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PROTEST RUSSISCHER SOZIALDEMOKRATEN 48 Qesdhrieben Ende August Anfang September i899. Zuerst veröffentlicht im Dezember i899 9Jadh dem 7ext der Zeitsdhrift. im Ausland als Sonderdruck aus 9Jr. 4/5 der Zeitsdhrift „ Rabotsdheje Velo ".

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PROTEST

RUSSISCHER SOZIALDEMOKRATEN48

Qesdhrieben Ende August —Anfang September i899.

Zuerst veröffentlicht im Dezember i899 9Jadh dem 7ext der Zeitsdhrift.im Ausland als Sonderdruck aus 9Jr. 4/5der Zeitsdhrift „ Rabotsdheje Velo ".

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Erste Seite des Sonderdrucks aus Nr. 4/5 des „Rabotscheje Delo",Jahrgang 1899, mit dem „Protest russischer Sozialdemokraten"

11 Lenin, Werke, Bd.4

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Eine Versammlung von siebzehn Sozialdemokraten eines Ortes (in Ruß-land) bat einstimmig die folgende Resolution angenommen und beschlossen,sie zu veröffentlidoen und allen Qenossen zur Erörterung zu unterbreiten.

In der letzten Zeit sind unter den russischen Sozialdemokraten Ab-weichungen von jenen Grundprinzipien der russischen Sozialdemokratiezu bemerken, die sowohl von den Begründern und Vorkämpfern — denMitgliedern der Gruppe „Befreiung der Arbeit" — als auch in den sozial-demokratischen Veröffentlichungen der russischen Arbeiterorganisationender neunziger Jahre verkündet wurden. Das unten wiedergegebene„Credo"*, das die Grundauffassungen einiger („junger") russischer So-zialdemokraten zum Ausdruck bringen soll, stellt einen Versuch dar, die„neuen Anschauungen" systematisch und eindeutig darzulegen. Wir las-sen dieses „Credo" in ungekürzter Form folgen:

„Die Zunft- und Manufakturperiode im Westen hat in der ganzen nach-folgenden Geschichte, insbesondere in der Geschichte der Sozialdemokratie,ihre tiefe Spur hinterlassen. Die für die Bourgeoisie bestehende Notwendigkeit,sich freie Formen zu erkämpfen, das Bestreben, sich von den die Produktionfesselnden Zunftreglements zu befreien, machten sie, die Bourgeoisie, zu einemrevolutionären Element; überall im Westen beginnt sie mit Iiberte, fraternit£,egalite' (Freiheit, Brüderlichkeit, Gleichheit), mit der Eroberung freier politi-scher Formen. Durch diese Eroberung aber hat sie, nach einem Ausdruck Bis-marcks, ihrem Antipoden, der Arbeiterklasse, einen Wechsel auf die Zukunftausgestellt. Fast überall im Westen hat die Arbeiterklasse als Klasse die demo-kratischen Einrichtungen nicht erkämpft — sie hat sie benutzt. Man könnte

* Glaubensbekenntnis,Programm, Darlegung einer Weltanschauung. BieJLed.

II»

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uns entgegenhalten, sie habe an den Revolutionen teilgenommen. Die geschicht-lichen Zeugnisse widerlegen diese Meinung, da gerade 1848, als sich im Westendie konstitutionelle Regierungsform festigte, die Arbeiterklasse ein handwerk-lich-städtisches Element, die kleinbürgerliche Demokratie, darstellte; ein Fa-brikproletariat gab es kaum, und das Proletariat der Großproduktion (die We-ber Deutschlands — Hauptmann, die Weber Lyons) war eine rohe Masse, dienur zu Rebellionen, keineswegs aber zur Aufstellung irgendwelcher politischerForderungen fähig war. Man kann geradezu sagen, daß die Verfassungen desJahres 1848 von der Bourgeoisie und dem Kleinbürgertum, den Artisans, er-obert worden sind. Anderseits war die Arbeiterklasse (die Artisans und dieManufakturarbeiter, die Buchdrucker, Weber, Uhrmacher u. a.) es noch vomMittelalter her gewohnt, sich an Organisationen, an Hilf skassen, religiösen Ver-einen usw. zu beteiligen. Dieser Organisationsgeist lebt bis heute noch bei dengelernten Arbeitern des Westens und unterscheidet sie scharf vom Fabrik-proletariat, das sich nur schwer und langsam organisieren läßt und nur zu so-genannter loser Organisation fähig ist, nicht aber zu dauerhaften Organisa-tionen mit Statuten und Reglements. Eben diese gelernten Manufakturarbeiterbildeten den Kern der sozialdemokratischen Parteien. So ergab sich folgendesBild: einerseits verhältnismäßige Leichtigkeit und uneingeschränkte Möglich-keit des politischen Kampfes, anderseits die Möglichkeit planmäßiger Organi-sierung dieses Kampfes mit Hilfe der durch die Manufakturperiode erzogenenArbeiter. Auf diesem Boden ist ini Westen der theoretische und praktische Marxis-mus groß geworden. Der Ausgangspunkt war der parlamentarische politischeKampf mit der Perspektive — die nur äußerlich dem Blanquismus ähnlich,ihrem Ursprung nach aber ganz anders beschaffen ist —, mit der Perspektiveder Machtergreifung einerseits und des Zusammenbruchs* anderseits. DerMarxismus war der theoretische Ausdruck der herrschenden Praxis: des poli-tischen Kampfes, der den ökonomischen überwog. Sowohl in Belgien als attchin Frankreich und besonders in Deutschland haben die Arbeiter mit unglaub-licher Leichtigkeit den politischen Kampf, aber in schwerer Arbeit, unter ge-waltigen Reibungen den ökonomischen Kampf organisiert. Noch heute leidendie ökonomischen Organisationen im Vergleich zu den politischen (von Eng-land abgesehen) an außerordentlicher Schwäche und Labilität, und überalllaissent ä desirer quelque chose (lassen sie einiges zu wünschen übrig). Solangedie Energie nicht gänzlich im politischen Kampf aufgebraucht war, war derZusammenbruch * ein notwendiges organisierendes Schlagwort **, dem es be-schieden war, eine gewaltige geschichtliche Rolle zu spielen. Das Grundgesetz,

* „Zusammenbruch" im Original deutsch. Der Tibers.** „Schlagwort" im Original deutsch. Der Tibers.

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das sich aus dem Studium der Arbeiterbewegung ableiten läßt, ist die Linie desgeringsten Widerstands. Im Westen bestand diese Linie in der politischenTätigkeit, und der Marxismus, in der Gestalt, wie er im .KommunistischenManifest' formuliert wurde, erwies sich als jene höchst glückliche Form, in diesich die Bewegung ergießen mußte. Als aber alle Energie in der politischenTätigkeit erschöpft worden war, als die politische Bewegung einen solchen Gradder Anspannung erreicht hatte, über den hinaus sie zu führen schwer und fastunmöglich war (langsamer Stimmenzuwachs in der letzten Zeit, Apathie desPublikums in den Versammlungen, verzagter Ton in der Literatur), erzeugtedies in Verbindung mit der Ohnmacht der parlamentarischen Tätigkeit und demErscheinen der unwissenden Masse des unorganisierten und der Organisierungfast unzugänglichen Fabrikproletariats in der Arena im Westen das, was heuteBemsteiniade, Krise des Marxismus genannt wird. Ein logischerer Gang derDinge als die Entwicklungsperiode der Arbeiterbewegung vom kommunisti-schen Manifest' bis zur Bemsteiniade läßt sich schwer vorstellen, und durcheine aufmerksame Untersuchung dieses ganzen Prozesses läßt sich mit astro-nomischer Genauigkeit der Ausgang dieser .Krise' bestimmen. Es handelt sidihier natürlich nicht um Niederlage oder Sieg der Bemsteiniade — das wärevon geringem Interesse; es handelt sich um eine grundlegende Änderung derpraktischen Tätigkeit, die sich schon seit langem im Innern der Partei nachund nach vollzieht.

Diese Änderung wird nicht nur in der Richtung einer energischeren Füh-rung des ökonomischen Kampfes, der Festigung der ökonomischen Organisa-tionen erfolgen, sondern auch, und das ist das Wesentlichste, in der Richtungeiner Änderung des Verhältnisses der Partei zu den übrigen oppositionellenParteien. Der unduldsame Marxismus, der verneinende Marxismus, der primi-tive Marxismus (der eine allzu schematisdie Vorstellung von der Klassentei-lung der Gesellschaft hat) wird dem demokratischen Marxismus Platz machen,und die soziale Stellung der Partei in der heutigen Gesellschaft muß sich radi-kal ändern. Die Partei wird die Gesellschaft anerkennen, ihre eng korpora-tiven, in den meisten Fällen sektiererischen Aufgaben erweitem sich zu gesell-schaftlichen Aufgaben, und ihr Streben nach Ergreifung der Macht wird zumStreben nach Änderung, Reformierung der heutigen Gesellschaft in demokra-tischer Richtung, angepaßt an die heutige Lage der Dinge, mit dem Ziel mög-lichst erfolgreicher, möglichst vollständiger Verteidigung der Redite (jederArt) der werktätigen Klassen. Der Inhalt des Begriffs .Politik' erweitert sichzu wahrhaft gesellschaftlicher Bedeutung, und die praktischen Forderungendes Augenblicks erhalten größeres Gewicht, können auf größere Beachtungrechnen, als es bis jetzt der Fall war.

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166 W.ü. Lenin

Es ist nicht schwer, aus dieser kurzen Beschreibung des Entwicklungsgangsder Arbeiterbewegung im Westen die Schlußfolgerung für Rußland zu ziehen.Die Linie des geringsten Widerstands wird bei uns niemals auf die politischeTätigkeit gerichtet sein. Das unerträgliche politische Joch wird dazu führen,daß viel von ihm gesprochen und gerade auf diese Frage die Aufmerksamkeitkonzentriert wird, niemals aber wird es zur praktischen Tat führen. Erstarktenund formten sich im Westen die schwachen Kräfte der Arbeiter durch Ein-beziehung in die politische Tätigkeit, so stehen bei uns hingegen diese schwa-chen Kräfte vor der Mauer der politischen Unterjochung, und es gibt für sienicht nur keine praktischen Wege zum Kampf gegen dieses Joch und folglichauch zur eigenen Entwicklung, sondern sie werden von ihm sogar systematischerstickt und können nicht einmal schwache Keime treiben. Wenn man hinzu-fügt, daß unsere Arbeiterklasse nicht jenen Organisationsgeist als Erbe über-nommen hat, durch den sich die Kämpfer des Westens auszeichneten, soergibt sich ein niederdrückendes Bild, wie es den optimistischsten Marxistenverzagt machen kann, der glaubt, daß jeder neue Fabrikschlot schon alleindurch seine Existenz großen Wohlstand verheißt. Schwierig, unendlich schwie-rig ist auch der ökonomische Kampf, aber er ist möglich und wird schließlichvon den Massen selbst praktiziert. Dadurch, daß sich der russische Arbeiter indiesem Kampf an die Organisation gewöhnt und im Kampf alle Augenblickemit dem politischen Regime zusammenstößt, wird er schließlich das schaffen, wasman eine Form der Arbeiterbewegung nennen kann, wird er die Organisationoder Organisationen schaffen, die den Verhältnissen der russischen Wirklichkeitam meisten entsprechen. Gegenwärtig läßt sich mit Gewißheit sagen, daß sichdie russische Arbeiterbewegung noch in einem amöbenartigen Zustand befindetund noch keinerlei Form hervorgebracht hat. Die Streikbewegung, die es bei jederOrganisationsform gibt, kann noch nicht als kristallisierte Form der russischenBewegung bezeichnet werden, während die illegalen Organisationen schon vomrein quantitativen Standpunkt aus keine Beachtung verdienen (von ihrer Nütz-lichkeit unter den gegenwärtigen Verhältnissen wollen wir nicht sprechen).

Das ist die Lage. Fügt man noch die Hungersnöte und den Verelendungs-prozeß auf dem Lande hinzu, die das Streikbrechertum * fördern und damitder Hebung der Arbeitermassen auf ein erträglicheres kulturelles Niveau nochgrößere Schwierigkeiten bereiten... was kann da der russische Marxist tun?!Das Gerede von einer selbständigen politischen Arbeiterpartei ist nichts ande-res als ein Produkt der Übertragung fremder Aufgaben, fremder Resultateauf unseren Boden. Der russische Marxist ist vorläufig noch eine traurige Ge-stalt. Seine praktischen Aufgaben in der Gegenwart sind kläglich, seine theo-

„Streikbrecher" im Original deutsch. Der Tibers.

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retischen Kenntnisse, soweit er sie nicht als Werkzeug der Jorsdbimc), sondernals Schema des Handelns verwendet, sind für die Erfüllung selbst dieser kläg-lichen praktischen Aufgaben wertlos. Außerdem erweisen sich diese für einenFremden zugeschnittenen Schemata in der Praxis als schädlich. Unsere Marxi-sten, die vergessen haben, daß im Westen die Arbeiterklasse ein bereits ge-säubertes politisches Tätigkeitsfeld betrat, bringen mehr als nötig der radikal-oder liberal-oppositionellen Tätigkeit aller anderen, nicht proletarischen Ge-sellschaftsschichten Verachtung entgegen. Die geringsten Versuche, die Auf-merksamkeit auf gesellschaftliche Äußerungen liberal-politischer Art zu kon-zentrieren, rufen den Protest der orthodoxen Marxisten hervor, die vergessen,daß eine ganze Reihe geschichtlicher Bedingungen uns hindert, Marxisten desWestens zu sein, und einen anderen, für die russischen Verhältnisse passendenund notwendigen Marxismus von uns verlangt. Der Mangel an politischemGefühl und politischem Sinn bei allen Bürgern Rußlands kann offensichtlichnicht durch Gerede über Politik oder Aufrufe an eine nicht existierende Kraftwettgemacht werden. Dieser politische Sinn kann nur durch Erziehung geschaffenwerden, d.h. durch Beteiligung an demjenigen Leben (wie unmarxistisch esauch sein möge), das die russische Wirklichkeit bietet. So angebracht die .Ne-gation' im Westen (zeitweilig) war, so schädlich ist sie bei uns, weil eine Nega-tion, die von etwas Organisiertem und wirkliche Kraft Besitzendem ausgeht,etwas anderes ist als eine Negation, die von einer formlosen Masse zerstreuterEinzelpersonen ausgeht.

Es gibt für den russischen Marxisten nur einen Ausweg: Beteiligung amwirtschaftlichen Kampf des Proletariats, d. h. Unterstützung dieses Kampfes,und Beteiligung an der liberal-oppositionellen Tätigkeit. Als ,Negierer' ist derrussische Marxist sehr früh aufgetreten, aber dieses Negieren hat in ihm dasMaß von Energie geschwächt, das auf den politischen Radikalismus hätte ge-richtet werden sollen. Einstweilen ist alles das nicht so schlimm, wenn aber dasKlassenschema den russischen Intellektuellen daran hindert, aktiv am Lebenteilzunehmen, und ihn allzuweit von den oppositionellen Kreisen entfernt, so wirddas ein wesentlicher Nachteil für alle sein, die gezwungen sind, nicht in Gemein-schaft mit der Arbeiterklasse, die sich noch keine politischen Aufgaben gestellthat, für Rechtsformen zu kämpfen. Die hinter wirklichkeitsfremden Betrach-tungen über politische Themen versteckte politische Unschuld des russischenmarxistischen Intellektuellen kann diesem selbst einen üblen Streich spielen."

Wir wissen nicht, ob sich viele russische Sozialdemokraten finden wer-den, die diese Ansichten teilen. Unzweifelhaft ist aber, daß im allgemei-nen derartige Ideen Anhänger haben, und deshalb halten wir uns für

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verpflichtet, gegen solche Ansichten kategorisch zu protestieren und alleGenossen vor der Gefahr zu wamen, daß die russische Sozialdemokratievon dem Wege weggeführt wird, den sie sich bereits vorgezeichnet hat,nämlich von der Bildung einer selbständigen politischen Arbeiterpartei,die untrennbar ist vom Klassenkampf des Proletariats und sich die Er-kämpfung der politischen Freiheit als nächste Aufgabe stellt.

Das oben wiedergegebene „Credo" enthält erstens „eine kurze Be-schreibung des Entwicklungsgangs der Arbeiterbewegung im Westen"und zweitens „Schlußfolgerungen für Rußland".

Völlig unrichtig sind vor allem die Vorstellungen der Verfasser des„Credo" von der Vergangenheit der westeuropäischen Arbeiterbewegung.Es ist nicht wahr, daß die Arbeiterklasse im Westen am Kampf für diepolitische Freiheit und an den politischen Revolutionen nicht teilgenommenhat. Die Geschichte des Chartismus, die Revolution von 1848 in Frank-reich, Deutschland und Österreich beweisen das Gegenteil. Es ist völligfalsch, daß „der Marxismus der theoretische Ausdruck der herrschendenPraxis war: des politischen Kampfes, der den ökonomischen überwog".Im Gegenteil, der „Marxismus" trat auf, als der unpolitische Sozialismus(„Owenismus", „Fourierismus", der „wahre Sozialismus") herrschte, unddas „Kommunistische Manifest" wandte sich sofort gegen den unpoliti-schen Sozialismus. Selbst als der Marxismus mit seinem ganzen theore-tischen Rüstzeug auftrat („Das Kapital") und die berühmte InternationaleArbeiterassoziation49 gründete, war der politische Kampf keineswegs dieherrschende Praxis (beschränkter Trade-Unionismus in England, Anar-chismus und Proudhonismus in den romanischen Ländern). In Deutsch-land bestand das große historische Verdienst Lassalles darin, daß er dieArbeiterklasse aus einem Anhängsel der liberalen Bourgeoisie zu einerselbständigen politischen Partei machte. Der Marxismus hat den ökono-mischen und den politischen Kampf der Arbeiterklasse zu einem unteil-baren Ganzen verbunden, und das Bestreben der Verfasser des „Credo",diese Formen des Kampfes voneinander zu trennen, gehört zu den schlech-testen und traurigsten Abweichungen vom Marxismus.

Völlig unrichtig sind ferner die Vorstellungen der Verfasser des „Credo"von der gegenwärtigen Lage der westeuropäischen Arbeiterbewegung undvon der Theorie des Marxismus, unter dessen Banner diese Bewegungmarschiert. Von einer „Krise des Marxismus" zu sprechen bedeutet, die

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sinnlosen Phrasen der bürgerlichen Schreiberlinge zu wiederholen, diemit aller Kraft bestrebt sind, jeden Streit unter den Sozialisten aufzu-bauschen und ihn in eine Spaltung der sozialistischen Parteien zu ver-wandeln. Die berüchtigte Bernsteiniade50 — in dem Sinne, wie sie ge-wöhnlich vom breiten Publikum im allgemeinen und von den Verfasserndes „Credo" im besonderen aufgefaßt wird — bedeutet den Versuch, dieTheorie des Marxismus .einzuengen, den Versuch, die revolutionäre Ar-beiterpartei in eine Reformpartei zu verwandeln, und dieser Versuch ist,wie auch zu erwarten war, von der Mehrheit der deutschen Sozialdemo-kraten entschieden verurteilt worden. In der deutschen Sozialdemokratiehaben sich mehr als einmal opportunistische Strömungen gezeigt, und siesind von der Partei, die das Vermächtnis der internationalen revolutio-nären Sozialdemokratie treu bewahrt, jedesmal zurückgewiesen worden.Wir sind überzeugt, daß alle Versuche, opportunistische Anschauungennach Rußland zu übertragen, bei der erdrückenden Mehrheit der.rus-sischen Sozialdemokraten auf ebenso entschiedenen Widerstand stoßenwerden. :

Genauso kann auch, entgegen den Behauptungen der Verfasser des„Credo", keine Rede sein von irgendeiner „grundlegenden Änderung derpraktischen Tätigkeit" der westeuropäischen Arbeiterparteien: der Mar-xismus hat die gewaltige Bedeutung des ökonomischen Kampfes des Pro-letariats und die Notwendigkeit eines solchen Kampfes von allem Anfangan erkannt, und schon in den vierziger Jahren polemisierten Marx undEngels gegen die utopischen Sozialisten, die die Bedeutung dieses Kamp-fes leugneten.51

Als sich etwa zwanzig Jahre später die Internationale Arbeiterassozia-tion bildete, wurde gleich auf dem ersten Kongreß im Jahre 1866 in Genfdie Frage nach der Bedeutung der Arbeitergewerkschaften und des öko-nomischen Kampf es auf geworfen. Die Resolution dieses Kongresses zeigtegenau die Bedeutung des ökonomischen Kampfes auf, wobei sie die Sozia-listen und die Arbeiter einerseits vor einer Übertreibung seiner Bedeutung(die zu jener Zeit bei den englischen Arbeitern zu bemerken war), ander-seits vor einer Unterschätzung seiner Bedeutung warnte (die sich bei denFranzosen und bei den Deutschen, besonders bei den Lassalleanern, be-merkbar machte). Die Resolution erkannte die Arbeitergewerkschaftennicht nur als gesetzmäßige, sondern auch als notwendige Erscheinung im

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Kapitalismus an; sie stellte fest, daß sie für die Organisierung der Arbeiter-klasse in ihrem täglichen Kampf gegen das Kapital und für die Beseiti-gung der Lohnarbeit äußerst wichtig sind. Die Resolution stellte fest,daß die Arbeitergewerkschaften ihre Aufmerksamkeit nicht ausschließlichauf den „unmittelbaren Kampf gegen das Kapital" lenken sollen, daß siein der allgemeinen politischen und sozialen Bewegung der Arbeiterklassenicht beiseite stehen dürfen; sie dürfen sich keine „eng begrenzten" Zielestecken, sie müssen vielmehr die allgemeine Befreiung der unterdrücktenMillionen des arbeitenden Volkes erstreben. Seit jener Zeit wurde in denArbeiterparteien der verschiedenen Länder wiederholt die Frage aufge-worfen — und sie wird natürlich noch mehr als einmal aufgeworfen wer-den —, ob im gegebenen Zeitpunkt dem ökonomischen oder dem poli-tischen Kampf des Proletariats etwas mehr oder etwas weniger Aufmerk-samkeit zu schenken sei; die allgemeine oder prinzipielle Frage stehtjedoch auch heute so, wie sie vom Marxismus gestellt wurde. Die Über-zeugung, daß der einheitliche Klassenkampf notwendigerweise den poli-tischen und den ökonomischen Kampf in sich vereinigen muß, ist derinternationalen Sozialdemokratie in Fleisch und Blut übergegangen. Diegeschichtliche Erfahrung zeugt ferner unwiderleglich davon, daß dasFehlen der Freiheit oder die Unterdrückung der politischen Rechte desProletariats es stets notwendig machen, den politischen Kampf in denVordergrund zu stellen.

Noch weniger kann von einer irgendwie wesentlichen Änderung in derStellung der Arbeiterpartei zu den übrigen oppositionellen Parteien dieRede sein. Auch hier hat der Marxismus die richtige Position gezeigt, dieebenso weit entfernt ist von einer Übertreibung der Bedeutung der Politikund von Verschwörertum (Blanquismus usw.) wie von einem geringschät-zigen Verhalten zur Politik oder von ihrer Begrenzung auf ein opportu-nistisches, reformatorisches soziales Flickwerk (Anarchismus, utopischerund kleinbürgerlicher Sozialismus, Staatssozialismus, Kathedersozialismususw.). Das Proletariat muß die Bildung selbständiger politischer Arbeiter-parteien anstreben, deren Hauptziel die Ergreifung der politischen Machtdurch das Proletariat zwecks Aufbau der sozialistischen Gesellschaft seinmuß. Die anderen Klassen und Parteien soll das Proletariat keineswegsals „eine reaktionäre Masse"52 betrachten: es muß im Gegenteil am ge-samten politischen und gesellschaftlichen Leben teilnehmen, die fort-

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Tratest russischer Sozialdemokraten 171

schriftlichen Klassen und Parteien gegen die reaktionären unterstützen,jede revolutionäre Bewegung gegen die bestehende Ordnung unterstützen,der Verteidiger jeder unterdrückten Völkerschaft oder Rasse, jeder ver-folgten Glaubenslehre, des rechtlosen Geschlechts usw. sein. Die Aus-führungen der Verfasser des „Credo" über dieses Thema zeugen nur vondem Bestreben, den Klassencharakter des Kampfes des Proletariats zuvertuschen, diesen Kampf durch irgendeine sinnlose „Anerkennung derGesellschaft" zu lähmen, den revolutionären Marxismus auf eine ge-wöhnliche Reformströmung zu reduzieren. Wir sind überzeugt, daß diegewaltige Mehrheit der russischen Sozialdemokraten eine derartige Ent-stellung der Grundprinzipien der Sozialdemokratie unbedingt ablehnenwird. Die unrichtigen Prämissen bezüglich der westeuropäischen Arbei-terbewegung führen die Verfasser des „Credo" zu noch unrichtigeren„Schlußfolgerungen für Rußland".

