutet das fürandere Länder negative Handelsbilanzenund Arbeitsplatzabbau. Wie Heiner Flaß-beck in der FR feststellte, bedeuten Exporteimmer auch, dass die entsprechende Produk-tion und die damit verbundenen Arbeitsplät-ze im Importland zurückgehen. Es han-delt sich letztlich um einen Verdrän-gungswettbewerb.

Wenn Belegschaften den Standpunkteinnehmen, die Wettbewerbsfähigkeitihres Unternehmens zu stärken, arbeitensie also letztlich daran, Kolleginnen undKollegen anderer Betriebe national undinternational überflüssig zu machen.Und doch können sie nicht anders,wenn sie die Bedingungen des Verkaufsihrer Arbeitskraft erhalten wollen. IhrSchicksal hängt ja tatsächlich vom Standder Wettbewerbsfähigkeit ihres Unter-nehmens ab.

Tatsächlich ist das sinkende Arbeits-volumen ein grandioser Fortschritt.Doch unter den Bedingungen derLohnarbeit führt die steigende Produkti-vität dazu, dass die Nachfrage nachWare Arbeitskraft ab- und die Arbeitslo-sigkeit deswegen zunimmt. Die steigen-de Produktivität unterminiert also dieVerkaufsbedingungen der Ware Arbeits-kraft, der Lohnarbeit als ganzer undstellt sie letztlich in Frage: »Neue Stellenwerden von Unternehmen nur bei entspre-chender Gewinnperspektive eingerichtet.«(Börsen-Zeitung, 6. Februar 2003) Was aber,wenn man, um sein Kapital profitabel zuverwerten, relativ immer weniger Arbeits-kraft braucht?

Auf der Basis der Lohnarbeit führt dieProduktivität, d.h. die Steigerung der Wett-bewerbsfähigkeit dazu, dass die Verkaufsbe-dingungen der Ware Arbeitskraft immer un-sicherer werden. Sie führt dazu, dass die Ar-beitslosigkeit und damit das Überangebot anWare Arbeitskraft zunimmt. Wenn derIGM-Vorsitzende Jürgen Peters fordert:»Deutschland braucht Unternehmer, denendie Beschäftigung genauso wichtig ist wieder Gewinn« (direkt 8/2005), verbreitet erIllusionen über das Wesen des Kapitals.Wenn man Aufsichtsrat bei VW ist, bleibtdas nicht aus. Peters will Vertrauen schaffen,wo keines angebracht ist.

Lohnsenkungen, um Arbeitsplätze zu sichern?

Ein Überangebot der Ware Arbeitskraft auf-grund steigender Produktivität führt wie bei

haltig zu stärken.« (Rainer Roth: »Nebensa-che Mensch«, Frankfurt a.M. 2003, S. 508)Obwohl die Organisationsform des Bünd-nisses für Arbeit aufgekündigt wurde, exi-stiert es von der Grundhaltung der DGB-Führung immer noch weiter.

Wie aber wird die Wettbewerbsfähigkeit,d.h. die Rendite gestärkt? Die Steigerung derProduktivität, d.h. des Abbaus von Arbeits-plätzen, ist eines der wichtigsten Mittel dazu.Das Ziel des Kapitals besteht jedoch nicht inder Schaffung von Arbeitsplätzen.

Götz Werner (Inhaber von dm, derzweitgrößten Drogeriemarktkette Deutsch-lands) auf die Frage: »Wie wichtig ist ihnendie Schaffung neuer Arbeitsplätze?« »Über-haupt nicht wichtig. Sonst wäre ich ja einschlechter Unternehmer. (...) Die Wirtschafthat nicht die Aufgabe, Arbeitsplätze zuschaffen. Im Gegenteil. Die Aufgabe derWirtschaft ist, es die Menschen von der Ar-beit zu befreien. (Na ja. Die Lohnarbeit völ-lig abzuschaffen ist für das Kapital nichtmöglich, weil es dann ja auch sich selbst ab-schaffen würde. Das Kapital verkörpertnichts Anderes als unbezahlte Arbeit; R.R.)Und das ist uns in den letzten 50 Jahren jaauch grandios gelungen. (...) Kein Unterneh-mer fragt sich morgens, wenn er in den La-den kommt: Wie kann ich heute möglichstviele Menschen beschäftigen? Allein die Vor-stellung ist schon absurd. Die Frage lautetumgekehrt: Wie kann ich mit einem mög-lichst geringen Aufwand an Zeit und Res-sourcen möglichst viel (...) erreichen. (...)Arbeit einzusparen. Das ist ein absolutes un-ternehmerisches Prinzip.« (Stuttgarter Zei-tung vom 02. Juli 2005)

Werners Ehrlichkeit ist erfrischend ge-genüber der herrschenden Verlogenheit, diedie Bekämpfung der Arbeitslosigkeit alswichtigstes Ziel ausgibt – dies allerdings nur,um dadurch einen Druck auf Lohnsenkun-gen auszuüben. Die Wettbewerbsfähigkeitdes Kapitals wird also im Wesentlichen nichtdadurch gestärkt, dass immer mehr Leuteeingestellt, sondern dass möglichst viele ab-gebaut werden und die Produktivität derVerbleibenden steigt. Das gilt überall, auchim Herz der deutschen Industrie, der Metall-verarbeitung (s. Tabelle).

Der Maschinenbau hat einen Weltmark-tanteil von 20 Prozent. Er gilt als besonderswettbewerbsfähig. Die Beschäftigtenzahl laghier 1991 bei 1,6 Mio. Im Jahre 2005 sindes noch 858 000. Die Automobilindustriezählte 1991 828 000 Beschäftigte. 2004 wa-ren es nur noch 770 000. (FR, 29. Januar2005) Doch abgebaut wird überall, wie einBlick auf die Zahl der sozialversicherungs-pflichtigen Vollzeitstellen in Deutschlandzeigt: 1991 waren dies noch 29,50 Mio.,2004 war die Zahl auf 23,75 Mio. gesunken,d.h. 5,75 Mio. oder rd. 20 Prozent weniger.2005 sollen es weitere 300 000 weniger sein,2006 weitere 200 000. (Vgl. MonatsberichteDeutsche Bundesbank, Juli 2005, S. 16)

Das Kapital führt den Konkurrenzkampfmit dem Abbau der Zahl der Lohnarbeite-rInnen. Das ist die gesamtwirtschaftlicheTendenz. Das Ganze ist allerdings relativ.Denn wenn ein Unternehmen auf Grundgünstiger Produktionskosten Marktanteilegewinnt, weil es über den Preis seine Kon-

jeder anderen Ware unvermeidbar zu einemsinkenden Preis dieser Ware, auch wenn sichdie LohnarbeiterInnen dagegen wehren unddie Senkung von Löhnen vielleicht zeitweiseverhindern oder abmildern können. Es herr-schen die Sachzwänge des Marktes, hier desArbeitsmarktes.

Arbeitslosigkeit führt besonders dann zueinem Druck auf Lohnsenkungen, wenn dieArbeitslosenunterstützungen gesenkt und dieZumutbarkeitsbestimmungen verschärftwerden. (z.B. mit Hartz IV) Die gegenwärti-ge Missbrauchskampagne ist ein Versuch,auf diesem Weg noch weiterzukommen.LohnarbeiterInnen, die darauf hereinfallen,schneiden sich letztlich ins eigene Fleisch.(Vgl. Rainer Roth: »Sozialhilfemissbrauch«,Frankfurt 2004) Der Druck auf die Löhnesteigt weiter, wenn der Arbeitsmarkt sichz.B. mit der EU erweitert und dadurch die

Konkurrenz der Arbeitskräfte untereinanderund Lohndumping gefördert wird.

Wenn das Lohnniveau fällt (egal in wel-cher Form), erhöht das die Profite und stei-gert die Wettbewerbsfähigkeit. Die Personal-kosten bei Daimler und anderen Konzernenwurden 2004 um 25 Prozent gesenkt. Es gabdas Versprechen, im Gegenzug keine be-triebsbedingten Kündigungen bis 2012 aus-zusprechen. Dazu Jörg Hoffmann (IGM-Be-zirksleiter von BW): »Mir ist bundesweit kei-ne Vereinbarung bekannt, in der eine solchlangfristige Beschäftigungs- und Einkom-menssicherung mit entsprechenden Investi-tionsentscheidungen getroffen wurden.«(FTD, 26. Juli 2004) Deswegen seien dieBeschäftigten letztlich die Gewinner der Ver-einbarung. Auch GesamtbetriebsratschefErich Klemm äußerte sich zufrieden: »Einlangfristig sicherer Arbeitsplatz ist von un-schätzbarem Wert.« (Ebd.)

Ein Jahr später war die Vereinbarungschon gebrochen, obwohl die Profitraten ge-stiegen waren, aber eben nicht hoch genug.Deshalb der Spruch: »Unbestreitbar ist, dassder Stuttgarter Autokonzern sparen muss,um im internationalen Wettbewerb mithal-ten zu können« (FTD, 30. September 2005)– eben dem Wettbewerb um Profitraten.

»Traumjobs«Aktionstag gegen Gate Gourmet in Düsseldorf, Berlin, Frankfurt

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Die Zusage bis 2012 wird als »wohlwol-lende innerbetriebliche Absichtserklärung –mehr nicht« bezeichnet. Auf die Frage, obsich die Gewerkschaft jetzt getäuscht fühlenwürde, antwortete Berthold Huber: »Daswäre jetzt zu weit gegriffen.« (FTD, 30. Sep-tember 2005) Mit anderen Worten: Er wus-ste schon vorher, dass das Versprechen nichtswert war. Getäuscht worden sind (vonDaimler und IGM) nur die Kollegen. Jeden-falls, soweit sie sich haben täuschen lassen.Die Vereinbarung der IGM mit Daimler hatihren Zweck erfüllt: Die Renditen steigenwieder.

Es gibt auf der Basis des Kapitals keineSicherheit der Arbeitsplätze. Schon alleindeshalb nicht, weil die ungeheuere Produkti-vität eines Konkurrenten (hier von Toyota)von den anderen aufgeholt werden muss,wenn sie mithalten wollen. Die steigendeProduktivität muss ferner zu gewaltigenÜberkapazitäten führen, die durch Entlas-sungen wieder abgebaut werden. Weltweitwerden die Überkapazitäten in der Autoin-dustrie auf 20-25 Prozent geschätzt. Überka-pazitäten sind unabhängig von der Höhe derLöhne. China baut gerade riesige Überkapa-zitäten in der Automobilproduktion auf. Esist die Produktion von Privateigentümernvon Waren für einen unbekannten Welt-markt, die, angetrieben vom Wettbewerbuntereinander, an irgendeinem Punkt immerzu Überproduktion führt. Jeder Boom lan-det im Krach. Und Investitionen führenletztlich zur Krise.

Auch wenn mit Zustimmung der DGB-Gewerkschaften die Lohnsteigerungen er-heblich geringer ausfallen als bei Konkur-renzländern, steigt die Rendite relativ dazuund damit die Wettbewerbsfähigkeit. DerReallohn ist seit 1995 um 0,9 Prozent gefal-len. In anderen Ländern ist er deutlich ge-stiegen. Eine Vertreterin der Dresdner Bank:»Die Firmen haben (durch die Lohnzurück-haltung) enorm an Wettbewerbsfähigkeit ge-genüber den anderen Euro-Ländern gewon-nen. Das erlaubt ihnen jetzt Marktanteile in-nerhalb der Währungsunion zu gewinnen.«(FTD, 19. August 2005)

Noch ein paar Bemerkungen zum ThemaWettbewerb

● Wettbewerb läuft über den Preis derWaren, die verkauft werden. Je niedriger diePreise, desto stärker wird der Druck auf dieLohnarbeiterInnen, für weniger Geld mehr zu arbeiten, desto höher aber die Pro-fite.● Krisen sind das notwendige Produkt desWettbewerbs von gegeneinander konkurrie-renden Warenproduzenten. Krisen werden

durch die Steigerung der Wettbewerbsfähig-keit vorbereitet. ● Wer nicht fähig ist, im Wettbewerbstandzuhalten, wird liquidiert. Es findet eine»natürliche Auslese« statt: »Survival of the fit-test« (Überleben des Stärksten – so hieß eineAnzeige der Dresdner Bank), Fressen undGefressen werden. Die LohnarbeiterInnenkämpfen dabei gegeneinander und entziehensich gegenseitig ihre Existenzgrundlage.● Die Konkurrenz des Kapitals untereinan-der ist die Basis von Kriegen. Mit ihrer Hilfekann man Wettbewerber noch schnellerüberwältigen als über die friedliche ökono-mische Konkurrenz.

