Predigt im Gottesdienst am Christtag, 25.12.2014 in der ... · Abend gestern schön oder besinnlich...

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1 Predigt im Gottesdienst am Christtag, 25.12.2014 in der evang. Kreuzkirche in Reutlingen Predigttext 1. Johannes 3,1-5 (Erprobung rev. Reihe II) Pfarrer Stephan Sigloch, Pfarramt Kreuzkirche III, Reutlingen I. Einleitung: „Wie heißt der Sohn von Maria und Josef?“ Vor Jahren ging ein Mitschnitt aus dem Programm eines öster- reichischen Radio-Senders durchs Internet 1 . Da stellt ein Reporter (Zitat:) „… eine für Weihnachten gar nicht so unwich- tige Frage: ‚Wie hieß der Sohn von Maria und Josef?‘“ Er trifft, vermutlich in der Fußgängerzone, zwei ältere Damen. Die erste antwortet auf die Frage „Wie hieß der Sohn von Maria und Josef?“ wie aus der Pistole geschossen: „Na, Josef hat der doch auch g’heißen“ und erklärt, es sei damals so Tradition gewesen, den Namen weiter zugeben. Der Reporter fragt nach, aber sie bleibt dabei. Er bohrt weiter: „Eventuell was noch?“ Darauf die andere: „Na, Lukas … Ich glaub das war Lukas, nicht Josef II.“ Dann dreht der Reporter die Frage um: „Wer war’n dann die Eltern von Jesus?“ „Keine Ahnung“, sagt die eine. „Aber Sie wissen, dass Jesus in der Krippe gelegen ist …?“, fragt er. „Ja“, fällt sie ihm ins Wort. „Aber Sie wissen nicht …?“ „Nein“, sagt sie, worauf die andere unterbricht: „Maria und Josef“. Da dämmert‘s der ersten auch: „Genau, Maria und Josef“ – darin sind die beiden Frauen sich schließlich einig und der Reporter fragt weiter: „Also wie hieß dann der Sohn von Maria und

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Predigt im Gottesdienst am Christtag, 25.12.2014 in der evang. Kreuzkirche in Reutlingen

Predigttext 1. Johannes 3,1-5 (Erprobung rev. Reihe II) Pfarrer Stephan Sigloch, Pfarramt Kreuzkirche III, Reutlingen

I. Einleitung: „Wie heißt der Sohn von Maria und Josef?“

Vor Jahren ging ein Mitschnitt aus dem Programm eines öster-

reichischen Radio-Senders durchs Internet1. Da stellt ein

Reporter (Zitat:) „… eine für Weihnachten gar nicht so unwich-

tige Frage: ‚Wie hieß der Sohn von Maria und Josef?‘“

Er trifft, vermutlich in der Fußgängerzone, zwei ältere Damen.

Die erste antwortet auf die Frage „Wie hieß der Sohn von

Maria und Josef?“ wie aus der Pistole geschossen: „Na, Josef

hat der doch auch g’heißen“ und erklärt, es sei damals so

Tradition gewesen, den Namen weiter zugeben. Der Reporter

fragt nach, aber sie bleibt dabei. Er bohrt weiter: „Eventuell

was noch?“ Darauf die andere: „Na, Lukas … Ich glaub das war

Lukas, nicht Josef II.“

Dann dreht der Reporter die Frage um: „Wer war’n dann die

Eltern von Jesus?“ – „Keine Ahnung“, sagt die eine. „Aber Sie

wissen, dass Jesus in der Krippe gelegen ist …?“, fragt er. „Ja“,

fällt sie ihm ins Wort. „Aber Sie wissen nicht …?“ – „Nein“, sagt

sie, worauf die andere unterbricht: „Maria und Josef“. Da

dämmert‘s der ersten auch: „Genau, Maria und Josef“ – darin

sind die beiden Frauen sich schließlich einig und der Reporter

fragt weiter: „Also wie hieß dann der Sohn von Maria und

2

Josef?“ – Antwort der ersten: „Josef – also ich sag‘ Josef!“ –

„Aber Sie haben doch grade gesagt, von Jesus die Eltern waren

Maria und Josef?“ sagt der Reporter. „Ja, na sicher, die Eltern

von … wart, wart einmal, wie? Die Eltern von … Maria und

Josef …“ Der Reporter: „Nein, die Eltern von Jesus sind Maria

und Josef, haben Sie gesagt …“ – „Ja.“ – „Also wie hieß dann

der Sohn von Maria und Josef?“ Antwort: „Keine Ahnung!“.

