PrimaryCare and Hospital · sie durchaus im Trend: Von alten Zöpfen sollte man sich verabschieden,...

18
Offizielles Organ Schweizerische Gesellschaft für Allgemeine Innere Medizin Haus- und Kinderärzte Schweiz www.primary-hospital-care.ch 2 24. 1. 2018 23 Stefan Neuner-Jehle Zu Risiken und Neben- wirkungen lesen Sie die Zeitung 26 Brigitte Zirbs Savigny Ein strategischer Schritt in einem gemeinschaft- lichen Lernprozess 31 Macé M. Schuurmans, Jürg Barben Factsheet 3: Wasserpfeife/ Shisha Allgemeine Innere Medizin Care Primary and Hospital 28 Edy Riesen, Andreas Studer The Dark Side of the Moon Published under the copyright license “Attribution – Non-Commercial – NoDerivatives 4.0”. No commercial reuse without permission. See: http://emh.ch/en/services/permissions.html

Transcript of PrimaryCare and Hospital · sie durchaus im Trend: Von alten Zöpfen sollte man sich verabschieden,...

Offizielles OrganSchweizerische Gesellschaft für Allgemeine Innere Medizin Haus- und Kinderärzte Schweiz

www.primary-hospital-care.ch

2 2

4. 1

. 201

8

23 Stefan Neuner-JehleZu Risiken und Neben­wirkungen lesen Sie die Zeitung

26 Brigitte Zirbs SavignyEin strategischer Schritt in einem gemeinschaft­ lichen Lernprozess

31 Macé M. Schuurmans, Jürg BarbenFactsheet 3: Wasserpfeife/Shisha

Allgemeine Innere Medizin

CarePrimary and Hospital

28 Edy Riesen, Andreas StuderThe Dark Side of the Moon

Published under the copyright license “Attribution – Non-Commercial – NoDerivatives 4.0”. No commercial reuse without permission. See: http://emh.ch/en/services/permissions.html

Editorial

Stefan Neuner-Jehle

23 Zu Risiken und Nebenwirkungen lesen Sie die Zeitung

Offizielle Mitteilungen

Luca Gabutti, Angela Greco, Olivier Giannini

24 Appropriateness: Was wir aus unseren Projekten gelernt haben Das Herbstkolloquium der Schweizerischen Gesellschaft Internistischer Chef- und Kaderärzte (ICKS)

fand am 9. November 2017 im Tessin, im Auditorium des Ospedale Regionale di Bellinzona e Valli statt.

Brigitte Zirbs Savigny

26 Ein strategischer Schritt in einem gemeinschaftlichen Lernprozesswwww Seit 2013 setzen sich mfe und der Vorstand der Plattform Interprofessionalität für die Förderung

eines Versorgungsmodells ein, bei dem die Patienteninteressen das zentrale Anliegen eines interprofessionellen Teams sind.

Lernen

Edy Riesen, Andreas Studer

28 Neuropsychiatrische Störungen bei Demenz – The Dark Side of the Moon «The Dark Side oft the Moon» war der Titel einer Fortbildung über neuropsychiatrische Störungen bei

Demenz. Er spielt darauf an, dass diese Störungen oft erst spät als solche erkannt und diagnostiziert werden. Nicht selten kommt es vor, dass betreuende Angehörige sie bagatellisieren oder ganz verschweigen, da sie den Demenzkranken nicht schlechtmachen wollen.

INHALTSVERZEICHNIS 21

Redaktion

Dr. Stefan Neuner-Jehle, Zug (Chefredaktor); Dr. Nadja Pecinska, Muttenz (Managing Editor); Dr. Monika Büttiker, Olten; PD Dr. Thomas Dieterle, Liestal; Prof. Dr. Jacques Donzé, Bern; Dr. Pierre Loeb, Basel; Dr. Edy Riesen, Ziefen; pract. med. Manuel Schaub, Bern; Dr. Daniel Widmer, Lausanne

Offizielles Organ von:

Schweizerische Gesellschaft für Pädiatrie SGP

Kollegium für Hausarztmedizin KHM

Schweize rische Akademie für Psychosoma tische und Psychosoziale Medizin SAPPM

Junge Hausärztinnen und -ärzte Schweiz JHaS

Swiss Young Internists SYI

mfe Haus- und Kinderärzte Schweiz

Schweizerische Gesellschaft für Allgemeine Innere Medizin SGAIM

Published under the copyright license “Attribution – Non-Commercial – NoDerivatives 4.0”. No commercial reuse without permission. See: http://emh.ch/en/services/permissions.html

Macé M. Schuurmans, Jürg Barben

31 Factsheet 3: Wasserpfeife/Shisha Wasserpfeiferauchen wird insbesondere von jungen Menschen als harmlos beurteilt, nicht zuletzt,

weil der wohlriechende Rauch aus der Kohleverbrennung und der Erhitzung eines Tabak- und Duftstoffgemisches durch Wasser geleitet und erst dann inhaliert wird. Tatsächlich dient diese scheinbare «Wasserfilterung» nur der Abkühlung und Anfeuchtung des Aerosols, das den Rauch keineswegs reinigt und deswegen hohe Mengen von Kohlenmonoxid und andere Schadstoffe enthält.

Reflektieren

Edy Riesen

36 Fieberkurven Eine Fieberkurve? Aber nein, halt, das ist ja eine Grafik des Aktienkurses …

EbM-Guidelines – Evidenzbasierte Medizin für Klinik und Praxis

Das BuchDas gesamte Fachwissen der allgemein medizinisch-internistischen Grund versorgung.Das Standardwerk – über 1600 Seiten sicheres Wissen.

6., komplett überarbeitete Auflage, EMH Schweizerischer Ärzteverlag AG2015. 1630 Seiten. Gebunden. ISBN 978-3-03754-083-1CHF 171.–

Ihre Bestellmöglichkeiten: T +41 (0)61 467 85 75, F +41 (0)61 467 85 76, [email protected], www.emh.ch, EMH Schweizerischer Ärzteverlag AG, Farnsburgerstrasse 8, CH-4132 Muttenz

Die Online-VersionFortlaufend aktualisiert, noch mehr Inhalte, Bilder, Videos und Audiobeispiele. Links zu den Cochrane-Library- Beiträgen, Evidence Summaries.www.ebm-guidelines.ch

Die Mobile-VersionDie EbM-Guidelines sind für alle mobilen Endgeräte wie Tablets und Smartphones ohne Zusatzkosten nutzbar.

Jetzt Sonderangebot

(solange Vorrat)

EbM-Guidelines, Buch-Version, 6. Auflage,

zum Sonderpreis von Fr. 118.– (statt 171.–)

Jahresabonnement online plus Buch, 6. Auflage,

Fr. 210.– (statt 263.–)

INHALTSVERZEICHNIS 22

ImpressumPrimary and Hospital CareOffizielles Organ von mfe Haus- und Kinderärzte Schweiz, der Schweizeri-schen Gesellschaft für Allgemeine Innere Medizin SGAIM, der Schweize-rischen Gesellschaft für Pädiatrie SGP, des Kollegiums für Hausarztmedizin KHM, der Schweize rischen Akademie für Psychosoma tische und Psycho- soziale Medizin SAPPM sowie der Jungen Hausärztinnen und -ärzte Schweiz JHaS. Redaktionsadresse: Eveline Maegli, Redaktionsassistentin, EMH Schweize-rischer Ärzteverlag AG, Farnsburger-strasse 8, 4132 Muttenz, Tel. +41 (0)61 467 85 58, Fax +41 (0)61 467 85 56, [email protected], www.primary-hospital-care.chManuskripteinreichung online: http://www.edmgr.com/primaryhospitalcare

Verlag: EMH Schweizerischer Ärzte-verlag AG, Farnsburgerstrasse 8, 4132 Muttenz, Tel. +41 (0)61 467 85 55, Fax +41 (0)61 467 85 56, www.emh.ch

Marketing EMH / Inserate: Dr. phil. II Karin Würz, Leiterin Marketing und Kommunikation, Tel. +41 (0)61 467 85 49, Fax +41 (0)61 467 85 56, [email protected]

Abonnemente: EMH Schweizerischer Ärzteverlag AG, Abonnemente, Farnsburgerstrasse 8, 4132 Muttenz, Tel. +41 (0)61 467 85 75, Fax +41 (0)61 467 85 76, [email protected]: Für Mitglieder der Herausgebergesellschaften gelten spezielle Konditionen, die im Detail unter http://www.primary-hospital-care.ch/fuer-leser/abonnement/ zu finden sind.

Abonnemente für Nichtmitglieder: CHF 125.–, Studentenabonnement CHF 63.–, jeweils zuzüglich Porto.

ISSN: Printversion: 2297-7155 / elektronische Ausgabe: 2297-7163Erscheinungsweise: 23 Ausgaben pro Jahr.

© EMH Schweizerischer Ärzteverlag AG(EMH), 2018. «Primary and Hospital Care» ist eine Open- Access-Publika- tion von EMH. Entsprechend gewährt EMH allen Nutzern auf der Basis der Creative-Commons-Lizenz «Namens-nennung – Nicht kommerziell – Keine Bearbeitungen 4.0 International» das zeitlich unbeschränkte Recht, das Werk zu vervielfältigen, zu verbreiten und öffentlich zugänglich zu machen unter den Bedingungen, dass (1) der Name des Autors genannt wird, (2) das Werk nicht für kommerzielle Zwecke ver-wendet wird und (3) das Werk in keiner Weise bearbeitet oder in anderer Weise verändert wird. Die kommer-zielle Nutzung ist nur mit ausdrück-licher vorgängiger Erlaubnis von EMH und auf der Basis einer schriftlichen Vereinbarung zulässig.

Bild S. 21 oben: © Tomert | Dreamstime.com

Hinweis: Alle in dieser Zeitschrift publizierten Angaben wurden mit der grössten Sorgfalt überprüft. Die mit Verfassernamen gezeichneten Veröf-fentlichungen geben in erster Linie die Auffassung der Autoren und nicht zwangsläufig die Meinung der Redak-tion von PrimaryCare wieder. Die an-gegebenen Dosierungen, Indikationen und Applikationsformen, vor allem von Neuzulassungen, sollten in jedem Fall mit den Fachinformationen der ver-wendeten Medikamente verglichen werden.