Das war die Voraussetzung der beidenWeltkriege.

Eine Arbeiterbewegung in dem Sinne,dass LohnarbeiterInnen sich als Klasse mitgemeinsamen Interessen gegen das Kapitalstellen, sich gegenseitig unterstützen (natio-nal und international) und darüber Kraftentwickeln, ist ausgeschlossen, wenn das Zieldie Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit,d.h. der Renditen des Kapitals ist.

Was wäre die Alternative?

LohnarbeiterInnen müssen, wenn sie sichverteidigen wollen, Forderungen aufstellenund Kämpfe dafür organisieren. Zweifellossenken aber alle Versuche der Lohnarbeite-rInnen, die Verschlechterung ihrer Lage auf-zuhalten oder abzumildern, wenn sie erfolg-reich sind, die Profitraten. Wenn die Arbei-terbewegung imstande wäre, z.B. bedeutendeLohnerhöhungen durchzusetzen (und wennes nur zwecks Steigerung der Binnennachfra-ge wäre), wenn ein ordentlicher gesetzlicherMindestlohn durchgesetzt würde, wenn esgelänge, die Arbeitszeit bei vollem Lohnaus-gleich auf 30 Stunden zu senken, würden dieRenditen geringer und die Wettbewerbs-fähigkeit schwächer. Wenn aber die Kapital-verwertung schwieriger wird, provoziert dasals Antwort stärkere Produktivitätssteigerun-gen, Entlassungen, Produktionsverlagerun-gen, also neue Versuche, die Renditen wiederanzuheben usw.

Wenn die LohnarbeiterInnen die Wettbe-werbsfähigkeit des Kapitals stärken, machensie sich auf Dauer selbst immer mehr über-flüssig und tragen dazu bei, das Lohnniveauunter die Reproduktionskosten zu senken.Wenn sie jedoch die Wettbewerbsfähigkeitdes Kapitals schwächen, indem sie ihre Inter-essen als Warenverkäufer erfolgreicher durch-setzen, wenn sie also die Verteilung zu ihrenGunsten beeinflussen, schwächen sie dieRenditen des Kapitals und damit ebenfallssein Interesse, Arbeitskräfte zu beschäftigen.

Auf dem Boden der Kapitalverwertung,der Lohnarbeit, der Produktion für den

Markt bzw. den Weltmarkt gibt es deshalbauf Dauer keine befriedigende Perspektivefür die arbeitenden Menschen, wenn sichder Horizont des Kampfs auf dem Bodendes Verkaufs der Ware Arbeitskraft bewegt. ● Hier herrscht keine Freiheit, sondernOhnmacht. ● Hier führt steigende Produktivität nichtzu einem leichteren, sondern zu einemschwereren Leben.● Hier beherrschen Menschen, egal, was siemachen, ob sie die Wettbewerbsfähigkeitstärken oder schwächen, nicht die Verhält-nisse, unter denen sie leben. Die Verhältnissebeherrschen vielmehr sie. ● Hier werden Menschen von Sachen be-herrscht, statt umgekehrt.

Das System der Lohnarbeit selbst ist dasProblem, nicht die Lohnhöhe. Die Kapital-verwertung selbst ist das Problem, nicht dieWettbewerbsfähigkeit des Einzelkapitals.Und dennoch muss die Arbeiterklasse, wennsie ihre Selbstachtung nicht verlieren will,wenn sie ihre Lebenshaltungskosten deckenund etwas von dem Reichtum abhaben will,den sie produziert, Forderungen aufstellenund Kämpfe organisieren, die ihre Lage ver-bessern bzw. Verschlechterungen abmildern.Tut sie das nicht, hat sie sich als Klasse auf-gegeben. Können Forderungen nicht erfülltwerden, zeigt das nicht, dass sie unrealistischwaren, sondern dass befriedigende Lebens-verhältnisse trotz steigenden Reichtums undriesiger Produktivität unter kapitalistischenBedingungen nicht möglich sind.

Wirtschaft muss für denMenschen da sein?

Lohnarbeit ist von Kapital abhängig und ansein Schicksal gekettet. Wenn das Kapitalsein Profitinteresse verliert, liegt die Lohnar-beit brach. Und wie will man dann sich undseine Familie ernähren? Wenn wir von Inter-essen reden, müssen wir immer auch berück-sichtigen, dass die LohnarbeiterInnen in ge-wissem Umfang auch ein Interesse an der Er-haltung des Kapitals haben, das sie durchihre Arbeit vergrößern und verwerten. Siesind auch Warenverkäufer, die das Kapitalals Käufer brauchen. Sie haben einerseits dasInteresse, sich gegen das Kapital zu behaup-ten, weil sie ihre Ware Arbeitskraft möglichstteuer verkaufen und für ihren Lohn mög-lichst wenig Arbeitskraft hergeben wollen.Andererseits aber haben sie das Interesse, dasKapital am Leben zu halten bzw. es zu stär-ken, um ihre Arbeitslosigkeit zu verhindern,die eintritt, wenn das Kapital die Lust ver-liert, sie zu beschäftigen. Deshalb sind sie be-reit, wie alle Warenverkäufer, ihre Ware auchbilliger zu verkaufen, um sie überhaupt ver-kaufen zu können.

Die Problem wäre nur dann nicht gege-ben, wenn das System der Lohnarbeit nichtmehr existieren würde, wenn der Zweck dermenschlichen Entfaltung nicht die Produkti-on von immer mehr Geld als Kapital wäre,wenn nicht die Produktion von Waren fürzahlungsfähige Käufer auf Märkten, sonderndie Produktion von Gütern für Bedürfnissevon Menschen unabhängig von ihrer Zah-lungsfähigkeit im Mittelpunkt stünde und

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nicht unter die Tarifverträge des Öf-fentlichen Dienstes fallen und alsselbst geschaffene Billigkonkurrenzauf die FRAPORT-BeschäftigtenDruck ausüben. Ein Beispiel:

Bei der Catering-Firma LSGSky, (noch) 100-prozentige Tochterder Lufthansa und mit ca. 6 500Beschäftigten der weltweit größteCaterer überhaupt, wird die Beleg-schaft durch den Lufthansa-Kon-zern massiv unter Druck gesetzt.Im April 2005 drohte die Lufthan-sa, sich komplett aus dem Cate-ringservice zurückzuziehen undsich auf ihr »Kerngeschäft«, den

Flugverkehr, zu konzentrieren. ImSeptember 2005 wurde mit Hilfedieses Erpressungsmanövers für dieStandorte Frankfurt und Münchenmit allein 4 000 Beschäftigten eineÄnderung des Tarifvertrags durch-gesetzt. Tendenz: Angleichung andie (schlechteren) Einkommens-und Arbeitsbedingungen bei denDrittanbietern, Spirale nach unten.Ab 1. Oktober gelten bei LSG umca. 25 Prozent niedrigere Einstiegs-gehälter, die Arbeitszeit wird von38 auf 40 Stunden angehoben –selbstverständlich ohne Lohnaus-gleich. Bereits im ersten Jahr sollen

durch das Sparprogramm, das dieBeschäftigten zu tragen haben, 10Prozent der Personalkosten einge-spart werden in einer Höhe von 30Mio. Euro. Begründung der Luft-hansa Chefetage: Anpassung an das»marktübliche Niveau« dieser Bran-che und Sicherung der »Wettbe-werbsfähigkeit«. Bis 2010 sagteLSG zwar einen Verzicht auf be-triebsbedingte Kündigungen zu –dafür aber steigt die Arbeitshetzeso, dass »einem die Luft wegbleibt«,und die Beschäftigten zahlen mitLohnverzicht. (N24 vom 12. Aprilund 9. September 2005)

»Kostensenkung« 2005: FRAPORT-Beschäftigte un-ter Hochdruck

Mittlerweile hat die FRAPORT AGunter dem Stichwort »Kosten-senkung« die Angriffe auch auf dieArbeitsbedingungen ihrer eigenen,(noch) nicht outgesourcten Beschäf-tigten intensiviert. Dies soll zu einerPersonalkostenersparnis von 70 bis100 Mio. Euro beitragen. Inhaltlichzielt dieses Programm auf Änderun-gen der Arbeitszeiten, Tarifstrukturenund betriebliche Sozialleistungen.Für die Beschäftigten heißt das im

Klartext: »Neue Arbeitsplätze sind… nur durch Mehrarbeit ohneLohnausgleich, flexiblere Arbeitszei-ten, geringere Urlaubsdauer und an-dere Zugeständnisse der Belegschaftzu erreichen.« Dies widerlegt nach-drücklich die fromme Legende, derFrankfurter Flughafen habe als »Job-maschine« die Aufgabe, möglichstzahlreiche und gut bezahlte Jobs an-zubieten. Eine Legende, die nichtnur von findigen Werbeagenturen,sondern aus den höchsten politi-schen Etagen verbreitet wird.

Rolf Engelke, Workers Center Initiative Rhein-Main

wenn nicht jedes Unternehmen in Konkur-renz zueinander um höchstmögliche betrieb-liche Gewinne kämpft, sondern die Gesell-schaft auf Rechnung der ganzen Gesellschaftarbeitet, d.h. ein Gesamtüberschuss das Zieldes Wirtschaftens ist.

Diejenigen, die die Wettbewerbsfähigkeitals Ziel haben, müssen danach trachten,möglichst alle Bestrebungen der Lohnarbei-terInnen zu untergraben, ihre Position aufKosten des Kapitals zu stärken. Gekaufte Be-triebsräte, Aufsichtsräte, Co-Manager wirkenin diesem Sinne. Die Stärkung der Wettbe-werbsfähigkeit des Kapitals schlägt letztlichgegen die LohnarbeiterInnen aus.

Das Gegenteil ist notwendig: Durch denKampf für Löhne, kürzere Arbeitszeiten so-wie den Kampf gegen Entlassungen usw. sei-ne Lage halten oder sogar verbessern zu wol-len, ist absolut notwendig, wenn man nichtzum willenlosen Arbeitstier herabsinken will.Ob sich das Kapital zu 15 Prozent oder zu10 Prozent verwertet, könnte den Lohnar-beiterInnen egal sein.

Unter kapitalistischen Bedingungen kannweder die Stärkung noch die Schwächungder Wettbewerbsfähigkeit die Lösung sein.Daraus folgt zwingend, dass der Kampf zurVerteidigung der bescheidenen Lebensver-hältnisse mit einer fundamentalen Kritik ander Lohnarbeit, der Kapitalverwertung, derWarenproduktion und den gegenwärtigenEigentumsverhältnissen verbunden werdenmuss.