Schließlich sagt der Reporter: „Wir versuchen’s einmal noch

mit allerletzter Kraft …“, die Damen lachen. Und er: „Sie haben

gesagt […]: Die Eltern von Jesus sind Maria und Josef, stimmt

das?“. Darauf die zwei: „Das haben wir gesagt, ja“. Er: „Genau.

Wie hieß dann der Sohn von Maria und Josef?“ Antwort:

„Dann haben wir ja gesagt: Wissen wir nicht so genau. Ich hab

gesagt Josef II. und sie hat gesagt der Lukas“.

Reporter: „Aber wer ist dann Jesus?“ Antwort: „Das Jesukind-

lein, das in der Krippe liegt“. Und der Reporter fragt: „Der hat

damit nix zu tun?“ Und sie antworten: „Der hat damit nix zu

tun …“.

Weihnachten kann ziemlich schwierig sein. Was hat das

Jesukindlein mit dem Sohn von Maria und Josef zu tun? Und

es wird ja nicht leichter, wenn wir uns der Frage stellen, was

hat Weihnachten denn mit mir, was hat Weihnachten mit uns

zu tun? Die Geschichte wird auf den ersten Blick auch nicht

einfacher mit unserem Predigttext aus dem 1. Johannesbrief,

ganz abgesehen davon, dass er noch nicht einmal besonders

weihnachtlich klingt:

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II. Text [Lutherübersetzung]

Seht, welch eine Liebe hat uns der Vater erwiesen, dass wir

Gottes Kinder heißen sollen [wörtlich: genannt werden] - und

wir sind es auch! Darum [er]kennt uns die Welt nicht; denn sie

[er]kennt ihn nicht. Meine Lieben, wir sind schon Gottes Kinder;

es ist aber noch nicht offenbar geworden, was wir sein werden.

Wir wissen aber: wenn es offenbar wird, werden wir ihm gleich

sein; denn wir werden ihn sehen, wie er ist. Und ein jeder, der

solche Hoffnung auf ihn hat, der reinigt [wörtlich: heiligt] sich,

wie auch jener rein [wörtlich: heilig] ist. Wer Sünde tut, der tut

auch Unrecht, und die Sünde ist das Unrecht.

Und ihr wisst, dass er erschienen ist, damit er die Sünden

wegnehme, und in ihm ist keine Sünde. [V6: Wer in ihm bleibt,

der sündigt nicht; wer sündigt, der hat ihn nicht gesehen und

nicht erkannt.]

III. Ein Weihnachts-Text?

Ist das ein Weihnachtstext? Wo ist das Kind? Wo die Krippe?

Wo sind Maria und Josef, die Hirten die Weisen? Auch von der

„Menschwerdung Gottes“ ist da nicht die Rede – höchstens in

der Formulierung „dass er erschienen ist“ …

Untrennbar mit Weihnachten verbunden - damit, dass Gott

seinen Sohn gibt -, ist aber die Feststellung, dass Gott uns in

seiner Liebe zu seinen „Kindern“ macht (V1). Also ahnen wir

vielleicht, warum dieser Text an Weihnachten Predigttext ist.

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Aber wir handeln uns mit der Feststellung direkt ein paar neue

Fragen ein: „Kinder Gottes – sind wir das denn? Und: Wie und

wo spüren wir etwas davon? Ist das nicht bloß eine Vertrös-

tung, mit der überspielt werden soll, dass die Weihnachtsge-

schichte mit uns und unserem Leben nicht wirklich etwas zu

tun hat?“

Die Fragen dürfen wir nicht überspringen. Und wir können sie

– das spüren wir ja – nicht damit beantworten, dass der heilige

Abend gestern schön oder besinnlich oder beides war.