Herstellung: Schwabe AG, Muttenz, www.schwabe.ch

Titelbild und S. 21 unten: © Saknarin Wunlipagorn | Dreamstime.com

Published under the copyright license “Attribution – Non-Commercial – NoDerivatives 4.0”. No commercial reuse without permission. See: http://emh.ch/en/services/permissions.html

Trägt die SonntagsZeitung zum Hausärztemangel bei?

Zu Risiken und Nebenwirkungen lesen Sie die ZeitungStefan Neuner-Jehle

Chefredaktor; Leiter Chronic Care, Institut für Hausarztmedizin Zürich; Hausarzt in Zug

Am Anfang stand wohl der Wille, etwas über Unsicher-heit in der medizinischen Diagnostik zu schreiben – ein Fakt, mit dem wir Hausärzte schon lange umge-hen und der ein Begleiter unserer Arbeit ist. Dann degenerierte die Story der SonntagsZeitung zur Dif-famierung unseres Berufsstandes. Dass physikalische Untersuchungen, genau wie Elemente der Anamnese und technische Verfahren auch, keine perfekten diagnostischen Instrumente sind, liegt in der Natur der Sache. Keine Methode bietet uns eine sichere Voraussage oder Ausschluss einer Er-krankung, und das schliesst auch hochtechnisierte Verfahren mit ein. Eine Palpation oder Auskultation ist ein Mosaikstein zur korrekten Diagnose, nicht mehr und nicht weniger. Klinische Epidemiologen haben schon längst die Voraussagekraft diverser Methoden mathematisch beschrieben.

Wenn eine übereifrige Journalistin nun verschiedene Beispiele von nutzlosen Untersuchungen anführt, liegt sie durchaus im Trend: Von alten Zöpfen sollte man sich verabschieden, wenn sie nach Evidenzkriterien nichts nützen oder sogar schaden; soweit einverstan-den. Wenn sie aber ihren Artikel mit «unzuverlässige Ärzte» übertitelt, wie in der SonntagsZeitung vom 7. Ja-nuar 2018 geschehen [1], dann verwechselt sie Metho-den mit Akteuren und verunglimpft die Ärzteschaft

Korrespondenz: Dr. med. Stefan Neuner-Jehle MPH, Institut für Hausarzt-medizin Pestalozzistrasse 24 CH-8091 Zürich sneuner[at]bluewin.ch

Stefan Neuner-Jehle

pauschal. Besonders die Hausärzte werden mit dem Hinweis «so ungenau untersuchen sie» vorgeführt.

Solche Presse hilft nicht gerade mit, potenziellen Nach-wuchs für die Hausarztmedizin zu begeistern. Vor al-lem, wenn Fakten einseitig dargestellt und beliebig Schwarze Peter verteilt werden. Jeder Hausarzt weiss um die Grenzen diagnostischer Methoden, und hat ge-lernt, mit einem vertretbaren Mass an Unsicherheit umzugehen. Dieses Triagieren und vernunftgesteu-erte, massvolle Abklären ist sogar eine Stärke und eine Spezialität unseres Berufes.Ein solches journalistisches Gebaren erinnert an Bou-levardjournalismus und ist unprofessionell. Kommt dazu, dass zwar einer unserer Ordinarien für Hausarzt-medizin zum Thema befragt und im Artikel zitiert wurde, beim Gegenlesen aber über die diffamierenden Headlines nicht informiert wurde – mehr als ärgerlich. Hoffen wir, dass dies ein peinlicher journalistischer Ausrutscher war. Zu Risiken und Nebenwirkungen, wie auch zu Nutzen und Präzision einer Abklärung, frage ich sowieso lieber meinen Hausarzt als meine Zeitung.

Literatur1 Martina Frei, «Dr. med. Unzuverlässig», SonntagsZeitung,

07.01.2018

Jeder Hausarzt weiss um die Grenzen von diagnostischen Methoden, und hat gelernt, mit einem vertretbaren Mass an Unsicherheit umzugehen.

Eine Palpation oder Auskultation ist ein Mosaikstein zur korrekten Diagnose, nicht mehr und nicht weniger.

PRIMARY AND HOSPITAL CARE – ALLGEMEINE INNERE MEDIZIN 2018;18(2):23

EDITORIAL 23

Published under the copyright license “Attribution – Non-Commercial – NoDerivatives 4.0”. No commercial reuse without permission. See: http://emh.ch/en/services/permissions.html

Herbstkolloquium der ICKS in Bellinzona

Appropriateness: Was wir aus unserem Projekt gelernt habenLuca Gabuttia, Angela Grecob, Olivier Gianninic

a Chefarzt AIM Ospedale Regionale di Bellinzona e Valli – Bellinzona; b Quality and Risk Manager Ospedale Regionale di Locarno; c Stv. Chefarzt AIM, Ospedale Regionale di Mendrisio

Die Innere Medizin des Ente Ospedaliero Cantonale (EOC) – des Netzwerks der öffentlichen Spitäler des Kantons Tessin mit mehreren Standorten – hat das Herbstkolloquium der ICKS gestaltet und sich dabei als funktionale Multisite-Abteilung präsentiert. Der rote Faden des Fortbildungstages war die diagnos-tische und therapeutische Angemessenheit nach dem Motto «More is not always better» von Choosing Wisely (Abb. 1). Die 2012 auf Initiative der American Board of Internal Medicine (ABIM) Foundation aus der Taufe ge-hobene Kampagne Choosing Wisely hat von Beginn an eine innovative und mutige Botschaft einer auf die Patient/-innen und auf deren Bedürfnisse fokussierten Behandlung propagiert. Sie schliesst geeignete Care-Leistungen ein, die sich durch ein insgesamt günstiges

Kosten-Nutzen-Verhältnis auszeichnen, und fördert den Dialog zwischen Ärzteschaft und Patient/-innen mit dem Ziel einer bewussten Wahl der Betroffenen.

Projekte für Choosing Wisely an Tessiner Spitälern

Am Kolloquium in Bellinzona konnte im Laufe des Ta-ges der Wert von Initiativen wie derjenigen des EOC im Rahmen der Choosing-Wisely-Kampagne aufgezeigt werden. Seit Juni 2017 sind diese Aktivitäten auch im Trägerverein «smarter medicine–Choosing Wisely Swit-zerland» koordiniert. Das EOC gehörte zu den Initian-ten dieser landesweiten Kampagne: Im Juni 2013 wurde in seinen dezentralisierten regionalen Akutspitälern (Lugano, Bellinzona e Valli, Locarno und Mendrisio) ein konkretes Projekt ins Leben gerufen. Verschiedene Referenten der Kampagne Choosing Wisely EOC nutz-ten die ihnen von der ICKS gebotene Gelegenheit, um sich mit einigen Themen im Zusammenhang mit der Angemessenheit (Appropriateness) der Arzneimittel-verschreibung zu befassen, namentlich von Benzodia-zepinen, Protonenpumpenblockern und Vitamin D. Alarmierend ist zum Beispiel die Feststellung, dass im Zeitraum 2014–2017 rund 30% der Patient/-innen einer Abteilung für innere Medizin des EOC angaben, zu Hause Benzodiazepine einzunehmen.

Fehler bei der Verschreibung von Arzneimitteln vermeiden

Im Bereich der Appropriateness pharmakologischer Verschreibungen wurde das Konzept Antibiotic Ste-wardship präsentiert, eine innovative Methodik, auf der ein Pilotprojekt des Universitätsspitals Genf be-ruht und in das die Spitäler von Lugano und Bellinzona eingebunden werden.

Das Herbstkolloquium der Schweizerischen Gesellschaft Internistischer Chef- und Ka-derärzte (ICKS) fand am 9. November 2017 im Tessin, im Auditorium des Ospedale Regionale di Bellinzona e Valli statt.

Redaktionelle Verantwortung: Bruno Schmucki, SGAIM

PRIMARY AND HOSPITAL CARE – ALLGEMEINE INNERE MEDIZIN 2018;18(2):24–25

OFFIZIELLE MITTEILUNGEN 24

Abbildung 1: Das Motto der Kampagne Choosing Wisely diente dem Programm des

Herbstkolloquiums der Schweizerischen Gesellschaft Internistischer Chef- und Kader-

ärzte – ICKS/AMCIS/ASIO – vom 9.11.2017 in Bellinzona als roter Faden.

Published under the copyright license “Attribution – Non-Commercial – NoDerivatives 4.0”. No commercial reuse without permission. See: http://emh.ch/en/services/permissions.html

Mit diesem Pilotprojekt soll die Ärzteschaft zu einer «überlegten» und evidenzbasierten Verschreibung an-gehalten werden, die sich vor allem an die geltenden Richtlinien für die Verschreibung von Antibiotika hält. Der Fehler bei der Verschreibung von Arzneimitteln an den Schnittstellen – insbesondere beim Spitaleintritt – war Thema eines Beitrags, der die Daten einer in der Abteilung Innere Medizin des Ospedale Beata Vergine in Mendrisio durchgeführten prospektiven Studie prä-sentierte. Diese Arbeit hat aufgezeigt, dass auch in ei-nem fortschrittlichen Gesundheitssystem wie dem schweizerischen der Anteil therapeutischer Diskre-panzen gross ist (47%). Die Daten werden im Laufe des Jahres 2018 publiziert. Besonders relevant sind sie aus klinischer Sicht beim Spitaleintritt. Mit der Einfüh-rung einer Medication Reconciliation könnten sie sicht-bar gemacht werden.Die Thematik der Appropriateness der radiodiagnosti-schen Indikation wurde mit der Präsentation der vom EOC ergriffenen Massnahmen für das Monitoring der Strahlendosierung aufgegriffen. Die Fragestellung lau-

tete, wie man sich in Zukunft in Richtung einer besser an die Situation und die Patient/-innen angepassten Strahlendosis bewegen könnte. Die den Teilnehmen-den des Kolloquiums gebotenen Präsentationen zeig-ten die wichtigen Elemente des von der Abteilung Innere Medizin und Chirurgie zusammen mit den Sup-port-Abteilungen des EOC eingeschlagenen Weges auf: Das kontinuierliche Monitoring der Parameter, das Benchmarking und die Transparenz dank Schaffung eines EOC-eigenen EDV-Systems, das Reporting Wisely genannt wird. Hierbei handelt es sich um ein intuitives Dashboard, das vom gesamten Kader der Ärzteschaft und des Pflegepersonals abgefragt werden kann und den ständigen und ungehinderten Zugang zu den überwachten Daten sowie den Vergleich mit anderen Diensten und Spitälern der Einrichtung ermöglicht.