Die ehemaligen Parteivorsitzenden derSPD, Müntefering und Schröder, betonenimmer wieder: Die Wirtschaft muss für denMenschen da sein und nicht der Mensch fürdie Wirtschaft. Das gibt in dieser Allgemein-heit wenig Sinn, denn wenn die Wirtschaftfür den Menschen da ist, dann sollten dieMenschen auch für diese Wirtschaft da sein.Müntefering meint etwas Anderes. Er meint,das Kapital muss für den Menschen da seinund nicht umgekehrt der Mensch für dasKapital. Das aber ist bestenfalls ein frommerWunsch, ein Stoßgebet an den lieben Gottund eine illusionäre Träumerei, wenn man esnicht als Volksbetrug bezeichnen will. Abermit der Formel: die Wirtschaft müsse fürden Menschen da sein, ist auch der Wunschvon Millionen angesprochen, dass ihre Be-dürfnisse im Mittelpunkt des Wirtschaftensstehen müssten. Nicht nur als Konsumen-ten, sondern auch als Produzenten, die etwasdarüber zu sagen haben wollen, wie und wassie produzieren.

Letztlich haben aber nur Eigentümer et-was zu sagen. Wenn also die Wirtschaft fürden Menschen da sein soll, dann müssen diearbeitenden Menschen auch Eigentümer derArbeitsmittel sein, mit denen sie arbeiten.Dann erst können sie auch entscheiden, wieund für welche Zweck sie arbeiten. Sie hät-ten dann auch nicht das Interesse, sich selbstarbeitslos zu machen bzw. ihre Lebensver-hältnisse bei steigendem gesellschaftlichenReichtum zu verschlechtern und ihre Ar-beitszeit bei steigender Produktivität zu er-höhen.

* Rainer Roth ist Professor an der Fachhochschule Frank-furt am Main, Fachbereich Sozialwesen, und Mitherausge-ber des Ratgebers zum Arbeitslosengeld der »AG TuWas«

Metallverarbeitung (Maschinenbau, Elektrotechnik, Fahrzeugbau)Gewinne Beschäftigte Lohnanteil Produktivität(Mrd. EUR) in Mio. am Umsatz

1980 11,4 28,3% 1001991 28,4 5,118 25,2% 139 (80-91: +39%)2000 42,4 3,559 19,1% 236 (91-00: +68%)

(IG Metall: »Report 2003«, Produktion, Einkommen, Beschäftigung, Frankfurt 2003, S. 49, 60, 72, 74; IG Metall: »Datenfür Metaller 1998«, Frankfurt 1998, S. 48, 71)

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Der Arbeitskreis Soziale Verei-ne in Frankfurt/M. und Regiongibt seit einigen Jahren ingrößeren, aber regelmäßigenAbständen die Zeitung »aben-teuer sozialarbeit« heraus. Dieersten acht Nummern dieserZeitung wurden vom ver.di-Be-zirk Hessen jeweils finanziertund auch verteilt. Solange – jasolange bis die Frankfurter Kol-legInnen ihrem Unmut über denTVöD schriftlich Luft machenwollten und eine Urabstim-mung über den TVöD forderten.Das ging ver.di dann doch einwenig zu weit, und sie weigerte

sich, die Zeitung zu finanzierenund zu verteilen.Jetzt erst recht! – dachten sichdie KollegInnen und machtenihre Zeitung einfach selbst. Wirdokumentieren hier ihren Arti-kel. Die LeserInnen mögen ent-scheiden, was das über eine de-mokratische Gewerkschaft aus-sagt ...

Die Angestellten und Sozialarbeite-rInnen in den Vereinen und stadtna-hen Einrichtungen sind genauso wiedie Beschäftigten des Bundes und

der Gemeinden vom Abschluss vonver.di mit den öffentlichen Arbeitge-bern des neuen Tarifvertrags Öffent-licher Dienst (TVöD), der den altenBAT/BMTG ablöst, betroffen.

Allein die Länder weigern sich,den TVöD zu übernehmen. Sie sindaus den Tarifverhandlungen ausge-stiegen und wollen Druck machen,um eine allgemeine Arbeitszeitver-längerung – in Hessen orientiert anden Beamtinnen und Beamten (= 42Stunden pro Woche) durchzusetzen.Die Arbeitzeit im Bereich Bund undGemeinden beträgt nach dem neuenTVöD einheitlich 39 Stunden proWoche. Im Namen der Angleichung

Ost–West müssen wir im Westen inder Regel eine Arbeitszeitverlänge-rung um eine halbe Stunde hinneh-men.

Aber die Beschäftigten in denGemeinden und damit auch denstadtnahen Vereinen und Einrich-tungen, soweit sie sich am BATorientiert haben, kann es noch härtertreffen:

Die Gemeinden haben Öff-nungsklauseln durchgesetzt, nachdenen auch auf landesbezirklicherEbene eine Arbeitszeitverlängerungbis zu 40 Wochenstunden vereinbartwerden kann!

Was die Entgelttarife und Zula-gen betrifft, soll es für keine/n der-zeit Beschäftigten eine Verschlechte-rung geben. Nennt sich Besitzstands-wahrung – wurde mitvereinbart. AbOktober 2005 wird das derzeitigeBruttogehalt ohne Verluste in dieneue Tabelle (unabhängig von derStellenplatzbeschreibung) übertra-gen. Dazu kommt eine Festbe-

tragszahlung von 300 Euro pro Jahr2005–2007. Entgelt-Tarifkampf fin-det in diesen Jahren nicht statt.

Wir im ver.di-Arbeitskreis SozialeVereine zusammengeschlossenenKolleginnen und Kollegen lehnenden TVöD ab, weil er auch für diederzeit Beschäftigten Verschlechte-rungen bringt:● Es kommt entgegen allen Be-hauptungen zu einer Kürzung desWeihnachts- und Urlaubsgeldesdurch Einführung einer Jahresson-derzahlung;● Es werden eine leistungsorientierteBezahlung, die nicht tarifvertraglichgeregelt ist, sondern auf betrieblicherEbene vereinbart wird, und leistungs-abhängige Stufenaufstiege einge-führt, es erfolgt die Überleitung inden TVöD in eine Entgeltgruppe,die der Aufstiegsvergütungsgruppeentspricht, nur noch, wenn am Stich-tag 1. Oktober 2005 50 und mehrProzent der maßgeblichen Bewäh-rungszeit zurückgelegt sind;

R U B R I K16 express 11-12/2005

In der September-Ausgabe des ex-press hatte Nadja Rakowitz einen Ar-tikel über die Tarifverhandlungen derangestellten Ärzte und die förmlicheTrennung des Marburger Bund vonver.di geschrieben, der nicht nur denmb wegen der ständischen Be-schränktheit seiner 30-Prozent-mehr-nur-für-die-Ärzte-Forderung, sondernauch ver.di wegen ihrer vornehmenZurückhaltung in ihren Forderungenund der Intransparenz beim Zustan-dekommen des TVöD kritisiert. Dassdie Argumente des mb geheucheltsind, wurde in den letzten Wochen im-mer deutlicher. Gegen zu lange Ar-beitszeiten – und noch mehr gegenfeudale Hierarchien im Krankenhaus –hätten sich die Ärzte auch in den letz-ten Jahrzehnten schon längst wehrenkönnen und müssen. Allein, dasscheint nicht das Hauptinteresse, son-dern es geht hauptsächlich um die Be-zahlung – wenn auch auf Kosten dernichtärztlichen Kollegen.

Nun gehören die Mitglieder des mbnicht unbedingt zu unseren Lesern,dafür aber die von ver.di. Von Ihnenbekamen wir verschiedene Zuschrif-ten mit Zustimmung und auch Kritik.Wir dokumentieren hier eine längereAntwort von Georg Schulze-Ziehaus,beim ver.di-Landesbezirk Hessen fürGesundheit zuständig, und zwei Zu-schriften von ver.di-Vertrauensleutenaus Frankfurt/M. und Sulzbach/Saar.Was für ein heißes Eisen der TVöD undnoch mehr die Kritik an ihm ist, zeigtder Artikel von den KollegInnen vomArbeitskreis Soziale Vereine auf die-ser Seite unten.

Die »Verallgemeinerung der Ärzte-Forderun-gen« als neue Strategie für ver.di empfiehltNadja Rakowitz in ihrem Artikel zu den Ak-tionen des Marburger Bundes (mb) für eineneigenständigen Tarifvertrag für Klinikärzte.Bekanntlich hat der mb kurz vor Abschlussdes Tarifvertrages für die bei Bund undKommunen beschäftigten ArbeiterInnenund Angestellten (TVöD) ver.di die Voll-macht entzogen, den Tarifvertrag auch stell-

solchen (wohltuenden?) Forderungen ab-wenden.

Nun lohnt es sich m.E. allerdings nichtan dieser Stelle, die aktuelle Polemik zwi-schen mb und ver.di zu vertiefen. Es soll hierum die Diskussion der von Nadja aufgewor-fenen Frage nach der richtigen Strategie derKlinikbeschäftigten gehen. Dabei möchteich eines klar stellen: Die Situation der Assis-tenzärztInnen in den meisten Kliniken mussdringend verbessert werden. »Frühkapitalisti-sche Ausbeutung« (Montgomery) ist sicherin vielen Fällen einezutreffende Be-schreibung der Ar-beitssituation, ohnedamit die Fragenach einergrundsätzlichen Än-derung der gesell-schaftlichen Ver-hältnisse zu stellen.Allerdings ist dieFrage, ob ÄrztInnenihre bisher massen-haft geleisteten un-bezahlten Über-stunden nun gel-tend machen, nichtabhängig von derAnwendung desBAT oder desTVöD – in jedemdieser Tarifsystemesind Überstunden,wenn sie denn nichtzu vermeiden sind,zu bezahlen. Dieentscheidende Frageist vielmehr, ob dieärztlichen KollegIn-nen ihre Situationals die von abhängigBeschäftigten be-greifen, die in diesem Punkt gleiche Interes-sen wie ihre KollegInnen in der Pflege oderden Putzdiensten haben.

Wenn allerdings die abhängig Beschäftig-ten in den Kliniken die gleichen Interessenhaben, wäre es dann nicht am besten, wennnicht nur die ÄrztInnen, sondern gleich alleKlinikbeschäftigten mit der Forderung nacheiner 30-prozentigen Lohnerhöhung in denArbeitskampf zögen? Hier allerdings – klagtNadja – halte sich ver.di »vornehm zurück«und mache Werbung für einen ominösen

vertretend für den mb zu unterschreibenund fordert den Abschluss eines besonderenTarifvertrages für Ärzte in öffentlichen Klini-ken. Kernforderung dieses Tarifvertrags isteine um 30 Prozent höhere Vergütung fürdas ständische mb-Klientel. Ob mit demBruch der Verhandlungsgemeinschaft derbisherige Bundes-Angestelltentarifvertrag(BAT) für die mb-Mitglieder »zunächst wei-terhin« gilt, wie Nadja schreibt, ist allerdingszu bezweifeln. Diese Position vertritt der mb.Allerdings haben die beim Bund und denkommunalen Krankenhäusern beschäftigtenÄrztInnen die Bindung ihres Arbeitsverhält-nisses an den BAT bzw. einen »diesen erset-zenden Tarifvertrag« im Einzelarbeitsvertragvereinbart. Somit wurden auch sie jetzt inden TVöD übergeleitet.