Die Behauptung, die russische Arbeiterklasse habe „sich noch keinepolitischen Aufgaben gestellt", zeugt nur von Unkenntnis der russischenrevolutionären Bewegung. Schon der im Jahre 1878 gegründete „Nord-russische Arbeiterbund"53 und der im Jahre 1875 gegründete „Südrus-sische Arbeiterbund"51 haben in ihrem Programm die Forderung nachpolitischer Freiheit aufgestellt. Nach der Reaktion der achtziger Jahre hatdie Arbeiterklasse in den neunziger Jahren wiederholt dieselbe Forderungerhoben. Die Behauptung, „das Gerede von einer selbständigen politi-schen Arbeiterpartei ist nichts anderes als ein Produkt der Übertragungfremder Aufgaben, fremder Resultate auf unseren Boden", zeugt nur vonvölliger Verkennung der historischen Rolle der russischen Arbeiterklasseund der dringendsten Aufgaben der russischen Sozialdemokratie. Daseigene Programm der Verfasser des „Credo" läuft offenbar darauf hin-aus, die Arbeiterklasse solle sich, die „Linie des geringsten Widerstands"beschreitend, auf den ökonomischen Kampf beschränken, während die„liberal-oppositionellen Elemente" unter „Beteiligung" der Marxisten für„Rechtsformen" kämpfen würden. Die Verwirklichung eines derartigenProgramms wäre für die russische Sozialdemokratie gleichbedeutend mitpolitischem Selbstmord, gleichbedeutend mit einer ungeheuerlichen Hem-mung und Herabwürdigung der russischen Arbeiterbewegung und derrussischen revolutionären Bewegung (die beiden letzten Begriffe sind füruns gleichbedeutend). Schon allein die Tatsache, daß ein solches Pro-

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gramm auftauchen konnte, zeigt, wie begründet die Befürchtungen einesder Vorkämpfer der russischen Sozialdemokratie, P. B. Axelrods, waren,als er Ende 1897 von der Möglichkeit der folgenden Perspektive schrieb:

„Die Arbeiterbewegung verläßt nicht das enge Flußbett d«r rein wirtschaft-lichen Zusammenstöße der Arbeiter mit den Unternehmern, und an und fürsich, in ihrer Gesamtheit, fehlt ihr der politische Charakter; im Kampf für diepolitische Freiheit aber folgen die fortgeschrittenen Schichten des Proletariatsden revolutionären Zirkeln und Fraktionen der sogenannten Intelligenz." (Axel-rod, „Zur Frage der gegenwärtigen Aufgaben und der Taktik der russischen.Sozialdemokraten", Genf 1898, S. 19.)

Die russischen Sozialdemokraten müssen dem ganzen Ideenkreis, derim „Credo" seinen Ausdruck gefunden hat, entschieden den Krieg er-klären, da diese Ideen geradeswegs zur Verwirklichung einer solchenPerspektive führen. Die russischen Sozialdemokraten müssen alle Kräfteanstrengen, damit die andere Perspektive verwirklicht werde, die vonP. B. Axelrod in den folgenden Worten dargelegt wird:

„Die andere Perspektive: Die Sozialdemokratie organisiert das russischeProletariat zu einer selbständigen politischen Partei, die für die Freiheitkämpft, zum 7eil in einer Reihe und im Bunde mit den bürgerlichen revolutio-nären Fraktionen (insofern solche vorhanden sein werden), zum anderen Teilaber, indem sie die Elemente aus der Intelligenz, die dem Volke am meistenergeben und am revolutionärsten sind, direkt in ihre Reihen zieht oder mitsich reißt." (Ebenda, S. 20.)

Zu derselben Zeit, da P. B. Axelrod diese Zeilen schrieb, zeigten dieErklärungen der Sozialdemokraten in Rußland deutlich, daß sie in ihrergewaltigen Mehrheit auf demselben Standpunkt stehen. Allerdings neigteeine Zeitung der Petersburger Arbeiter, die „Rabotsdiaja Mysl" 55, wiees schien, den Ideen der Verfasser des „Credo" zu, da sie leider in ihremprogrammatischen Leitartikel (Nr. 1, Oktober 1897) den völlig falschenund dem Sozialdemokratismus widersprechenden Gedanken aussprach,daß „die ökonomische Grundlage der Bewegung" „durch das Bestreben,das politische Ideal niemals zu vergessen, verwischt werden" könne.Gleichzeitig hat sich aber eine andere Zeitung der Petersburger Arbeiter,„St. Peterburgski Rabotschi Listok"56 (Nr. 2, September 1897), ent-schieden dafür ausgesprochen, daß „nur eine straff organisierte und zah-lenmäßig starke Arbeiterpartei... die Selbstherrschaft stürzen kann",

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daß „die zu einer starken Partei organisierten" Arbeiter „sich und ganzRußland von jeglicher politischen und ökonomischen Unterdrückung be-freien werden". Die dritte Zeitung, die „Rabotschaja Gaseta"57, schriebim Leitartikel ihrer Nr. 2 (November 1897): „Der Kampf gegen dieautokratische Regierung, der Kampf für politische Freiheit ist die nächsteAufgabe der russischen Arbeiterbewegung." „Die russische Arbeiter-bewegung wird ihre Kräfte verzehnfachen, wenn sie als einheitliches, ge-schlossenes Ganzes mit einem gemeinsamen Namen und einer geschlos-senen Organisation auftritt..." „Die einzelnen Arbeiterzirkel müssenzu einer gemeinsamen Partei werden." „Die russische Arbeiterpartei wirdeine sozialdemokratische Partei sein." Die völlige Übereinstimmung derüberwältigenden Mehrheit der russischen Sozialdemokraten gerade mitdieser Überzeugung der „Rabotschaja Gaseta" ist auch daraus ersichtlich,daß der im Frühjahr 1898 abgehaltene Parteitag der russischen Sozial-demokraten58 die „Sozialdemokratische Arbeiterpartei Rußlands" grün-dete, ihr Manifest veröffentlichte und die „Rabotschaja Gaseta" als dasoffizielle Parteiorgan anerkannte. Die Verfasser des „Credo" machen alsoeinen gewaltigen Schritt zurück hinter den Stand der Entwicklung, dendie russische Sozialdemokratie bereits erreicht hat und dem sie im „Mani-fest der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands" Ausdruck ver-lieh. Wenn die wütende Verfolgung seitens der russischen Regierungdazu geführt hat, daß die Tätigkeit der Partei jetzt vorübergehendschwächer geworden ist und ihr offizielles Organ zu erscheinen auf-hörte, so besteht die Aufgabe aller russischen Sozialdemokraten darin,alle Kräfte anzustrengen, um die Partei endgültig zu festigen, ein Partei-programm auszuarbeiten und ihr offizielles Organ wieder herauszubrin-gen. Angesichts des ideologischen Schwankens, von dem die Tatsachezeugt, daß solche Programme wie das oben untersuchte „Credo" auftau-chen können, halten wir es für besonders notwendig, die folgenden Grund-prinzipien zu betonen, die im „Manifest" dargelegt sind und für die rus-sische Sozialdemokratie gewaltige Bedeutung haben. Erstens, die russischeSozialdemokratie „will eine Klassenbewegung der organisierten Arbeiter-massen sein und bleiben". Daraus folgt, daß die Devise der Sozialdemo-kratie sein muß: Unterstützung der Arbeiter nicht nur im ökonomischen,sondern auch im politischen Kampf; Agitation nicht nur auf der Grund-lage der nächstliegenden wirtschaftlichen Nöte, sondern auch auf der

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Grundlage aller Erscheinungsformen politischer Unterdrückung; Propa-gierung nicht nur der Ideen des wissenschaftlichen Sozialismus, sondernauch Propagierung der demokratischen Ideen. Das Banner der Klassenbe-wegung der Arbeiter kann nur die Theorie des revolutionären Marxismussein, und die russische Sozialdemokratie muß für die Weiterentwicklungdieser Theorie und ihre Anwendung in der Praxis sorgen, wobei sie diesezugleich gegen jene Entstellungen und Verflachungen zu schützen hat,denen „zur Mode gewordene Theorien" (und die Erfolge der revolutio-nären Sozialdemokratie in Rußland haben den Marxismus bereits zueiner „Mode"theorie gemacht) so oft unterliegen. Während sie gegen-wärtig alle ihre Kräfte auf die Arbeit unter den Fabrik- und Bergarbeiternkonzentriert, darf die Sozialdemokratie nicht vergessen, daß mit der Aus-dehnung der Bewegung sowohl die Hausarbeiter als auch die Kustare*,sowohl die Landarbeiter als auch die Millionen der ruinierten und Hun-gers sterbenden Bauernschaft in die Reihen der von ihr organisierten Ar-beitermassen einbezogen werden müssen.

Zweitens: „Der russische Arbeiter muß und wird die Sache der Er-oberung politischer Freiheit auf seinen starken Schultern zum Siege tra-gen." Die Sozialdemokratie, die den Sturz des Absolutismus zu ihrernächsten Aufgabe macht, muß Vorkämpferin der Demokratie sein undschon allein deshalb allen demokratischen Elementen der russischen Be-völkerung jedwede Unterstützung erweisen und sie so als Verbündetefür sich gewinnen. Nur eine selbständige Arbeiterpartei kann im Kampfgegen die Selbstherrschaft ein festes Bollwerk sein, und nur im Bunde miteiner solchen Partei, nur mit ihrer Unterstützung, können alle übrigenKämpfer für die politische Freiheit aktiv hervortreten.

Drittens und letztens: „Als sozialistische Bewegung und Richtung führtdie Sozialdemokratische Arbeiterpartei Rußlands das Werk und die Tra-ditionen der gesamten vorausgegangenen revolutionären Bewegung Ruß-lands weiter; die Sozialdemokratie geht, indem sie der Partei in ihrerGesamtheit die Erringung der politischen Freiheit zur wichtigsten dernächstliegenden Aufgaben macht, dem Ziel entgegen, das schon die ruhm-reichen Kämpfer des alten ,Volkswillen'59 klar umrissen haben." DieTraditionen der gesamten vorausgegangenen revolutionären Bewegungverlangen, daß die Sozialdemokratie jetzt alle ihre Kräfte konzentriert

*~Siehe Note auf S. 9 dieses Bandes. Der Tibers.

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Protest russischer Sozialdemokraten 175

auf die Organisierung der Partei, auf die Festigung der Disziplin in derPartei und auf die Entwicklung der konspirativen Technik. Wenn schondie Mitglieder des alten „Volkswillen" in der russischen Geschichte einegewaltige Rolle zu spielen vermochten, obgleich die wenigen Helden nurvon einer dünnen Gesellschaftsschicht unterstützt wurden und obgleicheine keineswegs revolutionäre Theorie der Bewegung als Banner diente,dann wird die Sozialdemokratie, die sich auf den Klassenkampf desProletariats stützt, fähig sein, unbesiegbar zu werden. „Das russischeProletariat wird das Joch der Selbstherrschaft abwerfen, um mit destogrößerer Energie den Kampf gegen das Kapital und die Bourgeoisie biszum vollen Siege des Sozialismus fortzusetzen."

Wir fordern alle sozialdemokratischen Gruppen und alle Arbeiterzirkelin Rußland auf, das oben wiedergegebene „Credo" sowie unsere Resolu-tion zu erörtern und zu der aufgeworfenen Frage in klarer Form Stellungzu nehmen, um alle Meinungsverschiedenheiten zu beseitigen und dieOrganisierung und Festigung der Sozialdemokratischen ArbeiterparteiRußlands zu beschleunigen.

Die Resolutionen der Gruppen und Zirkel könnten dem „Auslandsbundrussischer Sozialdemokraten" mitgeteilt werden, der gemäß Punkt 10des vom Parteitag der russischen Sozialdemokraten im Jahre 1898 ge-faßten Beschlusses ein Teil der Sozialdemokratischen Partei Rußlands undihr Vertreter im Ausland ist.

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REZENSION

S. N. PROKOPOWITSCH, Die Arbeiterbewegung im Westen60

„...sich der Sozialwissenschaft zuzuwenden und ihrem angeblichenSchluß, daß die kapitalistische Gesellschaftsordnung kraft der sich in ihrentwickelnden Widersprüche unaufhaltsam ihrem eigenen Untergang zu-strebt. Die notwendigen Erläuterungen finden wir in Kautskys ,ErfurterProgramm'." (147.) Bevor wir auf den Inhalt der von Herrn Prokopo-witsch angeführten Stelle eingehen, wollen wir die folgende sonderbareEigenheit vermerken, die für Herrn Prokopowitsch und ihm ähnlicheReformatoren der Theorie äußerst charakteristisch ist. Warum eigent-lich sucht unser „kritischer Forscher", der sich der „Sozialwissenschaft"zuwendet, „Erläuterungen" in einem populären Buch Kautskys und nir-gendwo sonst? Bildet er sich denn wirklich ein, dieses Buch enthalte dieganze „Sozialwissenschaft" ? Er weiß sehr wohl, daß Kautsky ein „treuerHüter der Traditionen von Marx" (I, 187) ist, daß gerade in den ökono-mischen Abhandlungen von Marx die Darstellung und Begründung der„Schlußfolgerungen" einer bestimmten Schule der „Sozialwissenschaft"gesucht werden muß, tut aber so, als ob er selbst das nicht wüßte. Wassollen wir von einem „Forscher" halten, der sich auf Ausfälle gegen die„Hüter" der Theorie beschränkt, in seinem ganzen Buch aber kein ein-ziges Mal wagt, sich offen und direkt mit dieser Theorie selbst ausein-anderzusetzen?

An der von Herrn Prokopowitsch zitierten Stelle spricht Kautsky da-von, daß die technische Umwälzung und die Anhäufung von Kapitalimmer rascher und rascher voranschreiten, daß die Erweiterung der Pro-duktion wegen der Grundeigenschaften des Kapitalismus notwendig undununterbrochen notwendig ist, daß dabei aber die Ausdehnung des

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Sechste Seite von W. I. Lenins Manuskript„Rezension über das Buch von S. N. Prokopowitsch"

Ende 1899

Terfeleinert

12 Lenin, Werke, Bd. 4

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Rezension über das Budh von S. JV. Trokopowitsdb 179

Marktes „seit einiger Zeit viel zu langsam vor sich geht"; „es scheint derAugenblick nahe zu sein, wo der Markt der europäischen Industrie sichnicht nur nicht mehr erweitern, sondern wo er anfangen wird, sich zu ver-engern. Das hieße aber nichts anderes als der Bankrott der ganzen kapi-talistischen Gesellschaft." Herr Prokopowitsch „kritisiert" „die Schluß-folgerungen der Sozialwissenschaft" {d. b. Kautskys Hinweis auf einesder von Marx entdeckten Entwicklungsgesetze): „In dieser Begründungdes unvermeidlichen Untergangs der kapitalistischen Gesellschaft spieltder Gegensatz zwischen ,dem ständigen Drang zur Erweiterung der Pro-duktion und der immer langsameren Erweiterung des Marktes sowieschließlich seiner Verengerung' die Hauptrolle. Kautsky zufolge muß die-ser Widerspruch die kapitalistische Gesellschaftsordnung zugrunde rich-ten. Nun setzt aber doch" (man höre!) „Erweiterung der Produktion dieproduktive Konsumtion' eines Teils des Mehrwerts voraus — d. h. zunächstseine Realisation, dann seine Verausgabung für Maschinen, Baulichkeitenusw. zwecks neuer Produktion. Mit anderen Worten, die Erweiterung derProduktion steht in engstem Zusammenhang mit dem Vorhandensein einesMarktes für die bereits produzierten Waren; deshalb ist eine ständige Er-weiterung der Produktion bei relativer Verengerung des Marktes ein Dingder Unmöglichkeit." (148.) Herr Prokopowitsch ist mit seinem Exkurs indas Gebiet der „Sozialwissenschaft" nun so zufrieden, daß er gleich in dernächsten Zeile mit herablassender Geringschätzung von einer ^wissen-schaftlichen" (in Anführungszeichen) Begründung des Glaubens usw. redet.Eine derartige Husarenkritik wäre empörend, wenn sie nicht vor allemund mehr als alles ergötzlich wäre. Der gute Herr Prokopowitsch hatetwas läuten hören, weiß aber nicht, wo die Glocken hängen. Herr Pro-kopowitsch hat von der abstrakten Realisationstheorie gehört, die in derrussischen Literatur in letzter Zeit heftig diskutiert worden ist, wobei dieRolle der „produktiven Konsumtion" wegen der Irrtümer der volkstüm-lerischen Ökonomie besonders unterstrichen wurde. Herr Prokopowitsch,der diese Theorie nicht rech* verstanden hat, bildet sich ein, sie leugne (!)die grundlegenden und elementaren Widersprüche im Kapitalismus, aufdie Kautsky hier hinweist. Hört man Herrn Prokopowitsch, so müßteman glauben, die „produktive Konsumtion" könne sich völlig unabhängigvon der individuellen Konsumtion entwickeln (in der individuellen Kon-sumtion aber spielt die Konsumtion der Massen die vorherrschende Rolle),

12*

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180 19. J.Lenin

d. h., daß dem Kapitalismus keinerlei Widerspruch zwischen Produktionund Konsumtion innewohne. Dies ist einfach absurd, und gegen eine der-artige Entstellung haben sich Marx und seine russischen Anhänger klarausgesprochen.* Aus der Tatsache, daß „Erweiterung der Produktionproduktive Konsumtion voraussetzt", folgt keineswegs die bürgerlich-apologetische Theorie, zu der unser „kritischer Forscher" gelangt, sondernim Gegenteil, aus ihr folgt gerade der dem Kapitalismus eigene und not-wendigerweise seinen Untergang herbeiführende Widerspruch zwischendem Drang nach schrankenloser Ausdehnung der Produktion und derBeschränkung der Konsumtion.

Es verlohnt sich ferner, im Zusammenhang mit dem Dargelegten denfolgenden interessanten Umstand zu vermerken. Herr Prokopowitsch istein eifriger Anhänger Bernsteins, dessen Zeitschriftenartikel er seiten-lang zitiert und übersetzt. Bernstein empfiehlt in seinem bekannten Buch„Die Voraussetzungen etc." dem deutschen Publikum Herrn S. Prokopo-witsch sogar als seinen russischen Anhänger, wobei er jedoch einen Vor-behalt macht, dessen Sinn darin besteht, daß Herr Prokopowitsch mehrBernsteinianer ist als Bernstein selbst. Nun ist es überaus kurios, daß beide,sowohl Bernstein als auch sein russischer Nachbeter, die Realisations-theorie entstellen, jedoch in diametral entgegengesetzten Richtungen, sodaß sie sidb gegenseitig widerlegen. Erstens hat Bernstein bei Marx einen„Widerspruch" darin gefunden, daß er sich gegen die Krisentheorie vonRodbertus wendet, gleichzeitig aber für den „letzten Grund aller wirk-lichen Krisen" „die Armut und Konsumtionsbeschränkung der Massen"erklärt. In Wirklichkeit jedoch besteht hier gar kein Widerspruch, wieich bereits an anderen Stellen zu zeigen Gelegenheit hatte („Studien",S. 30**; „Die Entwicklung des Kapitalismus in Rußland", S. 19***).Zweitens urteilt Bernstein ganz genauso wie bei uns Herr W. W., daßdie riesige Zunahme des Mehrprodukts notwendig eine zahlenmäßigeVermehrung der Besitzenden (oder eine Erhöhung des Wohlstands der

* Siehe meinen Artikel im „Nautschnoje Obosrenije", August 1899, be-sonders S. 1572 (siehe den vorliegenden Band, S. 64—83, besonders S. 75Die Red.) und die „Entwicklung des Kapitalismus in Rußlapd", S. 16 ff. (sieheWerke, 4. Ausgabe, Bd. 3, S- 32ff., russ. Die Red.}.

** Siehe Werke, 4. Ausgabe, Bd. 2, S. 148/149, russ. Die Red.*** Siehe Werke, 4. Ausgabe, Bd. 3, S. 36, russ. Die Red.

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Rezension über das Huäi von S. !7V. Prokopowitsdb 181

Arbeiter) bedeuten muß, denn die Kapitalisten und ihre Dienerschaft(sie!) könnten doch nicht das ganze Mehrprodukt selbst „verzehren"(„Die Voraussetzungen etc.", S. 51/52). Dieser naive Gedankengangignoriert vollständig die Rolle der produktiven Konsumtion, wie Xautskydas audb in seinem Budo gegen Bernstein gezeigt hat (Kautsky, „GegenBernstein", Abschnitt II — Unterkapitel über „Die Verwendung desMehrwerts"). Nun aber kommt der von Bernstein empfohlene russischeBernsteinianer und sagt genau das Gegenteil, liest Kautsky die Levitenbetreffs der Rolle der „produktiven Konsumtion" und übertreibt dabeidie Marxsche Entdeckung bis zu dem Unsinn, daß sich die produktiveKonsumtion ganz unabhängig von der individuellen Konsumtion ent-wickeln könne! daß die Realisation des Mehrwerts durch dessen Ver-wendung zur Produktion von Produktionsmitteln die in letzter Instanzbestehende Abhängigkeit der Produktion von der Konsumtion und folg-lich den Widerspruch zwischen beiden aufhebe! Der Leser kann sich andiesem Beispiel ein Urteil darüber bilden, ob es wirklich „Forschungen"waren, die Herrn Prokopowitsch nötigten, „die gute Hälfte der theore-tischen Voraussetzungen wieder zu vergessen", oder ob diese „Vergeß-lichkeit" unseres „kritischen Forschers" irgendwelchen anderen Ursachenentspringt.

Ein anderes Beispiel. Auf drei Seiten (25—27) hat unser Autor die Frageder Bauerngenossenschaften in Deutschland „erforscht". Herr Prokopo-witsch bringt eine Aufzählung der verschiedenen Arten von Genossen-schaften und statistische Angaben über ihre rasche Entwicklung (besondersder Molkereigenossenschaften) und erklärt: „Während der Handwerkerschon fast gar nicht mehr im modernen Wirtschaftssystem wurzelt, hatder Bauer in ihm nach wie vor einen stabilen (!) Halt." Wie einfach,nicht wahr? Die Unterernährung der deutschen Bauern, ihre Erschöpfungdurch übermäßige Arbeit, die massenhafte Landflucht — all das sindwahrscheinlich Erfindungen. Es genügt, auf die rasche Entwicklung derGenossenschaften hinzuweisen (besonders der Molkereigenossenschaf-ten, die dazu führen, daß den Bauernkindern die Milch weggenommenwird und daß die Abhängigkeit der Bauern von den Kapitalisten immerstärker wird), um die „Stabilität" der Bauernschaft zu beweisen. „DieEntwicklung der kapitalistischen Verhältnisse in der Fertigungsindustrie,die den Handwerker zugrunde richtet, verbessert die Lage des Bauern.

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182 TV.1 Lenin

Sie" (die Lage?) „ist ein Hindernis für das Eindringen des Kapitalismusin die Landwirtschaft." Das ist neu! Bisher glaubten wir, gerade die Ent-wicklung des Kapitalismus in der Fertigungsindustrie sei der wichtigsteFaktor, der den Kapitalismus in der Landwirtschaft hervorbringt undweiterentwickelt. Doch Herr Prokopowitsch könnte, genau wie seine deut-schen Vorbilder, mit vollem Recht von sich sagen: nous avons changetout ca, wir haben das alles geändert! Aber ob das auch richtig ist, ihrHerren? Habt ihr wirklich, sei es audh nur etwas, geändert, habt ihrwirklich die Unrichtigkeit auch nur einer einzigen Grundthese der voneuch „vernichteten" Theorie bewiesen und sie durch eine richtigere Theseersetzt? Seid ihr nicht vielmehr zu alten Vorurteilen zurückgekehrt?„.. .Anderseits sichert die Entwicklung derFertigungsindustrie dem BauernNebenverdienste..." Die Doktrin der Herren W.W. und Konsortenüber den Nebenerwerb der Bauernschaft ersteht wieder auf! Herr Pro-kopowitsch hält es für überflüssig zu erwähnen, daß diese „Nebenver-dienste" in den meisten Fällen die Verwandlung des Bauern in einenLohnarbeiter anzeigen. Er zieht es vor, seine „Forschungsarbeit" mitder tönenden Phrase zu schließen: „Die Lebenssäfte haben die Klasseder Bauernschaft noch nicht verlassen." Freilich hat Kautsky gerade inbezug auf Deutschland gezeigt, daß die landwirtschaftlichen Genossen-schaften ein Ubergangsstadium zum 'Kapitalismus sind — aber wir habenja bereits gesehen, wie der grimmige Herr Prokopowitsch Kautsky ver-nichtet hat!