Interessanter Austausch und gelungene Vernetzung

In der heutigen Zeit, in der sich alle Akteur/-innen des schweizerischen Gesundheitssystems fragen, wie man die Leistungen verbessern und die Kosten senken kann, ohne Abstriche bei der nach wie vor hohen Behandlungsqualität zu machen, erlauben diese The-menbereiche, auf der täglichen Suche geeigneter Lö-sungen den Horizont zu erweitern. Der Weg zu einem besseren Bewusstsein in Sachen diagnostische Wahl und/oder einer rationelleren und auf den einzelnen Patienten abzielenden Therapie ist noch weit, aber der Veränderungsprozess hat begonnen.Der Austausch zwischen den verschiedenen Chef- und Kaderärzt/-innen der nach Bellinzona eingeladenen Schweizer Spitäler ermöglichte einen bereichernden und stimulierenden Schulungstag, neue Vernetzun-gen, Gedankenanstösse für zukünftige Projekte im Hinblick auf den Austausch über Erfahrungen für ein gegenseitiges Wachstum.Das Kolloquium von Bellinzona klang mit einer Be-sichtigung der Burg Sasso Corbaro aus, die von der Daro-Anhöhe aus die Hauptstadt und den Kanton Tes-sin dominiert (Abb. 2). Die Lichterspiele, die Aussicht in die teilweise bereits schneebedeckten Berge und die Wärme der Tessiner Herbstsonne dienten als würdiger Rahmen für den Nachmittag, der dazu beitrug, dass das Kolloquium zu einem Erfolg mit guten Vorsätzen für die zukünftigen Projekte der neugeborenen Schweizerischen Gesell-schaft Internistischer Chef- und Kaderärzte wurde.

Korrespondenz: Bruno Schmucki Kommunikation, SGAIM, Schweizerische Gesellschaft für Allgemeine Innere  Medizin Monbijoustrasse 43 Postfach CH-3001 Bern bruno.schmucki[at]sgaim.ch

Abbildung 2: Einige Teilnehmende, die am Ende des Schulungstages das Burgmuseum

Sasso Corbaro besuchten.

OFFIZIELLE MITTEILUNGEN 25

PRIMARY AND HOSPITAL CARE – ALLGEMEINE INNERE MEDIZIN 2018;18(2):24–25

Published under the copyright license “Attribution – Non-Commercial – NoDerivatives 4.0”. No commercial reuse without permission. See: http://emh.ch/en/services/permissions.html

Interprofessionalität

Ein strategischer Schritt in einem gemeinschaftlichen LernprozessBrigitte Zirbs Savigny

Vorstandsmitglied mfe

Das kanadische Modell, mit dem sich zwei Vorstands­mitglieder in Toronto vertraut machten, hat uns nach­haltig beeindruckt. Gestärkt durch diese Erfahrung nahmen wir uns in der Schweiz dieser Aufgabe an. Zu­erst mussten in den eigenen Reihen die Kolleginnen und Kollegen überzeugt werden. Diese befürchteten anfänglich einen Verlust an Befugnissen oder Tätig­keitsfeldern. Anschliessend galt es, diejenigen Partner zu überzeugen, mit denen wir ein berufliches Bündnis entwickeln wollten. Ungeachtet des etwas harzigen Starts und der anfänglichen Diskussionen mit den Kol­leginnen und Kollegen, denen das Konzept der ge­meinsamen Patientenbetreuung fremd war, erwies sich der bisher eingeschlagene Weg als vielverspre­chend! Im Hintergrund konnten wir dabei stets auf die um fassende Sichtweise und das Wohlwollen unserer «Schirmherrin» Catherine Gasser zählen, die uns mit ihrer praktischen Erfahrung umfangreich unter­stützte.

Seit 2013 setzen sich mfe und der Vorstand der Plattform Interprofessionalität für die Förderung eines Versorgungsmodells ein, bei dem die Patienteninteressen das zentrale Anliegen eines interprofessionellen Teams sind.

Von Beginn an gemeinsam aufbauen – ein wesentliches Kriterium!

Zuerst wurde 2013 die «Plattform Interprofessionalität in der primären Grundversorgung» als ein Forum für den Austausch von Gedanken und Informationen ge­gründet. Zwar war das Verhältnis anfänglich von ei­nem gewissen Misstrauen geprägt, gleichwohl ent­wickelte sich nach und nach eine freundschaftliche Zusammenarbeit. An der Plattform beteiligten sich die wichtigsten Partner der ambulanten Grundversor­gung und Akteure aus der Praxis: Besonderes Augen­merk lag darauf, dass nicht Theoretiker in der Platt­form vertreten sind, sondern Fachleute, die mit der praktischen Pa tientenarbeit vertraut sind. Wir wollten keine politische Struktur zur Ausübung von Einfluss und Macht aufbauen, vielmehr war das Ziel, Gesund­heitsfachleuten mit gemeinsamen Werten eine erwei­terte Perspektive zu ermöglichen. So konnten wir die

Redaktionelle Verantwortung: Sandra Hügli, mfe

PRIMARY AND HOSPITAL CARE – ALLGEMEINE INNERE MEDIZIN 2018;18(2):26–27

OFFIZIELLE MITTEILUNGEN 26

Published under the copyright license “Attribution – Non-Commercial – NoDerivatives 4.0”. No commercial reuse without permission. See: http://emh.ch/en/services/permissions.html

Fähigkeiten der einzelnen Partner kennenlernen und besser verstehen. Wir haben die Stereotype abgebaut, die den Austausch zwischen den Berufsgruppen über­schatteten und zu Spannungen führten. Nach und nach entwickelten sich eine respektvolle Beziehung und ein gleichberechtigter Austausch zwischen den Mitgliedern. Physiotherapeutinnen und ­therapeuten, Pflegefachfrauen und ­fachmänner, Ernährungs­beraterinnen und ­berater, Ärztinnen und Ärzte, Apo­thekerinnen und Apotheker, medizinische Praxis­assistentinnen und ­assistenten und Spitex­Vertreter arbeiteten zusammen, um Analysekriterien zur Be­wertung interprofessioneller Projekte zu entwickeln. Sie bestimmen den Prozess der Ausarbeitung eines Projekts, das tatsächlich inter professionell ist und nicht nur von mehreren Berufsgruppen auf Anwei­sung einer leitenden Person ausgeführt wird. Von Be­ginn an gemeinsam aufzubauen, ist ein wesentliches Kriterium! Diese Parameter wurden auf verschiedene Projekte angewandt, darunter auf «Prism», ein Projekt aus Genf, das sich mit der Versorgung komplexer Pati­enten beschäftigt und das Punktemaximum erreichte. Diese Analysekriterien sollen die vielfältigen Aspekte, die für Interprofessionalität unabdingbar sind, voll­ständig erfassen. Trotz der zeitweiligen Kritik an den hohen Ansprüchen lässt sich heute sagen, dass die Kri­terien ein nützliches und praktisch umsetzbares Inst­rument sind. Künftig können sie auch als Leitfaden bei der Ausarbeitung interprofessioneller Projekte dienen. Die Kriterien sind auf unserer Website www.interpro­fessionalitaet.ch abrufbar.

Gründung eines neuen Vereins

Nachdem wir im Verlauf von drei Jahren unsere Bezie­hungen optimiert haben, gewannen wir die Überzeu­gung, dass wir uns nicht die zur Förderung grösserer Projekte nötigen Mittel beschaffen können, solange

wir nur lose vernetzt strukturiert sind. Folglich zogen wir in Betracht, einen eigenen Verein zu gründen. Dies  war keine einfache Aufgabe! Erneut tauchten überwunden geglaubte Widerstände auf, welche die Umsetzung des Vorhabens verzögerten. Um die ge­eignete Struktur festzulegen, mussten die höchsten Ebenen der Projektpartner gemeinsam beraten: Sie schufen eine Struktur und Statuten, die von allen ­Partnern akzeptiert wurden. Wir, die Beteiligten der ersten Stunde, fürchteten, dass dieser authentische Austausch zwischen Fachleuten aus der Praxis, dieser gegenseitige Respekt und diese gleichberechtige Sicht verloren gehen könnten. Doch wir sehen mit Zu­versicht nach vorne und freuen uns darauf, dass diese Grundsätze auch die neue Struktur kennzeichnen. Die Partner der ersten Stunden zogen es vor, in die zweite Reihe zu treten: Für die neue Struktur wollten wir frische Kräfte! So wird am 22.  Januar  2018 mit der Gründung des Vereins ein neues Kapitel aufgeschla­gen.

Stabile und zuverlässige Partner

In der Zwischenzeit ist das Bundesamt für Gesundheit (BAG) mit dem Ansinnen an uns herangetreten, eine Zusammenarbeit aufzubauen. Der neue Verein verfügt nunmehr über stabile und zuverlässige Partner, die ihn unterstützen werden. Darüber hinaus plant der neue Verein bereits, diesen Herbst mit dem BAG und der Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissen-schaften (SAMW) einen Kongress zu veranstalten und dadurch die Zusammenarbeit zur Förderung der Inter­professionalität in der Schweiz zu stärken. Ein weiterer Schritt zu einer abgestimmten und praxis orientierten Interprofessionalität!