Welche ständischen Phantasien die ak-tuelle mb-Politik bedient, wird deutlich,wenn man das Spiegel-Interview mit Mat-thias Schrappe, dem neuen Dekan der medi-zinischen Fakultät in Witten-Herdecke, zuden Medizinerstreiks liest:

»Spiegel: Ums Geld geht’s also gar nicht?Schrappe: Das wollte ich nicht sagen... Vor al-lem aber werden immer mehr Nacht- und Be-reitschaftsdienste nicht mehr mit Geld, sondernmit Freizeit abgeglichen. Das geht enorm insGeld. Mit den Einkommen konnte man früher,als ich Assistenzarzt war, sein Gehalt fast ver-doppeln...Spiegel: ... um sich dann mit 32 endlich denschicken Roadster zu kaufen.Schrappe (lacht): Tja, das war damals die Zeitder Porsches und der weißen Slipper. Die Ärades Halbgotts in Weiß, wenn Sie so wollen...«(Spiegel, Nr. 45, vom 7. November 2005)

Dass der mb tatsächlich über die Angehöri-gen des ärztlichen Standes hinaus zu einerGesundheitsgewerkschaft mutieren könnte,erscheint kaum wahrscheinlich. Die aktuellePolitik bedient ausschließlich Interessen sei-ner ständischen Klientel. So auch Montgo-mery in der Marburger Bund Zeitung (MBZ)vom 16. November 2005: »Im Moment sindunsere gesamten Kapazitäten auf das Errei-chen eines guten Tarifvertrages für unsereKernklientel ausgerichtet… Dafür müssenauch andere Berufsgruppen Verständnis ha-ben.« Diejenigen, um deren Verständnis ge-beten wird, und die die Porsches gegebenen-falls mit eigenem Gehaltsverzicht zu finan-zieren hätten, werden sich mit Grausen von

Tarifvertrag namensTVöD, der nach ihrer Auf-fassung beim genauenNachrechnen nicht nur fürÄrzte, sondern auch fürandere Berufsgruppengrundsätzlich schlechterausfalle. Hier müsse sich

ver.di spätestens angesichts eines Erfolges desmb eine andere Strategie überlegen.

Diese – zugegeben zugespitzte – Schluss-folgerung in Nadjas Artikel hat m.E. zweigrundsätzliche Fehler. Zum einen gibt siePolemiken aus Publikationen des mb gegenden TVöD wieder, zu denen ich gerade vonihr eine sorgfältigere Analyse erwartet hätte.Wenn der mb die düstere Prophezeiung aus-stößt, wenn nur die von ver.di getäuschtennichtärztlichen Berufsgruppen endlich ein-mal rechnen würden, würden sie endlich er-

kennen, wie schlecht der neue Tarifvertragfür sie sei, bedeutet das noch längst nicht,dass das Ergebnis der Berechnung tatsächlichso ausfallen wird, wie der mb das unterstellt.Im Gegenteil: In den Kommunen und beimBund können derzeit mehr als eine MillionBeschäftige anhand ihrer aktuellen Gehalts-abrechnung den Wahrheitsgehalt dieser Be-hauptungen feststellen, nämlich: keine Ver-schlechterung. Und im Gegensatz zu ihrenKollegInnen in den Unikliniken der Länder,die (noch) nicht unter den TVöD fallen, er-

Wohltuende mb-Forderungen?Zur Debatte um den TVöD

Forderung nach Urab-stimmung über den TVöD...... ging ver.di ein bisschen zu weit

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halten die von diesem Tarifvertrag ›geschä-digten‹ KollegInnen auch noch – wenn auchgeringe – jährliche Einmalzahlungen von300 Euro.

Einen zweiten grundlegenden Fehler ent-hält Nadjas Position, wenn in ihrer Vorstel-lung von einer richtigen gewerkschaftlichenStrategie der Wert eines Flächentarifvertragsals gemeinsame Grundlage zur Weiterent-wicklung der Arbeitsbedingungen von ab-hängig Beschäftigten keine Rolle mehr spielt.Die Tatsache, dass die Bedingungen des BAToder selbst die von Nadja vermutetenschlechteren Bedingungen des TVöD in vie-len Kliniken längst nicht mehr gelten, setztaktuell den Kampf um einen einheitlichenTarifvertrag für alle Beschäftigten in Kran-kenhäusern auf die Tagesordnung. Und füreinen solchen Flächentarifvertrag kommtheute nur der TVöD in Frage, trotz sicherauch berechtigter Kritik an einzelnen Punk-ten dieses Vertrages.

Ganz konkret kann Nadja diese Anforde-rung in der Uniklinik Frankfurt, sozusagendirekt vor ihrer eigenen Haustür, beobach-ten: Nachdem das Land Hessen im März2004 aus der Tarifgemeinschaft der Länderausgeschieden war, wurden neueingestelltenKollegInnen in der Uniklinik Frankfurt amMain nur noch Arbeitsverträge mit einerWochenarbeitszeit von 42 Stunden angebo-ten, Weihnachtsgeld wurde schon seit 2003nur noch gekürzt gezahlt und Urlaubsgeldvollkommen gestrichen. Für die sonstigenArbeitsbedingungen wurde – immerhin –noch der eingefrorene (Länder-)BAT aufdem Stand 2003 angewandt. Seit April 2005sind die Arbeitsbedingungen für neueinge-stellte KollegInnen nochmals dramatischverschärft worden: Die Uniklinik Frankfurtstellt – außer ärztlichem Personal – bei neuzu besetzenden Stellen nur noch in eine ta-riflose Personalservicegesellschaft ein, für die inden angebotenen Arbeitsverträgen nicht nurdie 42-Stundenwoche, kein Urlaubs- undkaum Weihnachtsgeld gilt, sondern zusätz-lich keine Leistungen mehr für die betriebli-che Altersversorgung erfolgen und beiKrankheit zusätzlich Lohn gekürzt wird! Da-her steht nicht nur in Frankfurt, sondernauch in allen anderen Kliniken der Kampfum den einheitlichen Flächentarifvertragwieder auf der Tagesordnung. Das Prinzip»gleicher Lohn für gleiche Arbeit«, d.h. einTarifvertrag für alle Beschäftigten der glei-chen Klinik und der gleiche Branche, ist dieVoraussetzung, um auf dieser gemeinsamenBasis für eine weitere Verbesserung der Ar-beitsbedingungen in den Kliniken zu kämp-fen. Dies haben die KollegInnen in den Ba-den-Württembergischen Unikliniken für ihrBundesland in ihrem erfolgreichen Arbeits-kampf durchgesetzt. Wenn Nadja eine ge-werkschaftliche Strategie einfordert, würde

ich ihr raten, diese statt beim mb in Baden-Württemberg zu suchen.

Georg Schulze-Ziehaus arbeitet beim ver.di-Landesbezirk Hessen, Fachbereich Gesundheit.

Der Vorwurf der Standespolitik macht es sich zu einfach

Sehr gut, der wirklich dialektische Artikelzur mb-Problematik – obwohl sich das Pro-blem bei uns noch ein wenig anders darstellt.Ich finde es sehr unglücklich, wenn jetztver.di gegen den mb ins Feld zieht und nichtin der Lage ist, die positiven Entwicklungenals solche zu begreifen bzw. aufzugreifen. DieTrennung des mb von ver.di ist eine Schwä-chung unserer Kampfkraft, das muss manklar so sehen, Und da darf man das Klimanicht weiter verschärfen und argumentieren,warum Standespolitik letztlich auch denÄrzten schadet.

Es ist zu einfach, jenen Ärzten, die sichim mb organisiert haben, jetzt nur vorzuwer-fen, dass sie Standespolitik betreiben. Siesind ja nicht die Schlimmsten, sie meinen ja,sich in einer Gewerkschaft organisiert zu ha-ben. Sie haben einen Schritt getan, und sichzu wehren, ist der Schritt zwei zu möglichemBewusstsein. Und wie soll ich von ihnenKlassenbewusstsein verlangen, wenn es mirnoch nicht einmal gelingt, die Putzfrau da-von zu überzeugen.

Unsere Herausforderung ist, alles zu tun,um ein Auseinanderdriften zu bekämpfenund alle in ein Boot zu bekommen. Ich ar-gumentiere: Wir brauchen Euch, nur ge-meinsam erreichen wir etwas, allein erreichtIhr nichts. Die Bereitschaft zu Zugeständnis-sen der Arbeitgeber müssen wir gemeinsamnutzen, das betrifft auch Eure Arbeitsbedin-gungen etc.

Bekanntlich bejubeln wir den TVöD jaauch nicht, müssen aber andererseits dafürsein, dass die Knappschaft ihn unterschreibt.

Michael Quetting (Sprecher der ver.di-Betriebsgruppe des Knappschafts-

krankenhauses, Sulzbach)

Nicht mobilisieren für einen Kampf, der Verschlechterungen bringt

Ich finde den Artikel gut und die ganze Ta-rifproblematik mehr als diskutierenswertund freue mich sehr über Eure Beiträge! Ichfinde es dringend nötig, intensiv über denTVöD und die Lage der Uniklinika – beson-ders die unsere in Frankfurt zu diskutieren,die Lage zu durchleuchten und eine Strategiezu entwickeln. Leider gab es ja kein VL-Info-Seminar über den TvöD, und auch die

Diskussionen der Unikliniken finden zeit-lich/örtlich so statt, dass es als Vertrauens-frau schwer ist, viel mitzukriegen.

Folgende Punkte sind mir besonderswichtig:

Wettbewerbsordnung durch FlächentarifIch ziehe nach wie vor Öffentliche Gesund-heitsversorgung einem wettbewerbsorientier-ten privatisierten Gesundheitswesen vor. Lei-der hat ver.di die Kampagne Für eine gesundeReform fallen gelassen. Auch gegen eine Pri-vatisierung wurden die wachsenden Kräfteund die zunehmende Zahl der Betroffenennicht zusammengeführt. Ich halte es immernoch für wichtig, gegen Arbeitnehmer-überlassung als Belegschaftsauswechselungvorzugehen und die Kliniken, die vor einerPrivatisierung stehen, in einer Kampagne zu-sammenzuführen (wir hatten entsprechendeAnträge auf der Bundesfachbereichskonfe-renz vorgelegt – was ist aus ihnen gewor-den?).

Der Flächentarif ist extrem durchlöchert,und der TVöD lässt wiederum eine Durch-löcherung nach unten zu. Außerdem werdenmeines Wissens innerhalb des TvöD auchnoch Branchentarife verhandelt – also fürjede Branchen spezielle Regelungen je nachWirtschaftslage. Das halte ich für sehr pro-blematisch. Selbst die starke IG Metall hat inPforzheim den Flächentarif aufgegeben unddie reichsten Konzerne, Daimler und Sie-mens, haben das als erste genutzt zu Lastender ArbeiterInnen. Ich kann keinen Flächen-tarif halten durch permanente Absenkung.Die mögliche Arbeitszeitverlängerung (»Öff-nungsklauseln«) ist arbeitsmarktpolitischUnsinn und steigert die Ausbeutung. Ein er-presster, durchlöcherter »Flächentarif« istkein Flächentarif mehr – siehe auch die Dis-kussion in der IG Metall.

TvöDWir haben als Vertrauensleute eine Er-klärung dazu verfasst – eine Antwort auf un-sere Kritik haben wir nicht bekommen. Ammeisten stört mich, dass von ver.di-Seite oftgesagt wird, der TVöD sei nicht so schlechtund stelle keinen schlechter, und wenn mansich dann umhört, erfährt man, dass derTVöD weder »gegendert« noch diskriminie-rungsfrei ist, dass Lohnsteigerungen für Alt-beschäftigte verrechnet werden, dass die Haf-tungsrecht für die ArbeitnehmerInnen imKrankenhaus schlechter geregelt und die Ar-beitszeit länger wird. Die Kommunen (Ar-beitgeberseite!) berechnen bereits, wie viel siesparen durch den TVöD.

Uniklinik FrankfurtMich hat am baden-württembergischenKampf zunächst begeistert, dass sie nicht fürden TVöD, sondern für einen »Teuerungs-

R U B R I K express 11-12/2005 17

● für Kinder, die nach dem 31. De-zember 2005 geboren werden, wer-den keine Kinderzuschläge mehr ge-zahlt.

Wir akzeptieren keine Flexibili-sierung der Arbeitszeit durch Ein-führung einer Rahmenarbeitszeit vonzwölf Stunden und Schaffung einesArbeitszeitkorridors von 45 Stundenund die Streichung der Überstunden-zuschläge in diesem Rahmen.