Ein Wiedererstehen der volkstümlerischen Ansichten (volkstümlerischeben von der Schattierung des Herrn W. W.) sehen wir nicht nur an dererwähnten Stelle, sondern auch an sehr vielen anderen Stellen von HerrnProkopowitschs „kritischer Forschungsarbeit". Der Leser weiß wahr-scheinlich, welchen Namen (traurigen Namen) Herr W. W. sich durchdie maßlose Einengung und Verflachung der Lehre des sogenannten„ökonomischen" Materialismus erworben hat: in der „Umarbeitung" desHerrn W. W. bestand diese Lehre nicht darin, daß alle Faktoren letztenEndes auf die Entwicklung der Produktivkräfte zurückzuführen sind,sondern darin, daß man viele äußerst wichtige (wenn auch letzten Endessekundäre) Faktoren vernachlässigen kann. Eine ganz ähnliche Entstel-lung tischt uns auch Herr Prokopowitsch auf, wenn er nachzuweisenversucht, daß Kautsky die Bedeutung der „materiellen Kräfte" nicht ver-

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Rezension über das Buch von S. Ttf. Prokopowitsdi 183

stünde (144), wobei Herr Prokopowitsch selbst die „ökonomischen Or-ganisationen" (145) sorglos mit „ökonomischer Macht" (146 und 149besonders) verwechselt. Wir können leider nicht mit der notwendigenAusführlichkeit auf die Untersuchung dieses Fehlers von Herrn Prokopo-witsch eingehen und müssen den Leser auf das weiter oben erwähnte BuchKautskys gegen Bernstein (Abschnitt III, Unterkapitel a) verweisen, wodie Originale der Nachdichtungen des Herrn Prokopowitsch eingehenduntersucht werden. Der Leser, der das Buch des Herrn Prokopowitschaufmerksam liest, wird sich, wie wir ferner hoffen, leicht davon über-zeugen, daß die von unserem „kritischen Forscher" vernichtete Theorie(Herr Prokopowitsch verschweigt übrigens auch hier hübsch bescheidendie Ansichten der Begründer der Theorie und sieht von ihrer Unter-suchung ab, er zieht es vor, sich auf Zitate aus Reden und Artikeln derheutigen Anhänger dieser Theorie zu beschränken), daß die Theorieabsolut unschuldig ist an dieser ungeheuerlichen Einengung des „ökono-mischen" Materialismus (siehe beispielsweise die Erklärungen autorita-tiver belgischer Persönlichkeiten auf S. 74,90,92 und 100 im zweiten Teil).

Zu den von Herrn Prokopowitsch angeführten Zitaten muß bemerktwerden, daß er häufig einzelne Stellen herausgreift und damit dem Lesereine verzerrte Vorstellung von Ansiditen und Argumenten gibt, die inder russischen Literatur nicht vertreten sind. Infolge dieses letzteren Um-stands macht die Husarenkritik des Herrn Prokopowitsch einen besondersabstoßenden Eindruck. In manchen Fällen wird es für den Leser desBuches von Herrn Prokopowitsch nicht ohne Nutzen sein, sogar das vorkurzem ins Russische übersetzte Buch von Professor Herkner „Die Lohn-arbeit in Westeuropa"*, St. Petersburg 1899, im Verlag der Zeitschrift„Obrasowanije" [Die Bildung], zu Rate zu ziehen. In der Anmerkungauf S. 24 (Teil I) schreibt Herr Prokopowitsch beispielsweise, auf demParteitag von 1892 sei eine „mit der Gründung von Produktivgenossen-schaften sympathisierende Entschließung angenommen worden" — es folgtein Zitat, das erstens die Worte des Autors nicht voll bestätigt und zwei-tens gerade an der Stelle abbridrt, wo es heißt, es sei notwendig, „nament-lich den Glauben zu bekämpfen, daß Genossenschaften imstande seien,die kapitalistischen Produktionsverhältnisse zu beeinflussen usw." (Herk-ner, Anmerkungen, S. XI/XII, Anmerkung 6 zu Kapitel IX).

* Deutscher Titel: „Die Arbeiterfrage". Der Tibers,

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Mit dem gleichen Erfolg, wie in dem oben untersuchten Fall, vernichtetHerr Prokopowitsch Kautsky auf S. 56, 150, 156, 198 und vielen ande-ren Seiten. Überhaupt nicht ernst zu nehmen sind die Behauptungen desHerrn Prokopowitsch, Liebknecht habe in den sechziger Jahren seineIdeale bei verschiedenen Gelegenheiten abgeschworen, sie verraten unddgl. mehr (111,112). Welche ungeheuerlichen Ausmaße die Unverschämt-heit und Anmaßung unseres „Forschers" erreicht, von dem wir bereitseinigermaßen wissen, wie begründet seine Urteile sind, zeigt uns z. B. derfolgende (wiederum nicht gegen den Begründer der Theorie, sondern ge-gen ihren „Hüter" gerichtete) Satz: „Wir würden ganz unernst handeln,wollten wir plötzlich diese ganze Konzeption der Arbeiterbewegung vomStandpunkt ihrer Übereinstimmung mit dem wirklichen Entwicklungsgangder Arbeiterbewegung — vom Standpunkt ihrer Wissensdbaftiidhkeit (her-vorgehoben von Herrn Prokopowitsch) kritisieren. In ihr gibt es undkann es (sie!) kein Gran Wissenschaft geben." (156.) Welch entschiedeneKritik! Es lohnt nicht einmal, diesen ganzen Marxismus zu kritisieren —und basta. Offenbar haben wir entweder einen Menschen vor uns, demes beschieden ist, eine gigantische Umwälzung in der Wissenschaft her-beizuführen, „von der es kein Gran" in der in Deutschland herrschen-den Theorie „geben kann", oder . . . oder — wie soll man das möglichstmilde sagen? — oder einen Mann, der aus „Vergeßlichkeit" fremde Wört-chen wiederholt. Herr Prokopowitsch wirft sich vor dem allerneuestenGötzen, der diese Wörtchen zum tausendsten Male verkündet hat, mitsolchem Eifer zu Boden, daß er seine Stirn nicht schont. Bei Bernsteinhätten, man beliebe das zu bemerken, „die theoretischen Ansichten einenMangel" (198), der darin besteht, daß er angeblich — kann man sich dasvorstellen? — an die Notwendigkeit einer wissenschaftlichen Theorieglaubt, die die Ziele der handelnden Persönlichkeiten bestimmt. „Kri-tische Forscher" sind von einem so seltsamen Glauben frei. „Die Wissen-schaft wird erst dann frei sein", läßt Herr Prokopowitsch sich verneh-men, „wenn anerkannt wird, daß sie den Zielen der Partei zu dienen,nicht aber sie zu bestimmen hat. Es muß anerkannt werden, daß dieWissenschaft einer praktischen Partei keine Ziele stecken kann." (197.)Wir wollen feststellen, daß Bernstein eben diese Ansichten seines Gesin-nungsgenossen ablehnt. „Ein prinzipielles Programm ist, da es unvermeid-lich zum Dogmatismus führt, nur ein Hindernis auf dem Wege einer ge-

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Rezension über das TSudb von S. SV. Prokopountsdh 185

sunden Entwicklung der Partei. . . Theoretische Prinzipien sind gut in derPropaganda, aber nicht im Programm." (157.) „Programme sind unnötig,sind schädlich." „Die Persönlichkeit kann selbst ein Programm sein, wennsie hellhörig ist, die Erfordernisse der Zeit feinfühlig errät . . ." Der Leserglaubt wahrscheinlich, ich hätte die Untersuchung des Herrn Prokopo-witsch weiter zitiert? Nein, ich zitierte jetzt die Zeitung „Nowoje Wre-mja"61, die vor kurzem allgemein beachtete Artikel über das Programm...nicht einer Partei natürlich — sondern über das Programm des neuenInnenministers veröffentlicht ha t . . .

In welchem Verhältnis die von Herrn Prokopowitsch gepredigte Frei-heit der Prinzipienlosigkeit — Pardon „Freiheit der Wissenschaft" zu denAnschauungen der meisten jener westeuropäischen Persönlichkeiten steht,über die unser tapferer Kritiker so tapfer schreibt, ersieht man aus denfolgenden Zitaten, die dem gleichen Buch des Herrn Prokopowitsch ent-stammen: „...Natürlich ohne Verrat an den Prinzipien..." (159).„Ohne im mindesten unsere Unabhängigkeit, unsere Prinzipientreue zuverletzen..." „Ich lehne ein Kompromiß nur dann ab . . . , wenn es zurLossage von Prinzipien oder auch nur zum Verschweigen von Prinzipienführt . . ." (171). „Ohne Prinzipienlosigkeit hereinzutragen..." (174).„Natürlich ohne die Seele, im gegebenen Fall die Prinzipien, zu verkau-fen . . . " (176). „Jetzt sind die Prinzipien fest aufgestellt..." (183).(Notwendig ist) „ein Kompaß, der uns blindes Umhertappen erspart",gegen „kurzsichtigen Empirismus", gegen „sorgloses Verhalten zu denPrinzipien..." (195). „Die Hauptbedeutung kommt dem prinzipiellen,theoretischen Teil z u . . . " (103, Teil II) und dgl. mehr.

Zum Schluß noch zwei Zitate: „Wäre der deutsche Sozialdemokratis-mus ein Ausdruck des Sozialismus und nicht des zum Schutz seiner Inter-essen in der modernen Gesellschaft auftretenden Proletariats, das zumerstenmal seine Bedeutung erkennt, so würden wir — da doch nicht alleDeutschen Idealisten sind — neben dieser, idealistische Aufgaben verfol-genden Partei eine noch stärkere Partei haben — eine Arbeiterpartei, diedie praktischen Interessen des nicht idealistischen Teils des deutschenProletariats vertritt..." „Wenn der Sozialismus in dieser Bewegungnicht die Rolle eines einfachen Zeichens spielte, das eine bestimmte Or-ganisation kennzeichnet, wenn er eine treibende Idee, ein Prinzip wäre,das von den Mitgliedern der Partei einen bestimmten spezifischen Dienst

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verlangt — dann würde die sozialistische Partei sich von der gemeinsamenArbeiterpartei abtrennen, und die Masse des Proletariats, das auf demBoden der bestehenden Ordnung nach besseren Verhältnissen strebt undwenig an eine ideale Zukunft denkt, würde eine selbständige Arbeiter-partei bilden." Der Leser wird wahrscheinlich abermals glauben...

Qesdhrieben Ende i899.

Zuerst veröffentlidht 1928 im Tiadt dem Manuskript.Cenin-S ammeiband VII.

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REZENSION

KARL KAUTSKY, Bernstein und das sozialdemokratische Programm.

Eine Antikritik

. . . In der Einleitung entwickelt Kautsky einige höchst wertvolle undtreffende Gedanken über die Frage, welche Bedingungen eine ernste undgewissenhafte Kritik erfüllen muß, wenn sich die Kritiker nicht in denengen Grenzen seelenloser Pedanterie und Stubengelehrsamkeit abschlie-ßen wollen, wenn sie die innige und,untrennbare Verbindung der „theo-retischen Vernunft" mit der „praktischen Vernunft", mit der praktischenVernunft nicht einzelner Persönlichkeiten, sondern der in verschiedenenVerhältnissen lebenden Bevölkerungsmassen nicht aus dem Auge ver-lieren wollen. Natürlich, die Wahrheit geht über alles — sagt Kautsky —,und wenn Bernstein aufrichtig zu der Überzeugung gelangt ist, daßseine früheren Ansichten falsch waren, so ist es seine direkte Pflicht, seineMeinung mit aller Bestimmtheit zum Ausdruck zu bringen. Das Unglückist aber gerade, daß es Bernstein an Geradheit und Bestimmtheit fehlt:seine Broschüre ist erstaunlich „enzyklopädisch" (wie bereits AntonioLabriola in einer französischen Zeitschrift bemerkte), sie berührt eineMenge von Problemen, eine Unmasse von Fragen, aber in keiner ein-zigen dieser Fragen gibt sie eine geschlossene und präzise Darlegung derneuen Ansichten des Kritikers. Der Kritiker legt lediglich seine Zweifeldar, er läßt die schwierigen und komplizierten Fragen, kaum von ihmberührt, gleich wieder fallen, ohne sie selbständig zu entwickeln. Daherereignet sich auch das Merkwürdige — bemerkt Kautsky sarkastisch —,daß die Anhänger Bernsteins sein Buch auf die verschiedensten Artenauslegen, während die Gegner Bernsteins ihn alle in gleicher Weise auf-fassen. Der Haupteinwurf aber, den Bernstein gegen seine Widersachererhebt, besteht darin, sie verstünden ihn nicht, sie wollten ihn nicht ver-

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188 IV.3. Lenin

stehen. Die ganze Reihe von Artikeln in Zeitschriften und Zeitungen, indenen Bernstein seinen Gegnern antwortete, hat jedoch in keiner Weiseeine Klarstellung seiner positiven Ansichten gebracht.

Kautsky beginnt seine Antikritik mit der Frage der Methode. Er unter-sucht die Einwürfe Bernsteins gegen die materialistische Geschichtsauf-fassung und zeigt, daß Bernstein den Begriff „deterministisch" mit demBegriff „mechanistisch", die Freiheit des Wollens mit der Freiheit desHandelns verwechselt, daß er ohne jeden Grund die historische Notwen-digkeit mit einer ausweglosen Zwangslage der Menschen identifizierthat. Die abgedroschene Anschuldigung, die Marxsche Geschichtstheoriesei Fatalismus, die auch Bernstein wiederholt, wird schon durch die ele-mentarsten Grundsätze dieser Theorie widerlegt. Man könne nicht allesauf die Entwicklung der Produktivkräfte zurückführen, sagt Bernstein.Man müsse auch anderen Faktoren „Rechnung tragen". — Sehr richtig,antwortet Kautsky, das aber muß doch jeder Forscher tun, von welcherGeschichtsauffassung er sich auch leiten lassen möge. Wer uns veran-lassen will, auf die Marxsche Methode zu verzichten, eine Methode, diesich in der Praxis so glänzend bewährt hat und sich weiterhin bewährt,dem bleiben nur zwei Wege: Entweder er sagt sich überhaupt von derIdee der Gesetzmäßigkeit, der Notwendigkeit des historischen Prozesseslos, und dann wirft er also alle Versuche einer wissenschaftlichen Begrün-dung der Soziologie über Bord. Oder er muß zeigen, auf welche Weiseman aus anderen Faktoren (zum Beispiel ethischen Anschauungen) dieNotwendigkeit des historischen Prozesses ableiten kann — er muß dasdurch eine Analyse zeigen, die wenigstens entfernt einen Vergleich mitder Marxschen Analyse im „Kapital" aushalten kann. Bernstein machtnicht den geringsten Versuch, das zu tun, er beschränkt sich vielmehr aufden inhaltslosen Gemeinplatz, man müsse anderen Faktoren „Rechnungtragen", wobei er fortfährt, in seinem Buch die alte materialistische Me-thode anzuwenden, als ob er sie nicht eben erst für unzulänglich erklärthätte! Stellenweise wendet Bernstein sogar, wie Kautsky zeigt, diese Me-thode in einer ganz unzulässig groben und einseitigen Weise an! Weiterrichten sich die Beschuldigungen Bernsteins gegen die Dialektik, die an-geblich zu willkürlichen Konstruktionen usw. usf. führt. Bernstein wieder-holt diese Phrasen (die auch dem russischen Leser schon zum Halseheraushängen), ohne sich im geringsten um den Nachweis zu bemühen,

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Rezension über das Budh von X. Kautsky 189

worin die Unrichtigkeit der Dialektik bestehen soll — ob sich Hegel oderMarx und Engels methodologischer Fehler (und welcher) schuldig ge-macht haben. Das einzige, womit Bernstein seine Meinung zu recht-fertigen und zu untermauern sucht, ist die Bemerkung, eines der ab-schließenden Unterkapitel des „Kapitals" (über die geschichtliche Ten-denz der kapitalistischen Akkumulation) sei „tendenziös". Diese An-schuldigung ist in höchstem Grade abgegriffen: sie wurde von EugenDühring, Julius Wolf und vielen anderen in Deutschland erhoben, siewurde (fügen wir von uns aus hinzu) von Herrn J. Shukowski in densiebziger Jahren und Herrn N. Michailowski in den neunziger Jahren er-hoben — von demselben Herrn Michailowski, der seinerzeit HerrnJ. Shukowski wegen dieser Anschuldigung der Akrobatik bezichtigte.Und welchen "Beweis führt Bernstein nun zur Bestätigung dieses abge-droschenen Unsinns an? Nur den folgenden: Marx sei an die „Unter-suchung" mit bereits vorher fertigen Resultaten herangegangen, denndas „Kapital" komme 1867 zu derselben Schlußfolgerung, zu der Marxschon in den vierziger Jahren gekommen war. Ein solcher „Beweis" kommteiner Fälschung gleich — antwortet Kautsky —, denn Marx gründete seineSchlußfolgerungen nicht auf eine, sondern auf zwei Untersuchungen,worauf er in dem Vorwort seiner Schrift „Zur Kritik"* auch mit allerBestimmtheit hinweist (siehe russische Übersetzung „Kritik einiger Grund-sätze der politischen Ökonomie"62). Die erste Untersuchung erfolgte inden vierziger Jahren, nach dem Ausscheiden von Marx aus der Redak-tion der „Rheinischen Zeitung". Marx schied aus der Redaktion aus, weiler über materielle Interessen mitsprechen sollte, sich aber darüber klarwar, hierzu nicht genügend vorbereitet zu sein. Von der öffentlichenBühne — schrieb Marx über sich selbst — zog ich mich in die Studierstubezurück. Also (betont Kautsky mit einem Wink an Bernsteins Adresse)hielt Marx, als in ihm Zweifel auftauchten an der Richtigkeit seiner Ur-teile über die materiellen Interessen, an der Richtigkeit der damals herr-schenden Anschauungen über diese Frage, seine Zweifel nicht für sowichtig, um ein ganzes Buch darüber zu schreiben, um alle und jedendavon zu unterrichten. Nein, Marx machte sich ans Studium, um vomZweifel an den alten Anschauungen zu positiven neuen Anschauungenzu gelangen. Er begann die französischen Gesellschaftstheorien und die

* „Zur Kritik der politischen Ökonomie". Die Red.

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englische politische Ökonomie zu studieren. Er näherte sich Engels, derdamals den tatsächlichen Zustand der Volkswirtschaft Englands eingehendstudierte. Das Ergebnis dieser gemeinsamen Arbeit, dieser ersten Unter-suchung waren die bekannten Schlußfolgerungen, die beide Schriftstellermit voller Bestimmtheit Ende der vierziger Jahre darlegten.63 Im Jahre1850 ließ Marx sich in London nieder, und die dortigen, wissenschaft-licher Arbeit günstigen Lebensbedingungen bestimmten ihn, „ganz vonvorn wieder anzufangen und mich durch das neue Material kritisch durch-zuarbeiten". („Kritik einiger Grundsätze", 1. Auflage, Seite XI.6* Her-vorgehoben von uns.) Die Frucht dieser zweiten Untersuchung, die einelange Reihe von Jahren in Anspruch nahm, waren die Werke: „ZurKritik" (1859) und „Das Kapital" (1867). Die Schlußfolgerung, zu derdas „Kapital" gelangte, stimmt mit der früheren Schlußfolgerung dervierziger Jahre überein, weil die zweite Untersuchung die Ergebnisse derersten bestätigte. „Meine Ansichten, wie man sie immer beurteilen mag",sind „das Ergebnis gewissenhafter und langjähriger Forschung", schriebMarx im Jahre 1859 (ebenda, S. XII).65 Sieht das, fragt Kautsky, nachSchlußfolgerungen aus, die fertig waren, lange bevor die Untersuchungbegann?

Von der Frage der Dialektik geht Kautsky zur Frage des Wertes über.Bernstein behauptet, daß die Marxsche Theorie nicht abgeschlossen sei,daß sie viele, „keineswegs völlig aufgeklärte" Probleme offenlasse.Kautsky denkt nicht daran, das zu bestreiten: die Marxsche Theorie istnicht das letzte Wort der Wissenschaft, sagt er. Die Geschichte bringtsowohl neue Tatsachen als auch neue Forschungsmethoden hervor, dieeine Weiterentwicklung der Theorie erfordern. Wenn Bernstein den Ver-such gemacht hätte, sich neuer Tatsachen und neuer Forschungsmethodenzur Weiterentwicklung der Theorie zu bedienen, so wären ihm alle dank-bar. Aber daran denkt Bernstein gar nicht, er beschränkt sich vielmehrauf billige Ausfälle gegen die Schüler von Marx und auf völlig unklare,rein eklektische Bemerkungen wie die, daß die Grenznutzentheorie derGossen-Jevons-Böhmschen Schule nicht weniger richtig sei als die Marx-sche Theorie des Arbeitswertes. Beide Theorien behalten für verschiedeneZwecke ihre Bedeutung—sagt Bernstein—, denn Böhm-Bawerk hat a prioriein ebensolches Recht, von der Eigenschaft der Waren, durch Arbeiterzeugt zu sein, zu abstrahieren, wie Marx von der Eigenschaft der

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Rezension über das Budh von X. Xautsky 191

Waren, Gebrauchswert zu sein. Kautsky erklärt, daß es völliger Unsinnist, zwei gegensätzliche, einander ausschließende Theorien als für ver-schiedene Zwecke geeignet anzusehen (wobei Bernstein nicht sagt, fürwelche Zwecke die eine oder die andere Theorie geeignet ist). Die Frageist überhanpt nicht, von welcher Eigenschaft der Waren wir a priori (vonHause aus*) abstrahieren dürfen, sondern, wie die Grunderscheinungen dergegenwärtigen, auf Produktenaustausch beruhenden Gesellschaft, wie derWert der Waren, die Funktion des Geldes usw. zu erklären sind. Magdie Marxsche Theorie noch eine Reihe ungeklärter Probleme offenlassen,die Werttheorie Bernsteins aber ist ganz gewiß ein völlig ungeklärtesProblem. Bernstein zitiert weiterhin Buch, der den Begriff der „Grenz-dichtigkeit" der Arbeit konstruiert hat; Bernstein gibt jedoch weder einevollständige Darstellung der Ansichten Buchs noch eine bestimmte Er-klärung über seine eigene Meinung in dieser Frage. Buch aber verwickeltsich offensichtlich in Widersprüche, wenn er den Wert vom Arbeitslohnund den Arbeitslohn vom Wert abhängig macht. Da Bernstein denEklektizismus seiner Bemerkungen über den Wert empfindet, so versuchter, die Eklektik überhaupt zu verteidigen. Er bezeichnet sie als die „Re-bellion des nüchternen Verstandes gegen die jeder Doktrin innewohnendeNeigung, den Gedanken in spanische Stiefel einzuschnüren". Wenn sichBernstein die Geschichte der geistigen Entwicklung vergegenwärtigt — ant-wortet Kautsky —, so wird er finden, daß die großen Rebellen gegen dieEinschnürung des Geistes in spanische Stiefel niemals Eklektiker waren,daß ihnen immer das Streben nach Einheit, nach Geschlossenheit derAnschauungen eigen war. Der Eklektiker dagegen ist viel zu schüchtern,um eine Rebellion zu wagen. Wenn ich eine höfliche Verbeugung vorMarx und zu gleicher Zeit eine höfliche Verbeugung vor Böhm-Bawerkmache, so ist das noch lange keine Rebellion! Möge man mir, sagt Kaut-sky, auch nur einen einzigen Eklektiker in der Republik der Geisternennen, der den Namen eines Rebellen verdient!

Von der Methode zu den Ergebnissen der Anwendung der Methodekommend, geht Kautsky auf die sogenannte Zusammenbruchstheorie*ein, die Theorie des plötzlichen Krachs des westeuropäischen Kapitalis-mus, eines Krachs, den Marx für unvermeidlich gehalten und mit einergewaltigen Wirtschaftskrise verknüpft haben soll. Kautsky erklärt und

* Diese Worte bei Lenin deutsch. Der Tibers.

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beweist, daß Marx und Engels niemals eine besondere Zusammenbruchs-theorie* aufgestellt, daß sie den Zusammenbruch* nicht unbedingt miteiner Wirtschaftskrise verknüpft haben. Das ist eine Entstellung der Geg-ner, die die Marxsche Theorie einseitig auslegen, die sinnlos einzelneStellen aus einzelnen Werken herausgreifen, um dann die „Einseitigkeit"und „Grobheit" der Theorie siegreich zu widerlegen. In Wirklichkeitmachten Marx und Engels die Umgestaltung der ökonomischen Verhält-nisse Westeuropas abhängig von der Reife und Macht der von der neue-sten Geschichte Europas in den Vordergrund gerückten Klassen. Bernsteinversuchte die Behauptung aufzustellen, dies sei nicht die Theorie vonMarx, sondern ihre Auslegung und Erweiterung durch Kautsky,- Kautskyaber widerlegte durch genaue Zitate aus den Marxschen Werken dervierziger und sechziger Jahre sowie durch eine Analyse der Grundideendes Marxismus völlig diesen wirklich rabulistischen Winkelzug Bernsteins,der die Schüler von Marx mit solcher Dreistigkeit der „Apologetik undRabulistik" beschuldigte. Diese Stelle in Kautskys Buch ist besondersinteressant, um so mehr, als einige russische Schriftsteller (zum BeispielHerr Bulgakow in der Zeitschrift „Natschalo") es sehr eilig hatten, die er-wähnte Entstellung der Marxschen Theorie, die Bernstein als „Kritik"servierte, zu wiederholen (diese Entstellung wiederholt auch Herr Proko-powitsch in seinem Buch „Die Arbeiterbewegung im Westen", St. Peters-burg 1899).