Vor drei Jahren gab es vor den Weihnachtstagen Diskussionen

über den Werbeslogan eines Elektronikmarktes, der behauptet

hat: „Weihnachten wird unterm Baum entschieden!“ An diese

Formulierung anknüpfend suchen wir – wenn Weihnachten

mehr sein soll als Folklore - eine Antwort auf die Frage: „Wo

wird Weihnachten entschieden?“

Damals hatten wir auf dem Titel des Gemeindebriefes das

erste Bild eines kurzen Comics: Ein Erwachsener fragt, etwas

gönnerhaft einen Jungen: „Na?! … Und was bringt dir das

Christkind?“ Wer umblätterte, sah, dass dieser Mann samt

Begleiterin perplex stehen bleibt, als der Junge grinsend ant-

wortet: „Erlösung!“.

„Wo wird Weihnachten entschieden? Was bringt uns das

Christkind? Was ist für uns das Entscheidende? Was entschei-

det sich deswegen und dadurch?“ Die Frage hat damals die

Christen beschäftigt, an die und für die Johannes seinen Brief

geschrieben hat. Und sie waren sich keineswegs einig …

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IV. Damals: 1. Johannesbrief

Einige sind damals scheinbar weit hinaus über die Fragen, die

sich auch uns – ich sag ‘mal: - uns „Durchschnittschristen“ ganz

selbstverständlich stellen: „Was bedeutet das Kommen Gottes

in die Welt? Was bedeuten Jesu Leben und Tun auf dieser und

in dieser Welt? Was bedeuten sein Tod und das Bekenntnis

seiner Auferstehung?“

Sie sagen: ‚Das alles spielt gar keine Rolle mehr. Wir sind Gott

längst viel näher. Wir haben ihn längst in seiner ganzen Herr-

lichkeit gesehen … Das irdische Leben kann uns nichts mehr an

haben, wir sind auch nicht auf Hoffnung angewiesen – und

Zweifel, die kennen wir schon gar nicht mehr.‘

Dieser „geistlichen Arroganz“ widerspricht unser Text und der

ganze Brief, aus dem er genommen ist: „Nein, es ist eben noch

nicht offenbar, was wir sein werden“ (V2). Ja, wenn wir ehrlich

sind, müssen wir zugestehen: Dass wir – wie der Text bekennt

– „Gottes Kinder“ sind, dass lässt sich innerhalb der Logik und

mit den Maßstäben unserer Welt nicht feststellen oder gar

beweisen. Es ist uns nicht anzusehen – und so kommt es, dass

Christen genau daran selber immer wieder zweifeln.

V. Kinder Gottes

„Gottes Kinder … sind [wir]“ (V1) – nicht nur das Kind in der

Krippe, der Mann Jesus von Nazareth und der Auferstandene

ist Gottes Sohn, nein, auch wir Christen – hier und heute –

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sind, so bekennt es der Brief, „Gottes Kinder“ und werden

darum zu Recht so genannt!

Bei einem neu geborenen Kind wird kurz nach der Geburt in

der Regel heftig diskutiert, ob das Kleine eher dem Vater oder

der Mutter ähnelt. (Ich gebe darauf nicht viel, seit bei meinem

dritten, Philipp, einige Leute behauptet haben, er würde seiner

Mutter ähneln, während andere sagten, er sähe mir sehr ähnlich. So

weit war das in Ordnung – aber beide ‚Parteien‘ haben die Ähnlich-

keit an seiner Nase erkannt … seitdem bin ich eher skeptisch.)

Und wie immer wir solche ‚Analysen‘ im Einzelnen bewerten –

sicher ist: Wenn wir einen jungen Menschen anschauen, dann

sehen wir in ihm zugleich etwas von seinen Eltern. Sei es

äußerlich oder im Charakter, der Art, dem Verhalten: „Ich

schaue dich an und sehe ein Stück von deinem Papa. Ich sehe

dich an und ahne ein wenig, wie deine Mutter ist“.2

Wir Christen bekennen: Jesus ist Gottes Sohn. Das heißt: Wir

sehen – in der Bibel - Jesus „Christus an und bekommen einen

Blick auf Gott geschenkt. Wir schauen den Menschgeworde-

nen an und uns kann eine Ahnung vom Ewigen aufgehen“. 2

Und jetzt soll aber eben nicht nur Jesus Gottes Sohn sein,

sondern: auch wir sind „Gottes Kinder“.