Bildnachweis© vege | Fotolia.com

PRIMARY AND HOSPITAL CARE – ALLGEMEINE INNERE MEDIZIN 2018;18(2):26–27

OFFIZIELLE MITTEILUNGEN 27

Korrespondenz: Sandra Hügli­Jost Kommunikations­beauftragte mfe Haus­ und Kinderärzte Schweiz, Geschäftsstelle Effingerstrasse 2 CH­3011 Bern Sandra.huegli[at]hausaerzteschweiz.ch

Published under the copyright license “Attribution – Non-Commercial – NoDerivatives 4.0”. No commercial reuse without permission. See: http://emh.ch/en/services/permissions.html

LERNEN | KHM-KONGRESS 28

Neuropsychiatrische Störungen bei Demenz

The Dark Side of the MoonEdy Riesena, Andreas Studerb

a Mitglied der Redaktion, Hausarzt, Ziefen BL; b Geriatriespital Felix Platter, Basel

Einführung

Ich lerne nie aus. Das ist eine der grossen Konstanten in meinem Berufsleben und ich gestehe, dass ich mich mit denjenigen, die glauben im Besitz der Wahrheit zu sein, schwer tue. Andererseits gibt es nichts Erfri-schenderes, als zusammen mit einem Kollegen mit langer Berufserfahrung und Kenntnis der Evidenz möglichst genau die «Essenz» des Faches zu suchen, die auf uns Hausärzte zugeschnitten ist. Dies passiert zum Beispiel, wenn man mit einem Spezialisten einen Workshop für einen Kongress vorbereiten darf. Liebe Kolleginnen und Kollegen, trauen Sie sich das zu! Sie werden in einer einzigen gemeinsamen Stunde Inputs erhalten, die Sie sonst in dieser Form nie bekommen. Sie sollten unbedingt zum betreffenden Kollegen rei-sen, in seine Klinik, in seine Praxis, ihn dort erleben, wo er arbeitet. Vorher notieren Sie sich wochenlang Fragen aus dem Alltag, der Sprechstunde, dem Pflege-heim und dem Qualitätszirkel. Damit starten sie ein Interview und sie werden nicht enttäuscht. «Mein» Re-ferent, der Psychiater Andreas Studer, hat sein ganzes Berufsleben lang nicht nur in seinem Fach gearbeitet, sondern ganz bewusst auch den allgemeinen internis-tischen Dienst im Geriatriespital Felix Platter in Basel auf sich genommen. Er kennt also den Alltag des Geria-ters und ist damit den Hausärzten sehr nahe. Die Prämisse war, Situationen darzustellen, in denen das Gespräch, das Zureden und das ganze Setting nicht mehr ausreichten, um schwierige psychiatrische Situa-tionen in der Geriatrie zu beherrschen. Dabei kannte ich als Hausarzt die Patienten schon ein halbes Leben lang, war in einem Fall weitläufig verwandt, kannte also meistens auch die ganzen Familienkonstrukte um diese Menschen herum. Die Vertrautheit ist etwas vom Schönsten im hausärztlichen Beruf, belastet aber sehr, wenn es schwierig wird. In einigen Fällen durfte ich den psychiatrischen Konsiliararzt in Anspruch neh-men.

Fallbeispiele aus der Praxis

Die exemplarischen Fälle sind, um die Erkennbarkeit zu vermeiden, teilweise verfälscht. Sie sollen einfach typische Konstellationen aufzeigen und Gelegenheit geben, die Unsicherheiten und Fragen ehrlich und pragmatisch zu erörtern.

Fall 190-jähriger Witwer war lange gesund und geistig rüstig und hatte ausser einer symptomlosen koronaren Herz-krankheit keine grossen Probleme. Seit einigen Jahren berichtete man mir über eine zunehmende Störung des Frischgedächtnisses. Er war aber im direkten Kon-takt immer noch sehr «präsent». Jetzt begann er sich plötzlich tagsüber im Zimmer auszuziehen und spielte mit seinem Glied. Die Angehörigen machten sich Sorge um die Würde des allseits geliebten Vaters und Gross-vaters, und das Pflegeteam störte sich natürlich auch an seinem Verhalten. Die Situation droht zu eskalieren, da er nun auch auf dem Gang halbnackt angetroffen wurde. Es ging die Bitte an den Hausarzt, er müsse jetzt rasch etwas unternehmen. Im Gespräch ist der Patient freundlich und ist sich seines Tuns nicht bewusst. Der Hausarzt verordnet Quetiapin (Seroquel®) 25 mg 0–1–1 (mit der Idee, man könne ja immer noch steigern). Dies geht allen Beteiligten zu langsam. Der zugezogene Psy-chiater verordnet auf Anhieb Seroquel XR® 200 mg 0–0–1. Verlauf: Es kommt mit 200 mg Seroquel XR® rasch zu einer deutlichen Beruhigung. Das Medika-ment muss aber nach einigen Wochen wieder redu-ziert werden, weil es den Patienten insgesamt doch zu müde machte und die Ganginstabilität darunter zuge-nommen hat.

Fallbeurteilung von Andreas StuderBei einem hochbetagten und dementen Patienten würde ich nicht auf Anhieb 200 mg Seroquel XR® geben. Mit 2 × 25 mg zu beginnen finde ich angemessen und würde dann alle zwei bis drei Tage die Dosis um 25 bis 50 mg steigern.

«The Dark Side oft the Moon» (die Rückseite des Mondes) war der Titel einer Fortbildung über neuropsychiatrische Störungen bei Demenz, gehalten durch Edy Riesen und Andreas Studer. Er spielt darauf an, dass diese Störungen oft erst spät als solche erkannt und diagnosti-ziert werden. Nicht selten kommt es vor, dass betreuende Angehörige sie bagatellisieren oder ganz verschweigen, da sie den Demenzkran-ken nicht schlechtmachen wollen.

PRIMARY AND HOSPITAL CARE – ALLGEMEINE INNERE MEDIZIN 2018;18(2):28–30

Published under the copyright license “Attribution – Non-Commercial – NoDerivatives 4.0”. No commercial reuse without permission. See: http://emh.ch/en/services/permissions.html

LERNEN 29

Gemäss Guidelines sind übrigens bei dieser Verhaltens-störung pflegerische Massnahmen erste Priorität: Ablen-kung und Aktivierung, Anziehen eines Pflegeoveralls, den der Patient nicht/kaum selber öffnen kann. Bevor Psychopharmaka verordnet werden, ist ein Ver-such mit einem Antidementivum angebracht (Acetylcho-linesterasehemmer, Memantin, Ginkgo biloba-Präparat).

Fall 2Ein 100-jähriger Mann – erst seit wenigen Jahren im Al-tersheim – geriet aus unklaren Gründen in eine De-pression, wollte nicht mehr aufstehen, essen etc. Er war der Vater von Freunden von mir, und ich sehe ihn in ei-ner Ferienvertretung. Ohne Überzeugung gebe ich ihm Citalopram 20 mg ½ –0–0; und siehe da, in zwei bis drei Wochen ist er wieder derselbe positive Mensch, der er immer war. Placebo, Spontanheilung oder echte Wirkung des SSRI?

Fallbeurteilung von Andreas StuderCitalopram (oder Escitalopram) ist ein geeignetes Antide-pressivum für einen hochbetagten Patienten (nebenwir-

Einige konkrete Fragen an Andreas Studer, die im Praxisalltag immer wieder auftauchen

Soll man Cholinesterasehemmer zur Behandlung von Verhal-

tensstörungen bei Dementen einsetzen, und wenn ja, wann?

Ja, bei Verhaltensstörungen sind Cholinesterasehemmer die

erste medikamentöse Option. Allerdings ist der Effekt mässig

und am besten wirksam bei frühzeitigem, sozusagen «prophy-

laktischem» Einsatz.

Stichwort: Rotation von Neuroleptika. Macht es Sinn, auf ein

anderes Neuroleptikum zu wechseln?

Nur bedingt, die Wirkung ist eher eine Frage der Dosis. Sind sie

zu tief, oder zu hoch dosiert? Man muss daran denken, dass

Quetiapin einfach nicht so potent ist (dafür weniger Nebenwir-

kungen hat). Daher ist also zum Beispiel bei schwerem Delir mit

Unruhe immer noch der Klassiker Haloperidol die Nummer 1,

allerdings nur für drei bis vier Wochen, da sonst unweigerlich

ein extrapyramidales Syndrom (EPS) auftritt.

Warum ist Quetiapin so populär? Warum nicht auch Risperidon

(Risperdal®) oder Olanzapin (Zyprexa®)?

Quetiapin ist wahrscheinlich eines der Neuroleptika mit der bes-

ten Verträglichkeit, insbesondere auch betreffend EPS. Neben

der antipsychotischen hat es auch antimanische und antidepres-

sive Wirkungen. Es ist weltweilt das Psychopharmakum mit dem

grössten off-label-use.

Wie sinnvoll sind Laborkontrollen?

Ich schaue immer die Basislaborwerte an, mache aber selten

Spiegel. Für Spiegel gibt es meines Erachtens zwei Indikationen:

Bei der Frage nach Compliance, und wenn Nebenwirkungen auf-

treten.

Sind Benzodiazepine ein No-Go?

Langjährig eingenommene Benzodiazepine würde ich belassen,

wenn sie problemlos toleriert werden, also keine Stürze, kein

Delir, gute Vigilanz, keine Demenz etc. vorliegen. Wenn ein Ent-

zug notwendig wird, müssen sie ultralangsam ausgeschlichen

werden, über Monate! Wenn eine Angstproblematik vorliegt,

dann sind im Prinzip SSRI eine gute Wahl, aber es geht halt

lange, bis die Wirkung einsetzt. Quetiapin in niederer Dosierung

ist auch eine Option, vor allem bei ängstlichen Dementen.

Deanxit®: ein Medikament, dass wir Hausärzte bei psychosoma-

tischen Patienten und bei milden Angststörungen (1–2 Dragées

pro Tag) immer wieder einsetzen. Was sagt der Alterspsychiater

dazu?

Deanxit® ist eine Kombination eines hochpotenten Neurolepti-

kums (Flupentixol) und eines trizyklischen Antidepressivums

(Melitracen). Fixkombinationen dieser beiden Substanzen sind

für geriatrische Patienten (alte und polymorbide) nicht geeignet

und können zu schwerwiegenden Nebenwirkungen führen (De-

lir, EPS, Stürze).