Besonders eingehend untersucht Kautsky die Grundtendenzen der heu-tigen ökonomischen Entwicklung, um die Meinung Bernsteins zu wider-legen, daß diese Entwicklung nicht in der von Marx charakterisiertenRichtung verlaufe. Es versteht sich von selbst, daß das Kapitel „Groß-betrieb und Kleinbetrieb" sowie die anderen Kapitel des KautskyschenBuches, die der ökonomischen Analyse gewidmet sind und ein ziemlichumfangreiches Zahlenmaterial enthalten, hier nicht ausführlich dargelegtwerden können, so daß wir uns darauf beschränken müssen, kurz aufihren Inhalt hinzuweisen. Kautsky unterstreicht, daß nur von der Rich-tung der Entwicklung im großen und ganzen die Rede ist, keineswegsaber von Einzelheiten und an der Oberfläche liegenden Erscheinungen, diein ihrer Vielgestaltigkeit von keiner Theorie berücksichtigt werden können.(Diese einfache, aber oft vergessene Wahrheit bringt auch Marx in den

* Diese Worte bei Lenin deutsch. Der Tibers.

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Rezension über das Buch von 7C. 'Kautsky 193

entsprechenden Kapiteln des „Kapitals" dem Leser in Erinnerung.) Durcheine ausführliche Analyse der Daten der deutschen Berufs- und Betriebs-zählungen von 1882 und 1895 zeigt Kautsky, daß diese Daten die Marx-sche Theorie glänzend bestätigt und den Prozeß der Konzentration desKapitals und der Verdrängung des Kleinbetriebs außer jeden Zweifel ge-stellt haben. Bernstein selbst erkannte noch 1896 (als er selbst noch —bemerkt Kautsky ironisch — zu der Zunft der Apologeten und Rabulistengehörte) in voller Entschiedenheit diese Tatsache an, jetzt aber übertreibter die Stärke und Bedeutung des Kleinbetriebs maßlos. Zum Beispiel gibtBernstein die Zahl der Betriebe, die weniger als 20 Arbeiter beschäftigen,mit mehreren Hunderttausend an, wobei er „offenbar in seinem Eifer umeine pessimistische Null zuviel sieht", denn derartige Betriebe gibt es inDeutschland nur 49000. Und wen rechnet dabei die Statistik nicht alleszu den kleinen Unternehmern: Droschkenkutscher, Boten, Totengräber,Obstfrauen, Näherinnen, auch wenn diese bei sich zu Hause für denKapitalisten arbeiten, usw. usf.! Hervorheben wollen wir die in theoreti-scher Hinsicht besonders wichtige Bemerkung Kautskys, nach der diekleinen Handels- und Gewerbebetriebe (in der Art der obengenannten)in der kapitalistischen Gesellschaft oft nur eine Form der relativen Über-völkerung darstellen: ruinierte Kleinproduzenten sowie Arbeiter, diekeine Beschäftigung finden, werden (manchmal zeitweise) zu Kleinhänd-lern und Hausierern, zu Zimmer- und Schlafstellenvermietern (auch dassind „Unternehmungen", die von der Statistik ebenso wie Unternehmun-gen jeder anderen Art registriert werden!) usw. Die Uberfüllung dieserBerufe beweist keineswegs die Lebenskraft des Kleinbetriebs, sondern dasAnwachsen der Armut in der kapitalistischen Gesellschaft. Bernstein aberbetont und übertreibt die Bedeutung der Meinen „Gewerbetreibenden",wenn das seiner Meinung nach für ihn spricht (in der Frage des Groß-und Kleinbetriebs), und schweigt von ihnen, wenn das gegen ihn spricht(in der Frage der zunehmenden Armut).

Bernstein wiederholt das auch dem rassischen Publikum längst bekannteGerede, daß die Aktiengesellschaften es „erlauben", das Kapital zu zer-splittern, daß sie seine Konzentration „überflüssig" machen; er führteinige Angaben (vgl. „Shisn" Nr. 3 von 1899) über die Zahl der Klein-aktien an. Kautsky antwortet, daß diese Zahlen überhaupt nichts be-weisen, denn die Kleinaktien Verschiedener Gesellschaften können das

13 Lenin, Werke, Bd. 4

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Eigentum von Großkapitalisten sein (was auch Bernstein zugeben muß).Zur Bestätigung der Behauptung, die Aktiengesellschaften vergrößertendie Zahl der Besitzenden, führt Bernstein absolut keinerlei Beweise an,und er kann das auch nicht, denn die Aktiengesellschaften äienen inWirklichkeit dazu, das leichtgläubige und weniger vermögende Publikumzum Nutzen der großen Kapitalisten und Spekulanten zu expropriieren.Die steigende Zahl der Aktien weist lediglich darauf hin, daß der Reich-tum die Tendenz hat, die Form der Aktie anzunehmen, über die Vertei-lung dieses Reichtums aber sagt dieses Ansteigen gar nichts, überhaupthat Bernstein die Frage der Zunahme der Zahl der Besitzenden, der Zahlder Eigentümer erstaunlich leichtfertig behandelt, was aber seine bürger-lichen Anhänger nicht hinderte, gerade diesen Teil seines Buches heraus-zustreichen und zu verkünden, er beruhe auf einem „kolossalen Zahlen-material". Bernstein erwies sich als so geschickt, bemerkt Kautsky ironisch,daß er dieses kolossale Material auf nicht ganz zwei Druckseiten unter-gebracht hat! Er verwechselt Besitzende und Kapitalisten, obwohl dieZunahme der Zahl der letzteren von niemand bestritten wurde. Er nimmtDaten über die Einkommensteuer, ignoriert aber ihren fiskalischen Cha-rakter und die Vermischung von Einkommen aus Besitz mit Einkommenaus Gehalt usw. Er vergleicht statistische Zahlen aus verschiedenen Zei-ten, die auf verschiedene Art zustande gekommen und daher nicht ver-gleichbar sind (z. B. über Preußen). Er geht sogar so weit, Angaben überdie wachsende Zahl der Besitzenden in England dem Feuilleton irgend-eines Boulevardblättchens zu entnehmen, das das Jubiläum der KöniginViktoria besingt und mit der Statistik nee plus ultra* leichtfertig verfährt(und bringt diese Zahlen sogar in Fettdruck, als seinen Haupttrumpf!).Die Quelle dieser Angaben ist unbekannt, ja, es ist überhaupt unmöglich,derartige Angaben auf Grund von Daten über die englische Einkommen-steuer zu erhalten, denn aus diesen Daten lassen sidi die Anzahl derSteuerzahler und das Gesamteinkommen jedes Steuerzahlers nicht be-stimmen. Kautsky entnimmt einem Buche Kolbs Angaben über die eng-lische Einkommensteuer für die Jahre 1812—1847 und zeigt, daß sie ganzebenso wie die Feuilletondaten Bernsteins eine (scheinbare) Zunahme derZahl der Besitzenden zeigen — und das in einer Zeit, in der in Englanddas furchtbarste Elend des Volkes ungeheuerlich zunahm. Die eingehende

* in höchstem Maße. Die Red.

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Rezension über das Buch von X.Xautsky 195

Analyse der Angaben Bernsteins bringt Kautsky zu der Schlußfolgerung,daß Bernstein nicht eine einzige Zahl angeführt hat, die wirklich eine Zu-nahme der Zahl der Besitzenden beweist.

Bernstein versucht diese Erscheinung auch theoretisch abzuleiten: DieKapitalisten können, so sagt er, doch nicht den gesamten Mehrwert, des-sen Menge so kolossal anwächst, selbst verzehren; also wächst die Zahlder Besitzenden, die ihn konsumieren. Es kostet Kautsky keine großeMühe, diesen komischen Gedankengang zu widerlegen, der die MarxscheRealisationstheorie völlig ignoriert (in der russischen Literatur wurdediese Theorie bereits mehrmals dargelegt). Besonders interessant ist, daßihn Kautsky nicht nur durch theoretische Erwägungen widerlegt, sondernauch durch konkrete Angaben, die vom Wachstum des Luxus und derVerschwendung in den westeuropäischen Ländern zeugen, von dem Ein-fluß der schnell wechselnden Mode, die diesen Prozeß so verschärft, vonder Masse der Arbeitslosen, von dem gewaltigen Anwachsen der „produk-tiven Konsumtion" des Mehrwerts, d. h. der Anlage von Kapital inneuen Unternehmen, besonders von europäischem Kapital in Eisenbahnenund anderen Unternehmungen in Rußland, Asien und Afrika.

Bernstein erklärt die Marxsche „Elendstheorie" oder „Verelendungsrtheorie" für allgemein aufgegeben. Kautsky zeigt, daß es sich hier wiederum eine verfälschende Übertreibung der Gegner handelt und Marx einederartige Theorie überhaupt nicht aufgestellt hat. Marx sprach von derZunahme des Elends, der Erniedrigung usw., wobei er zugleich auch aufdie entgegenwirkende Tendenz und auf die realen gesellschaftlichen Kräftehinwies, die allein imstande sind, diese Tendenz hervorzurufen. DieMarxschen Worte von der Zunahme des Elends werden durch die Tat-sachen voll und ganz bestätigt: erstens sehen wir wirklich, daß der Kapi-talismus die Tendenz hat, Elend zu erzeugen und es zu verstärken, einElend, das gewaltige Ausmaße erreicht, wenn die obenerwähnte entgegen-wirkende Tendenz fehlt. Zweitens wächst das Elend nicht im physischen,sondern im sozialen Sinne, d. h. in dem Sinne, daß das steigende Ni-veau der Bedürfnisse der Bourgeoisie und der Bedürfnisse der ganzenGesellschaft im Mißverhältnis steht zum Lebensniveau der werktätigenMassen. Bernstein bemerkte zu einer solchen Auffassung des „Elends"ironisch, daß das sozusagen eine Auffassung im Pickwickschen Sinne sei.Kautsky zeigt als Entgegnung hierauf, daß Männer wie Lassalle, Rod-

13*

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bertus, Engels mit völliger Bestimmtheit auf die Notwendigkeit hinge-wiesen haben, den Begriff des Elends nicht nur im physischen, sondernauch im sozialen Sinne aufzufassen. Im „Klub der Pickwickier" — parierter die Ironie Bernsteins — versammelt sich, wie ihr seht, keine so übleGesellschaft! Drittens schließlich behalten die Worte von der Zunahmedes Elends ihre ganze Richtigkeit in bezug auf die „Grenzgebiete" desKapitalismus, wobei man das Wort Grenze sowohl im geographischenSinne (Länder, in die der Kapitalismus eben einzudringen beginnt, wobeier oft nicht nur physisches Elend, sondern auch direkten Hunger für dieMasse der Bevölkerung hervorruft) wie auch im ökonomischen Sinne(Hausindustrie und überhaupt Volkswirtschaftszweige, in denen nochrückständige Produktionsweisen erhalten sind) auffassen muß.

Äußerst interessant und besonders lehrreich für uns Russen ist auchdas Kapitel „Der neue Mittelstand". Hätte Bernstein nur sagen wollen,daß an Stelle der untergehenden kleinen Produzenten ein neuer Mittel-stand — die Intelligenz — entsteht, so hätte er, sagt Kautsky, recht gehabt.Kautsky weist darauf hin, daß er schon vor einigen Jahren die große Be-deutung dieser Erscheinung hervorgehoben hat. Der Kapitalismus erhöhtauf allen Gebieten der Volksarbeit mit besonderer Schnelligkeit die Zahlder Angestellten, seine Nachfrage nach Angehörigen der Intelligenz wirdimmer größer. Diese letztere nimmt unter den anderen Klassen eine eigen-artige Stellung ein, sie schließt sich teilweise — ihren Verbindungen, ihrenAnschauungen usw. nach — der Bourgeoisie an und teilweise — in demMaße, wie der Kapitalismus den Intellektuellen immer mehr und mehrseiner selbständigen Stellung beraubt, ihn in einen abhängigen besoldetenAngestellten verwandelt und sein Lebensniveau zu senken droht — denLohnarbeitern. Die labile, widerspruchsvolle Übergangsstellung der hierbetrachteten Gesellschaftsschicht kommt darin zum Ausdruck, daß jenezwieschlächtigen, eklektischen Anschauungen unter ihr besonders weitverbreitet sind, jener Mischmasch entgegengesetzter Prinzipien und An-sichten, jenes Bestreben, sich in Worten in die erhabensten Sphären zuerheben und die Konflikte der historischen Bevölkerungsgruppen durchPhrasen zu vertuschen — Anschauungen, die Marx vor einem halbenJahrhundert mit seinen Sarkasmen so schonungslos geißelte.

In dem Kapitel über die Krisentheorie zeigt Kautsky, daß Marx keines-wegs eine „Theorie" vom zehnjährigen Zyklus der Industriekrisen auf-

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Rezension über das Budb von JC.Xauisky 197

gestellt, sondern lediglich eine Tatsache konstatiert hat. Daß dieser Zyklussich in letzter Zeit ändert, ist von Engels selbst festgestellt worden. Manbehauptet, die Unternehmerkartelle könnten den Krisen entgegenwirken,indem sie die Produktion einschränken und regulieren. Nun, Amerika istdoch ein Land der Kartelle — aber statt einer Einschränkung finden wirdort ein gewaltiges Ansteigen der Produktion. Ferner, wenn die Kartelledie Produktion für den inneren Markt einschränken, erweitern sie dieProduktion für den äußeren Markt, auf dem sie die Waren zu Schleuder-preisen absetzen, während sie den einheimischen Verbrauchern Monopol-preise abnehmen. Unter dem Schutzzollsystem ist dieses Verfahren un-vermeidlich, auf eine Ablösung des Schutzzollsystems durch das Systemdes Freihandels zu rechnen, besteht aber keinerlei Grund. Indem die Kar-telle die kleinen Fabriken schließen, die Produktion konzentrieren undmonopolisieren, technische Neuerungen einführen, verschlechtern sie be-deutend die Lage der Produzenten. Bernstein glaubt, die Spekulation, diezu Krisen führt, werde in dem Maße schwächer werden, wie die Bedin-gungen des Weltmarkts aus unwißbaren zu wißbaren und bekannten Be-dingungen werden; er vergißt aber, daß gerade die „unwißbaren" Be-dingungen der neuen Länder der Spekulation in den alten Ländern einenmächtigen Auftrieb geben. Kautsky zeigt an Hand von statistischen Datendas Anwachsen der Spekulation besonders in den letzten Jahren sowiedie Zunahme der Anzeichen, die eine Krise in nicht sehr ferner Zeitvoraussagen.

Aus dem restlichen Teil des Kautskyschen Buches erwähnen wir dieAnalyse jener Verwirrung, in die Leute geraten, die (ähnlich wie HerrS. Prokopowitsch in dem angeführten Werk) die ökonomische Macht be-stimmter Gruppen mit ihren ökonomischen Organisationen verwechseln;wir erwähnen den Hinweis Kautskys, daß Bernstein Bedingungen dergegenwärtigen historischen Situation von nur begrenzter Dauer zu einemallgemeinen Gesetz erhebt — die Widerlegung der falschen AnsichtenBernsteins über das Wesen der Demokratie—; ferner die Klarstellung einesstatistischen Fehlers bei Bernstein, der die Zahl der Industriearbeiter inDeutschland mit der Zahl der Wähler verglich, dabei aber die Kleinigkeitvergessen hat, daß in Deutschland nicht alle Arbeiter (sondern nur Män-ner, die mindestens 25 Jahre alt sind) das Stimmrecht haben und daß sichnicht alle an den Wahlen beteiligen. Wir können dem Leser, der sich für

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die Bedeutung des Bernsteinschen Buches und die Polemik, die es hervor-gerufen hat, interessiert, nur mit allem Nachdruck empfehlen, zu der deut-schen Literatur zu greifen und keinesfalls jenen voreingenommenen undeinseitigen Urteilen der Anhänger der Eklektik zu vertrauen, die in derrussischen Literatur dominieren. Wir haben gehört, daß beabsichtigt ist,einen Teil des behandelten Kautskyschen Buches ins Russische zu über-tragen. Das wäre sehr wünschenswert, ersetzt jedoch nicht die Bekannt-schaft mit dem Original.

Qesdhrieben Ende 1899.

Zuerst veröffentlicht 1928 im TJadb dem Manuskript.Lenin-Sammelband VII.

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ARTIKEL FÜR DIE „RABOTSCHAJA GASETA"66

Qesdhrkben im zweiten "Halbjahr 1899.

Zuerst veröflentlidot 1925 im Tiado Abschriften vonLenin-Sammelband III. unbekannter Wand.

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201

BRIEF AN DIE REDAKTEURGRUPPE

Werte Genossen!Ihrem Ersuchen entsprechend schicke ich drei Artikel für die Zeitung,

dabei halte ich es für notwendig, einige Worte über meine Mitarbeit über-haupt und den Verkehr zwischen uns im besonderen zu sagen.

Auf Grund Ihrer vorigen Mitteilung hatte ich mir die Sache so vor-gestellt, daß Sie eine Verlagsfirma gründen und mir die Redigierung einerSerie sozialdemokratischer Broschüren überlassen wollten.

Jetzt sehe ich, daß die Sache anders organisiert wird, daß Sie eineeigene Redaktion gegründet haben, die mit der Herausgabe einer Zeitungbeginnt und mich zur Mitarbeit einlädt.

Ich stimme selbstverständlich auch diesem Vorschlag gern zu, muß je-doch dabei sagen, daß ich eine erfolgreiche Mitarbeit nur unter den fol-genden Bedingungen für möglich halte: 1. Ordnungsgemäßer Verkehr derRedaktion mit dem Mitarbeiter, der über das Schicksal aller Manuskripte(Annahme, Ablehnung, Änderung) in Kenntnis gesetzt werden muß unddem alle Veröjfentlidbungen "ihrer Txrma mitgeteilt werden müssen,-2. Zeichnung meiner Artikel mit einem besonderen Pseudonym (wenn dasvon mir eingesandte verlorengegangen ist, so wählen Sie selbst ein be-liebiges aus); 3. Übereinstimmung zwischen Redaktion und Mitarbeiterin den grundlegenden Ansichten über theoretische Fragen, die nächstenpraktischen Aufgaben und den Charakter der wünschenswerten Beschaf-fenheit der Zeitung (bzw. der Broschürenserie).

Ich hoffe, daß die Redaktion diesen Bedingungen zustimmen wird, undgehe, um recht bald eine Verständigung zwischen uns herbeizuführen,gleich jetzt auf die Fragen kurz ein, die mit der dritten Bedingung zu-sammenhängen.

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202 IV J.Lenin

Sie finden, wie mir geschrieben wird, daß die „alte Strömung stark ist"und daß keine besondere Notwendigkeit vorliegt, gegen die Bernsteiniadeund ihre russischen Widerspiegelungen zu polemisieren. Ich halte dieseAnsicht für zu optimistisch. Bernsteins öffentliche Erklärung, die Mehrheitder russischen Sozialdemokraten sei mit ihm einverstanden67; die Spal-tung zwischen den „jungen" russischen Sozialdemokraten im Auslandund der Gruppe „Befreiung der Arbeit" cs, die sowohl die Gründerin alsauch die Vertreterin und treueste Hüterin der „alten Strömung" ist; dieAnstrengungen der „Rabotschaja Mysl", nur ja irgendein neues Wort zusagen, gegen die „umfassenden" politischen Aufgaben zu kämpfen, diekleinen Angelegenheiten und dieHandwerlderei zu verherrlichen, über die„revolutionären Theorien" fad zu ironisieren (Nr. 7, „Im Vorbeigehen");schließlich die völlige Zerfahrenheit der legalen marxistischen Literaturund das eifrige Bestreben des Gros ihrer Vertreter, die modische „Kritik"der Bernsteinianer zu übernehmen — all das zeigt meiner Ansicht nachklar, daß die Wiederherstellung der „alten Strömung" und ihre ener-gische Verteidigung geradezu die Forderung des Tages ist.

Wie ich die Aufgabe der Zeitung und den Plan ihrer Leitung auffasse,werden Sie aus den Artikeln ersehen, und ich möchte sehr gern wissen,inwieweit wir in dieser Frage solidarisch sind (die Artikel sind leider etwashastig geschrieben: es wäre für midi überhaupt sehr widitig, die äußer-sten Termine für die Ablieferung der Artikel zu kennen).

Gegen die „Rabotschaja Mysl", glaube ich, muß direkt die "Polemik er-öffnet werden, zu diesem Zweck aber würde ich bitten, mir die Num-mern 1/2, 6 und ab 8, außerdem den „Proletarischen Kampf"69 zu be-sorgen. Die letztere Broschüre brauche ich auch, um sie in der Zeitungzu rezensieren.

Was die Länge betrifft, schreiben Sie, soll ich mir keinen Zwang auf-erlegen. Ich gedenke, solange eine Zeitung da ist, Zeitungsartikeln denVorzug zu geben und in ihnen sogar Broschürenthemen zu behandeln,wobei idi es mir vorbehalte, diese Artikel dann später zu kleinen Bro-sdiüren umzuarbeiten. Die Themen, mit denen ich mich in nächster Zu-kunft zu befassen gedenke, sind folgende: 1. der Programmentwurf —ich schicke den Artikel bald70; 2. Fragen der Taktik und der Organisation,die vom kommenden Parteitag der Sozialdemokratisdien ArbeiterparteiRußlands71 zu erörtern sein werden; 3. eine Broschüre über Verhaltungs-

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"Brief an die Redakteurgruppe 203

maßregeln für Arbeiter und Sozialisten in der Freiheit, im Gefängnis undin der Verbannung. Nach dem Muster der polnischen Broschüre („Ver-haltungsmaßregeln" — ich würde bitten, sie mir, wenn möglich, zu be-sorgen); 4. über Streiks (I — ihre Bedeutung, II — die Streikgesetze,III — Übersicht über einige Streiks der letzten Jahre); 5. eine Broschüre„Die Frau und die Arbeitersache" und anderes.

Wünschenswert wäre es, ungefähr zu wissen, über welches Material dieRedaktion verfügt, um Wiederholungen zu vermeiden und keine Fragenin Angriff zu nehmen, die schon „erschöpfend" behandelt wurden.

Ich erwarte die Antwort der Redaktion durch die gleiche übermit-lungsinstanz. (Außer diesem Weg hatte und habe idn keinen anderen Wegzu Ihrer Qruppe.)

7.TJ-

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204

UNSER PROGRAMM

Die internationale Sozialdemokratie macht gegenwärtig ideologischeSchwankungen durch. Bisher galten die Lehren von Marx und Engels alsdie feste Grundlage der revolutionären Theorie—nunmehr werden überallStimmen laut, diese Lehren seien unzulänglich und veraltet. Wer sicheinen Sozialdemokraten nennt und mit einem sozialdemokratischen Or-gan an die Öffentlichkeit treten will, muß seine Haltung zu dieser Frage,die bei weitem nicht nur die deutschen Sozialdemokraten allein bewegt,

' genau bestimmen.Wir stehen völlig auf dem Boden der Marxschen Theorie: erst sie hat

den Sozialismus aus einer Utopie zur Wissenschaft gemacht, hat dieseWissenschaft auf feste Grundlagen gestellt und den Weg vorgezeichnet,der beschritten werden muß, um diese Wissenschaft weiterzuentwickelnund in allen Einzelheiten auszuarbeiten. Sie hat das Wesen der modernenkapitalistischen Wirtschaft aufgedeckt, indem sie klarstellte, auf welcheWeise die Versklavung von Millionen Besitzloser durch eine HandvollKapitalisten, die den Grund und Boden, die Fabriken, die Bergwerke usw.besitzen, durch die Lohnarbeit, den Kauf der Arbeitskraft, verhüllt wird.Sie hat gezeigt, daß die ganze Entwicklung des modernen Kapitalis-mus dahin geht, den Kleinbetrieb durch den Großbetrieb zu verdrängen,und Bedingungen schafft, die eine sozialistische Gesellschaftsordnung mög-lich und notwendig machen. Sie hat gelehrt, unter der Hülle eingewurzel-ter Sitten, politischer Intrigen, verzwickter Gesetze, schlau erdachterLehren den 'Klassenkampf zu sehen, den Kampf zwischen den besitzendenKlassen aller Art und der Masse der Besitzlosen, dem Proletariat, das ander Spitze aller Besitzlosen steht. Sie hat die wirkliche Aufgabe der

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Unser Programm 205

revolutionären sozialistischen Partei klargelegt: nicht Pläne zur Umge-staltung der Gesellschaft zu erfinden, nicht den Kapitalisten und ihrenLakaien Predigten zu halten über eine Verbesserung der Lage der Arbei-ter, nicht Verschwörungen anzuzetteln, sondern den Klassenkampf desProletariats zu organisieren und diesen "Kampf zu leiten, dessen Endzieldie Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat und die Orga-nisierung der sozialistischen Gesellschaft ist.