Das Griechische kennt für unser deutsches Wort „Kind“ zwei

unterschiedliche Worte: παῖς (pais, davon kommt „Pädagogik“

her), betont, dass ein Kind lernen und heranwachsen muss.

Das andere (τέκνον, teknon) verweist auf den Vorgang der

Zeugung bzw. auf die Abstammung – und dieses zweite steht

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in unserem Text: Wir stammen von Gott ab, schreibt er. Das

heißt: Wir tragen Züge, tragen Spuren Gottes in uns und mit

uns. Der Ursprung unseres Lebens und unseres Christseins

liegen in Gott – und sind für immer mit ihm verbunden, so

sehr, wie Kinder immer Kinder ihrer Eltern sein werden.

[Wenn wir „Gottes Kinder“ sagen – und damit symbolisch Worte und

Begriffe aus dem Bereich der Familie verwenden, dann spüren wir,

dass unsere Worte da an Grenzen kommen, dass der Vergleich hinkt,

denn natürlich ist in diesem sprachlichen Symbol der Eltern-Kind-

Beziehung etwas voraus gesetzt, was selten nur unsere Erfahrung

ist: Der Idealfall einer gelungenen Eltern-Kind-Beziehung.]

Mich persönlich spricht das Symbol aus meiner eigenen Erfah-

rung heraus an: Als vor 25 Jahren mein Ältester geboren wur-

de, da habe ich von Anfang an deutlich gespürt: Aus der Num-

mer komme ich nicht mehr heraus – „Vater“ bin ich von heute

an bis ans Ende meiner Tage. Andere Beziehungen enden,

diese nicht, Vater bleibe ich, selbst wenn meine Kinder sich

irgendwann von mir abwenden oder lossagen sollten.

Und genau die Erfahrung ist für mich eine tröstliche und hoff-

nungsvolle: Dass Gott aus seiner Eltern-Rolle uns gegenüber

nicht aussteigen kann, will … was auch immer – so bekennen

und versprechen das etliche biblische Texte – auch der heute.

VI. Leben in unauflöslicher Spannung

Trotzdem: Die Bezeichnung „Gottes Kinder“ ist nicht nur ein

Bekenntnis und ein Versprechen – sie verrät uns auch etwas

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über die unauflösliche „Grundspannung christlicher Existenz“3,

die darin besteht, dass unser Glaube auch nach Weihnachten

noch etwas zu erwarten hat – aber deswegen auch noch war-

ten muss. „Es ist noch nicht offenbar, was wir sein werden …“.

Über die Advents- und Weihnachtsfeiertage werden in den TV-

Programmen immer wieder alte Märchenfilme wiederholt. Ein

klassisches Filmmotiv – das es übrigens auch schon in griechi-

schen Tragödien gegeben hat – erzählt die Geschichte vom

Prinzen oder der Prinzessin, die als Säuglinge vom Königshof

wegkommen, als Findelkinder bei einfachen, armen Leuten

aufwachsen und nichts ahnen oder wissen von ihrer könig-

lichen Abstammung. Sie sind Königskinder. Für ihr Leben aber

spielt es keine Rolle, hat keinerlei Bedeutung oder Auswirkung

… und wir Zuschauer spüren und erleben die Spannung, die

darin liegt und die sich daraus ergibt.

In dieser Spannung leben wir Christen: Wir sind „Gottes

Kinder“ – „Kinder des Ewigen“ also, aber wir leben in Raum

und Zeit, erleben Grenzen und Endlichkeit und Not und Elend

und die „Herrlichkeit Gottes“, der „Glanz Gottes in der Welt“,

dass wir ihn sehen, wie er wirklich ist, das ist allenfalls eine

vage Hoffnung, wenn nicht bloße Utopie …

VII. Sünde

Die Medaille dieser Grundspannung hat dann außerdem noch

sozusagen eine „zweite Seite“: Wir sind zwar „Gottes Kinder“,

aber es ist noch nicht offenbar, was wir sein werden – wir ha-

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ben noch etwas zu erwarten, wir sind nicht ‚fertig‘, die Span-

nung zwischen „schon“ und „noch nicht“ besteht und ist nicht

aufgelöst …

Die, vor denen Johannes damals warnt und gegen deren Irr-

lehre er schreibt, die behaupten, dass sie dieser Spannung

längst enthoben sind. Konsequenterweise spielt das, was un-

ter dem Stichwort „Sünde“ zu verhandeln ist, keine Rolle

mehr: Sie sind schon Gott gleich/gottgleich, und machen sich

darum keine Gedanken mehr darüber, wie sie ihr alltägliches

Leben hier gestalten, Recht und Unrecht gibt es nicht mehr, sie

wissen das Recht (und zwar: das Recht Gottes!) auf ihrer Seite

… und genau das ist dann eben auch schon: „Sünde“.