Gibt es in der Geriatrie überhaupt noch Indikationen für trizyk-

lische Antidepressiva?

Nein, die gibt es nicht.

Zum Schluss ein Anliegen des Psychiaters Andreas Studer: Wenn

die Situation so eskaliert, dass Patienten nur noch mit hohen Do-

sen von Neuroleptika «ruhig gestellt» werden können, nicht zu

lange warten mit der Verlegung auf eine spezialisierte alterspsy-

chiatrische Abteilung bzw. Klinik.

kungsarm, wenig Interaktionen, adäquate Halbwerts-zeit). Die Latenz von zwei bis drei Wochen spricht dafür, dass es sich um eine pharmakologische Wirkung handelt. Ein Absetzversuch würde Klarheit schaffen, wäre aber medizinisch und ethisch fragwürdig.

Fall 3 99-jähriger Patient, differenziert, ehemaliger Techni-ker, immer schon eine «Zitterpappel», freute und fürchtete sich zugleich vor seinem 100. Geburtstag. Er war ausser einer gelegentlichen Frischgedächtnisstö-rung nicht dement, hatte ab und zu leichtere bis mitt-lere depressive Phasen und eine frühere Erfahrung mit Lorazepam (Temesta®) als Reserve (einige Male pro Jahr). Der Hausarzt schlägt ihm im Gespräch vor, dass man vor dem Ehrentag einen Test mit einem Beruhi-gungsmittel machen könne, und er erhält einmalig Lo-razepam 1,0 mg, womit er gemäss den Pflegenden an-geblich «fast 24 Stunden» schläft. Das ist dem Hausarzt wieder eine Lehre. Der Geburtstag findet ohne Tran-quilizer im Wachzustand statt!

PRIMARY AND HOSPITAL CARE – ALLGEMEINE INNERE MEDIZIN 2018;18(2):28–30

Published under the copyright license “Attribution – Non-Commercial – NoDerivatives 4.0”. No commercial reuse without permission. See: http://emh.ch/en/services/permissions.html

LERNEN 30

Fallbeurteilung von Andreas StuderDie Wirksamkeit von Psychopharmaka ist bei Hochbe-tagten oft verstärkt. Das liegt daran, dass das ZNS beson-ders bei medikamentennaiven Patienten stärker reagiert, Kompensationsmechanismen vermindert sind, und dass die Halbwertszeit und damit auch die Wirkdauer länger sind. Die Gabe einer Probedosis ist grundsätzlich ein gu-tes Vorgehen zum Beispiel auch bei therapeutischen Se-dierungen (CCT, MRI, Zahnarzt etc.) Wenn eine Anxiolyse, aber keinesfalls eine Sedierung gewünscht ist, hätte ich bei diesem Patienten 0,25 bis 0,5 mg gegeben. Lorazepam ist grundsätzlich geeignet für alte Patienten wegen seiner mittellangen Halbwertszeit (12–16 Stunden) und weil keine aktiven Metaboliten gebildet werden.

Fall 4Eine schwer demente, oft unruhige 80-jährige Patien-tin blieb unter Seroquel 200 XR® weiter rastlos, und zu-dem war es für die Spitex schwierig, sie intim zu pfle-gen. Sie wurde im Rahmen einer massiven Obstipation (Bauchweh!) hospitalisiert. Wir vernahmen von den Gastroenterologen, dass Quetiapin auch zur Obstipa-

tion beitragen könne. Der Ehemann und der Hausarzt setzten das Medikament im Einvernehmen ab und – oh, Wunder – es passierte nichts. Im Gegenteil: Es ging sogar besser! Es stellten sich hier gleich einige Fragen: Wie oft erhalten Patienten Medikamente, die sie eigentlich nicht benötigen, respektive die gar nicht wirken? Macht Quetiapin Obstipation? In welchen Si-tuationen sind Drug holidays angezeigt?

Fallbeurteilung von Andreas StuderGemäss Kompendium tritt Obstipation unter Quetiapin häufig, das heisst in 1–10% der Patienten auf. Wenn die Verordnung indiziert ist, kann gleichzeitig ein Laxativum gegeben werden. Für Obstipation gibt es in diesem Fall aber auch andere Gründe: Alter, Demenz, Immobilität, verminderte Trinkmenge, andere Medikamente, Interak-tionen. Dass es ohne Quetiapin besser geht, spricht dafür, dass das Neuroleptikum möglicherweise gar nicht wirk-sam war, paradoxe Wirkungen kommen bei Quetiapin kaum vor. Nebenbemerkung: Bei Clozapin (Leponex®) im-mer gleich ein Laxativum dazugeben, da diese Substanz regelhaft zu Obstipation führt!

Korrespondenz: Dr. med. Edy Riesen Facharzt für Allgemeinmedizin FMH Hauptstrasse 100 CH-4417 Ziefen edy.riesen[at]hin.ch

Anamnestik

Grippezeit: Meist ist es das Alltägliche, aber nicht immer

Grippezeit, zwanzig Hausbesuche pro Tag. Hastige Untersuchung

einer hochfebrilen Diakonissin im Erholungsheim in einem Hö-

henkurort. Aspirin® und Bettruhe.

Die Krankenschwester hatte anamnestisch erwähnt, dass sie in

einem Missionsspital in Afrika tätig sei und nur ferienhalber in

der Schweiz weile. Der Verdacht erfasste den Arzt erst auf dem

Rückweg in die Praxis. Malaria? Sofortige Rückkehr ins Heim. Ein

dicker Tropfen bestätigte die Diagnose.

Bernhard Gurtner

Bildnachweis: James Gathany, Wikimedia Commons

PRIMARY AND HOSPITAL CARE – ALLGEMEINE INNERE MEDIZIN 2018;18(2):28–30

Published under the copyright license “Attribution – Non-Commercial – NoDerivatives 4.0”. No commercial reuse without permission. See: http://emh.ch/en/services/permissions.html

LERNEN 31

Informationsblatt für Ärztinnen und Ärzte

Factsheet 3: Wasserpfeife/Shisha Macé M. Schuurmansa, Jürg Barbenb

a Klinik für Pneumologie, Universitätsspital, Zürich; b Pädiatrische Pneumologie, Ostschweizer Kinderspital, St. Gallen

Einleitung

Die Anwendung der Wasserpfeife (WP; auch Shisha, Hookah oder Nargileh genannt) ist in der Schweiz, vor allem unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen, in den letzten Jahren populär geworden. Zahlrei-che Shisha-Bars (auch Shisha-Lounges oder -Clubs genannt) wurden eröffnet, und WP sind vielerorts erhältlich. Im Gegensatz zum Zigarettenrau-chen geniesst Shisha-Rauchen ein weitgehend positives Image. Angesichts des orientalisch-exotischen Anblicks und der fei-nen Dufte, die beim Rauchen ei-ner WP aufsteigen, vergisst man gerne, dass der Konsum zur Niko-tinabhängigkeit fuhren kann und mit gesundheitlichen Gefahren verbun-den ist [1–4]. Der Shisha-Konsum hat eine so-ziale Komponente, weil das Gerät oftmals unter Freun-den oder Familienmitgliedern in der Gruppe geteilt wird. In manchen Kulturen ist die Akzeptanz fur diese Form von Tabakkonsum unter Frauen am höchsten [5] und in gewissen Regionen (östliches Mittelmeer/Ori-ent) ist Shisha-Rauchen die häufigste Form von Tabak-konsum uberhaupt [6]. Bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen steht global Shisha-Rauchen nach Tabak-

Wasserpfeiferauchen wird insbesondere von jungen Menschen als harmlos beur-teilt, nicht zuletzt, weil der wohlriechende Rauch aus der Kohleverbrennung und der Erhitzung eines Tabak- und Duftstoffgemisches durch Wasser geleitet und erst dann inhaliert wird. Tatsächlich dient diese scheinbare «Wasserfilterung» nur der Abkuhlung und Anfeuchtung des Aerosols, das den Rauch keineswegs reinigt und deswegen hohe Mengen von Kohlenmonoxid und andere Schadstoffe enthält.

zigarettenkonsum an zweiter Stelle, wobei die Regel gilt: Je junger der Konsument, desto eher kommen beide Tabakprodukte zur Anwendung. In der Schweiz konsumieren 96,1% der täglich Rauchenden Tabakziga-retten. Lediglich 2,8% der täglich Rauchenden benut-

zen die WP. Bei den Gelegenheitsrauchenden sind es 8,8%. Bei den Gelegenheitsrau-

chenden ist die Anwendung der WP stark altersabhängig: Bei den 15- bis

19-Jährigen wenden 35,3% und bei den 20- bis 24-Jährigen 21,5% die WP an [7].Die Erfindung der WP wird ei-nem Arzt namens Hakim Abu’l-

Fath Gilani aus Persien im 16. Jahrhundert zugeschrieben. In

der modernen Ausfuhrung erhitzt brennende Kohle auf einem Metall-

sieb oder Aluminiumfolie mit mehre-ren kleinen Löchern. Darunter befindet sich

in einer Schale Shisha-Tabak, bzw. ein entsprechender Tabakersatz. Dabei kommt es bei sachgemässer An-wendung nicht zu deren Ver brennung, sondern zur thermischen Zersetzung (auch Verschwelung oder Py-rolyse genannt). Wenn beim Befullen des Shisha-Kopfes kein Abstand zwischen Shisha-Tabak und Alu-folie besteht, wird das Tabakgemisch von der Kohle verbrannt, was sich anhand des Rauchgeschmackes

Die Tabakologie beschäftigt sich mit den verschiedensten Formen des Tabakkonsums, deren Entwöhnungsbehandlung und Prävention. Tabak-bedingte Krankheiten betreffen alle medizinischen Disziplinen, weshalb Grundkenntnisse zu diesen Themen in der täglichen Praxis wichtig sind. In einer fünfteiligen Artikelserie werden Informationsblätter aus dem Bereich Tabakologie publiziert, um die typischen Formen des Konsums, die gesundheitlichen Auswirkungen, die gesetzlichen Rahmenbedingungen und Behandlungsstrategien zu vermitteln. Die Factsheets «Cannabis» (PHC 20/2016) und Tabak-Zigarette (PHC 07/2017) wurden bereits publiziert. Die noch folgenden Informationsblätter werden die Themen Zigarren und Zigarillos, E-Zigaretten/E-Shishas und Snus zum Inhalt haben.