Und nun fragen wir: Was haben denn jene großmäuligen „Erneuerer"der Theorie, die sich um den deutschen Sozialisten Bernstein gruppierenund gegenwärtig einen solchen Lärm schlagen, Neues zu dieser Theoriebeigetragen? Rein gar nichts: sie haben die Wissenschaft, deren Weiter-entwicklung uns das Vermächtnis von Marx und Engels zur Pflicht macht,nicht um einen Schritt vorwärtsgebracht; sie haben das Proletariat keineneuen Kampfmethoden gelehrt; sie sind lediglich zurückgegangen, habenBruchstücke rückständiger Theorien übernommen und predigen dem Pro-letariat keine Theorie des Kampfes, sondern eine Theorie der Nachgiebig-keit, der Nachgiebigkeit gegenüber den ärgsten Feinden des Proletariats,den Regierungen und den bürgerlichen Parteien, die nicht müde werden,neue Mittel zur Hetze gegen die Sozialisten ausfindig zu machen. Plecha-now, einer der Begründer und Führer der russischen Sozialdemokratie,hatte durchaus recht, als er schonungslose Kritik an der neuesten „Kritik"Bernsteins73 übte, dessen Ansichten jetzt auch von den Vertretern derdeutschen Arbeiter (auf dem Parteitag in Hannover74) abgelehnt wurden.

Wir wissen, daß dieser Worte wegen eine Menge Anschuldigungen aufuns niederprasseln werden; man wird schreien, wir wollten die soziali-stische Partei in einen Orden „Rechtgläubiger" verwandeln, der die„Ketzer" wegen Abweichung vom „Dogma", wegen jeder selbständigenMeinung verfolge usw. Wir kennen alle diese effektvollen modischen Phra-sen. Nur enthalten sie nicht ein Gran Wahrheit und nicht ein Gran Ver-nunft. Es kann keine starke sozialistische Partei geben, wenn es keine revo-lutionäre Theorie gibt, die alle Sozialisten vereinigt, aus der sie all ihreÜberzeugungen schöpfen und die sie auf die Methoden ihres Kampfesund ihrer Tätigkeit anwenden; wenn man eine solche Theorie, die man nachbestem Wissen für richtig hält, vor unbegründeten Angriffen und Ver-suchen, sie zu verschlechtern, schützt, so heißt das noch keineswegs, einFeind jeder Kritik zu sein. Wir betrachten die Theorie von Marx keines-

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206 W. 1. Lenin

wegs als etwas Abgeschlossenes und Unantastbares; wir sind im Gegenteildavon überzeugt, daß sie nur das Fundament der Wissenschaft gelegt hat,die die Sozialisten nach allen Richtungen weiterentwickeln müssen, wennsie nicht hinter dem Leben zurückbleiben wollen. Wir sind der Meinung,daß es für die russischen Sozialisten besonders notwendig ist, die Theorievon Marx selbständig weiterzuentwickeln, denn diese Theorie liefertlediglich die allgemeinen £eitsätze, die im einzelnen auf England andersangewandt werden als auf Frankreich, auf Frankreich anders als aufDeutschland, auf Deutschland anders als auf Rußland. Darum werden wirin unserer Zeitung gern Artikel über theoretische Fragen bringen und for-dern alle Genossen zu einer offenen Erörterung der strittigen Punkte auf.

Welches sind nun die Hauptfragen, die bei der Anwendung des allenSozialdemokraten gemeinsamen Programms auf Rußland entstehen? Wirhaben schon gesagt, daß das Wesen dieses Programms darin besteht, denKlassenkampf des Proletariats zu organisieren und diesen Kampf zuleiten, dessen Endziel die Eroberung der politischen Macht durch das Pro-letariat und die Errichtung der sozialistischen Gesellschaft ist. Der Klas-senkampf des Proletariats besteht aus dem ökonomischen Kampf (Kampfgegen einzelne Kapitalisten oder gegen einzelne Kapitalistengruppen fürdie Verbesserung der Lage der Arbeiter) und dem politischen Kampf(Kampf gegen die Regierung für die Erweiterung der Rechte des Volkes,d. h. für Demokratie, sowie für die Erweiterung der politischen Macht desProletariats). Mandie russisdien Sozialdemokraten (zu ihnen gehörenoffenbar diejenigen, die die Zeitung „Rabotschaja Mysl" leiten) haltenden ökonomischen Kampf für unvergleichlich wütiger, den politischenKampf aber vertagen sie offenbar auf eine mehr oder weniger ferne Zu-kunft. Eine solche Ansicht ist völlig falsch. Alle Sozialdemokraten stim-men darin überein, daß es notwendig ist, den ökonomischen Kampf derArbeiterklasse zu organisieren; daß es notwendig ist, auf diesem Gebietunter den Arbeitern Agitation zu betreiben, d. h. den Arbeitern in ihremtäglichen Kampf gegen die Unternehmer zu helfen, ihr Augenmerk aufalle Arten und Fälle von Unterdrückung zu lenken und ihnen auf dieseWeise die Notwendigkeit des Zusammenschlusses klarzumachen. Aberüber dem ökonomischen Kampf den politischen Kampf vergessen hießeden grundlegenden Leitsatz der internationalen Sozialdemokratie auf-geben, hieße vergessen, was die ganze Geschichte der Arbeiterbewegung

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Zinser Programm 207

lehrt. Eingeschworene Parteigänger der Bourgeoisie und der in ihremDienst stehenden Regierung haben mehrmals sogar versucht, rein ökono-mische Arbeitervereinigungen zu organisieren und die Arbeiter auf dieseWeise von der „Politik", vom Sozialismus abzulenken. Es ist sehr wohlmöglich, daß auch die russische Regierung imstande ist, etwas Ähnlichesins Werk zu setzen, denn sie hat stets versucht, dem Volk dürftige Al-mosen oder richtiger Scheinalmosen hinzuwerfen, nur um es vom Ge-danken an seine Rechtlosigkeit und seine Unterdrückung abzulenken.Kein wirtschaftlicher Kampf kann den Arbeitern eine dauerhafte Ver-besserung ihrer Lage bringen, ja, er kann nicht einmal in großem Ausmaßgeführt werden, wenn die Arbeiter nicht das Recht haben, frei Versamm-lungen zu veranstalten und Verbände zu gründen, eigene Zeitungen zuhaben und ihre Vertreter in die Volksvertretungen zu entsenden, wiees die Arbeiter Deutschlands und aller anderen europäischen Länder (mitAusnahme der Türkei und Rußlands) tun. Um aber diese Rechte zu er-langen, muß man einen politischen Kampf führen. In Rußland sind nichtnur die Arbeiter, sondern alle Staatsbürger überhaupt der politischenRechte beraubt. Rußland ist eine autokratische, eine absolute Monarchie.Der Zar allein erläßt Gesetze, setzt Beamte ein und überwacht sie. In-folgedessen hat es den Anschein, als seien in Rußland der Zar und dieZarenregierung unabhängig von allen Klassen und als sorgten sie für allein gleichem Maße. In Wirklichkeit aber werden alle Beamten ausschließ-lich aus der Klasse der Besitzenden genommen, und alle stehen unter demEinfluß der Großkapitalisten, in deren Händen die Minister wie Wadissind und die alles erreichen, was sie wollen. Auf der russischen Arbeiter-klasse lastet ein doppeltes Joch: sie wird von den Kapitalisten und denGutsbesitzern ausgeraubt und ausgeplündert, und damit sie gegen diesenicht kämpfen kann, fesselt die Polizei sie an Händen und Füßen, machtsie mundtot und verfolgt jeden Versuch, die Rechte des Volkes zu ver-teidigen. Jeder Streik gegen einen Kapitalisten führt dazu, daß Militärund Polizei auf die Arbeiter losgelassen werden. Jeder wirtschaftlicheKampf verwandelt sich zwangsläufig in einen politischen, und die Sozial-demokratie muß beide untrennbar zum einheitlichen Klassenkampf desProletariats verbinden. Das erste und wichtigste Ziel dieses Kampfes mußdie Eroberung politischer Rechte, die Eroberung der politischen Jreiheitsein. Wenn die Petersburger Arbeiter mit geringer Unterstützung der

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208 TVJ.Zenin

Sozialisten allein imstande waren, in kurzer Frist von der Regierung einZugeständnis zu erringen: den Erlaß des Gesetzes über die Verkürzungdes Arbeitstages75, so wird die gesamte russische Arbeiterklasse, geführtvon der einheitlichen „Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands",durch beharrlichen Kampf weit wichtigere Zugeständnisse erringen können.

Die russische Arbeiterklasse ist imstande, ihren ökonomischen undpolitischen Kampf auch allein zu führen, selbst wenn ihr von keiner an-deren Klasse geholfen werden sollte. Doch im politischen Kampf stehendie Arbeiter nicht allein. Die völlige Rechtlosigkeit, des Volkes und diebrutale Willkür der Beamtenbüttel empören auch alle einigermaßen ehr-lichen gebildeten Menschen, die sich mit der Verfolgung jedes freienWortes und jedes freien Gedankens nicht abfinden können, sie empörendie verfolgten Polen, Finnen, Juden, die russischen Sektenanhänger, sieempören die kleinen Kaufleute, Gewerbetreibenden, Bauern, die vor denBedrückungen durch die Beamten und die Polizei nirgends Schutz findenkönnen. Alle diese Bevölkerungsgruppen sind, einzeln genommen, zueinem beharrlichen politischen Kampf unfähig, wenn aber die Arbeiter-klasse das Banner dieses Kampfes entrollt, werden sich ihr von allenSeiten hilfsbereite Hände entgegenstrecken. Die russische Sozialdemo-kratie wird sich an die Spitze aller Kämpfer für die Rechte des Volkes,aller Kämpfer für die Demokratie stellen, und dann wird sie unbesiegbarsein!

Das sind unsere grundlegenden Ansichten, die wir systematisch undallseitig in unserer Zeitung entwickeln werden. Wir sind davon überzeugt,daß wir damit den Weg gehen werden, der von der „SozialdemokratischenArbeiterpartei Rußlands" in dem von ihr herausgegebenen „Manifest"vorgezeichnet worden ist.

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UNSERE NÄCHSTE AUFGABE

Die russische Arbeiterbewegung befindet sich gegenwärtig in einerÜbergangsperiode. Was die sozialdemokratischen Arbeiterorganisationender Westgebiete, Petersburgs, Moskaus, Kiews und anderer Städte soglänzend und rühmlich begannen, wurde (im Frühjahr 1898) durch dieGründung der „Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands" vollendet.Durch diesen riesigen Schritt vorwärts hat die russische Sozialdemokratiegleichsam für eine Zeitlang alle ihre Kräfte erschöpft und ist zu derfrüheren zersplitterten Arbeit der einzelnen lokalen Organisationen zu-rückgekehrt. Die Partei hat nicht zu existieren aufgehört, sie ist nur insich gegangen, um Kräfte zu sammeln und die Sache der Vereinigungaller russischen Sozialdemokraten auf festen Grund zu stellen. DiesenZusammenschluß zu verwirklichen, die passende Form für ihn auszu-arbeiten, sich endgültig von der engen lokalen Zersplitterung frei zumachen — das ist die nächste und dringendste Aufgabe der russischenSozialdemokraten.

Wir alle sind uns darin einig, daß es unsere Aufgabe ist, den Klassen-kampf des Proletariats zu organisieren. Was aber ist Klassenkampf?Wenn die Arbeiter einer einzelnen Fabrik, eines einzelnen Berufs denKampf gegen ihren Unternehmer oder gegen ihre Unternehmer aufneh-men, ist das Klassenkampf? Nein, das sind erst schwache Ansätze dazu.Der Kampf der Arbeiter wird erst dann zum Klassenkampf, wenn allefortschrittlichen Vertreter der gesamten Arbeiterklasse des ganzen Landessich bewußt werden, eine einheitliche Arbeiterklasse zu sein, und denKampf nicht gegen einzelne Unternehmer, sondern gegen die ganze Klasseder Kapitalisten und gegen die diese Klasse unterstützende Regierung

14 Lenin, Werke, Bd. 4

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210 W.3. Centn

aufnehmen. Erst dann, wenn der einzelne Arbeiter sich bewußt ist, einTeil der ganzen Arbeiterklasse zu sein, wenn er in seinem tagtäglichenKleinkampf gegen einzelne Unternehmer und einzelne Beamte den Kampfgegen die ganze Bourgeoisie und gegen die ganze Regierung sieht, erstdann wird sein Kampf zum Klassenkampf. „Jeder Klassenkampf ist einpolitischer Kampf"76 — diese berühmten Worte von Marx dürfen nichtin dem Sinne verstanden werden, jeder Kampf der Arbeiter gegen dieUnternehmer wäre stets ein politischer Kampf. Sie müssen so verstandenwerden, daß der Kampf der Arbeiter gegen die Kapitalisten notwendiger-weise in dem Maße politischer Kampf wird, als er zum Klassenkampfwird. Die Aufgabe der Sozialdemokratie besteht eben darin, durch Orga-nisierung der Arbeiter, durch Propaganda und Agitation unter ihnen ihrenspontanen Kampf gegen die Unterdrücker in einen Kampf der ganzenKlasse, in den Kampf einer bestimmten politischen Partei für bestimmtepolitische und sozialistische Ideale zu verwandeln. Durch lokale Arbeitallein kann eine solche Aufgabe nicht gelöst werden.

Die lokale sozialdemokratische Arbeit hat bei uns bereits einen rechthohen Entwicklungsstand erreicht. Die Saat der sozialdemokratischenIdeen ist schon überall in Rußland ausgestreut; Arbeiterflugblätter — dieseerste Form der sozialdemokratischen Literatur — sind bereits allen russi-schen Arbeitern, von Petersburg bis Krasnojarsk und vom Kaukasus biszum Ural, bekannt. Was uns jetzt fehlt, ist eben die Zusammenfassungdieser gesamten lokalen Arbeit zur Arbeit einer einzigen Partei. UnserHauptmangel, für dessen Beseitigung wir alle unsere Kräfte einsetzenmüssen, ist der enge, der „handwerklerische" Charakter der lokalenArbeit. Infolge dieser Handwerklerei bleiben die zahlreichen Fälle, indenen die Arbeiterbewegung in Rußland aktiv hervortritt, rein lokaleEreignisse und verlieren viel von ihrer Bedeutung als Vorbild für dieganze russische Sozialdemokratie, als ein Stadium der ganzen russischenArbeiterbewegung. Infolge dieser Handwerklerei werden die Arbeiternicht in genügendem Maße vom Bewußtsein der Gemeinsamkeit ihrerInteressen in ganz Rußland durchdrungen, verbinden sie mit ihrem Kampfnicht genügend den Gedanken an den rassischen Sozialismus und dierussische Demokratie. Infolge dieser Handwerklerei werden die verschie-denen Ansichten der Genossen über theoretische und praktische Fragennicht offen in einem Zentralorgan erörtert, dienen sie nicht der Aus-

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"Unsere nädhste Aufgabe 211

arbeitung eines gemeinsamen Parteiprogramms und einer gemeinsamenTaktik, sondern verlieren sich in engem Zirkelwesen oder führen zu über-mäßiger Aufbauschung lokaler und zufälliger Besonderheiten. Wir habengenug von dieser Handwerklerei! Wir sind reif genug, um zur gemein-samen Arbeit, zur Ausarbeitung eines gemeinsamen Parteiprogramms,zur gemeinsamen Erörterung der Taktik und Organisation unserer Parteiüberzugehen.

Die russische Sozialdemokratie hat viel zur Kritik der alten revolutio-nären und sozialistischen Theorien getan; sie hat sich nicht auf Kritik undTheoretisieren besdiränkt, sie hat bewiesen, daß ihr Programm nicht inder Luft hängt, sondern einer breiten spontanen Bewegung im Volke,nämlich im Fabrik- und Werkproletariat, entgegenkommt; ihr bleibt jetztnodi der nächste, besonders schwierige, dafür aber audi besonders widi-tige Sdiritt zu tun übrig: eine unseren Verhältnissen angepaßte Organi-sation dieser Bewegung herauszuarbeiten. Die Sozialdemokratie reduziertsich nicht auf einfachen Dienst an der Arbeiterbewegung: sie ist die „Ver-einigung von Sozialismus und Arbeiterbewegung" (um die DefinitionK. Kautskys zu gebrauchen, die die Hauptideen des „KommunistischenManifests" wiedergibt); es ist ihre Aufgabe, in die spontane Arbeiter-bewegung bestimmte sozialistisdie Ideale hineinzutragen, sie mit soziali-stisdien Oberzeugungen, die auf dem Niveau der modernen Wissensdiaftstehen müssen, zu verbinden, sie mit dem systematisdren politisdienKampf für die Demokratie als ein Mittel zur Verwirklichung des Sozialis-mus zu verbinden, mit einem Wort, diese spontane Bewegung mit derTätigkeit der revolutionären Partei zu einem unauflöslichen Ganzen zuversdimelzen. Die Gesdiidite des Sozialismus und der Demokratie inWesteuropa, die Geschichte der russischen revolutionären Bewegung, dieErfahrungen unserer Arbeiterbewegung — das ist das Material, das wiruns aneignen müssen, um eine zweckmäßige Organisation und Taktik fürunsere Partei ausarbeiten zu können. Die „Verarbeitung" dieses Materialsmuß jedoch selbständig erfolgen, denn fertige Vorbilder werden wir nir-gends finden: einerseits befindet sich die russische Arbeiterbewegung inganz anderen Verhältnissen als die westeuropäisdie. Es wäre sehr gefähr-lich, sich darüber irgendwelche Illusionen zu madien. Und anderseits un-tersdieidet sidi die russische Sozialdemokratie sehr wesentlich von denfrüheren revolutionären Parteien in Rußland, so daß die Notwendigkeit,

14*

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212 W. I.Lenin

von den alten russischen Koryphäen der revolutionären und konspirativenTechnik zu lernen (wir erkennen diese Notwendigkeit ohne jedes Zögernan), uns keineswegs der Pflicht enthebt, kritisch an sie heranzutretenund unsere Organisation selbständig herauszuarbeiten.

Zwei Hauptfragen treten bei Stellung dieser Aufgabe mit besonderemNachdruck hervor. 1. Wie läßt sich die Notwendigkeit voller Freiheit fürdie lokale sozialdemokratische Tätigkeit mit der Notwendigkeit verein-baren, eine einheitliche — also auch zentralistische — Partei zu bilden?Die Sozialdemokratie schöpft ihre ganze Kraft aus der spontanen Arbei-terbewegung, die in den verschiedenen Industriezentren nicht in gleicherWeise und nicht zu gleicher Zeit in Erscheinung tritt; die Tätigkeit derlokalen sozialdemokratischen Organisationen ist die Qrundlage der ge-samten Parteitätigkeit. Ist das jedoch die Tätigkeit isolierter „Hand-werkler", so darf man diese Tätigkeit, streng gesprochen, nicht einmalsozialdemokratisch nennen, denn sie würde nicht Organisation und Lei-tung des proletarischen Klassenkampfes sein. 2. Wie läßt sich das Strebender Sozialdemokratie, eine revolutionäre Partei zu werden, die den Kampffür politische Freiheit zu ihrem Hauptziel macht, damit vereinbaren, daßdie Sozialdemokratie es entschieden ablehnt, politische Verschwörungenanzuzetteln, daß sie es entschieden ablehnt, „die Arbeiter auf die Barri-kaden zu rufen" (nach dem richtigen Ausspruch P. B. Axelrods) oderüberhaupt den Arbeitern diesen oder jenen von einem Verein von Revo-lutionären ausgedachten „Plan" eines Angriffs auf die Regierung aufzu-drängen?

Die russische Sozialdemokratie ist mit vollem Recht der Meinung, daßsie die theoretische Lösung dieser Fragen gegeben hat; hierauf eingehenwürde bedeuten, das zu wiederholen, was in dem Artikel „Unser Pro-gramm" gesagt worden ist. Jetzt handelt es sich um die praktische Lösungdieser Fragen. Eine solche Lösung kann nicht von einer einzelnen Personöder einer einzelnen Gruppe gegeben werden — nur die organisierte Tätig-keit der ganzen Sozialdemokratie vermag sie zu geben. Wir sind derAnsicht, daß gegenwärtig die dringendste Aufgabe darin besteht, dieLösung dieser Fragen in Angriff zu nehmen, und daß wir uns zu diesemZweck als nächstes Ziel stellen müssen, ein regelmäßig erscheinendes undmit allen lokalen Qruppen eng verbundenes Parteiorgan zu schaffen. Wirsind der Ansicht, daß auf die Organisierung dieser Sache die ganze Tätig-

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"Unsere nädiste Aufgabe 213

keit der Sozialdemokraten in der ganzen nächsten Zeit gerichtet seinmuß. Ohne ein solches Organ bleibt die lokale Arbeit enge „Handwerk-lerei". Die Gründung der Partei bleibt, wenn nicht eine richtige Vertretungdieser Partei in einer bestimmten Zeitung organisiert wird, zu einem be-deutenden Teil ein leeres Wort. Der ökonomische Kampf, der nicht durdiein Zentralorgan zusammengefaßt wird, kann nicht zum Klassenkampfdes gesamten russischen Proletariats werden. Die Führung des politisdienKampfes ist unmöglich, wenn nicht die ganze Partei zu allen Fragen derPolitik Stellung nimmt und den Kampf in seinen einzelnen Erscheinungs-formen lenkt. Die Organisierung der revolutionären Kräfte, ihre Diszipli-nierung und die Weiterentwicklung der revolutionären Technik sind un-möglidi ohne Erörterung aller dieser Fragen in einem Zentralorgan, ohnekollektive Ausarbeitung bestimmter Arbeitsformen und -regeln, ohne die— durch Vermittlung des Zentralorgans herzustellende — Verantwortlidb-keit jedes Parteimitglieds vor der ganzen Partei.

Wenn wir von der Notwendigkeit sprechen, alle Kräfte der Partei —alle literarischen Kräfte, alle organisatorisdien Fähigkeiten, alle materiel-len Mittel usw. — auf die Gründung und richtige Leitung eines Organsder ganzen Partei zu konzentrieren, so denken wir keineswegs daran,die anderen Arten der Tätigkeit, z. B. lokale Agitation, Kundgebungen,Boykott, Verfolgung von Spionen, Verfolgung einzelner Vertreter derBourgeoisie und der Regierung, demonstrative Streiks usw. und dgl. mehr,in den Hintergrund zu drängen. Im Gegenteil, wir sind davon überzeugt,daß alle diese Arten der Tätigkeit die Qrundlage bilden für die Tätigkeitder Partei, aber ohne ihre Zusammenfassung in einem Organ der ganzenPartei verlieren alle diese Formen des revolutionären Kampf es neunZebn-tel ihrer Bedeutung, führen sie nicht zur Sammlung gemeinsamer Erfah-rungen der Partei, zur Schaffung einer Parteitradition und Parteikon-tinuität. Das Parteiorgan wird nicht nur nicht mit dieser Tätigkeit kon-kurrieren, es wird vielmehr einen gewaltigen Einfluß auf ihre Ausbreitung,Festigung und Systematisierung ausüben.

Die Notwendigkeit, alle Kräfte auf die Organisierung eines regelmäßigerscheinenden und zuzustellenden Parteiorgans zu konzentrieren, ist be-dingt durch die besondere Lage der russisdien Sozialdemokratie, die sichvon der Lage der Sozialdemokratie anderer europäischer Länder undder alten russischen revolutionären Parteien unterscheidet. Die Arbeiter

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214 TV.1}.Lenin

Deutschlands, Frankreichs usw. haben außer Zeitungen eine Menge an-derer Mittel, ihre Tätigkeit öffentlich zur Geltung zu bringen, andereMittel, die Bewegung zu organisieren: parlamentarische Tätigkeit undWahlagitation, Volksversammlungen und Beteiligung an lokalen öffent-lichen (ländlichen und städtischen) Einrichtungen, offene Betätigung vonBerufsverbänden (Gewerkschaften, Innungen) usw. und dgl. mehr. Beiuns muß — solange wir noch nicht die politische Freiheit erkämpft haben —als Ersatz alles dessen, aber wirklich alles dessen, eine revolutionäre Zei-tung dienen, ohne die bei uns keinerlei umfassende Organisation der ge-samten Arbeiterbewegung möglich ist. An Verschwörungen glauben wirnicht, vereinzelte revolutionäre Aktionen zum Sturze der Regierung leh-nen wir ab; als praktische Losung unserer Arbeit dienen uns die Worteeines Veteranen der deutschen Sozialdemokratie, Liebknechts: „Studieren,propagandieren, organisieren"*, und der Mittelpunkt dieser Tätigkeitkann und muß allein das Parteiorgan sein.