All diese Vereinbarungen stehenim Widerspruch zum gewerkschaftli-chen Auftrag und zu den Beschlüs-sen der Gewerkschaft (Keine Ar-beitszeitverlängerung, keine Regio-nalisierung, keine Meistbegünsti-gung, Abschaffung der Niedriglohn-gruppen ...).

Wir waren uns auf unserer letztenSitzung des Arbeitskreises Soziale Ver-eine alle einig, dass es angesichts derTragweite der Entscheidung über ei-nen grundlegenden Tarifvertrag, derin Jahrzehnten mühsam erkämpftworden ist, nicht allein einer Bundes-

tarif- oder einer Verhandlungskom-mission überlassen werden kann, dar-über zu entscheiden, wie bei einem x-beliebigen Tarifabschluss um einzelneProzente. Es geht hier um einegrundlegende Veränderung.

Es soll doch keiner glauben, dassmit diesem TVöD irgendeine ausge-gründete GmbH in den öffentlichenDienst zurückgeholt wird. Jede ein-zelne Maßnahme, die zu einer Ver-schlechterung in der Lohntüte führt,wird Kolleginnen und Kollegen ver-anlassen, die Frage zu stellen: »Washabe ich von einer solchen Gewerk-schaft?« Wir fordern alle Kollegin-nen und Kollegen auf, in ver.di dafürzu kämpfen:

Für eine Urabstimmung überdiesen Abschluss, bevor die Abstim-mung der Mitglieder mit den Füßenerfolgt! (Mitglieder des

ver.di-Arbeitskreises Soziale Arbeit)

Quelle: abenteuer sozialarbeit.Zeitung des Ar-beitskreises Soziale Verine, ver.di Frank-furt/M. & Region, Nr. 9, Frühjahr 2005

zuschlag« und die 38,5-Stunden-Wochekämpften – dafür würde ich sofort auch mitder Mobilisierung beginnen! Erst jetzt – hin-terher – habe ich mitbekommen, dass es inBa-Wü um eine Forderung »TVöD-Plus«ging. Trotzdem gefällt mir, dass die alten Ta-rifregelungen in Ba-Wü weitergelten undnur ersetzt werden, wo es ein neues Ergebnisgibt. Das kann ich mir hier vorstellen:BAT/BMTG bleibt, aber mit neuer Arbeits-zeittarifvereinbarung (38,5 Stunden) undTeuerungszuschlag. Was ich für ein vielgrößeres Problem halte, ist, wie wir dieTöchter einfangen wollen. Denn die Toch-ter-GmbHs der Uniklinik Frankfurt sindschon etwas anderes als die Richtlinien desLandes Ba-Wü für alle Unikliniken. DieTöchter haben verschiedene Beteiligungsge-sellschaften als Eigner: LGM (Hochtief ),Klüh, Peterhoff … und verschiedene Lohn-/Gehalts-/Tarifstrukturen: Arbeitnehmer-überlassungstarifvertrag der Christlichen Ge-werkschaft, tarifungebunden mit hohen Löh-nen für Ingenieure und niedrigen für Ange-lernte (Fa. HOST), Reinigungstarif… Beiden Vertrauensleuten machen ausschließlichLandes- und Klinikumsbeschäftigte mit. Esist für mich unvorstellbar, dass ich KollegIn-nen mobilisiere für einen Kampf, der ihnennichts oder gar Verschlechterungen bringt.

Annette Müller (ver.di-Vertrauensfrau,Uniklinik Frankfurt/M)

Im Projekt ExChains, einer Ko-operation von ver.di und tie bil-dungswerk, arbeiten Beschäfti-gungsorganisationen unter-schiedlicher Länder entlang derZulieferkette in der Beklei-dungs- und Textilindustrie zu-sammen, um das Recht auf Or-ganisierung von der Näherin inMexiko bis hin zur deutschenEinzelhandelsverkäuferin durch-zusetzen.Eine der Partnerorganisationenim ExChains-Projekt, die unab-hängige Gewerkschaft FreeTrade Zones & General ServiceEmployees Union (FTZ&GSEU) in

Sri Lanka, berichtet von folgen-dem Fall eines Arbeitskampfes,der inzwischen seit zwei Jahrenandauert:

Die Fabrik Workwear Lanka (Pvt)Ltd. produziert seit 1995 in der Frei-handelszone Biyagama mit ca. 700Beschäftigten Arbeitshandschuhemit Gummibeschichtung. Im De-zember 2003 gründeten die Beschäf-tigten mit Unterstützung der FreeTrade Zones and General Service Emp-lyoees Union (FTZ&GSEU) eine Be-triebsgewerkschaft. Sobald die Ge-schäftsleitung vorschriftsgemäß da-

von in Kenntnis gesetzt worden war,begann sie sich sofort hemmungslosaus dem breiten Spektrum der Maß-nahmen zu bedienen, die gewerk-schaftsfeindlich eingestellte Unter-nehmen in aller Welt immer wiederzur Verhinderung und Zerschlagungvon Gewerkschaften im Betrieb ein-setzen: bedrohen, einschüchtern, be-schuldigen, bestrafen, versetzen, ent-lassen, aushungern.

Workwear geht aber noch einenSchritt weiter, indem es versucht,statt der unabhängigen Gewerkschafteine dem Management loyale, gelbe»Gewerkschaft« im Betrieb zu instal-lieren – eine Taktik, die eigent-

»Recht auf Organisierung?Was ist das?«Wieder massives Union Busting in Sri Lanka

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lich eher aus lateinamerikanischenSweatshops bekannt ist.

Hier nur ein paar »Highlights«aus dem inzwischen zwei Jahre an-dauernden Kampf der Workwear-Beschäftigten für ihre eigene Ge-werkschaft:

Dezember 2003Sobald die GL von Workwear überdie Bildung einer Betriebsgewerk-schaft informiert worden war, hagel-te es Schikanen. Im Verlauf der da-rauf folgenden Wochen wurden ca.100 Beschäftigte entlassen, degra-diert, versetzt oder suspendiert.Praktisch alle von ihnen waren Ge-werkschaftsmitglieder oder hattenmit der Gewerkschaft sympathisiert. ➤ Gegen viele Gewerkschaftsmit-glieder, darunter sechs zentrale

FunktionsträgerInnen und Aktivis-tInnen, wurde die Beschuldigung er-hoben, sie hätten die Betriebsabläufegestört und der Firma damit Verlusteverursacht. Sie wurden suspendiert,und der Zutritt zur Fabrik wurde ih-nen ab dann verweigert. Einer Aufla-ge des Arbeitsschiedsgerichts, dassdiesen Beschäftigten während derZeit ihrer Suspendierung bis zurKlärung der Vorwürfe 50 Prozent ih-res Gehalts zu zahlen seien, kam dasUnternehmen trotz vielfacher Er-mahnungen nicht nach.➤ Viele der SympathisantInnen wa-ren nur befristet in der Fabrik be-schäftigt gewesen und hatten die Ge-werkschaft unterstützt, weil diese diePosition vertrat, sie sollten unbefris-tet beschäftigt werden. Das Unter-nehmen entließ diese Beschäftigten

und behauptete, sie würden einfachnicht mehr gebraucht. Gleichzeitigwurden über eine Zeitarbeitsfirmaneue Kräfte eingestellt.

Parallel wurde Druck auf die ver-bleibenden ArbeiterInnen ausgeübt:Man werde sie entlassen, wenn siesich nicht von der Gewerkschaft dis-tanzierten. Ihnen wurde gedroht, dieFabrik werde geschlossen, wenn esder Gewerkschaft gelänge, sich imBetrieb zu etablieren.

Es gab diverse Schlichtungster-mine bei der staatlichen Schiedsstel-le, zu denen vom Managementschlicht niemand erschien. Vorschlä-ge und Auflagen der Schiedsstellewurden ignoriert.

August 2004Nachdem das Unternehmen die Auf-

forderung der Schiedsstelle ignorierthatte, in seiner »Untersuchung« derVorwürfe gegen die sechs Gewerk-schafterInnen auch diese selbst oderihre Vertreter anzuhören, teilte es dasErgebnis seiner »Untersuchung« mit:Alle »Angeklagten« sind der »Verge-hen«, deren das Unternehmen sie be-zichtigt, schuldig. Die Schatzmeiste-rin der Gewerkschaft wird deshalbgefeuert. Den anderen fünf Beschul-digten wird aus »Kulanzgründen«eine Wiederanstellung angeboten,und zwar unter folgenden Bedingun-gen:➤ Ihr Gehalt wird nicht mehr als50 Prozent ihres ursprünglichen Ge-halts betragen.➤ Sie kehren nicht in ihre altenAufgaben zurück, sondern werdenfür Reinigungsarbeiten auf dem Fab-

rikgelände eingesetzt.➤ Bonuszahlungen, die die anderenBeschäftigten bekommen, werdenbei ihnen gestrichen.➤ Sechs Monate Probezeit.➤ Strenge Verwarnung.

Hiergegen hat die FTZ&GSEUbeim Schiedsgericht Klage erhoben.Der Fall ist noch anhängig.

März 2005Die Beschäftigten des Unterneh-mens starten einen neuen Anlauf: Siegründen eine neue Betriebsgewerk-schaft und setzen die GL davon vor-schriftsmäßig in Kenntnis. Das Un-ternehmen ignoriert die Gewerk-schaft und weigert sich, mit ihr zuverhandeln. Um ihre Anerkennungdurchzusetzen, legt die GewerkschaftBeitrittsformulare von über 40 Pro-

R U B R I K18 express 11-12/2005

Wenn Robert Castels Beitrag zur Diskussionum die Zukunft der Sozialstaatlichkeit auchnur annähernd so viel Aufmerksamkeit inder Öffentlichkeit erhielte, wie die in derHamburger Edition erschienenen Texte zurNachbetrachtung der 68er Bewegung oderder RAF, dann wäre für die politische Dis-kussion über die sozialen Fragen viel gewon-nen. Diejenigen, die die Zukunft des Sozia-len in der weiteren Vermarktlichung gesell-schaftlicher Beziehungen sehen und sozialeSicherheit als private Aufgabe der Arbeits-kraftunternehmerInnen konzipieren, werdensich für Castels Argumentationen kaum in-teressieren. Die Lektüre des Textes lohnt sichaber für alle, die sozialstaatliche Regelungensowohl als herrschaftlich-normalisierendewie auch als schützend-sichernde begreifenund an der Diskussion darüber interessiertsind, wie unter aktuellen gesellschaftlichenVerhältnissen die Frage beantwortet werdenkann: »Was bedeutet es, in Sicherheit zu le-ben?« (135). Castel gewährt einen schön zulesenden Einblick in seine Sichtweise der his-torischen und politischen Voraussetzungendes Wohlfahrtsstaats und seiner Entwicklun-gen. Wenn er von Sicherheit im Zusammen-hang mit modernen Gesellschaften und demmodernen Individuum spricht, dann redet erin der Regel von zwei »Problematiken«: »Ei-nerseits die Problematik der bürgerlichenund rechtlichen Schutzbestimmungen« undzum anderen »die Problematik der sozialenVersorgungsleistungen« (11).