PRIMARY AND HOSPITAL CARE – ALLGEMEINE INNERE MEDIZIN 2018;18(2):31–35

Published under the copyright license “Attribution – Non-Commercial – NoDerivatives 4.0”. No commercial reuse without permission. See: http://emh.ch/en/services/permissions.html

LERNEN 32

erkennen lässt. Weil das Aerosolgemisch aus Verbren-nung und Verschwelung in der WP durch Wasser gelei-tet wird, nehmen Laien oft an, dass eine «Wasserfilte-rung» stattfindet, was grundsätzlich als vorteilhaft bzw. schadensmindernd gewertet wird. Tatsächlich be-wirkt das Wasser aber eine Abkuhlung und Anfeuch-tung des Aerosols und macht so erst die tiefe Inhala-tion möglich. Der vermutete «Filtereffekt» ist nicht von Bedeutung, denn das inhalierte Aerosol enthält durchschnittlich höhere Konzentrationen an Schad-stoffen als beim Tabakzigarettenrauchen [3]. Der hohe Anteil an toxischen Substanzen im Aerosol ergibt sich auch durch Zusätze oder Ruckstände in den beiden Ausgangsprodukten: Brand beschleuniger in der selbst-zundenden Kohle sowie Sussstoffe, Aromen und che-mische Substanzen wie Glyzerin im Shisha-Tabak bzw. Tabakersatz (Tab. 1). Manchmal beeinflussen auch die Materialien und die Wartung der WP die Zusammen-setzung des Aerosols (z.B. rostige Metallteile oder bak-terielle Besiedelung). Es gibt auch «e-Shishas», die ähn-lich funktionieren wie elektronische Zigaretten [8]. Dieses Factsheet beschränkt sich auf Angaben zur Was-serpfeife/Shisha mit Verbrennung von Kohle zur Erhit-zung von Shisha-Tabak bzw. Tabakersatz. Die Anwen-dung von Cannabis in einer WP oder die Benutzung eines elektrischen Heizelementes zur Erhitzung in der WP (anstatt der Anwendung von Kohle) wird hier nicht speziell berucksichtigt, da beide relativ selten zu An-wendung kommen.

Aufbau, Funktionsweise, Anwendung und Verbrauchsprodukte von Wasser pfeifen

Die Komponenten der WP sind in Abbildung  1 darge-stellt: Der Tabakkopf ist schalenförmig und hat am tiefsten Punkt Öffnungen, die mit einem Messing-, Aluminium- oder Edelstahlrohr verbunden sind [4]. Auf dem Tabakkopf liegt eine meist mehrschichtige Aluminiumfolie, die mehrere kleine Löcher aufweist. Auf dieser gasdurchlässigen Alufolie brennt eine Na-turkohle oder selbstzundende Kohle als Heizelement. Im Tabakkopf (aus Ton, Glas oder Silikon) befindet sich der Shisha-Tabak (auch Masseel oder Tobamel genannt) bzw. eine melasseartige Paste, die folgende Kompo-nenten enthält: Tabakblätteranteile (nikotinhaltig), Zucker, Aromastoffe (z.B. Fruchtaromen wie Apfel, Kirsche, Minze, Mango) und andere Substanzen (z.B. Feuchthaltemittel i.e. Glyzerin, Propylenglykol; bewir-ken den Feuchtigkeitsgehalt von 5–60%) sowie synthe-tische Farbstoffe und Konservierungsmittel. Falls der

Tabelle 1: Toxische Messwerte von Wasserpfeifen (pro Anwendungssession) und von Zigaretten (pro Zigarette).

Messwert pro gerauchter Einheit Wasserpfeife Zigarette

Teer (mg) 242–2350 1–27

Nikotin (mg) 0,01–9,29 0,1–3

Kohlenmonoxid (CO) (mg) 5,7–367 14–23

Stickoxyd (NO) (mg) 0,32–0,44 0,1–6

Benzol* (mcg) 271 20–70

Formaldehyd* (mcg) 36–360 20–100

NNK* (ng) DL-46,4 80–770

NNN* (ng) 34,3 120–3700

2-ANP* (ng) 2,84 1–334

Benzo(a)pyrene* (ng) ND-307 20–40

Blei (ng) 200–6870 34–85

Kupfer (ng) 1300–2300 –

Chrom* (ng) 250–1340 4–70

Arsen* (ng) 165 40–120

Beryllium* (ng) 65 0,5

* Karzinogen für Menschen gemäss International Agency of Research on Cancer (IARC-Klasse 1); DL: Detektionslimite; ND: nicht detektiert; NNK: 4-(methylnitrosoamino)-1(3-pyridinyl)-1-butanone; NNN: N’-nitrosonornicotine; 2-ANP, 2-naphthylamine. Tabelle modifiziert nach [3].

Abbildung 1: Die Komponenten einer Wasserpfeife.

Nachdruck mit freundlicher Genehmigung von Prof. Dr. med.

Hermann Fromme, Bayerisches Landesamt für Gesundheit

und Lebensmittelsicherheit, München.

PRIMARY AND HOSPITAL CARE – ALLGEMEINE INNERE MEDIZIN 2018;18(2):31–35

Published under the copyright license “Attribution – Non-Commercial – NoDerivatives 4.0”. No commercial reuse without permission. See: http://emh.ch/en/services/permissions.html

LERNEN 33

Feuchtigkeitsgehalt vom Tabak gering ist (z.B. im deut-schen Shisha-Tabak), wird ihm vor dem Konsum Glyze-rin und/oder Melasse beigefugt. Arabischer Tabak ist rauchfertig und enthält schon Feuchthaltemittel. In Deutschland sind höchstens 5% Feuchthaltemittel im Shisha-Tabak zulässig, in der Schweiz bis zu 60%. Das Aerosol wird durch die Sogwirkung am Mundstuck durch das Wasser geleitet und anschliessend via Mund-stuck inhaliert. Der erforderliche Sog fuhrt zu einer tieferen Inhalation als beim Tabakzigarettenrauchen. Das Mundstuck ist mittels eines Schlauches (aus Sili-kon oder Leder) mit dem Gerät verbunden. Wenn das Schlauchmaterial porös ist, dann erlaubt dies eine Verdunnung des Rauches (mit Raumluft) bei jeder In-halation. Es entsteht ein weisses aromatisiertes Aero-sol, das teilweise wieder ausgeatmet wird. Der nikotin-freie Shisha-Tabakersatz wird auch als Dampfstein («Shiazo») oder Dampfpaste verkauft. Anstatt einer Alufolie kann man auch ein Metall-Sieb in Verbindung mit einem kleinen Rohr, dem sogenannten «Kamin», anwenden. Durch den Kamin kann die zu heisse Luft entweichen, was einer zu starken Erhitzung des Shisha-Tabaks vorbeugen soll.

Unterschiede zwischen Shisha-Rauchen und Tabakzigarettenrauchen

Bei beiden Produkten wird Nikotin inhaliert, so dass es zu einer Abhängigkeit fuhren kann [1, 2]. Gebrauchs-fertiger Shisha-Tabak besteht gewichtsmässig nur zu ca. einem Drittel aus eigentlichem Tabak, der grössere Anteil sind Zusätze. Der nikotinfreie Shisha-Tabaker-satz kommt eher selten zur Anwendung und ist in Be-zug auf die Schadstoffbelastung nicht wesentlich an-ders als der Shisha-Tabak, ausser dass Nikotin nicht nachweisbar ist. Bei der Zigarette ist der Hauptanteil Tabak, es gibt aber auch hier zahlreiche Zusätze, die so-wohl die Abhängigkeit als auch das Schadenspotenzial beeinflussen. Shisha-Tabak ist einer Temperatur von ca. 400  °C ausgesetzt, Tabakzigarettenrauch entsteht typischerweise bei 800–850 °C. Tiefere Temperaturen sind mit unvollständiger Verbrennung und Entste-hung von mehr Nebenprodukten assoziiert. Der Gehalt an Teer und die Konzentration von Schwermetallen wie Arsen, Blei, Chrom, Nickel und Kobalt sind im WP-Aerosol um ein Vielfaches höher als im Zigaretten-rauch. Im Shisha-Aerosol sind bisher 27 bekannte oder vermutlich karzinogene Substanzen nachgewiesen worden [3, 4]. Eine Auswahl solcher Inhalationsstoffe findet sich in Tabelle 1, wobei es sich hier vorwiegend um Resultate von experimentellen Messanordnungen handelt, die das Verhalten der Shisha- bzw. Tabakziga-retten-Anwender simuliert [3]. Bei der Anwendung der

WP wird bedeutend mehr Aerosol inhaliert (bis zu 500  ml pro Inhalation) als beim Rauchen einer Ziga-rette (30–40  ml). Zudem wird der Rauch der Wasser-pfeife tiefer inhaliert als der Zigarettenrauch. Beide Faktoren wirken sich auf die effektive Menge der Schadstoffaufnahme aus [4, 9, 10]. Durch die Verbren-nung von Kohle zur Erhitzung des Shisha-Tabaks wer-den bei der WP grössere Mengen an Kohlenmonoxid (CO) inhaliert als beim Rauchen einer Zigarette [3]. Das CO wird auch teilweise wieder ausgeatmet [11, 12]. Ne-benstromrauch enthält ebenfalls CO, so dass auch via Umgebungsluft eine CO-Exposition fur den WP-An-wender und auch andere Anwesende stattfindet. CO-Vergiftungen bei WP-Nutzern kommen vor und wer-den wahrscheinlich nicht immer als solche erkannt [4]. Symptome sind Kopfschmerzen, Schwindel, Übelkeit, Erbrechen, Verwirrung, Benommenheit bis hin zur Be-wusstlosigkeit (Tab. 2). Bei entsprechenden Sympto-men, insbesondere bei Jugendlichen und jungen Er-wachsenen, ist es sinnvoll nach einer WP-Exposition zu fragen [11].