Ist es jedoch möglich und unter welchen Umständen ist es möglich, einsolches Organ so zu organisieren, daß es riditig und einigermaßen ständigfunktioniert? Hiervon werden wir das nächstemal sprechen.

* Von Lenin deutsch zitiert. Der Tibers.

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EINE DRINGENDE FRAGE

Wir haben im vorigen Artikel gesagt, daß die Gründung eines regel-mäßig erscheinenden und zuzustellenden Parteiorgans für uns eine drin-gende Aufgabe ist, und haben die Frage aufgeworfen, ob und unter wel-chen Bedingungen es möglich ist, dieses Ziel zu erreichen. Betrachten wirdie wichtigsten Seiten dieser Frage.

Vor allem könnte man uns entgegnen, zur Erreichung dieses Ziels seies notwendig, zuerst die Tätigkeit der lokalen Gruppen weiterzuentwik-keln. Wir halten diese ziemlich verbreitete Meinung für irrig. Die Grün-dung und feste organisatorische Gestaltung eines Parteiorgans — und folg-lich auch der Partei selbst — können und müssen wir unverzüglich in An-griff nehmen. Die für einen solchen Schritt notwendigen Bedingungen sindgegeben: lokale Arbeit wird geleistet, und sie hat offenbar bereits tiefeWurzeln geschlagen, denn die immer häufiger werdende Zerschlagungeinzelner Organisationen führt nur zu kleinen Unterbrechungen; an dieStelle der im Kampf Gefallenen treten rasch frische Kräfte. Publikations-mittel und literarische Kräfte besitzt die Partei nicht nur im Ausland,sondern auch in Rußland. Die Frage besteht also darin, ob die Arbeit, diebereits geleistet wird, auf „handwerklerische" Weise fortgesetzt werdenoder ob sie organisatorisch zur Arbeit einer Partei zusammengefaßt undso gestaltet werden soll, daß sie sich ganz in einem gemeinsamen Organwiderspiegelt.

Hier kommen wir zur dringendsten Frage unserer Bewegung, zu ihremwunden Punkt — der Organisation. Eine Verbesserung der revolutionärenOrganisation und Disziplin, eine Vervollkommnung der konspirativenTechnik sind dringend notwendig. Es muß offen zugegeben werden, daß

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216 W.l. Lenin

wir in dieser Beziehung hinter den alten russischen revolutionären Par-teien zurückgeblieben sind und alle Kräfte aufbieten müssen, um sie ein-zuholen und zu überholen. Ohne Verbesserung der Organisation ist jederFortschritt unserer Arbeiterbewegung überhaupt, ist insbesondere auchdie Bildung einer aktiven Partei mit einem richtig funktionierenden Organunmöglich. Dies einerseits. Anderseits aber müssen die jetzigen Organeder Partei (Organe sowohl im Sinne von Institutionen und Gruppen alsauch im Sinne von Zeitungen) den Fragen der Organisation mehr Auf-merksamkeit widmen und die lokalen Gruppen in dieser Richtung beein-flussen.

Die lokale, handwerklerische Arbeit führt stets zu einer übermäßigenFülle persönlicher Verbindungen, zum Zirkelwesen, wir aber sind bereitsaus dem Zirkelwesen herausgewachsen, das für die jetzige Arbeit zu engwird und zu einer übermäßigen Verausgabung von Kräften führt. Nurdie Verschmelzung zu einer Partei wird es ermöglichen, die Prinzipiender Arbeitsteilung und der Kräfteersparnis systematisch durchzuführen —dies aber müssen wir erreichen, um die Zahl der Opfer zu vermindernund ein mehr oder minder festes Bollwerk gegen das Joch der autokra-tischen Regierung und ihre wütenden Verfolgungen zu schaffen. Gegenuns, gegen die kleinen Gruppen von Sozialisten, die sich im weiten rus-sischen „Untergrund" befinden, ist der gigantische Mechanismus einesder mächtigsten Staaten der Gegenwart aufgeboten, der alle Kräfte an-spannt, um den Sozialismus und die Demokratie zu erdrosseln. Wir sindüberzeugt, daß wir diesen Polizeistaat zu guter Letzt zerbrechen werden,weil für die Demokratie und den Sozialismus alle gesunden und sich ent-wickelnden Schichten des ganzen Volkes einstehen; um aber einen syste-matischen Kampf gegen die Regierung führen zu können, müssen wir dierevolutionäre Organisation, Disziplin und Konspirationstechnik auf diehöchste Stufe der Vollkommenheit bringen. Es ist notwendig, daß sichdie einzelnen Parteimitglieder bzw. die einzelnen Mitgliedergruppen aufeinzelne Seiten der Parteiarbeit spezialisieren, die einen auf den Nach-druck von Literatur, die andern auf ihre Heranschaffung aus dem Aus-land, die dritten auf ihren Transport innerhalb Rußlands, die vierten aufihre Verbreitung in den Städten, die fünften auf Einrichtung konspirativerWohnungen, die sechsten auf Sammlung von Geld, die siebenten aufOrganisierung der Zustellung von Korrespondenzen und aller Mitteilun-

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Eine dringende Jrage 217

gen über die Bewegung, die achten auf Aufrechterhaltung der Verbin-dungen usw. und dgl. mehr. Eine solche Spezialisierung erfordert, wirwissen das, bedeutend größere Standhaftigkeit, bedeutend mehr Fähig-keit, sich auf bescheidene, unscheinbare Kleinarbeit zu konzentrieren, be-deutend mehr wahren Heroismus als die gewöhnliche Zirkelarbeit.

Aber die russischen Sozialisten und die russische Arbeiterklasse habenbereits ihre Fähigkeit zu heroischem Handeln gezeigt, und eigentlich wärees eine Sünde, wollten wir uns über Mangel an Menschen beklagen. Unterder Arbeiterjugend ist ein leidenschaftliches, unaufhaltsames Hinstrebenzu den Ideen der Demokratie und des Sozialismus zu beobachten, undaus den Reihen der Intelligenz strömen den Arbeitern nach wie vor Helferzu, obgleich die Gefängnisse und Verbannungsorte überfüllt sind. Wennunter allen diesen Rekruten der revolutionären Sache der Gedanke breitpropagiert wird, daß eine straffere Organisation notwendig ist, so wirdder Plan, eine regelmäßig erscheinende und zuzustellende Parteizeitungzu begründen, aufhören, ein Traum zu sein. Nehmen wir eine Bedin-gung für den Erfolg eines solchen Plans: die Belieferung der Zeitungmit regelmäßig eingehenden Korrespondenzen und Materialien aus allenOrten. Zeigt denn nicht die Geschichte, daß sich ein solches Ziel in allenZeiten der Belebung unserer revolutionären Bewegung selbst für im Aus-land erscheinende Organe als durchaus erreichbar erwiesen hat? Wenndie in den verschiedenen Gebieten tätigen Sozialdemokraten die Partei-zeitung als ihre Zeitung betrachten und die Unterhaltung einer ständigenVerbindung mit ihr, die Erörterung ihrer Fragen, die Widerspiegelungihrer ganzen Bewegung in dieser Zeitung als ihre Hauptaufgabe betrach-ten, dann wird die Versorgung der Zeitung mit lückenlosen Informationenüber die Bewegung durchaus zu verwirklichen sein, falls die keineswegsbesonders komplizierten konspirativen Methoden befolgt werden. Dieandere Seite der Sache — die regelmäßige Zustellung der Zeitung in alleGegenden Rußlands — ist viel schwieriger, schwieriger als die entspre-chende Aufgabe bei den früheren Formen der revolutionären Bewegungin Rußland war, als die Zeitungen nicht in solchem Maße für die Volks-massen bestimmt waren. Aber die Bestimmung der sozialdemokratischenZeitungen erleichtert ihre Verbreitung. Die Hauptgegenden, in die dieZeitung regelmäßig und in einer großen Zahl von Exemplaren zugestelltwerden muß, das sind die Industriezentren, die Fabrikdörfer und Fabrik-

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218 IV.1. Centn

Städte, die Fabrikviertel der großen Städte usw. In diesen Zentren bestehtfast die ganze Bevölkerung aus Arbeitern und ihren Angehörigen; derArbeiter ist hier faktisch Herr der Lage und kennt Hunderte von Metho-den, die Wachsamkeit der Polizei zu täuschen; der Verkehr mit benach-barten Fabrikzentren ist außerordentlich rege. In der Epoche des Aus-nahmegesetzes gegen die Sozialisten (von 1878 bis 1890)77 arbeitete diedeutsche politische Polizei nicht schlediter, ja wahrscheinlich sogar besserals die russische, und dennoch vermoditen es die deutschen Arbeiter dankihrer Organisiertheit und Diszipliniertheit zu erreichen, daß die wöchent-lidi erscheinende illegale Zeitung regelmäßig aus dem Ausland herein-gebracht und allen Abonnenten ins Haus geliefert wurde, so daß sogarMinister nicht umhinkonnten, die sozialdemokratisdie Post (die „rotePost") zu bewundern. Von einem soldien Erfolg können wir natürlidinidit träumen, aber wir können, wenn wir alle unsere Anstrengungendarauf riditen, durchaus erreichen, daß die Zeitung unserer Partei min-destens zwölfmal jährlich ersdieint und regelmäßig allen für den Sozialis-mus zugänglichen Arbeiterkreisen in allen Hauptzentren der Bewegungzugestellt wird.

Um zur Frage der Spezialisierung zurückzukehren, müssen wir fernerdarauf hinweisen, daß ihr Mangel sidi teilweise durdi das Vorherrsdiender „handwerklerisdien" Arbeit erklärt, teilweise audi dadurdi, daß un-sere sozialdemokratischen Zeitungen den Fragen der Organisation ge-wöhnlich zuwenig Raum widmen.

Nur die Schaffung eines gemeinsamen Parteiorgans kann jeden „Teil-arbeiter" der revolutionären Sache mit dem Bewußtsein erfüllen, daß er„in Reih und Glied" marschiert, daß seine Arbeit für die Partei unmittel-bar notwendig ist, daß er ein Glied jener Kette bildet, die den sdilimmstenFeind des russischen Proletariats und des ganzen russisdien Volkes — dierussische autokratische Regierung — erdrosseln wird. Nur die strengeDurchführung einer derartigen Spezialisierung wird es ermöglidien, Kräftezu sparen: nidit nur wird jede einzelne Seite der revolutionären Arbeitvon einer geringeren Zahl Personen besorgt werden, sondern es wird sidiaudi die Möglidikeit ergeben, eine Reihe von Zweigen der heutigenTätigkeit zu legalen (= vom Gesetz erlaubten) Angelegenheiten zumachen. Eine solche Legalisierung ihrer Tätigkeit, ihre Einpassung in denRahmen der Gesetzlichkeit, hat der „Vorwärts"78 — das Zentralorgan

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Eine dringende frage 219

der deutschen Sozialdemokratie — den russischen Sozialisten schon langeempfohlen. Auf den ersten Blick wirkt ein derartiger Rat verblüffend, inWirklichkeit aber verdient er ernste Aufmerksamkeit. Fast jeder, der ineinem lokalen Zirkel irgendeiner Stadt gearbeitet hat, wird sich leicht er-innern, daß es unter den zahlreichen und sehr verschiedenartigen An-gelegenheiten, mit denen er sich befaßte, manche gab, die an und für sichlegal sind (z. B. die Sammlung von Angaben über die Lage der Arbeiter,das Studium vieler Fragen an Hand von legaler Literatur, das Studiumeiner bestimmten Art ausländischer Literatur und Referate darüber, Ver-bindungen bestimmter Art, Unterstützung der Arbeiter in Sachen derallgemeinen Bildung, beim Studium der Fabrikgesetze und vieles andere).Die Verwandlung derartiger Arbeiten in besondere Funktionen einerbesonderen Kategorie von Personen würde die zahlenmäßige Stärkeder aktiven, „im Feuer" stehenden revolutionären Armee vermindern(ohne jede Verminderung ihrer „Kampffähigkeit") und die zahlenmäßigeStärke der Reserve, die an die Stelle der „Gefallenen und Verwundeten"tritt, erhöhen. Das ist nur möglich, wenn sowohl die aktiven Mitgliederals auch die Reserve ihre Tätigkeit in einem gemeinsamen Organ derPartei widergespiegelt sehen und fühlen, daß sie mit ihr verbunden sind.Natürlich werden lokale Versammlungen von Arbeitern und lokalenGruppen, wie weit wir die Spezialisierung auch durchführen mögen, stetsnotwendig sein, aber einerseits wird sich die Zahl der revolutionären Ver-sammlungen mit vielen Teilnehmern (die in polizeilicher Beziehung be-sonders gefährlich sind und deren Nutzen häufig bei weitem nicht den mitihnen verbundenen Gefahren entspricht) bedeutend vermindern, undanderseits wird die Verwandlung verschiedener Seiten der revolutionärenArbeit in spezielle Funktionen bessere Möglichkeiten bieten, solche Ver-sammlungen durch legale Versammlungsformen zu tarnen: Zusammen-künfte zu Vergnügungszwecken, Versammlungen gesetzlich zugelassenerVereine usw.Haben es doch die französischen Arbeiter unter Napoleon III.und die deutschen Arbeiter unter dem Sozialistengesetz verstanden, allemöglichen Tarnungen für ihre politischen und sozialistischen Versammlun-gen ausfindig zu machen. Und auch die russischen Arbeiter werden dasfertigbringen.

Ferner wird nur die Verbesserung der Organisation und die Schaffungeines gemeinsamen Parteiorgans es ermöglichen, den eigentlichen Inhalt

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der sozialdemokratischen Propaganda und Agitation zu erweitern undzu vertiefen. Das aber brauchen wir sehr. Die lokale Arbeit führt fastunvermeidlich zur Aufbauschung der lokalen Besonderheiten, zu79 . . . . . .das ist unmöglich ohne ein Zentralorgan, das gleichzeitig auch ein führen-des demokratisches Organ wäre. Nur dann wird unser "Bestreben, die So-zialdemokratie zum führenden Kämpfer für die Demokratie zu machen,Wirklichkeit werden. Nur dann werden wir audi eine bestimmte poli-tische Taktik ausarbeiten können. Die Sozialdemokratie hat die falscheLehre von der „einheitlichen reaktionären Masse" verworfen. Sie siehteine der wichtigsten Aufgaben der Politik darin, sich der Unterstützungder fortschrittlichen Klassen gegen die reaktionären Klassen zu bedienen.Bei lokalem Charakter der Organisationen und Organe wird für die Er-füllung dieser Aufgabe fast nichts getan: über einen Verkehr mit ein-zelnen Personen aus den Kreisen der „Liberalen" und ihre Ausnutzungfür verschiedene „Gefälligkeiten" geht die Sache nicht hinaus. Nur eingemeinsames Parteiorgan, das die Prinzipien des politischen Kampfeskonsequent durdiführt und das Banner des Demokratismus hochhält, wirdimstande sein, alle kampfgewillten demokratisdien Elemente auf seineSeite zu ziehen und alle fortschrittlichen Kräfte Rußlands im Kampf fürpolitische Freiheit auszunutzen. Erst dann wird es gelingen, den dumpfenHaß der Arbeiter gegen die Polizei und die Behörden in bewußten Haßgegen die autokratische Regierung und in die Entschlossenheit zu verwan-deln, den Kampf für die Rechte der Arbeiterklasse und des ganzen rus-sischen Volkes mit Einsatz aller Kräfte zu führen! Die auf solchem Grunderrichtete und straff organisierte revolutionäre Partei aber wird im heuti-gen Rußland eine gewaltige politisdie Madit sein!

In den nächsten Nummern werden wir den Entwurf eines Programmsder Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands veröffentlichen undmit der eingehenderen Erörterung einzelner Fragen der Organisation be-ginnen.

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ENTWURFEINES PROGRAMMS UNSERER PARTEI80

Qesdbrieben Ende 1899.

Zuerst veröflentUäit 1924 'Nadi dem Manuskript.in der ersten Ausgabe derWerke rW. 7. Cenins, Band I.

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Es muß wohl mit der Frage begonnen werden, ob wirklich ein dringen-des Bedürfnis nach einem Programm der russischen Sozialdemokratenbesteht. Von Genossen, die in Rußland tätig sind, hörten wir gelegentlichdie Ansicht, daß keine dringende Notwendigkeit bestehe, gerade jetzt einProgramm auszuarbeiten, die dringendste Frage sei die Entwicklung undFestigung der lokalen Organisationen, eine straffere Organisierung derAgitation und der Literaturzustellung, es wäre praktischer, die Ausarbei-tung eines Programms bis zu dem Augenblick zu verschieben, wo die Be-wegung eine festere Basis erhält, es könne sich erweisen, daß ein Pro-gramm jetzt keine Basis hätte.

Wir teilen diese Meinung nicht. Selbstverständlich ist, wie K. Marxgesagt hat, „jeder Schritt wirklicher Bewegung wichtiger als ein DutzendProgramme" 81. Aber weder Marx noch irgendein anderer Theoretikeroder Praktiker der Sozialdemokratie haben bestritten, daß ein Programmfür das einmütige und konsequente Handeln einer politisdien Partei vongewaltiger Bedeutung ist. Die russischen Sozialdemokraten haben ja ge-rade eine Periode hödist erbitterter Polemik gegen Sozialisten andererRiditungen und gegen NichtSozialisten, die die russische Sozialdemokratienicht verstehen wollten, schon durchgemadit; sie haben auch die Anfangs-stadien der Bewegung durdigemadit, als die Arbeit zersplittert in kleinenlokalen Organisationen geleistet wurde. Die Vereinigung, die Schaffungeiner gemeinsamen Literatur, das Erscheinen von russischen Arbeiterzei-tungen haben sich durch das Leben selbst notwendig gemacht, und die imFrühjahr 1898 erfolgte Gründung der „Sozialdemokratischen Arbeiter-partei Rußlands", die ihre Absicht bekanntgegeben hat, in nächster Zukunft

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ein Parteiprogramm auszuarbeiten, hat anschaulich bewiesen, daß dieForderung nach einem Programm eben den Erfordernissen der Bewegungselbst entsprungen ist. Gegenwärtig besteht die dringendste Aufgabe unse-rer Bewegung nicht mehr in der Weiterentwicklung der bisherigen zer-splitterten „handwerklerischen" Arbeit, sondern im Zusammenschluß, inder Organisation. Um diesen Schritt tun zu können, brauchen wir ein Pro-gramm ; das Programm muß unsere Grundanschauungen formulieren, unserenädisten politischen Aufgaben genau festlegen, die nächsten Forderungenaufzeigen, die den Kreis der Agitationstätigkeit umreißen sollen, es mußihr Einheit verleihen, muß sie dadurch erweitern und vertiefen, daß esdie Agitation aus einem Stückwerk, einer partiellen Agitation für kleine,nicht zusammenhängende Forderungen zu einer Agitation für die Ge-samtheit der sozialdemokratischen Forderungen madit. Heute, wo diesozialdemokratische Tätigkeit bereits einen ziemlich weiten Kreis sowohlsozialistischer Intellektueller als auch klassenbewußter Arbeiter aufgerüt-telt hat, ist es dringend notwendig, die Verbindung zwischen ihnen durdiein Programm zu festigen und auf diese Weise ihnen allen eine feste Basisfür die weitere, umfassendere Tätigkeit zu geben. Schließlich ist ein Pro-gramm auch noch deshalb dringend notwendig, weil die öffentliche Mei-nung Rußlands sehr häufig den schwersten Irrtümern hinsichtlich der wah-ren Aufgaben und Arbeitsmethoden der russischen Sozialdemokratenverfällt: Teilweise wachsen diese Irrtümer ganz natürlich aus dem Sumpfder politischen Fäulnis unseres Lebens hervor, teilweise werden sie vonden Gegnern der Sozialdemokratie künstlich erzeugt. Jedenfalls muß die-ser Tatsache Rechnung getragen werden. Die Arbeiterbewegung, die mitdem Sozialismus und dem politischen Kampf verschmilzt, muß eine Par-tei bilden, die, wenn sie an die Spitze aller demokratischen Elemente derrussischen Gesellschaft treten will, imstande sein muß, alle diese Irrtümerzu zerstreuen. Man könnte einwenden, der gegenwärtige Augenblick seiauch deshalb für die Abfassung eines Programms ungeeignet, weil unterden Sozialdemokraten selbst Meinungsversdiiedenheiten entstehen und einePolemik beginnt. Mir sdieint, das Gegenteil ist richtig: dies ist ein weite-res Argument für die Notwendigkeit eines Programms. Einerseits darfman, da die Polemik einmal begonnen hat, hoffen, daß bei der Erörterungdes Programmentwurfs alle Ansichten und alle Schattierungen von An-sichten zu Worte kommen werden, darf man hoffen, daß das Programm

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Entwurf eines "Programms unserer Partei 225

allseitig erörtert werden wird. Die Polemik zeigt, daß in den Reihen derrussischen Sozialdemokraten das Interesse für die umfassenden Fragennach den Zielen unserer Bewegung, nach ihren nächsten Aufgaben undihrer Taktik lebhafter geworden ist, und gerade eine solche Belebungist für die Erörterung des Programmentwurfs notwendig. Anderseits istes, wenn die Polemik nicht unfruchtbar bleiben soll, wenn sie nicht zupersönlicher Rivalität ausarten, nicht zu einer Verworrenheit der Ansich-ten, zur Verwechslung von Feind und Freund führen soll, unbedingt not-wendig, die Frage des Programms in diese Polemik einzubeziehen. DiePolemik wird nur dann Nutzen bringen, wenn sie klarstellt, worin eigent-lich die Meinungsverschiedenheiten bestehen, wie tief sie geben, ob essich um Meinungsverschiedenheiten über das Wesen der Sadie oder umMeinungsverschiedenheiten in Teilfragen handelt, ob diese Meinungsver-schiedenheiten ein Hindernis für die gemeinsame Arbeit in den Reihenein und derselben Partei sind oder nicht. Nur die Einbeziehung der Pro-grammfrage in die Polemik, nur eine bestimmte Erklärung beider pole-misierender Seiten über ihre programmatischen Anschauungen kann Ant-wort geben auf alle diese Fragen, die dringend Antwort verlangen. DieAusarbeitung eines gemeinsamen Parteiprogramms soll natürlich durch-aus nicht jeder Polemik ein Ende machen, sie wird jedoch diejenigengrundlegenden Ansichten vom Charakter, von den Zielen und Aufgabenunserer Bewegung fest bekunden, die der kämpfenden Partei als Bannerdienen sollen, einer Partei, die einig und geschlossen bleibt trotz derpartiellen Meinungsverschiedenheiten, die unter ihren Mitgliedern überpartielle Fragen bestehen.

Und damit zur Sache.Wenn von einem Programm der russischen Sozialdemokraten gespro-

chen wird, so richten sich alle Blicke ganz natürlich auf die Mitglieder derGruppe „Befreiung der Arbeit", die die russische Sozialdemokratie ge-gründet und für ihre theoretische und praktische Weiterentwicklung soviel getan haben. Unsere ältesten Genossen haben nidit gesäumt, sichüber die Erfordernisse der russischen sozialdemokratisdien Bewegung zuäußern. Fast zu derselben Zeit — Frühjahr 1898 —, als der Parteitag derrussischen Sozialdemokraten, der den Grundstein legte für die „Sozial-demokratische Arbeiterpartei Rußlands", vorbereitet wurde, ließ P. B.Axelrod seine Broschüre „Zur Frage der gegenwärtigen Aufgaben und

15 Lenin, Werke, Bd. 4

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der Taktik der russischen Sozialdemokraten" erscheinen (Genf 1898; dasVorwort ist März 1898 datiert) und brachte als Anhang dazu den vonder Gruppe „Befreiung der Arbeit" schon 1885 herausgegebenen „Ent-wurf eines Programms der russischen Sozialdemokraten".