Vormoderne Gesellschaften sind für Ca-stel dadurch gekennzeichnet, dass die »un-mittelbare Zugehörigkeit zu einer Gemein-schaft einen Schutz (bietet), der von derStärke dieser Gemeinschaftsbindung ab-hängt« (13). Sicherheit wurde »um den Preisder Abhängigkeit von der Gruppe« (13) er-kauft. Als Beispiele nennt er familiäre, nach-barschaftliche Netzwerke und Berufskörper-schaften wie z.B. Zünfte. In einer kurzenAuseinandersetzung mit Thomas Hobbesund John Locke zeichnet er die politisch-philosophische Argumentation zur Fragenach, welche bürgerlichen und sozialenSchutzfunktionen das moderne »nicht mehrin traditionelle Abhängigkeits- und Siche-rungsnetze eingebunden(e)« Individuumbrauche (15ff.). In Hobbes’ Theorie des ab-soluten Staates, in dem der Schutz der priva-ten Subjektivität um den Preis der Hinnah-me der politischen Macht gewährleistetwird, sieht Castel »auf paradoxe und provo-zierende Weise« vieles von dem vorweg ge-nommen, was bis heute liberales Allgemein-

kussion als »einen Widerspruch, wie er derPraxis der modernen Demokratie überhauptinhärent ist. Er zeigt sich darin, dass Sicher-heit einen Rechtsanspruch darstellt, demaber nicht völlig entsprochen werden kann,ohne Mittel einzusetzen, die das Recht selbstin Frage stellen« (31). Er hält dies für denAusdruck einer spezifischen modernen Angstund betont die Möglichkeit von Sicherheits-hysterie und Sündenbockproduktion.

Bürgerliche und soziale Sicherheit

In den folgenden Teilen des Textes tritt dieFrage nach der bürgerlichen Sicherheit in denHintergrund und Castel konzentriert sichauf die Frage der sozialen Sicherheit und Un-sicherheit. Die Unsicherheitserfahrung, ge-gen Unwägbarkeiten und Risiken der Exi-stenzsicherung nicht versichert zu sein, istnach Castel eine »jahrhundertealte Erfah-rung, die ein großer Teil des Volkes, wie manes früher nannte, machen musste: Was wirdder morgige Tag wohl bringen?« (33). Damitbenennt er die systematische Schwachstelledes bürgerlichen Konzepts, soziale Sicherheitauf Basis des Privateigentums zu gewähren.Welchen Status bekommen in diesem Kon-zept »Personen ohne Eigentum« (35)? Castelbenutzt den Begriff der »restringiert liberalenModerne« aus Peter Wagners Soziologie derModerne zur Bezeichnung der Expansionspe-riode der kapitalistischen Gesellschaft im 19.Jahrhundert. Die Restriktion besteht dem-nach im Ausschluss der unteren Volks-schichten und im Ausschluss des Rests derMenschheit außerhalb Westeuropas bzw. derVereinigten Staaten aus dem faktischen Gel-tungsbereich der Menschen- und Bürger-rechte.

Die »Sorglosigkeit, die die Moralisten des19. Jahrhunderts den unteren Volksschich-ten unablässig zum Vorwurf machten« (39)war Ergebnis der ungelösten Probleme der»sozialen Bedingungen bei der Umsetzung li-beraler Prinzipien« (38). Die soziale Unsi-cherheit beherrscht den Alltag der unterenKlassen und befördert Situationen der »so-zialen Auflösung« (Sennet): »Sich in einer Si-tuation ständiger Unsicherheit zu befinden,bedeutet, weder die Gegenwart zu meistern,noch die Zukunft positiv gestalten zu kön-nen« (38f.). Das so als »soziale Entkopp-lung« bezeichnete Leben in ständiger Preka-rität belegt für Castel die Marxsche Kritikam formalen Charakter des bürgerlichen

gut ist (19). Bei John Locke bildet das »Ei-gentum (...) den Eckpfeiler der Ressourcen,die es einem Individuum ermöglichen, fürsich selbst zu existieren und weder auf einenHerrn noch auf die Barmherzigkeit Dritterangewiesen zu sein« (20). Der Schutz diesesEigentums, zu dem bei Locke auch »das Ei-gentum an sich selbst als Person« gehört,rechtfertige die Existenz eines Staates (21).Dass dieser liberale Staat sowohl Minimal-staat als auch Polizeistaat genannt wird, istfür Castel kein Widerspruch, denn er siehtdie »Grundlage dieser Staatsform darin (...),Schutz und Sicherheit zu gewährleisten. Vordiesem Hintergrund ist der Schutz der Per-son mit dem Schutz des Eigentums untrenn-bar verbunden« (23). Eigentum erlangt nachCastel in der bürgerlichen Gesellschaft »einetiefe anthropologische Bedeutung« (24) alsVoraussetzung für die Unabhängigkeit desIndividuums. Die Relevanz des in Verfassun-gen und Menschenrechtserklärungen formu-lierten Eigentumsbegriffs könne nicht aufdie Tatsache reduziert werden, dass das bür-gerliche Eigentum die Privilegien einer Klas-se reproduziere (24). Was die Frage nach dersozialen Sicherheit angeht, so stelle des Pri-vateigentum der besitzenden Klasse eine Ga-rantie »gegen die Unwägbarkeiten der sozia-len Existenz dar« und »macht ›das Soziale‹überflüssig, also all jene Strukturen, die ge-schaffen werden, um das Defizit an Ressour-cen, die einem das Leben in der Gesellschaftaus eigener Kraft ermöglichen«, auszuglei-chen (26).

Dass diese Überflüssigkeit des Sozialenz.B. für die lohnabhängig Arbeitenden nichtlebbar ist, bildet die Basis für spätere sozialeAuseinandersetzungen um die Institutionali-sierung sozialer Sicherheit. Was die bürgerli-che Sicherheit angeht, besteht Castel darauf,»dass eine absolute Sicherheit von Eigentumund Personen in einem Rechtsstaat niemalsvollständig erreicht werden kann« (28). Erzieht im historischen Exkurs Parallelen zu ak-tuellen »an Hysterie grenzende(n)« politi-schen Debatten um innere Sicherheit (29)und erklärt diese immer wiederkehrende Dis-

Rechts am deutlichsten (39). Zur Überwin-dung dieser Kluft musste ein Weg gefundenwerden, »(soziale) Sicherungsleistungen füralle oder fast alle Mitglieder einer modernenGesellschaft zu garantieren, um aus ihnenvollgültige Individuen zu machen«(40).

Dieser Weg liegt für Castel in dem Prin-zip, mit der (Lohn-)Arbeit Schutzmechanis-men zu verknüpfen und das »soziale Eigen-tum« als neue Eigentumsform zu begründen.Der Status des Arbeiters werde verrechtlichtund in einen »Status, der über den Markthinaus Garantien« und Ressourcen bereithal-te, mit denen er Arbeiter »die Gegenwartmeistern und die Zukunft gestalten kann«;über die Konsolidierung des Erwerbsstatusergebe sich so ein »sozialer Bürgerschaftssta-tus« (40f.). Das »soziale Eigentum«, auf dasdie Erwerbsarbeitenden Ansprüche erhalten,sei quasi das funktionale Äquivalent für feh-lendes Privateigentum. Es ist »Eigentum zurExistenzsicherung« (41) und besteht haupt-sächlich aus dem sich verallgemeinerndenSozialversicherungssystem, mit dem eineVergesellschaftung von Teilen des Lohnsstattfindet (42f.). Neben der Ausweitung derSozialversicherung ist für Castel auch derAusbau öffentlicher Dienste ein wichtigerFaktor in der Entwicklung des »sozialen Ei-gentums« (44, Fn. 12).

Gesellschaft der Ähnlichen

Mit der Veränderung des Status’ der Lohn-abhängigen und mit der Etablierung des so-zialen Eigentums wird natürlich keine »fakti-sche Gleichheit« durchgesetzt. Castel be-schreibt die Gesellschaft als eine »Gesell-schaft der Ähnlichen« (46). Diese Gesell-schaft ist hierarchisch, aber der »starre Cha-rakter des Gegensatzes zwischen Eigentü-mern und Nichteigentümern« (46) ist abge-schwächt. Der Garant für das soziale Eigen-tum soll der Staat sein: »Die Sozialleistungenstellen einen Rechtsanspruch dar, sie sind einsich erweiterndes Modell sozialer Rechte, diedas konkrete und im Kern universelle Ge-genstück zu den bürgerlichen und politi-schen Rechten bilden« (47). Besonders be-deutsam an Castels Argumentation ist hiersein Verweis auf die »Hauptaufgabe des Sozi-alstaats« (47). Diese ist – entgegen der land-läufigen Meinung auf linker und auch neoli-beraler Seite – nicht in seiner Umvertei-lungsfunktion zu finden, die in den verschie-denen Sicherungssystemen eine unterschied-liche Quantität und Qualität hat. Castelsieht die zentrale Aufgabe des Sozialstaats inseiner »Rolle als Schutzinstanz« (47), was be-deuten soll, »ein Mindestmaß an Ressour-cen, Chancen und Rechten« für die Klasseder Nichteigentümer zu ermöglichen und»soziale Risiken effizient zu reduzieren« (48).

Dass diese Schutzfunktion eine herr-schaftliche Komponente hat, da sie genaudie Rolle der Lohnarbeitenden überhauptlebbar und bewältigbar macht, wird von Ca-stel aber nicht als Kritik formuliert. Dass dieSchutzfunktionen auf der Leistungsseite die

Soziale Sicherheit durch RechtWolfgang Völker über das neue Buch von Robert Castel, Teil I

Robert Castel: »Die Stärkungdes Sozialen. Leben im neuenWohlfahrtsstaat«, Hamburger

Edition HIS Verlagsgesellschaft,2005, 135 S., 12,- Euro,

ISBN 3-936096-51-1

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Hierarchien und Differenzierungen derLohnarbeitswelt reproduzieren, wird vonihm zwar genauso festgestellt (47) wie dieUnterschiede zwischen dem stärkeren Sozial-versicherungssystem gegenüber demschwächeren Hilfesystem unterhalb von erar-beiteten bzw. versicherten Ansprüchen (49,Fn. 16). Was bei Castel jedoch hier und inder späteren Argumentation völlig fehlt, istdie Betrachtung des Sozialstaats und des so-zialen Eigentums unter dem Aspekt des Ge-schlechterverhältnisses. Castels Betrachtungdes Sozialen hat eine eindeutige Konzentrati-on auf Klasse und unterbelichtet Kategorienvon »gender« und »race«.

Die Konstruktion des Sozialstaats alsSchutzinstanz fußt nach Castel auf zwei Vor-aussetzungen. Erstens auf einem Wirtschafts-wachstum, das sozialen Fortschritt im Sinne

einer schrittweisen Reduktion von sozialerUngleichheit und »Planbarkeit von Zukunft«für kollektive und individuelle Akteuremachbar erscheinen ließ (49). Die zweiteVoraussetzung ist die Tatsache, dass »die In-dividuen kollektiven Vertretungsinstanzenangehörten« (51). Die Einzelnen sind ent-sprechend »ihrer Zugehörigkeit geschützt,wobei diese Zugehörigkeit keine direkteMitgliedschaft in »natürlichen« Gemein-schaften (die familiären, nachbarschaftlichenoder territorialen Netzwerke) mehr darstellt,sondern vielmehr in Kollektivorganen, diedurch Regeln konstruiert sind und zumeistein rechtliches Statut besitzen« (52). DieseKollektivinstanzen (u.a. Arbeitsrecht, Sozial-versicherungssysteme) bieten den Individu-en, die Zugang dazu haben, weil sie die vor-ausgesetzten Normalitätsunterstellungen derZugehörigkeit erfüllen, soziale Sicherheit.Mit dem Soziologen Peter Wagner be-schreibt Castel diesen Zustand als »organi-sierte Moderne« (54). Die Charakterisierung

betrifft die gleichen Phänomene, die von an-deren Theoretikern mit »Fordismus« be-zeichnet werden: nationalstaatliche politischeRegulierung, standardisierte Arbeitsorganisa-tion, Dominanz kollektiver Konfliktregulie-rung zwischen Großorganisationen von Un-ternehmern und Arbeitern, Dominanz ho-mogener Berufsgruppen.