Tabelle 2: Akute gesundheitliche Auswirkungen, die mit Wasserpfeifengebrauch assoziiert sind.

Erhöhung der Herzfrequenz

Erhöhung des Blutdruckes

Kohlenmonoxid-Vergiftung mit Übelkeit, Kopfschmerzen oder Bewusstseinsverlust

Einschränkung der Lungenfunktion (FEF25-75; PEFR)

Verminderte körperliche Leistungsfähigkeit

Veränderungen des Larynx und der Stimme

Anwendungsformen und gesundheitliche Auswirkungen

Das Mundstuck der WP ist bei einigen Modellen aus-tauschbar, das heisst gemäss Hersteller verwendet dann jeder Anwender sein eigenes Mundstuck. Durch die Anwendung der WP in der Gruppe – in der Regel ohne Wechsel des Mundstucks – ergibt sich auch ein Risiko der Infektionsubertragung, z.B. Herpesviren, Hepatitisviren oder selten Tuberkulose (Tab.  3). Man-gelnde Hygiene kann auch zu Pilzinfektionen fuhren [4]. Die bakterielle Besiedelung von WP, insbesondere in den Schläuchen und im Wassergefäss, ist in 15–55% der untersuchten Geräte feststellbar [4]. Dabei wurden auch Problemkeime wie Pseudomonas aeruginosa und grampositive Kokken nachgewiesen, was besonders fur pulmonal Vorerkrankte ein Problem darstellen könnte. Wird zudem kein Wasser, sondern andere (z.T. alkoholhaltige) Lösungen eingefullt, dann ergeben sich noch zusätzliche Risiken.

PRIMARY AND HOSPITAL CARE – ALLGEMEINE INNERE MEDIZIN 2018;18(2):31–35

Published under the copyright license “Attribution – Non-Commercial – NoDerivatives 4.0”. No commercial reuse without permission. See: http://emh.ch/en/services/permissions.html

LERNEN 34

Die Anwendung von WP in der Schwangerschaft ist mit einem niedrigen Geburtsgewicht (pooled odds ratio OR von 2,12) und kindlichen Lungenproblemen (OR 3,65) assoziiert [4]. Die langfristigen Effekte auf die Lungen bei WP-Anwendungen von Jugendlichen und Erwach-senen wurden in zahlreichen Studien untersucht [9, 10]. Eine COPD-Diagnose ist bei WP-Nutzern signifi-kant häufiger festzustellen. Zum Beispiel ist dies im Libanon mit einem zweifach erhöhten Risiko und in China mit einem zehnmal höheren Risiko assoziiert [4]. Im Haupt- und Nebenstromrauch von WP lassen sich eine Vielzahl von kanzerogenen Substanzen nach-weisen, die bei WP-Anwendern im Vergleich zu Nicht-rauchern zu einer höheren Anzahl von Micronuclei, Schwesterchromatidaustausch und mehr DNA-Schä-den in Lymphozyten fuhren [4]. Es besteht eine signifikante Assoziation zwischen WP-Anwendung und Lungenkrebs (pooled OR 4). Auch fur andere Krebser-krankungen besteht eine Assoziation mit WP-Anwen-dung, zum Beispiel Ösophagus- und Magenkarzinom [2, 4, 13, 14]. Einige Studien zeigten akute kardiovaskuläre Effekte wie Beeinflussung des Blutdrucks, der Herzfre-quenz und der Herzfrequenzvariabilität [2, 4].Bei der Gesamtbeurteilung der Auswirkungen von WP und auch Tabakzigaretten ist es von Bedeutung, dass zahlreiche Faktoren die Exposition mit Schadstoffen und die gesundheitlichen Folgen beeinflussen können. Nicht zuletzt gibt es auch einen bedeutsamen Anteil von Doppel-Konsumenten, das heisst teils Tabakziga-retten und teils Shisha konsumierend. Wenn diese uber mehrere Jahre oder Jahrzehnte konsumiert wer-den, ist die eindeutige Zuordnung von Ursache und

Wirkung (Kausalität) eingeschränkt. Die Gesamt-menge der freiwerdenden Schadstoffe aus der WP ver-teilen sich oft auf mehrere Personen (z.B. bei Anwen-dung in der Gruppe), während bei der Tabakzigarette typischerweise die ganze Zigarette bzw. mehrere Ziga-retten von einem Konsumenten allein konsumiert werden. Zudem ist bei der Anwendung der WP in ge-schlossenen Räumen nicht nur der Hauptstromrauch, sondern auch die Aufnahme von Schadstoffen, welche die Innenraumluft erheblich belasten, zu beachten [13]. Ausserdem ist die Häufigkeit der Anwendungen zu be-rucksichtigen: Shisha-Rauchen kann täglich oder nur bei Gelegenheit (wenige Male pro Woche) stattfinden, während Tabakzigaretten in der Regel täglich und typi-scherweise in einer Menge von 20 Zigaretten/Tag kon-sumiert werden. Eine Shisha-Tabakdosis reicht oft fur eine 45–60 Minu-ten-Anwendung. Die dabei mengenmässig inhalierten Stoffe entsprechen, anhand der aufgenommenen Niko-tinmenge beurteilt, ca. 10 Zigaretten, wobei multiple Faktoren die effektiv aufgenommene Schadstoffmenge beeinflussen. Es gibt Hochrechnungen von erheblich höheren Schadstoffbelastungen. Von grosser Bedeu-tung ist, dass die Aufnahme von CO und Benzol (ein krebserregender Stoff) erheblich ist [15, 16].Passivrauchexposition im Zusammenhang mit WP-Anwendung ist potenziell ein bedeutendes gesund-heitliches Problem, wenn man die Schadstoffmessun-gen in der Innenluft, insbesondere auch die Feinpartikelbelastung, berucksichtigt [4, 12]. Eines der Hauptprobleme vom Shisha-Rauchen ist die Nikotin-abhängigkeit und die Auswirkungen auf die Gehirn-

Tabelle 3: Mit Wasserpfeifengebrauch assoziierte Diagnosen.

Beschriebene Auswirkung Vermuteter oder beschriebener Mechanismus und Grössenordnung (im Vergleich zum Nichtraucher)

Referenz

Bronchuskarzinom 4- bis 6-fach erhöhtes Risiko 2, 9, 10, 17

Magenkarzinom 3-fach erhöhtes Risiko 17

Ösophaguskarzinom 1,8-fach erhöhtes Risiko 17

Infektionen mit Hepatitisviren, Herpesviren, Pilzen und Mykobakterien

Bei gemeinsamer Anwendung desselben Mundstückes sind diese Infektionen beschrieben; bakterielle Besiedelung von Schläuchen, Wasserkontamination

2, 4, 9

Ischämische Herzkrankheit Erhöhung der HerzfrequenzErhöhung des BlutdruckesReduzierte Herzfrequenzvariabilität

2, 92

COPD, chronische BronchitisEmphysem

Einschränkung der Lungenfunktion (FEV1, FVC, FEV1/FVC; FEF25-75, PEF, FRC, RV)

2

Pulmonale Probleme bei Geburt Niedriges Geburtsgewicht 2

Periodontale Erkrankung 2, 10

Veränderungen des Larynx und der Stimme 2

Verminderte Knochendichte 2

Abkürzungen: FEF = forced expiratory flow; FEV = forced expiratory volume; FRC = functional residual capacity; FVC = forced vital capacity; PEF = peak expiratory flow; RV = residual volume. Tabelle modifiziert nach [2]

PRIMARY AND HOSPITAL CARE – ALLGEMEINE INNERE MEDIZIN 2018;18(2):31–35

Published under the copyright license “Attribution – Non-Commercial – NoDerivatives 4.0”. No commercial reuse without permission. See: http://emh.ch/en/services/permissions.html

LERNEN 35

entwicklung, insbesondere von Kindern und Jugendli-chen: Es fuhrt auf kurzem Weg zum Zigarettenrauchen, bzw. macht es schwerer davon loszukommen [1, 4, 18]. Bei Jugendlichen besteht eine starke Assoziation zwi-schen der Anwendung von WP und dem Tabakzigaret-tenrauchen.

Entzugsbehandlung

Shisha-Rauchen ist mit der Entstehung einer Tabak-abhängigkeit assoziiert, besonders bei Kindern und Jugendlichen. Ein relativ grosser Anteil der Anwender möchte damit aufhören [19]. Es gibt bisher nur drei kontrollierte Studien, die medikamentöse (Bupropion) oder verhaltensmedizinische Massnahmen fur den Ausstieg untersucht haben. Bei zwei Studien war die Intervention vorteilhaft in Bezug auf die Abstinenz nach sechs oder mehr Monaten [20, 21]. Eine Pilotstu-die konnte keinen signifikanten Effekt zeigen fur die Intervention [22]. Es besteht ein dringender Bedarf fur Studien fur die Verhaltensprävention und auch fur Entzugsbehandlungen mit verhaltensmedizinischen und/oder medikamentösen Strategien.

3 Shihadeh A, Schubert J, Klaiany J, El Sabban M, Luch A, Saliba NA. Toxicant content, physical properties and biological activity of waterpipe tobacco smoke and its tobacco-free alternatives. Tob Control. 2015;24:i22–i30.

4 Fromme H, Schober W. Die Wasserpfeife (Shisha) – Innenraumluft-qualität, Human-Biomonitoring und Gesundheitseffekte. Bundesgesundheitsbl. 2016;59:1593–604.

5 Maziak W, Jawad M, Jawad S, Ward KD, Eissenberg T, Asfar T. Interventions for waterpipe smoking cessation. Cochrane Database Syst Rev. 2015;(7):CD005549. doi: 10.1002/14651858.CD005549.pub3.

6 Maziak W, Taleb ZB, Bahelah R, Islam F, Jaber R, Auf R, et al. The global epidemiology of waterpipe smoking. Tob Control. 2015;24(Suppl 1):i3–i12.