Mit der Erörterung dieses Entwurfs wollen wir auch beginnen. Ob-gleich vor fast 15 Jahren herausgegeben, ist er, unserer Meinung nach,im großen und ganzen durchaus befriedigend, er erfüllt seinen Zweckund steht durchaus auf dem Niveau der modernen sozialdemokratischenTheorie. In diesem Entwurf wird eindeutig die Klasse bezeichnet, die inRußland (wie auch in den anderen Ländern) allein ein selbständigerKämpfer für den Sozialismus sein kann — die Arbeiterklasse, das „Indu-strieproletariat" ; — es wird das Ziel gewiesen, das diese Klasse sich stek-ken muß — „Übergang aller Produktionsmittel und Produktionsgüter ingesellschaftliches Eigentum", „Abschaffung der Warenproduktion" und„ihre Ersetzung durch ein neues System gesellschaftlicher Produktion",„die kommunistische Revolution"; — es wird die „unvermeidliche Vor-bedingung" einer „Umgestaltung der gesellschaftlichen Verh'ältnisse"genannt: „die Eroberung der politischen Macht durch die Arbeiter-klasse"; — es wird eingegangen auf die internationale Solidarität desProletariats und die Notwendigkeit eines „Elements der Verschieden-artigkeit in den Programmen der Sozialdemokraten verschiedener Staa-ten entsprechend den gesellschaftlichen Verhältnissen jedes einzelnenvon ihnen"; — es wird die Besonderheit Rußlands aufgezeigt, „wo diewerktätigen Massen unter dem doppelten Joch des sich entwickelndenKapitalismus und der überlebten Patriarchalwirtschaft leben"; — es wirdder Zusammenhang der russischen revolutionären Bewegung mit demProzeß der (durch die Kräfte des sich entwickelnden Kapitalismus erfol-genden) Schaffung „einer neuen Klasse des Industrieproletariats — eineraufnahmefähigeren, beweglicheren und entwickelteren Klasse" gezeigt; —es wird die Notwendigkeit, eine „revolutionäre Arbeiterpartei" zu grün-den, und ihre „erste politische Aufgabe" aufgezeigt: „Sturz des Absolu-tismus"; — es werden die „Mittel des politischen Kampfes" genannt undseine Hauptforderungen aufgestellt.

Alle diese Elemente des Programms sind unserer Meinung nach ineinem Programm der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei absolut not-wendig — sie alle stellen Thesen dar, die seither immer und immer wieder

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Entwurf eines "Programms unserer Partei 227

sowohl durch die Entwicklung der sozialistischen Theorie als auch durchdie Entwicklung der Arbeiterbewegung in allen Ländern Bestätigung ge-funden haben — insbesondere durch die Entwicklung der russischen ge-sellschaftlichen Anschauungen und der russischen Arbeiterbewegung. In-folgedessen können und müssen unserer Meinung nach die russischenSozialdemokraten dem Programm der Sozialdemokratischen Arbeiterpar-tei Rußlands gerade den Entwurf der Gruppe „Befreiung der Arbeit"zugrunde legen — einen Entwurf, der nur in Einzelheiten redaktionellerÄnderungen, Korrekturen und Ergänzungen bedarf.

Versuchen wir, von diesen, Einzelheiten betreffenden Änderungen die-jenigen aufzuführen, die uns zweckmäßig erscheinen und über die einMeinungsaustausch unter allen russischen Sozialdemokraten und klassen-bewußten Arbeitern herbeigeführt werden sollte.

Vor allem muß natürlich der Aufbau des Programms etwas geändertwerden: Im Jahre 1885 handelte es sich um das Programm einer Gruppeim Ausland befindlicher Revolutionäre, die den einzigen erfolgverspre-chenden Entwicklungsweg der Bewegung richtig zu bestimmen wußten,es jedoch damals noch nicht mit einer einigermaßen breiten und selb-ständigen Arbeiterbewegung in Rußland zu tun hatten. Im Jahre 1900handelt es sich bereits um das Programm einer Arbeiterpartei, die voneiner ganzen Reihe russischer sozialdemokratischer Organisationen ge-gründet worden ist. Abgesehen von den redaktionellen Änderungen, dieinfolgedessen notwendig sind (und auf die nicht näher eingegangen zuwerden braucht, weil sie sich von selbst verstehen), ergibt sich aus diesemUnterschied auch die Notwendigkeit, den ökonomischen Entwicklungs-prozeß, der die materiellen und geistigen Voraussetzungen der sozial-demokratischen Arbeiterbewegung hervorbringt, sowie den proletarischenKlassenkampf, dessen Organisierung sich die sozialdemokratische Parteizur Aufgabe macht, in den Vordergrund zu rücken und stärker zu be-tonen. Die Charakteristik der Grundzüge des heutigen Wirtschaftssystemsin Rußland und seiner Entwicklung müßte zum Angelpunkt des Pro-gramms gemacht werden (vgl. im Programm der Gruppe „Befreiung derArbeit": „Der Kapitalismus hat in Rußland seit Aufhebung der Leibeigen-schaft riesige Fortschritte gemacht. Das alte System der Naturalwirtschaftmacht der Warenproduktion Platz...") und danach müßte die Haupt-tendenz des Kapitalismus umrissen werden: Spaltung des Volkes in Bour-

15*

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geoisie und Proletariat, „wachsende Masse des Elends, des Drucks, derKnechtung, der Degradation, der Ausbeutung" 82. Diese letztangeführtenberühmten Worte von Marx werden im zweiten Absatz des Erfurter Pro-gramms83 der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands wiederholt; inletzter Zeit sind die Kritiker, die sich um Bernstein gruppieren, geradeüber diesen Punkt besonders heftig hergefallen, wobei sie die alten Ein-wände der bürgerlichen Liberalen und Sozialpolitiker gegen die „Verelen-dungstheorie" wiederholen. Unserer Meinung nach hat die Polemik, dieaus diesem Anlaß geführt wurde, die völlige Vnhaltbarkeit einer derarti-gen „Kritik" vollauf bewiesen. Bernstein selbst hat die Richtigkeit dieserWorte von Marx in dem Sinne zugegeben, daß sie eine Tendenz des Ka-pitalismus kennzeichnen — eine Tendenz, die Wirklichkeit wird ohne denKlassenkampf des Proletariats gegen diese Tendenz, ohne die von derArbeiterklasse erkämpften Arbeiterschutzgesetze. Gerade in Rußland sehenwir gegenwärtig, wie die erwähnte Tendenz sich mit außerordentlicherStärke auf die Bauernschaft und auf die Arbeiterschaft auswirkt. Weiteraber hat Kautsky gezeigt, daß die Worte von der „wachsenden Masse desElends usw." nicht nur als Charakteristik einer Tendenz richtig sind,sondern auch als Hinweis auf die Zunahme des „sozialen Elends", d. h.auf das wachsende Mißverhältnis zwischen der Lage des Proletariats unddem Lebensniveau der Bourgeoisie — einem Niveau von gesellschaft-lichen Bedürfnissen, die zusammen mit dem riesigen Wachstum der Ar-beitsproduktivität steigen. Schließlich sind diese Worte auch noch in demSinne richtig, daß die Zunahme des Elends — und zudem nicht nur des„sozialen" Elends, sondern auch des furchtbarsten physischen Elends, biszum Hunger und Hungertod einschließlich — „in den Grenzgebieten" desKapitalismus (d. h. in den Ländern und in den Zweigen der Volkswirt-schaft, in denen der Kapitalismus eben erst entsteht und auf vorkapitali-stische Zustände stößt) Massenausmaße annimmt. Jeder weiß, daß diesfür Rußland in einem zehnfach höheren Maße zutrifft als für irgendeinanderes europäisches Land. Also müssen unserer Meinung nadi die Wortevon der „wachsenden Masse des Elends, des Drucks, der Knechtung, derDegradation, der Ausbeutung" unbedingt in das Programm aufgenom-men werden — erstens, weil sie die grundlegenden und wesentlichenEigenschaften des Kapitalismus absolut richtig charakterisieren, weil siegerade den Prozeß charakterisieren, der sich vor unseren Augen vollzieht

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Entwurf eines Programms unserer "Partei 229

und der eine der Hauptbedingungen ist, die die Arbeiterbewegung undden Sozialismus in Rußland hervorbringen; zweitens, weil diese Worteein riesiges Material für die Agitation liefern, da sie eine ganze Reihevon Erscheinungen resümieren, die die Arbeitermassen am meisten be-drücken, aber auch am meisten empören (Arbeitslosigkeit, niedriger Ar-beitslohn, Unterernährung, Hungersnöte, drakonische Disziplin des Kapi-tals, Prostitution, wachsende Zahl der Dienerschaft usw. und dgl. mehr) ;drittens, weil wir uns durch diese genaue Kennzeichnung der verderblichenAuswirkungen des Kapitalismus und der Notwendigkeit, der Unvermeid-lichkeit der Empörung der Arbeiter von den halbschlächtigen Elementenabgrenzen, die mit dem Proletariat „sympathisieren" und „Reformen" zu •seinen Gunsten verlangen und zugleich bestrebt sind, die „goldene Mitte"zwischen Proletariat und Bourgeoisie, zwischen der autokratischen Re-gierung und den Revolutionären einzunehmen. Die Abgrenzung von die-sen Leuten aber ist gegenwärtig besonders notwendig, wenn wir eineeinige und geschlossene Arbeiterpartei schaffen wollen, die einen ent-schlossenen und unbeirrbaren Kampf für politische Freiheit und für denSozialismus führt.

Hier müssen ein paar Worte über unsere Haltung zum Erfurter Pro-gramm gesagt werden. Aus dem vorstehend Gesagten hat jeder bereitsersehen, daß wir es für notwendig halten, an dem Entwurf der Gruppe„Befreiung der Arbeit" Änderungen vorzunehmen, die das Programmder russischen Sozialdemokraten dem Programm der deutschen Sozial-demokraten annähern. Wir fürchten uns nicht im geringsten zu sagen,daß wir das Erfurter Programm nachahmen wollen: an der Nachahmungdessen, was gut ist, ist nichts Schlimmes, und gerade jetzt, wo man sohäufig eine opportunistische und halbschlächtige Kritik an diesem Pro-gramm hört, halten wir es für unsere Pflicht, uns offen für das ErfurterProgramm auszusprechen. Aber Nachahmung soll auf keinen Fall einfachesAbschreiben sein. Nachahmung und Entlehnung sind insoweit durchausberechtigt, als wir in Rußland die gleichen grundlegenden Entwicklungs-prozesse des Kapitalismus, die gleichen grundlegenden Aufgaben der So-zialisten und der Arbeiterklasse sehen, aber sie dürfen auf keinen Falldazu führen, die 'Besonderheiten Rußlands, die in den Besonderheiten un-seres Programms vollen Ausdrudk finden müssen, zu vergessen. Voraus-eilend wollen wir schon jetzt darauf hinweisen, daß diese Besonderheiten

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sich erstens auf unsere politischen Aufgaben und Kampfmittel beziehen;zweitens auf den Kampf gegen alle Überreste des patriarchalischen, vor-kapitalistischen Regimes und auf die durch diesen Kampf verursachte be-sondere Stellung der Bauerafrage.

Nach diesem notwendigen Vorbehalt gehen wir weiter. Der Erklärungüber die „wachsende Masse des Elends" muß eine Charakteristik des pro-letarischen Klassenkampfes folgen—Darlegung des Ziels dieses Kampfes(Übergang aller Produktionsmittel in gesellschaftliches Eigentum und Er-setzung der kapitalistischen Produktion durch die sozialistische) — Dar-legung des internationalen Charakters der Arbeiterbewegung — Dar-legung des politisdhen Charakters des Klassenkampfes und seines näch-sten Ziels (Eroberung politischer Freiheit). Die Anerkennung des Kampfesgegen die Selbstherrschaft und für politische Freiheit als erste politischeAufgabe der Arbeiterpartei ist besonders notwendig, zur Erläuterungdieser Aufgabe aber ist unserer Meinung nach darzulegen der Klassen-charakter des heutigen russischen Absolutismus und die Notwendigkeitseines Sturzes nicht nur im Interesse der Arbeiterklasse, sondern auch imInteresse der gesamten gesellschaftlichen Entwicklung überhaupt. Einesolche Erklärung ist sowohl in theoretischer Beziehung notwendig, dennvom Standpunkt der Grundideen des Marxismus stehen die Interessender gesellschaftlichen Entwicklung höher als die Interessen des Proleta-riats — die Interessen der ganzen Arbeiterbewegung in ihrer Gesamtheithöher als die Interessen einer einzelnen Arbeiterschicht oder einzelnerMomente der Bewegung; — als auch in praktischer Beziehung, um denzentralen Punkt zu bezeichnen, zu dem die ganze mannigfaltige, aus Pro-paganda, Agitation und Organisation bestehende Tätigkeit der Sozial-demokratie hinstrebt, und um den sich diese Tätigkeit gruppieren muß.Außerdem, glauben wir, sollte auch ein besonderer Absatz des ProgrammsderErklärunggewidmetwerden, daß dieSozialdemokratisdie Arbeiterparteies sich zur Aufgabe macht, jede revolutionäre Bewegung gegen den Abso-lutismus zu unterstützen und den Kampf zu führen gegen alle Versucheder autokratischen Regierung, das politische Bewußtsein des Volkes durchbürokratische Bevormundung und Scheinalmosen zu korrumpieren und zutrüben, durch jene demagogische Politik, die unsere deutschen Genossen„Peitsche und Zuckerbrot" * genannt haben. Zuckerbrot — das sind Al-

* „Peitsche und Zuckerbrot" bei Lenin deutsch. Der Ubers.

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mosen für diejenigen, die teilweiser und einzelner Verbesserungen dermateriellen Lage wegen sich von ihren politischen Forderungen lossagenund gefügige Sklaven der Polizeiwillkür bleiben (für die Studenten Ge-meinschaftswohnungen und dgl. mehr, und für die Arbeiter braucht mannur zu erinnern an die Proklamationen des Finanzministers Witte wäh-rend der Petersburger Streiks von 1896 und 1897 oder an die Reden zumSchütze der Arbeiter, die von Vertretern des Innenministeriums in der Kom-mission für denErlaß des Gesetzes vom 2. VI. 1897 gehalten worden sind).Peitsche — das sind die verstärkten Verfolgungsmaßnahmen gegen diejeni-gen, die trotz dieser Almosen Kämpfer für die politische Freiheit bleiben(Zwangsrekrutierung von Studenten84; das Rundschreiben vom 12. VIII.1897 über die Verschickung von Arbeitern nach Sibirien; verstärkte Ver-folgungen gegen die Sozialdemokratie und dgl. mehr). Das Zuckerbrotsoll Schwache ködern, bestechen und demoralisieren; die Peitsche sollehrliche und bewußte Kämpfer für die Sache der Arbeiter und des ganzenVolkes einschüchtern und „unschädlich machen". Solange der Absolutis-mus existiert (und wir müssen heute unser Programm eben mit Hinsichtauf die Tatsache abfassen, daß der Absolutismus existiert, denn sein Sturzwird unvermeidlich eine so große Veränderung der politischen Verhältnisseherbeiführen, daß die Arbeiterpartei genötigt ist, die Formulierung ihrernächsten politischen Aufgaben wesentlich zu ändern), solange der Absolu-tismus existiert, haben wir eine ständige Wiederholung und Verstärkungdieser demagogischen Maßnahmen der Regierung zu erwarten, und folg-lich müssen wir systematisch gegen sie kämpfen, indem wir die Verlogen-heit der polizeilichen Volksbeglücker entlarven, indem wir den Zusammen-hang der Reformen der Regierung mit dem Kampf der Arbeiter zeigen,indem wir das Proletariat lehren, sich jede Reform zunutze zu machen,um seine Kampfposition zu stärken, um die Arbeiterbewegung auszubrei-ten und zu vertiefen. Die Erklärung, daß wir alle Kämpfer gegen denAbsolutismus unterstützen, ist im Programm eben deshalb notwendig,weil die russische Sozialdemokratie, die mit den fortgeschrittenen Ele-menten der russischen Arbeiterklasse unauflöslich verschmolzen ist, dasgesamtdemokratisdoe Banner hissen muß, um alle Schichten und Elementeum sich zu gruppieren, die fähig sind, für die politische Freiheit zu kämp-fen oder wenigstens diesen Kampf in irgendeiner Weise zu unterstützen.

Das ist unsere Ansicht von den Forderungen, denen der prinzipielle

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Teil unseres Programms gerecht werden muß, und von den grundlegendenThesen, die darin so genau und prägnant wie möglich zum Ausdrude kom-men müssen. Aus dem Programmentwurf der Gruppe „Befreiung derArbeit" müssen unserer Meinung nach wegfallen (aus dem prinzipiellenTeil): 1. die Hinweise auf die Form des bäuerlidien Bodenbesitzes (überdie Bauernfrage werden wir weiter unten sprechen); 2. die Hinweise aufdie Ursachen der „Unbeständigkeit" usw. der Intelligenz; 3. der Punktüber „die Abschaffung des gegenwärtigen Systems der politischen Vertre-tung und seine Ersetzung durch die direkte Volksgesetzgebung"; 4. derPunkt über die „Mittel des politischen Kampfes". Wir sehen freilich indiesem letztgenannten Punkt nidits Veraltetes oder Unrichtiges: wir glau-ben im Gegenteil, daß die Mittel gerade die sein müssen, die die Gruppe„Befreiung der Arbeit" aufgezeigt hat (Agitation, revolutionäre Organi-sation, „im geeigneten Augenblick" Übergang zum entschlossenen An-griff, der, im Prinzip, auch auf den Terror nidit verzichtet), aber wirglauben, daß das Programm einer Arbeiterpartei für Hinweise auf dieMittel der Tätigkeit, die im Programm einer Auslandsgruppe von Revo-lutionären im Jahre 1885 notwendig waren, nicht der geeignete Platz ist.Das Programm muß die Frage der Mittel offenlassen und die Wahl derMittel den kämpfenden Organisationen und den Parteitagen, die die7aktik der Partei festlegen, überlassen. Fragen der Taktik aber könnenkaum ins Programm aufgenommen werden (mit Ausnahme der wesent-lichsten und prinzipiellsten Fragen, wie die Frage nadi dem Verhältnis zuden anderen Kämpfern gegen den Absolutismus). Die Fragen der Taktikwerden, in dem Maße, wie sie auftaudien, in der Zeitung der Partei er-örtert und auf den Parteitagen endgültig entschieden werden. Hierhergehört unserer Meinung nach auch die Frage des Terrors. Die Erörterungdieser Frage — eine Erörterung natürlich nicht von der prinzipiellen, son-dern von der taktischen Seite her — muß von den Sozialdemokraten un-bedingt begonnen werden, denn die Entwiddung der Bewegung führt vonselbst, spontan dazu, daß immer häufiger Spione getötet werden und daßdie leidensdiaftlidie Empörung in den Reihen der Arbeiter und der Sozia-listen stärker wird, da diese sehen, daß ein größerer und immer größererTeil ihrer Genossen in Einzelzellen und in den Verbannungsorten zu Todegequält wird. Um keinen Platz für Unklarheiten zu lassen, wollen wirgleidi hier sagen, daß unserer persönlidien Meinung nach der Terror

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gegenwärtig ein unzweckmäßiges Kampfmittel ist, daß die Partei {alsPartei) ihn ablehnen muß (bis zu einer Änderung der Verhältnisse, dieauch einen Wechsel der Taktik hervorrufen könnte) und alle ihre "Kräftekonzentrieren muß auf die Festigung der Organisation und die regel-mäßige Zustellung von Literatur. Hier ist nicht der Ort, eingehender da-von zu sprechen.

Was die Frage der direkten Volksgesetzgebung betrifft, so scheint uns,daß man sie gegenwärtig überhaupt nicht ins Programm aufnehmen soll.Man darf nicht prinzipiell den Sieg des Sozialismus mit der Ablösung desParlamentarismus durch die direkte Volksgesetzgebung verbinden. Dieshaben nach unserer Ansicht die Debatten über das Erfurter Programmund Kautskys Buch über Volksgesetzgebung bewiesen. Kautsky erkenntder Volksgesetzgebung (auf Grund einer historischen und politischenAnalyse) unter den folgenden Bedingungen einen gewissen Nutzen zu:1. Fehlen des Gegensatzes zwischen Stadt und Land oder ein überwiegender Städte; 2. Bestehen hochentwickelter politischer Parteien; 3. „Fehleneiner übermäßig zentralisierten, der Volksvertretung selbständig gegen-überstehenden Staatsgewalt". In Rußland sehen wir völlig entgegen-gesetzte Bedingungen, und die Gefahr, daß die „Volksgesetzgebung" zueinem imperialistischen „Plebiszit" ausartet, wäre bei uns besonders groß.Wenn Kautsky 1893 von Deutschland und Österreich sagte: „Für unsOsteuropäer gehört sie" (die direkte Volksgesetzgebung) „in das Inventardes .Zukunftsstaates'", so braucht man von Rußland gar nicht erst zureden. Wir glauben deshalb, daß wir uns jetzt, wo in Rußland die Selbst-herrschaft besteht, auf die Forderung nach einer „demokratischen Ver-fassung" beschränken und die ersten beiden Punkte des praktischen Teilsim Programm der Gruppe „Befreiung der Arbeit" den ersten beidenPunkten des praktischen Teils im „Erfurter Programm" vorziehen sollten.

Kommen wir zum praktischen Teil des Programms. Dieser Teil zer-fällt unserer Meinung nach, wenn nicht in der Darstellung, so doch demWesen der Sache nach in drei Abschnitte: 1. Forderungen nach gesamt-demokratischen Umbildungen, 2. Forderungen nach Arbeiterschutzmaß-nahmen und 3. Forderungen nach Maßnahmen im Interesse der Bauern.Im ersten Abschnitt ist es wohl kaum erforderlich, wesentliche Ände-rungen am „Programmentwurf" der Gruppe „Befreiung der Arbeit"vorzunehmen, der fordert: 1. allgemeines Wahlrecht; 2. Diäten für Volks-

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Vertreter; 3. allgemeine, weltliche, unentgeltliche und obligatorische Schul-bildung usw.; 4. Unantastbarkeit der Person und der Wohnungen derBürger; 5. unbeschränkte Freiheit des Gewissens, des Worts, der Ver-sammlungen usw. (hier sollte vielleicht speziell hinzugefügt werden:Streikfreiheit); 6. Freizügigkeit und Gewerbefreiheit (hier sollte vielleichthinzugefügt werden: „Freiheit der Umsiedlung" und „völlige Abschaffungder Pässe"); 7. volle Gleichberechtigung aller Bürger usw.; 8. Ersetzungdes stehenden Heeres durch allgemeine Volksbewaffnung; 9. „Revisionunserer gesamten Zivil- und Strafgesetzgebung, Abschaffung der Stände-ordnung und der Strafen, die mit der Menschenwürde unvereinbar sind".Hier sollte hinzugefügt werden: „völlige rechtliche Gleichstellung derFrau mit dem Manne". Ebenfalls in diesen Abschnitt sollte die Forderungnach Finanzreformen aufgenommen werden, die im Programm der Gruppe„Befreiung der Arbeit" unter den Forderungen formuliert ist, die „dieArbeiterpartei, gestützt auf diese politischen Grundrechte, aufstellenwird" — „Abschaffung des gegenwärtigen Steuersystems und Einführungeiner progressiven Einkommensteuer". Platz finden müßte hier schließ-lich auch die Forderung nach „Wahl der Beamten durch das Volk; Berech-tigung jedes Bürgers, jeden beliebigen Beamten ohne Beschwerde bei derübergeordneten Behörde gerichtlich zu belangen".

Im zweiten Abschnitt der praktischen Forderungen finden wir im Pro-gramm der Gruppe „Befreiung der Arbeit" die allgemeine Forderungnach „gesetzlicher Regelung der Beziehungen der (städtischen und länd-lichen) Arbeiter zu den LInternehmern und Organisierung einer entspre-chenden Inspektion, in der die Arbeiter vertreten sind". Wir glauben, dieArbeiterpartei muß die Forderungen zu diesem Punkt ausführlidier undeingehender darlegen, sie muß fordern: 1. den Achtstundentag; 2. dasVerbot der Nachtarbeit, das Verbot der Arbeit von Kindern unter 14 Jah-ren; 3. für jeden Arbeiter in der Woche eine ununterbrochene Ruhepausevon mindestens 36 Stunden; 4. die Ausdehnung der Fabrikgesetze undder Fabrikinspektion auf alle Zweige der Industrie und Landwirtschaft,auf die staatlichen Fabriken, die Handwerksbetriebe und die zu Hausearbeitenden Kustare. Wahl von Inspektorengehilfen, die die gleichenRechte haben wie die Inspektoren, durch die Arbeiter,- 5. Bildung von In-dustrie- und Landwirtschaftsgerichten in allen Zweigen der Industrie undLandwirtschaft mit Richtern, die von den Unternehmern und den Arbei-

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tern paritätisch gewählt werden; 6. unbedingtes, überall geltendes Verbotder Entlohnung in Waren; 7. gesetzliche Haftpflicht der Fabrikanten füralle Unfälle und Verstümmelungen von Arbeitern in der Industrie wieauf dem Lande; 8. eine gesetzliche Vorschrift, daß in allen Fällen vonLohnarbeit die Lohnzahlung mindestens einmal wöchentlich erfolgen muß;9. Aufhebung aller Gesetze, die die Gleichberechtigung von Unternehmernund Arbeitern verletzen (z. B. der Gesetze über die strafrechtliche Ver-antwortung der Fabrik- und Landarbeiter wegen Aufgabe der Arbeits-stelle; der Gesetze, die den Unternehmern bedeutend mehr Freiheit ge-ben, den Arbeitsvertrag zu lösen, als den Arbeitern usw.)- (Es verstehtsich von selbst, daß wir die erwünschten Forderungen nur skizzieren, ohneihnen die für den Entwurf erforderliche endgültige Formulierung zugeben.) Dieser Abschnitt des Programms muß (in Verbindung mit demVorhergehenden) die grundlegenden Leitsätze für die Agitation liefern,ohne natürlich die Agitatoren irgendwie daran zu hindern, in einzelnenGegenden, Produktionszweigen, Fabriken usw. andere, etwas veränderte,konkretere, mehr ins einzelne gehende Forderungen aufzustellen. BeiAbfassung dieses Programmabschnitts müssen wir deshalb bestrebt sein,zwei Extreme zu vermeiden: Einerseits darf keine der wichtigen, grund-legenden Forderungen, die von wesentlicher Bedeutung für die ganzeArbeiterklasse sind, ausgelassen werden; anderseits dürfen wir uns nichtübermäßig in Einzelheiten verlieren, da es unrationell wäre, das Programmmit ihnen vollzustopfen.