Seit rund einem Vierteljahrhundert siehtCastel dieses System einer Krise ausgesetzt,die zur »Rückkehr der Unsicherheit« (54f.)führt. Die neue Unsicherheit ist für ihn Er-gebnis der Brüchigkeit der Pfeiler, auf denendie kollektiven Sicherungssysteme errichtetworden sind. Castel beschreibt den Wandeldes Staates vom »national-sozialen Staat« alsVerkörperung des Geistes des Keynesianis-mus (56f.) zum vorgeblich kontraprodukti-ven Faktor im internationalen Wettbewerb

(Lohnnebenkosten, sozia-le Rechte), sowie die Kri-se der kollektiven Vertre-tung von Arbeitnehme-rinteressen (57ff.). Die»allgemeine Flexibilisie-rung der Arbeitsbezie-hungen, der beruflichenKarrierewege und der So-zialversicherungsleistun-gen« bedeute eine »Ent-kollektivierung« und eineneuerliche Individualisie-rung (60). Die »Ich-Un-ternehmer« (61), zu de-nen sich die Arbeitneh-mer wandeln sollen, wer-den sozial anfälliger undverwundbarer (61). DieÜberwindung tayloristi-scher Arbeitsorganisationwird von Castel als ambi-valent beschrieben, wobeiim »Kontext verschärfterKonkurrenz und stetsdrohender Arbeitslosig-keit« die Zwänge undZumutungen an Bedeu-

tung gewinnen(63). Durch diese Entwick-lung kommt es zu neuen sozialen Spaltun-gen in der Gesellschaft, zur Produktion vonGewinnern und Verlieren »entlang der ob-jektiven Ressourcen und der organisatori-schen Basis, auf die sich die Individuen stüt-zen können, um mit diesen neuen Situatio-nen zurechtzukommen« (64). Und alle, dieihre Arbeitskraft auf den Markt tragen müs-sen und »über kein anderes wirtschaftliches,kulturelles oder auch gesellschaftliches ‚Kapi-tal’ verfügen, sind auf kollektive Sicherungs-formen angewiesen« (64f.).

Wiederkehr der gefährlichen Klassen

Unter der Überschrift »Die Wiederkehr dergefährlichen Klassen« verhandelt Castel(65f.) »die gesellschaftspolitischen Folgen,die sich aus dieser Verschlechterung der Si-cherheitsbedingungen ergeben«, und den

Diskurs darüber. Gegenüber einem Ver-ständnis von sozialer Ausgrenzung als Prozessder Entfernung von Individuen aus einemgesellschaftlichen Zusammenhang (z.B. als»Entsozialisierung« oder »Bruch der Indivi-duen mit ihren sozialen Bezugssystemen«)beharrt Castel darauf, dass »niemand, nichteinmal der ‚sozial Ausgegrenzte’ (...) außer-halb der Gesellschaft (existiert). Die Entkol-lektivierung selbst ist eine kollektive Situati-on« (66).

Dass sich die Mitglieder sozial ausge-grenzter Gruppen selber in einem gesell-schaftlichen Zusammenhang und Ort sehen,versucht er an der politischen Reaktion vonGruppen auf Prozesse des Verlusts gesell-schaftlicher Bedeutung zu belegen. Castelbezieht sich dabei exemplarisch auf den Pou-jadismus der 50er Jahre in Frankreich. In die-ser Bewegung hatten z.B. Handwerker undkleine Geschäftsinhaber das Gefühl, in dermodernisierten Wirtschaft Frankreichs kei-nen Platz mehr zu haben. Als »Ressenti-ment« wird dann die kollektive Reaktion be-schrieben, »die Verantwortung für das eigeneUnglück bei jenen Gruppen zu suchen, diesich auf der sozialen Leiter knapp oberhalboder knapp unterhalb der eigenen Positionbefinden« (68). Castel sieht hierin einestrukturelle Dimension, da die heutige Mo-dernisierung eben auch ihre Verlierer ent-lässt, die in den Jahren des Wachstums derIndustriegesellschaft problemlos zu derenBasis gehört hätten. In einer Phase des Nie-dergangs der Arbeiterbewegung neigten dieModernisierungsverlierer zu »poujadisti-schen« Ressentiments z.B. in Form der Wahldes rechtsextremen Front national (69f.). Dasbesondere Kennzeichen dieser von der wach-senden Unsicherheit bedrohten Gruppen seiihr Gefühl, »dass sie auf der Strecke geblie-ben (...) und unfähig sind, in einer sich im-mer rascher wandelnden Welt Einfluss aufihre Zukunft zu nehmen« (72). Ihr »Ressen-timent als soziale Reaktion auf soziales Leidzielt auf Gruppen im direkten Statuswettbe-werb« (73). Vor diesem Hintergrund warntCastel davor, die Situation der französischenVorstädte zu dämonisieren und die dort le-benden Jugendlichen zu stigmatisieren. Da-mit »werden die sozialen Konfliktlagen ein-fach verschoben« und es wird »im Grundeder Topos der gefährlichen Klassen aufs neueheraufbeschworen, das heißt, man projiziertalles, was eine Gesellschaft an Bedrohung insich birgt, auf spezifische Gruppen an ihremRand« (75).

Die politische Tendenz, auf die Problemeder bürgerlichen Sicherheit und der sozialenSicherheit in den Vorstädten mit Null-Tole-ranz und Repressionsstrategien zu reagieren,hält Castel für womöglich »politisch kurzfri-stig fruchtbar«, aber für keine »hinreichendeAntwort auf die Frage ‚Was bedeutet Sicher-heit?’« (79). Die Entwicklung des Sozial-staats zu einem »Sicherheitsstaat« tut so, als»wenn die bürgerliche und die soziale Sicher-heit zwei getrennte Sphären darstellen wür-den, was selbstverständlich nicht der Fall ist«(80). Castel erweitert seine Analyse der neu-

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zent der wahlberechtigten Beleg-schaft vor. Die GL erklärt, dies seiennicht 40 Prozent der Belegschaft,denn:➤ von 286 vorgelegten Formularenseien 42 »ungültig« und könnten da-her nicht gezählt werden (für die be-hauptete »Ungültigkeit« werden kei-ne Gründe angegeben); und➤ das Unternehmen habe in Wahr-heit insgesamt viel mehr Beschäftig-te, als die GL selbst kurz vorher nochangegeben hatte.

September 2005Es tritt ein »Beschäftigtenrat« aufden Plan. Dieser wird unter der Be-zeichnung »Workwear Lanka (Pvt)Ltd. Employees Council Union«beim Arbeitsministerium als »Ge-werkschaft« registriert. Das Unter-

nehmen tut kund, dass es diese »Ge-werkschaft« als Partner für Kollektiv-verhandlungen akzeptiert. Die neue»Gewerkschaft« fängt an, im BetriebStimmung gegen die unabhängigeGewerkschaft zu machen und dieBeschäftigten zu bedrängen. DieFTZ&GSEU legt beim Arbeitsmi-nisterium Beschwerde ein.

Dezember 2005254 Beschäftigte von Workwear be-finden sich seit zwei Monaten imStreik. Der Streik ist eine Reaktionauf die Entlassung des Präsidentender unabhängigen Betriebsgewerk-schaft – ihm wird vorgeworfen, erhabe versucht, »Beschäftigte durchDrohungen zum Gewerkschaftsbei-tritt zu nötigen«. Das Unternehmenhat allen Streikenden inzwischen

rückwirkend zum Beginn des Streiksgekündigt. Dies ist selbstredend eineweitere einseitige, illegale Aktion vonWorkwear. Mit einer Anfrage an dieFreihandelszonenbehörde BOI hatdas Unternehmen inzwischen ver-sucht, die Genehmigung für Neuein-stellungen zu erwirken, was das BOIjedoch mit dem Hinweis verweigert,dass die Beschäftigten nicht als ent-lassen anzusehen seien, da sie nurvon ihrem Streikrecht Gebrauchmachten. Mit einer Eingabe beimBerufungsgericht hat Workwear al-lerdings die Genehmigung erzielt, 75ArbeiterInnen neu einzustellen. DieFTZ&GSEU hat daraufhin mit er-heblichem – auch finanziellem –Aufwand erreicht, vor dem Beru-fungsgericht selbst als Streitpartei zu-gelassen zu werden. Auch dieser

Konflikt dauert somit an.Die Leidtragenden solcher in die

Länge gezogenen Prozesse sind, wieimmer, die Beschäftigten, die ihrerExistenzgrundlage beraubt werdenund einfach nicht über die Reservenverfügen, um solche Zeiten derKnappheit durchzustehen. Inzwi-schen sehen sich die Streikenden er-heblichen finanziellen Problemenausgesetzt. Etliche von ihnen habenbereits Kündigungen von den Ver-mietern ihrer Unterkünfte erhalten,da sie ihre Mieten nicht mehr auf-bringen können. Auch Besuche beiihren oft entfernt lebenden Familienüber die Weihnachtsfeiertage drohennun an finanziellen Problemen zuscheitern.

Besonders ärgerlich: Die interna-tionale Bekleidungsarbeitergewerk-

schaft (ITGLWF) hat eine Beschwer-de vor der internationalen Arbeitsor-ganisation ILO lanciert. Das Exper-tenkomitee der ILO zur Vereini-gungsfreiheit ist zu der eindeutigenEntscheidung gelangt, dass das Vor-gehen von Workwear illegal ist, unddie Regierung von Sri Lanka aufge-fordert, dafür zu sorgen, dass Work-wear aufhört, gegen geltendes natio-nales und internationales Arbeits-recht zu verstoßen. Leider ist die Re-gierung dieser Aufforderung der ILObisher nicht nachgekommen.Wir werden den Fall im ProjektExChains weiter verfolgen.

Anne Scheidhauer,tie bildungswerk e.V.

Projekt-Webseite: www.exchains.verdi.de

en Unsicherheiten, indem er die »neue Ge-neration von Risiken oder zumindest vonBedrohungen, die als solche empfunden wer-den«, einbezieht: »industrielle, technologi-sche, gesundheitliche, natürliche und um-weltpolitische Risiken« (82f.).

Die These von der »Risikogesellschaft«hält er allerdings für eine »fragwürdige be-griffliche Extrapolation«, da die Unterschei-dung von Risiko und Gefahr verwischt wer-de und letztlich »ein völlig unrealistisches Si-cherheitsbedürfnis entsteht« (86). Er erin-nert daran, dass viele dieser »Risiken« »ge-wissermaßen ein Bumerangeffekt eines zü-gellosen Produktivismus und einer unge-bremsten Ausbeutung der Ressourcen« sind(86f.). Auch widerspricht er der BeckschenThese, dass diese Risiken quer zu Klassen-schranken bestehen würden. Dieser Exkursdient Castel vor allem dazu, die Frage nachder richtigen politischen Antwort auf dieneuen sozialen Verwundbarkeiten und Risi-ken zuzuspitzen. Denn die verallgemeinern-de Rede von einer »Risikokultur« dient sei-ner Analyse nach zu nichts anderem als zumEinfallstor für den Vorschlag, private Versi-cherungssysteme auszubauen. In solchen po-litischen Strategien wird das Individuum als»disembedded« (Giddens) begriffen undstellt den Risikoträger dar, der »selbst fürsein Risikomanagement verantwortlich ist«(90). Mit solchen Strategien werden dreiZiele erreicht: Sozialstaat und gesetzliche So-zialversicherungspflicht werden zu überflüs-sigen Institutionen erklärt, die Beherrschungsozialer Risiken wird vom kollektiven Unter-fangen zur »individuellen Strategie« und denVersicherungsanstalten eröffnet sich »ein na-hezu grenzenloser Markt« (91).

Der zweite Teil folgt im nächsten express.