Wohl noch nie in der Geschichte wurde das Leben gefördert

dadurch, dass und wenn Menschen für sich in Anspruch ge-

nommen haben, dass sie ganz genau wüssten, was nun gerade

Gottes Willen für alle und wie er konkret umzusetzen sei. Und

das gilt – wie wir regelmäßig in den Zeitungen lesen – für alle

Religionen!

Wir dürfen „Sünde“ als Thema des Lebens und des Glaubens

nicht überspringen – wenn wir in der skizzierten Grund-

spannung nicht innerlich zerrissen werden oder verzweifeln

möchten: Ja, es ist nicht lebensdienlich, wenn wir aus den Au-

gen verlieren, dass wir „Gottes Kinder“ sind – und dass diese

Gabe für uns eben immer auch eine Aufgabe und eine Heraus-

forderung ist.

Wo wir die Gabe in Anspruch nehmen wollen, die damit

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gestellte Aufgabe aber verweigern, dort lassen wir der Sünde

und dem Unrecht Raum. Ja: „Wer Sünde tut, der tut auch

Unrecht, und die Sünde ist das Unrecht. Wer von einem

Menschen behauptet: "Der ist nicht Gottes Kind", der tut Gott

Unrecht. Wer von sich selber denkt: "Ich kann doch wohl nicht

Gottes Kind sein", der tut Gott Unrecht. Wer die Menschen und

wer sich selbst nur mit den Augen der Welt betrachtet und

dabei keine Zeichen der Gotteskindschaft entdeckt und sie da-

mit für erledigt hält, der tut Gott Unrecht. Wer die Menschen

nicht mit den Augen Gottes betrachtet und in ihnen die von

Gott geliebten Kinder entdeckt, der tut Gott Unrecht. Wer für

einen Menschen die Hoffnung aufgibt – ob für sich selbst oder

für einen anderen Menschen - der tut Gott Unrecht. Gott Un-

recht tun – das ist Sünde. Die Sünde ist das Unrecht“4.

Demgegenüber gilt: „…ihr wisst, dass er erschienen ist, damit

er die Sünden wegnehme….“. Da taucht – neben dem Begriff

der „Sünde“ das Stichwort der „Vergebung“ auf. Und auch da

können wir uns fragen: „Wo und wie erfahren wir denn konkret

etwas von der Vergebung, die uns immer wieder einmal zu-

gesprochen wird?“

Und wenn uns nichts dazu einfällt, dann sollten wir wieder

einmal Bonhoeffers denkwürdige Einleitung seines Buches

„Nachfolge“ über die billige und die teure Gnade lesen und

meditieren5, in der er uns davor warnt, Gottes Gnade „als

Schleuderware“6 zu … ja: zu verschleudern – er beklagt und

kritisiert eine Haltung, wie sie der Briefschreiber Johannes

auch schon bekämpft: „Billige Gnade heißt Rechtfertigung der

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Sünde und nicht des Sünders. Weil Gnade doch alles allein tut,

kann alles beim alten bleiben“ (a.a.O.) – und es kommt nicht zu

einer Veränderung.

Zu Recht widerspricht Bonhoeffer dieser Haltung, der 1. Johan-

nesbrief gibt ihm Recht: „Gottes Kinder“ zu sein, das ist Gabe

und Geschenk – und zugleich eine Aufgabe. Ich sag‘s mit ei-

nem Vergleich: Wenn jemand zu Weihnachten ein Lebewesen

geschenkt bekommt – Katze, Hund, Meerschweinchen, Hams-

ter oder auch eine Pflanze -, dann bekommt und übernimmt er

oder sie damit auch eine Verantwortung und nimmt sie hof-

fentlich wahr.