7 Gmel G, Kuendig H, Notari L, Gmel C. (2016). Suchtmonitoring Schweiz – Konsum von Alkohol, Tabak und illegalen Drogen in der Schweiz im Jahr 2015. Lausanne: Sucht Schweiz.

8 Kaelin RM, Barben J, Schuurmans MM. Elekronische Zigaretten, E-Shishas und «heat but not burn devices» Schweiz Med Forum. 2017;17(5):113–9.

9 Kadhum M, Sweidan A, Jaffery AE, Al-Saadi A, Madden B. A review of the health effects of smoking shisha. Clin Med (Lond). 2015;15(3):263–6.

10 Kim KH, Kabir E, Jahan SA. Waterpipe tobacco smoking and its human health impacts. J Hazard Mater. 20165;317:229–36.

11 von Rappard J, Schönenberger M, Bärlocher L. Carbon monoxide poisoning following use of a water pipe/hookah. Dtsch Arztebl Int. 2014;111(40):674–9.

12 Juhasz A, Pap D, Barta I, Drozdovszky O, Egresi A, Antus B. Kinetics of Exhaled Carbon Monoxide After Water-pipe Smoking Indoors and Outdoors. Chest. 2017;151(5):1051–7.

13 Kumar SR, Davies S, Weitzman M, Sherman S. A review of air quality, biological indicatiors and health effects of second-hand waterpipe smoke exposure.Tob Control. 2015;24:i54–i59.

14 Al Ali R, Rastam S, Ibrahim I, Bazzi A, Fayad S, Shihadeh AL, et al. A comparative study of systemic carcinogen exposure in waterpipe smokers, cigarette smokers and non-smokers. Tob Control. 2015;24(2):125–7. doi: 10.1136/tobaccocontrol-2013-051206.

15 Jawad M, Roderick P. Integrating the impact of cigarette and waterpipe tobacco use among adolescents in the Eastern Mediterranean Region: a cross-sectional, population-level model of toxicant exposure. Tob Control. 2017;26(3):323–9.

16 Neergaard J, Singh P, Job J, Montgomery S. Waterpipe smoking and nicotine exposure: a review of the current evidence. Nicotine Tob Res. 2007;9(10):987–94.

17 Awan KH, Siddiqi K, Patil Sh, Hussain QA. Assessing the Effect of Waterpipe Smoking on Cancer Outcome – a Systematic Review of Current Evidence. Asian Pac J Cancer Prev. 2017;18(2):495–502.

18 Jaber R, Madhivanan P, Veledar E, Khader Y, Mzayek F, Maziak W. Waterpipe a gateway to cigarette smoking initiation among adolescents in Irbid, Jordan: a longitudinal study. Int J Tuberc Lung Dis. 2015;19(4):481–7.

19 Anjum Q, Ahmed F, Ashfaq T. Knowledge, attitude and perception of water pipe smoking (Shisha) among adolescents aged 14–19 years. J Pak Med Assoc. 2008;58(6):312–7.

20 Dogar O, Jawad M, Shah SK, Newell JN, Kanaan M, Khan MA, et al. Effect of cessation interventions on hookah smoking: post-hoc analysis of a cluster- randomized controlled trial. Nicotine & Tobacco Research. 2014;16(6):682–8.

21 Mohlman MK, Boulos DN, El Setouhy M, Radwan G, Makambi K, Jillson I, et al. A randomized, controlled community-wide intervention to reduce environmental tobacco smoke exposure. Nicotine & Tobacco Research. 2013;15(8):1372–81.

22 Lipkus IM, Eissenberg T, Schwartz-Bloom RD, Prokhorov AV, Levy J. Affecting perceptions of harm and addiction among college waterpipe tobacco smokers. Nicotine & Tobacco Research. 2011;13(7):599–610.

Korrespondenz: PD Dr. med. Macé M. Schuurmans Oberarzt Universitätsspital Zurich, Klinik fur Pneumologie Rämistrasse 100 CH-8091 Zurich mace.schuurmans[at]usz.ch)

Fazit Zusammenfassend ist die Anwendung der Wasserpfeife ein

zunehmendes Problem auf globaler Ebene und mit ähnlichen

Risiken verbunden wie das Rauchen von Tabakzigaretten. Diese

Form von Tabakkonsum hat bei Konsumenierenden ein vorteil-

hafteres Image. Die mengenmässige Exposition mit Kohlenmo-

noxid ist bei der Anwendung von Wasserpfeifen relevant und

sollte bei entsprechenden Symptomen, insbesondere bei Ju-

gendlichen und jungen Erwachsenen, differentialdiagnostisch in

Betracht gezogen werden.

VerdankungenWir danken Sibylle Schuurmans fur die Durchsicht des Manuskriptes.

Bildnachweis© Edwardgerges | Dreamstime.com

Literatur 1 Aboaziza E, Eissenberg T. Waterpipe tobacco smoking: what is the

evidence that it supports nicotine/tobacco dependence? Tob Control. 2015;24(Suppl 1):i44–i53.

2 El-Zaatari ZM, Chami HA, Zaatari GS. Health effects associated with waterpipe smoking. Tob Control. 2015;24:i31–i43.

PRIMARY AND HOSPITAL CARE – ALLGEMEINE INNERE MEDIZIN 2018;18(2):31–35

Published under the copyright license “Attribution – Non-Commercial – NoDerivatives 4.0”. No commercial reuse without permission. See: http://emh.ch/en/services/permissions.html

Eine Fieberkurve? Aber nein, halt, das ist ja eine Grafik des Aktienkurses ...

FieberkurvenEdy Riesen

Mitglied der Redaktion, Hausarzt in Ziefen BL

Freitag 1. September 2017. In der Basellandschaftlichen Zeitung (Nordwestschweiz) finde ich den Titel «Roche kuriert Nebenwirkungen des neuen Novartis-Medika-ments» [1] und als Illustration dazu ein Bild, das zwei Mitarbeitende in Overalls der Firma bei der Herstellung des Medikamentes Kymrhia™ zeigt. Das innovative Medikament wurde soeben in den USA zu-gelassen. Daneben eine Fieberkurve die ansteigt. Aber nein, halt, das ist ja eine Grafik des Aktienkurses der Firma seit 2011. Im Text steht dann tatsächlich etwas von möglichen schweren Nebenwirkungen, unter anderem hohes Fieber. Meine Verwirrung ist komplett, klärt sich aber, als ich bemerke, dass ich auf der Wirt-schaftsseite der «BZ» gelandet bin. Damit wird mir wieder einmal bewusst, welch unheilige Allianz in der Medizin besteht: Auf der einen Seite die Onkologen, die das Beste herausholen wollen für ihre jungen Pa-tienten. Das Medikament ist zugelassen für akute lymphatische Leukämien bis 25 Jahre. Auf der anderen Seite die Aktionäre, Börsenhändler und Analysten, die, wenn man es böse formuliert, nur den Zaster im Kopf haben. Mittendrin die Forscher, die man nicht brem-sen kann in ihrem Eifer, zu entdecken und zu entwi-ckeln. Was meinen die Behörden, die Kassen, die Ärzte? Die Therapie soll 470 000 Dollar kosten. Wird sie über-all und für alle jungen Pa tienten erschwinglich sein? Das darf mit Recht bezweifelt werden. In meinem Kopf herrscht wieder einmal Konfusion: In meinem bisherigen Leben habe ich das Scheitern der Planwirtschaft im Sozialismus mitbekommen, ein (zu) grosszügiges Sozialsystem in Holland (in den 70er und 80er Jahren) beobachten können und eine korrupte

Korrespondenz: Dr. med. Edy Riesen Facharzt für Allgemeinmedizin FMH Hauptstrasse 100 CH-4417 Ziefen edy.riesen[at]hin.ch

Verwaltung in Peru kennengelernt. Aufgrund dieser Erfahrungen komme ich zum Schluss, dass die soziale Marktwirtschaft das kleinste aller Übel ist. Aber im-mer wieder stosse ich mich an der Nähe von Medizin und Geschäft. Sehe vor mir ein an Leukämie erkrank-tes Kind, sagen wir in Rumänien oder Chile, und auf der anderen Seite den Börsenhändler auf seiner Yacht, den Aktionär auf dem Golfplatz. Vielleicht sind das die Schuldigen, wenn eben dieses imaginierte Kind keine Therapie mit Kymrhia™ bekommt und sterben muss? Ich weiss, meine Gedanken sind auf die Spitze getrie-ben, aber unrealistisch sind sie nicht, denn die Phar-mafirmen müssen Gewinne machen und sie sind der Gier von Investoren und Finanzkapitänen ausgeliefert. Sind sie das wirklich?Darum kann ich mich nicht immer aufrichtig freuen angesichts der euphorischen Ankündigungen eines in-novativen Medikamentes. Es bleibt beim Lesen dieses Zeitungsartikels ein schaler Geschmack zurück und die bange Frage, ob die Fieberkurve des Aktienmarktes wichtiger ist als die Fieberkurve und das Leben eines Kindes.

Literatur1 Schuppli Stefan. Roche kuriert Nebenwirkungen des neuen

Novartis-Medikaments, BZ Basel, 1.9.2017.

Bildnachweis© Vimax001 | Dreamstime.com

HinweisDieser Artikel wure bereits im Online-Magazin auf der Website von Primary and Hopsital Care veröffentlicht. Dort finden Sie weitere Artikel aus der Kategorie «Nachgedacht» von Edy Riesen, wie auch viele andere spannende Beiträge. www.primary-hospital-care.ch/online-magazine/list/

PRIMARY AND HOSPITAL CARE – ALLGEMEINE INNERE MEDIZIN 2018;18(2):36

REFLEKTIEREN 36

Published under the copyright license “Attribution – Non-Commercial – NoDerivatives 4.0”. No commercial reuse without permission. See: http://emh.ch/en/services/permissions.html

Published under the copyright license “Attribution – Non-Commercial – NoDerivatives 4.0”. No commercial reuse without permission. See: http://emh.ch/en/services/permissions.html