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R U B R I K20 express 11-12/2005

Liebe Leserinnen und Leser, Liebe Freundinnen und Freunde,liebe Kolleginnen und Kollegen,

wir wenden uns an Euch/Sie, da Ihr/Sie ineinem Zusammenhang mit dem express –Zeitschrift der undogmatischen Gewerk-schaftslinken – bzw. dem Projekt tie, trans-nationals information exchange – ein unab-hängiges internationales Netzwerk, das sichfür einen gewerkschaftlichen Internationalis-mus der Basis engagiert – bzw. dem SB – einer parteiunabhängigen, autonomen Orga-nisation von undogmatischen Linken – standet bzw. steht.

In diesen Projekten arbeiten, zum Teilschon seit Jahrzehnten, Menschen, die fürdie Kontinuität und Stabilität dieser Projektegesorgt haben bzw. noch sorgen: Als LeserIndes express oder der links, als Aktive im SBoder im Rahmen der tie-Aktivitäten habt Ihrz.B. Jens Huhn kennen gelernt. Jens war inden 1970ern SB-Sekretär, u.a. zuständig fürdie links, den Pfingstkongress 1976 und dasRussell-Tribunal Deutschland 1978. Seitüber 20 Jahren hat Jens zudem das Projekttie entscheidend mitgeprägt: über den Auf-bau von internationalen Belegschafts-Kon-takten, die Entwicklung von Netzwerkenund Koordinationsmöglichkeiten entlangvon Branchen- oder Unternehmensstruktu-ren, Bildungsarbeit und Förderung des inter-nationalen Austauschs zwischen betrieblichund gewerkschaftlich Aktiven etc. Und nichtzuletzt ist Jens ein langjähriges aktives Mit-glied der express-Redaktion, neben den »Wi-dersprüchen« eine der beiden verbleibendenPublikationen des SB. Die Arbeit als Sekre-tär des SB und bei tie verlangte Vollzeit-Einsatz – und war zugleich immer schlechtbezahlt. Prekäre Anstellungsverhältnisse undein zu niedriges Einkommen bedeuten einhohes existentielles Risiko für die soziale Absicherung, insbesondere im Alter. Seit ei-nem Jahr ist Jens nun ohne Rente »in Rente«– das ist Anlass unseres Schreibens anEuch/Sie.

Denn als langjährige Weggefährten,Freunde, Kollegen und Genossen lässt unsdas nicht gleichgültig, zumal diese Entwick-lung – prekär beschäftigt, schlecht bezahltund dann unabgesichert im Alter – weiterenFreundInnen droht:

Kirsten Huckenbeck garantiert seit über elfJahren das Erscheinen und die Weiterent-wicklung des express, zusammen mit derfreiberuflichen Grafikerin Birgit Letsch, und

Was können wir gemeinsam tun?Die soziale Situation der auch für uns in

den o.g. Projekten beruflich Tätigen ist einpolitisch und moralisch nicht akzeptablerZustand. Wir bitten Euch/Sie um Spenden.Diese werden ausschließlich für eine Über-gangssicherung von Jens Huhn und für einebessere Altersversorgung der Beschäftigtendes express verwendet. Das garantieren dieUnterzeichner. Die Verteilung der Spendenist mit allen Beteiligten kollektiv und einhel-lig vereinbart.

Prüft bitte, ob Ihr/Sie eine einmaligeund/oder eine regelmäßige Spende aufbrin-gen könnt. Auch 5 oder 10 Euro monatlichsind wichtige Beträge. Die Spenden sindsteuerlich absetzbar.

Spenden bitte auf das Konto: AFP e.V., Post-bank Dortmund, BLZ 440 100 46, Konto-nummer: 688 284 461 / Stichwort: »Spende«

Wir haben die Hoffnung, mit dieser – für ei-nige vielleicht ungewöhnlichen – Spenden-sammlung einen solidarischen Beitrag zurAnerkennung der uns allen wichtigen politi-schen Arbeit von Jens, Kirsten, u.a. zu lei-sten und auch das Weiterbestehen der un-dogmatischen Projekte express und tie er-möglichen zu können.

Mit herzlichen Grüßen und den besten Wün-schen für das neue Jahr

Heinz-Günter Lang, Günther Pabst, Edgar Weick und Anton Kobel

Informationen zum Rentenkonzept

Der Verein:Die Arbeitsgemeinschaft zur Förderung derpolitischen Bildung e.V. (AFP e.V.) ist Her-ausgeberin der 10 mal jährlich erscheinendenZeitschrift express und Trägerverein der Bil-dungsarbeit. Gemeinsam mit dem tie Bil-dungswerk e.V. und wechselnden Koopera-tionspartnern aus Betrieben, Gewerkschaftenund sozialen Bewegungen bietet sie Seminareund Tagesveranstaltungen an bzw. nimmt Re-ferenten- und Beratungsaufgaben in überre-gionalen Netzwerken und Konferenzen imThemenspektrum gewerkschafts- und sozial-politischer Initiativen wahr. Die AFP e.V. fi-nanziert sich durch Abonnements (ca. 40Prozent), Spenden (ca. 50 Prozent) und denVerkauf von Publikationen (ca. 10 Prozent).

Der Hintergrund:Wenngleich die Arbeit der AFP e.V. politischdurchaus erfolgreich ist, erlaubt die Haus-haltslage des Vereins hinsichtlich der Beschäf-tigungsbedingungen keine großen Sprünge:Die Einkommen liegen am Rande des steuer-lichen Existenzminimums und beinhalten

seit einigen Jahren redaktionell und organi-satorisch unterstützt von Nadja Rakowitzund Jörg Waschatz. Sie alle gewährleisten,dass der express regelmäßig über neue Ent-wicklungen und alte Missstände auf der »an-deren Seite« der Produktions- und Arbeits-verhältnisse berichtet, ein Diskussionsforumfür die Entwicklung von emanzipativen Stra-tegien in und gegen die Zumutungen derLohnarbeit bietet, Seminare, Konferenzen,Tagungen und politische Initiativen gemein-sam mit dem tie-Bildungswerk und in Ko-operation mit Aktiven aus Betrieben, Ge-werkschaften und sozialen Bewegungen or-ganisieren kann.

Der express ist insofern mehr als ›nur‹ einPublikationsorgan, er mischt sich ein in poli-tische Debatten und beteiligt sich an prakti-schen Initiativen und Vernetzungsansätzen:

● Als eines von zwei Zeitschriftenprojektender Linken war er an der Gründung der »In-itiative zur Vernetzung der Gewerkschaftslin-ken« 1998 beteiligt, die er seither unter-stützt,● seit 1993 organisiert er zusammen mitdem tie-Bildungswerk die tie/express-Konfe-renzen, ein wichtiger Ort für die Entwick-lung eines »Internationalismus der Basis«,der internationalen Vernetzung entlang vonProduktions- und Wertschöpfungsketten,der Entwicklung neuer betrieblicher Strate-gien und Widerstandsstrategien (im BereichGesundheit, Schlanke Produktion, neue Managementtechniken u.v.m.),● seit über zehn Jahren betreut er die »Au-tokoordination«, ein Forum für den Aus-tausch und die Koordinierung von KollegIn-nen aus der Automobilindustrie, ● er ist beratend und unterstützend tätigbei der Entwicklung von Organisierungs-ansätzen von und für prekär Beschäftigteund MigrantInnen (z.B. im Rahmen derKonferenz »Die Kosten rebellieren«, der»Workers Center-Initiative Rhein-Main«u.a.), ● er bemüht sich um die praktische Vernet-zung und theoretische Weiterentwicklungvon Ansätzen alternativer sozialer Siche-rungsmodelle (»Perspektivenkongress«, »Ar-beitsdienst -Tagung« etc.), ● er unterstützt und dokumentiert die Ent-wicklung neuer Arbeitskampfformen in»Kern«- und »Rand«bereichen gewerkschaft-licher und betrieblicher Auseinandersetzun-gen (Inplant Strategies, Kampagnen, Boy-kott etc.) u.v.m.

entweder keine oder eine nur sehr geringe so-ziale Absicherung, die insbesondere für dasAlter ein existenzielles Risiko darstellt. DiesesProblem stellt sich akut mit dem Ausscheidenvon Jens Huhn aus seiner aktiven Phase beitie und muss für die verbleibenden Beschäf-tigten in beiden Projekten, AFP e.V. und tiee.V., jetzt angegangen werden.

Das Konzept:Erklärte Absicht aller Beschäftigten von AFPe.V. und tie e.V. ist es, gemeinsam für JensHuhn als ausgeschiedenen Mitarbeiter von tiee.V. und langjährigen express-Redakteur so-wie jeweils getrennt für die Beschäftigten derbeiden Vereine eine minimale solidarische Al-terssicherung sicherzustellen. Auf Basis einesgemeinsam erstellten Plans haben wir für dieo.g. Beschäftigten der AFP e.V. ein Volumenvon 3 600 Euro pro Jahr errechnet, das füreine minimale Beitragszahlung für alle erfor-derlich wäre. Befristet auf die nächsten vierJahre kämen jährlich weitere 6 000 Euro fürJens Huhn hinzu, um ihm einen Rentenüber-gang zu ermöglichen, der im letzten Jahrdurch eine private Spende gewährleistet wur-de. Die AFP e.V. hat sich verpflichtet, dafürkünftig jährlich einen Teil ihrer eigenenHaushaltsmittel in Höhe von 2 000 Euro zurVerfügung zu stellen und darüber hinaus ge-meinsam Spendenmittel für die Alterssiche-rung aller Beschäftigten einzuwerben.

Die Versicherungsform:Aufgrund der unterschiedlichen Beschäfti-gungsverhältnisse (haben wir uns für denWeg einer »Direktversicherung« entschieden,die einen vergleichsweise geringen bürokrati-schen Aufwand bedeutet und es sowohl Fest-angestellten erlaubt, bestehende gesetzlicheAnsprüche aufzustocken, um Altersarmut zuvermeiden, als auch Freiberuflern die Mög-lichkeit bietet, überhaupt eine nicht-private,arbeitgeberfinanzierte Alterssicherung aufzu-bauen. Diese Versicherungsform ist zudemunproblematisch »portabel«, d.h. sie verfälltnicht bei beruflichen Veränderungen undkann auf andere Arbeitgeber übertragen oderggf. privat weiter geführt werden – ein wichti-ges Kriterium angesichts der Unsicherheiten,mit denen sowohl die Zukunft der Arbeitneh-merInnen als auch des Vereins als Arbeitgeberstrukturell behaftet ist. Es war uns darüberhinaus wichtig, dass ein unabhängiges Gremi-um über die bestimmungsgemäße Verwen-dung der Spendengelder für die Alterssiche-rung wacht. Die eingehenden Spenden wer-den ausschließlich für die Alterssicherung ver-wendet, wobei der Rentenübergang von JensHuhn für uns Priorität hat, und fließen nichtin allgemeine Finanzierungsaufgaben der Ver-eine ein.

Neue Prämien fürneue Abos

Für jedes neu geworbene Jahresabonnement gibtes eine der folgenden Prämien (bitte ankreuzen)

■ Nadja Rakowitz:»Einfache Warenproduktion. Ideal & Ideolo-gie«, 2. Auflage, Freiburg 2003, 380 S.

■ Willi Hoss:»Komm ins Offene, Freund«, Autobiographie, Westfälisches Dampfboot,Münster 2004, 254 S.

■ Jürgen Behre: »Volkssouveränität & Demokratie. Zur Kri-tik staatszentrierter Demokratievorstellun-gen«, VSA-Verlag, Hamburg 2004, 260 S.

■ HKS 13:»vorwärts bis zum nieder mit«, 30 Jahre Pla-kate unkontrollierter Bewegungen, Assozia-tion A, Berlin 2002, 288 S. incl. CD-Rom

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