VIII. Gemeinschaft der Heiligen

Die Verantwortung als „Gottes Kinder“ hilft uns zu einer Ant-

wort auf die noch offene Frage, wo wir denn konkret er-

fahren, das wir tatsächlich „Gottes Kinder“ sind.

Wegweisend ist die Beobachtung, dass es „Gottes Kinder“ nur

im Plural gibt. Leider hat uns Luthers Katechismus, den wir

auswendig lernen mussten, an der Stelle auf ein falsches Gleis

gesetzt.

In der Erklärung des dritten Teils des Glaubensbekenntnisses

haben viele von uns gelernt: „Ich glaube, dass ich nicht aus

eigener Vernunft noch Kraft an Jesus Christus, meinen Herrn,

glauben oder zu ihm kommen kann; sondern der Heilige Geist

hat mich durch das Evangelium berufen, mit seinen Gaben

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erleuchtet, im rechten Glauben geheiligt und erhalten;

gleichwie er die ganze Christenheit auf Erden beruft, sammelt,

erleuchtet, heiligt und bei Jesus Christus erhält im rechten, eini-

gen Glauben; in welcher Christenheit er mir und allen Gläubi-

gen täglich alle Sünden reichlich vergibt und am Jüngsten Tage

mich und alle Toten auferwecken wird und mir samt allen Gläu-

bigen in Christus ein ewiges Leben geben wird. Das ist gewiss-

lich wahr“7. Das beginnt mit dem „Ich“ – und das „wir“, die

„Christenheit“ kommt erst später dazu. Anders unser Text, der

ernst nimmt: Ein ‚Ich‘ erfährt höchstens und nur im Wir kon-

kret, was ihm zugesagt wird. Wahr wird es erst im konkreten

Miteinander.

Dass wir selten nur uns tatsächlich erleichtert fühlen, wenn

uns die Vergebung der Sünde zugesprochen worden ist, kann

dann einfach daran liegen, dass wir in der Regel nicht dazu

sagen, was zu diesem Zuspruch unbedingt dazu gehört: ‚Nun

leb‘ aber auch unter „Gottes Kinder[n]“ so, dass unter euch

Gottes Gegenwart spürbar ist und sichtbar wird.‘

IX. Schluss

Das ist nun ein ganz weiter Horizont, der da aufgeht. Den kön-

nen wir heute nicht mehr abschreiten. Aber so viel noch dazu:

In diesem Horizont nur wird die Erfahrung des Glaubens

konkret, das Erleben, dass wir „Gottes Kinder“ sind. Aber auch

dann, wenn wir davon etwas spüren, bleibt noch das andere:

„Es ist noch nicht offenbar, was wir sein werden …“.

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Irgendwann wird es sichtbar werden. Und diese Erwartung

verbindet uns nun wieder ganz eng mit Weihnachten – mit

dem Weihnachten, das uns berührt und prägt: Wer kennt nicht

die Spannung, die uns befällt, wenn wir vor dem Weihnachts-

zimmer warten? Wir ahnen, was drinnen passiert und wie

schön alles nachher leuchten wird - aber wir sind eben noch

nicht drinnen.

„Gottes Kinder“ wissen: Die Tür wird aufgehen – und dann

werden wir alles sehen. Das klingt nun doch wieder ganz

einfach. Amen.

__________________ 1 Hitradio Ö3 auf Youtube: „Wie hieß der Sohn von Maria und Josef?“

https://www.youtube.com/watch?v=6A8Y13S2A8Y 2 Siehe:

http://www.predigtpreis.de/predigtdatenbank/predigt/article/predigt-ueber-1-johannes-3-1-2.html 3 Markus Engelhardt, „… damit wir gottgleich würden“, in: Textspuren 4.

Konkretes und Kritisches zur Kanzelrede. Hg. v. Peter Härtling, 1993, S.26-29. 4 http://www.predigten.de/predigt.php3?predigt=10659 5 Dietrich Bonhoeffer, Nachfolge. DBW 4, 1989 (1937), S. 30ff. 6 a.a.O. 29f. 7 zitiert nach EG (Württ.) Nr. 834, S. 1487.