Die Forderung nach „Staatshilfe für Produktivgenossenschaften", dieim Programm der Gruppe „Befreiung der Arbeit" steht, muß unsererMeinung nach überhaupt aus dem Programm gestrichen werden. Sowohldie Erfahrungen anderer Länder und theoretische Erwägungen als auchdie Besonderheiten des russischen Lebens (die Neigung der bürgerlichenLiberalen und der Polizeiregierung, mit „Arteis" und mit der „Pro-tektion" der „Volksindustrie" zu liebäugeln, usw.) — all das sprichtgegen die Aufstellung dieser Forderung. (Natürlich stand die Sache vor15 Jahren in vielen Beziehungen anders, und damals war es natürlich,daß die Sozialdemokraten eine derartige Forderung in ihr Programmaufnahmen.)

Bleibt der letzte — dritte — Abschnitt des praktischen Programm-teils: die Forderungen in der Bauernfrage. Im Programm der Gruppe

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„Befreiung der Arbeit" finden wir eine solche Forderung, und zwar dieForderung nach „radikaler Revision unserer Agrarverhältnisse, d. h. derBedingungen für den Loskauf des Bodens und für seine Zuweisung an dieBauerngemeinden. Den Bauern, die das angemessen finden, ist das Rechteinzuräumen, auf den Bodenanteil zu verzichten und aus der Dorfge-meinde auszuscheiden, und dgl. mehr."

Mir scheint, daß der hier zum Ausdruck gebrachte Grundgedanke ab-solut richtig ist und daß die Sozialdemokratische Arbeiterpartei wirklichin ihrem Programm eine entsprechende Forderung aufstellen muß (ichsage: eine entsprechende, denn einige Änderungen erscheinen mir wün-schenswert).

Meine Auffassung von dieser Frage ist die folgende. Die Bauernfragein Rußland unterscheidet sich wesentlich von der Bauernfrage im Westen,aber sie-unterscheidet sich nur dadurch, daß es sich im Westen fast aus-schließlich um den Bauern in einer kapitalistischen, bürgerlichen Gesell-schaft handelt, in Rußland dagegen hauptsächlich um den Bauern, derunter vorkapitalistisdien Einrichtungen und Verhältnissen nicht weniger(wenn nicht mehr) zu leiden hat, der unter den Überresten der £eib-eigensdoaft zu leiden hat. Die Rolle der Bauernschaft als einer Klasse, dieKämpfer gegen den Absolutismus und gegen die Überreste der Leibeigen-schaft stellt, ist im Westen bereits ausgespielt, in Rußland noch nicht. ImWesten ist das Industrieproletariat seit langem und scharf vom Dorfegetrennt, und diese Trennung ist bereits durch entsprechende Rechtsinsti-tutionen verankert. In Rußland „ist das Industrieproletariat nach seinenBestandselementen und Existenzbedingungen noch in hohem Grade mitdem Dorf verbunden" (P. B. Axelrod, zitierte Broschüre, S. 11). Freilichgeht der Prozeß der Auflösung der Bauernschaft in Kleinbourgeoisie undLohnarbeiter bei uns mit großer Kraft, mit erstaunlicher Geschwindigkeitvor sich, aber dieser Prozeß ist bei weitem noch nicht abgeschlossen, und— was die Hauptsache ist — dieser Prozeß vollzieht sich bei uns noch imRahmen der alten, fronherrschaftlichen Institutionen, die alle Bauerndurch die schwere Kette der solidarischen Haftung und der fiskalischenDorfgemeinschaft fesseln. Der russische Sozialdemokrat, selbst wenn er(wie der Schreiber dieser Zeilen) zu den entschiedenen Gegnern desSchutzes oder der Unterstützung des Kleineigentums oder der kleinenWirtschaft in der kapitalistischen Gesellschaft gehört, d. h., selbst wenn

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er sich auch in der Agrarfrage (wie der Schreiber dieser Zeilen) auf dieSeite derjenigen Marxisten stellt, die von allen möglichen Bourgeois undOpportunisten heute gern als „Dogmatiker" und „Rechtgläubige" be-schimpft werden, kann und muß somit, ohne im mindesten seinen Über-zeugungen untreu zu werden, ja, im Gegenteil, gerade kraft dieser Über-zeugungen, dafür eintreten, daß die Arbeiterpartei die Unterstützung derBauernschaft auf ihr Banner schreibt (keineswegs als einer Klasse vonKleineigentümern oder kleinen Landwirten), soweit diese Bauernschaftzum revolutionären Kampf gegen die Überreste der Leibeigenschaft imallgemeinen und gegen den Absolutismus im besonderen fähig ist. Er-klären wir Sozialdemokraten doch alle, daß wir bereit sind, auch dieGroßbourgeoisie zu unterstützen, soweit sie zum revolutionären Kampfgegen die erwähnten Erscheinungen fähig ist — wie also können wir derviele Millionen zählenden Klasse der Kleinbourgeoisie, die durch allmäh-liche Übergänge mit dem Proletariat verschmilzt, eine solche Unterstüt-zung versagen? Wenn die Unterstützung liberaler Forderungen der Groß-bourgeoisie nicht die Unterstützung der Großbourgeoisie bedeutet, sobedeutet doch auch die Unterstützung der demokratischen Forderungender Kleinbourgeoisie keineswegs eine Unterstützung der Kleinbourgeoisie:im Gegenteil, gerade die Entwicklung, die Rußland politische Freiheitgeben wird, wird mit besonderer Kraft dazu führen, daß die kleine Wirt-schaft unter den Schlägen des Kapitals zugrunde geht. Mir scheint, daßes in diesem Punkt unter Sozialdemokraten keine Streitigkeiten gebenwird. Die ganze Frage ist also die: 1. Wie gerade solche Forderungen aus-gearbeitet werden können, die nicht zur Unterstützung der Kleinbesitzerin der kapitalistischen Gesellschaft abgleiten, und 2. ob unsere Bauern-schaft wenigstens teilweise zum revolutionärem Kampf gegen die Über-reste der Leibeigenschaft und gegen den Absolutismus fähig ist.

Beginnen wir mit der zweiten Frage. Wohl niemand wird bestreiten,daß es in der russischen Bauernschaft revolutionäre Elemente gibt. Be-kannt sind die Tatsachen der Bauernaufstände gegen Gutsherren, gegenderen Verwalter, gegen die sie schützenden Beamten auch nach der Re-form, bekannt sind die Tatsachen der Totschläge, Rebellionen usw. aufdem Lande. Bekannt ist die Tatsache der wachsenden Empörung in derBauernschaft (in der sogar die annseligen Ansätze von Bildung bereits dasGefühl menschlicher Würde zu erwecken begonnen haben) gegen die bar-

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barische Willkür jener Bande wohlgeborenen Lumpenpacks, die unter demNamen von Landeshauptleuten auf die Bauern losgelassen worden ist.Bekannt ist die Tatsache der immer häufiger werdenden Hungersnöte fürMillionen des Volkes, die nicht teilnahmslose Zuschauer derartiger „Er-nährungsschwierigkeiten" bleiben können. Bekannt ist die Tatsache, daßsich in der Bauernschaft Sektenwesen und Rationalismus ausbreiten — derin religiöser Hülle auftretende politische Protest aber ist eine Erscheinung,die in einem bestimmten Entwicklungsstadium allen Völkern und nicht nurRußland eigen ist. Das Vorhandensein revolutionärer Elemente in derBauernschaft unterliegt also nicht dem geringsten Zweifel. Wir übertrei-ben nicht im geringsten die Kraft dieser Elemente, wir vergessen nicht diepolitische Unentwickeltheit und Unbildung der Bauern, wir verwischennicht im geringsten die Grenzscheide zwischen „der sinnlosen und er-barmungslosen russischen Rebellion" und dem revolutionären Kampf,wir vergessen nicht im geringsten, welche Unzahl von Mitteln die Regie-rung besitzt, um die Bauern politisch zu prellen und zu demoralisieren.Aber aus alledem folgt nur, daß es unsinnig wäre, die Bauernschaft zumIräger der revolutionären Bewegung zu proklamieren, daß eine Parteiohne jede Vernunft wäre, die den revolutionären Charakter ihrer Be-wegung von der revolutionären Stimmung der Bauernschaft abhängigmadben würde. Wir denken ja gar nicht daran, den russischen Sozial-demokraten irgend etwas Derartiges vorzuschlagen. Wir sagen lediglich,daß die Arbeiterpartei, ohne die Grundgebote des Marxismus zu verlet-zen und einen gewaltigen politischen Fehler zu begehen, an den revolu-tionären Elementen, die es auch in der Bauernschaft gibt, nicht vorbei-gehen, diesen Elementen nicht die Unterstützung versagen kann. Ob dieserevolutionären Elemente tier russischen Bauernschaft es vermögen, auchnur so in Erscheinung zu treten, wie die westeuropäischen Bauern beimSturz des Absolutismus in Erscheinung getreten sind — das ist eine Frage,auf die die Geschichte noch keine Antwort gegeben hat. Wenn sie es nichtvermögen, so wird das weder dem guten Namen noch der Bewegung derSozialdemokratie Abbruch tun, denn es ist nicht ihre Schuld, daß dieBauernschaft auf ihren revolutionären Appell nicht geantwortet hat (viel-leicht nicht imstande war zu antworten). Die Arbeiterbewegung geht ihrenWeg und wird ihn weitergehen, ungeachtet jedes wie immer geartetenVerrats der Groß- oder Kleinbourgeoisie. Wenn sie es vermögen, so würde

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die Sozialdemokratie, die die Bauernschaft nicht dabei unterstützt hätte,für immer ihren guten Namen und das Recht verloren haben, als der Vor-kämpfer der Demokratie zu gelten.

Um zu der ersten oben gestellten Frage überzugehen, müssen wirsagen, daß die Forderung nach „radikaler Revision der Agrarverhältnisse"uns unklar vorkommt: vor 15 Jahren mag sie genügt haben, heute aber,wo wir richtunggebendes Material für die Agitation liefern und uns außer-dem von den Verteidigern der kleinen Wirtschaften abgrenzen müssen,die in der heutigen russischen Gesellschaft so zahlreich sind und so „ein-flußreiche" Anhänger finden wie die Herren Pobedonoszew, Witte undsehr viele Beamte des Innenministeriums, kann man sich mit ihr schwer-lich zufriedengeben. Wir erlauben uns, den Genossen etwa die folgendeFormulierung für den dritten Abschnitt des praktischen Teils unseresProgramms zur Erörterung zu unterbreiten:

„Die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Rußlands, die jede revolutio-näre Bewegung gegen die heutige Staats- und Gesellschaftsordnung unter-stützt, erklärt, daß'sie der Bauernschaft Unterstützung angedeihen läßt,soweit diese als die unter der Rechtlosigkeit des russischen Volkes undden Überresten der Leibeigenschaft in der russischen Gesellschaft ammeisten leidende Klasse zum revolutionären Kampf gegen die Selbstherr-schaft fähig ist.

Von diesem Prinzip ausgehend, fordert die Sozialdemokratische Ar-beiterpartei Rußlands:

1. Abschaffung der Loskauf- und Fronzinszahlungen sowie aller Lasten,,die gegenwärtig die Bauernschaft als abgabenpflichtiger Stand zu tragen hat.

2. Rückerstattung des Geldes, das die Regierung und die Gutsherrenden Bauern in Form von Loskaufzahlungen geraubt haben, an das Volk.

3. Abschaffung der solidarischen Haftung und aller Gesetze, die dieVerfügungsgewalt des Bauern über seinen Boden einschränken.

4. Vernichtung aller Überreste fronherrschaftlicher Abhängigkeit derBauern von den Gutsbesitzern, ob diese Überreste nun besonderen Ge-setzen und Institutionen entspringen (z. B. die Lage der Bauern und derArbeiter in den Bergbau- und Hüttenrevieren des Ural) oder daraus, daßdie Bauern- und Gutsherrenländereien immer noch nicht voneinander ab-gegrenzt sind (z. B. die Überreste der Servituten85 in den Westgebieten),oder schließlich daraus, daß die Wegnahme von Bauernland (der Boden-

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,abschnitte') durch den Gutsbesitzer die Bauern faktisch in die ausweg-lose Lage der früheren Fronbauern versetzt.

5. Berechtigung der Bauern, im Gerichtswege die Herabsetzung einerübermäßig hohen Pachtzahlung zu verlangen sowie die Gutsherren undüberhaupt alle Personen, die die Not der Bauern ausnutzen, um sie inSchuldknechtschaft zu verstricken, wegen Wuchers zu belangen."

Auf die Motivierung dieses Vorschlags müssen wir besonders ausführ-lich eingehen — nicht weil dieser Teil des Programms der wichtigste wäre,sondern weil er am meisten umstritten ist und weil er mit den allgemeinfestgestellten, von allen Sozialdemokraten anerkannten Wahrheiten imentferntesten Zusammenhang steht. Der einleitende Satz über die (be-dingte) „Unterstützung" der Bauernschaft scheint uns deshalb notwendig,weil das Proletariat, allgemein gesprochen, nicht die Verteidigung derInteressen einer Klasse von kleinen Unternehmern übernehmen kann unddarf; es kann sie lediglich insoweit unterstützen, als sie revolutionär ist.Da nun gerade die Selbstherrschaft gegenwärtig die ganze Rückständig-keit Rußlands, alle Überreste der Leibeigenschaft, der Rechtlosigkeit undder „patriarchalischen" Knechtung in sich verkörpert, so muß dargelegtwerden, daß die Arbeiterpartei die Bauernschaft nur insoweit unterstützt,als sie zum revolutionären Kampf gegen die Selbstherrschaft fähig ist.Eine solche These wird offenbar durch die folgende These im Entwurf derGruppe „Befreiung der Arbeit" ausgeschlossen: „Die Hauptstütze desAbsolutismus besteht gerade in der politischen Gleichgültigkeit und gei-stigen Rückständigkeit der Bauernschaft." Dies aber ist ein Widerspruchnicht der Theorie, sondern des Lebens selbst, denn die Bauernschaft zeich-net sich (wie die Klasse der Kleinbesitzer überhaupt) durch zwiespältigeZüge aus. Ohne die bekannten ökonomischen Argumente zu wiederholen,die die innerlich widerspruchsvolle Lage der Bauernschaft beweisen, wol-len wir daran erinnern, daß Marx die französische Bauernschaft zu Be-ginn der fünfziger Jahre wie folgt charakterisiert hat:

.. . „Die Dynastie Bonaparte repräsentiert nicht den revolutionären,sondern den konservativen Bauer, nicht den Bauer, der über seine sozialeExistenzbedingung, die Parzelle, hinausdrängt, sondern der sie vielmehrbefestigen will, nicht das Landvolk, das durch eigne Energie im Anschlußan die Städte die alte Ordnung umstürzen, sondern umgekehrt dumpfverschlossen in dieser alten Ordnung sich mitsamt seiner Parzelle von dem

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Gespenste des Kaisertums gerettet und bevorzugt sehen will. Sie reprä-sentiert nicht die Aufklärung, sondern den Aberglauben des Bauern, nichtsein Urteil, sondern sein Vorurteil, nicht seine Zukunft, sondern seineVergangenheit, nicht seine modernen Cevennen, sondern seine moderneVendee." („Der 18. Brumaire", S. 99.)86 Eben die Unterstützung jenerBauernschaft, die danach strebt, die „alte Ordnung" umzustürzen, d. h.in Rußland zuerst und vor allem die-Selbstherrschaft, ist für die Arbeiter-partei notwendig. Die russischen Sozialdemokraten haben stets die Not-wendigkeit anerkannt, aus der Doktrin und Richtung der Volkstümlereidie revolutionäre Seite zu entnehmen und sie sich zu eigen zu machen.Im Programm der Gruppe „Befreiung der Arbeit" findet dies nicht nurin der oben zitierten Forderung nach „radikaler Revision" usw. Aus-druck, sondern auch in den folgenden Worten: „Es versteht sich übri-gens von selbst, daß auch heute Menschen, die unmittelbare Fühlung mitder Bauernschaft haben, durch ihre Tätigkeit unter den Bauern der so-zialistischen Bewegung in Rußland einen wichtigen Dienst leisten könn-ten. Die Sozialdemokraten werden diese Menschen nicht von sich weg-stoßen, im Gegenteil, sie werden alle Kraft aufbieten, um sich mit ihnenin den grundlegenden Prinzipien und Methoden ihrer Tätigkeit zu ver-ständigen." Vor 15 Jahren, als die Traditionen der revolutionären Volks-tümlerrichtung noch lebendig waren, genügte eine solche Erklärung, heuteaber müssen wir selbst mit der Erörterung der „grundlegenden Prinzi-pien" für die Tätigkeit in der Bauernschaft beginnen, wenn wir wollen,daß die Sozialdemokratische Arbeiterpartei zum Vorkämpfer der Demo-kratie wird.

Führen jedoch die von uns vorgeschlagenen Forderungen auch wirklichzur Unterstützung der Person der Bauern und nicht ihres Eigentums?nicht zur Konsolidierung der kleinen Wirtschaften? entsprechen sie demganzen Gang der kapitalistischen Entwicklung? Betrachten wir diese Fra-gen, die für einen Marxisten die wichtigsten sind.

Hinsichtlich der 1. und der 3. Forderung kann es unter Sozialdemokra-ten schwerlich eine Meinungsverschiedenheit dem Wesen der Sadbe nadbgeben. Die zweite Forderung wird wahrscheinlich auch Meinungsver-schiedenheiten hervorrufen, die das Wesen der Sache betreffen. Für siesprechen unserer Meinung nach die folgenden Erwägungen: 1. Es ist Tat-sache, daß die Loskauf Zahlungen eine direkte Beraubung der Bauern

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durch die Gutsherren waren, daß sie nicht nur für den bäuerlichen Bodengezahlt wurden, sondern auch für die Leibeigenschaft, daß die Regierungden Bauern mehr nahm, als sie den Grundherren bezahlte,- 2. wir habenkeinen Grund, diese Tatsache als ein völlig abgeschlossenes und bereitsins Archiv der Geschichte eingegangenes Ereignis zu betrachten, denndie hochwohlgeborenen Ausbeuter selbst, die jetzt von „Opfern" schreien,die sie damals gebracht hätten, betrachten die bäuerliche Reform nicht indieser Weise; 3. gerade jetzt, wo die Hungersnot für Millionen Bauernzu einer chronischen Erscheinung wird, wo die Regierung, die Millionenfür Geschenke an Gutsherren und Kapitalisten, für ihre abenteuerlicheAußenpolitik verschwendet, bei den Hilfeleistungen für die Hungerndenum jeden Pfennig feilscht, gerade jetzt ist es angebracht und notwendig,daran zu erinnern, wieviel die Mißwirtschaft der autokratischen Regie-rung, die den Interessen der privilegierten Klassen dient, das Volk ge-kostet hat; 4. die Sozialdemokraten können der Hungersnot und demHungersterben der Bauernschaft nicht gleichgültig zuschauen, über dieNotwendigkeit umfassendster Hilfe für die Hungernden gab es unter denrussischen Sozialdemokraten niemals zwei Meinungen. Und schwerlichwird jemand behaupten, daß eine ernstliche Hilfe ohne revolutionäreMaßnahmen möglich ist; 5. die Expropriation der Apanageländereien unddie verstärkte Mobilisierung der Adelsländereien — d. h. das, was dieFolge einer Verwirklichung der vorgeschlagenen Forderung wäre — wür-den der gesamten gesellschaftlichen Entwicklung Rußlands nur Nutzenbringen. Qegen die vorgeschlagene Forderung würde man wahrscheinlichhauptsächlich ihre „Undurchführbarkeit" ins Feld führen. Wenn einsolcher Einwand nur durch Phrasen gegen „Revolutionarismus" und„Utopismus" gestützt wird, so sagen wir im voraus, daß derartige oppor-tunistische Phrasen uns nicht im geringsten schrecken und daß wir ihnenkeinerlei Bedeutung beimessen. Wird der erwähnte Einwand dagegendurch eine Analyse der ökonomischen und der politischen Bedingungenunserer Bewegung gestützt, so geben wir die Notwendigkeit einer ein-gehenderen Erörterung dieser Frage und den Nutzen einer Polemik indieser Frage vollauf zu. Bemerken wollen wir nur, daß diese Forderungnicht selbständig dasteht, sondern einen Teil der Forderung bildet, dieBauernschaft zu unterstützen, soweit sie revolutionär ist. Die Frage, wieund mit welcher Kraft diese Elemente der Bauernschaft in Erscheinung

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treten werden, wird die Geschichte entscheiden. Wenn unter „Durchführ-barkeit" der Forderungen nicht ihre allgemeine Übereinstimmung mit denInteressen der gesellschaftlichen Entwicklung verstanden würde, sondernihre Übereinstimmung mit der jeweiligen Konjunktur der ökonomischenund politischen Verhältnisse, so wäre ein solches Kriterium absolut un-richtig, wie Kautsky in seiner Polemik gegen Rosa Luxemburg überzeu-gend gezeigt hat, die die Forderung der Unabhängigkeit Polens als (fürdie polnische Arbeiterpartei) „undurchführbar" bezeichnet hatte. Kautskyführte damals (wenn uns das Gedächtnis nicht trügt) als Beispiel die For-derung des Erfurter Programms an, die von der Wahl der Beamten durchdas Volk spricht. Die „Durchführbarkeit" dieser Forderung ist im heuti-gen Deutschland mehr als zweifelhaft, aber kein Sozialdemokrat hat jeden Vorschlag gemacht, die Forderungen der Sozialdemokratie auf denengen Rahmen des im gegebenen Augenblick und unter den gegebenenVerhältnissen Möglichen zu beschränken.

Was weiter Punkt 4 anbelangt, so wird wahrscheinlich niemand imPrinzip etwas dagegen einzuwenden haben, daß die Sozialdemokraten dieVernichtung aller Überreste fronherrschaftlicher Abhängigkeit fordernmüssen. Zu klären wird wahrscheinlich nur die Formulierung dieser For-derung und dann ihr Umfang sein, d. h. die Frage, ob z. B. die Forde-rung nach Maßnahmen in sie einbezogen werden soll, die die durch dieWegnahme von Bauernland (der Boden„abschnitte") im Jahre 1861geschaffene faktische Fronabhängigkeit der Bauern beseitigen. UnsererMeinung nach muß diese Frage bejaht werden. Die gewaltige Bedeu-tung des faktischen Weiterbestehens der Fron-(Abarbeits-)Wirtschaft istin der Literatur in vollem Umfang festgestellt worden, ebenso aber auchdie gewaltige Hemmung der gesellschaftlichen Entwicklung (und der Ent-wicklung des Kapitalismus), die aus diesem Weiterbestehen resultiert.Natürlich führt die Entwicklung des Kapitalismus „von selbst, auf natür-lichem Wege" zur Beseitigung dieser Überbleibsel und wird sie zu guterLetzt ganz beseitigen; aber erstens besitzen diese Überbleibsel außer-ordentliche Festigkeit, so daß mit ihrer raschen Beseitigung nicht gerechnetwerden darf, und zweitens bedeutet — und das ist die Hauptsache — der„natürliche Weg" nichts anderes als das Aussterben der Bauern, die fak-tisch (infolge der Abarbeit usw.) an den Boden gefesselt sind und von denGutsbesitzern geknechtet werden. Selbstverständlich können die Sozial-

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demokraten unter solchen Umständen diese Frage in ihrem Programmnicht mit Schweigen übergehen. Man wird uns fragen: Wie könnte dieseForderung verwirklicht werden? Wir glauben, daß es nicht notwendig ist,hiervon im Programm zu sprechen. Natürlich wird die Verwirklichungdieser Forderung (die, wie die Verwirklichung fast aller Forderungendieses Abschnitts, von der Stärke der revolutionären Elemente der Bauern-schaft abhängt) eine allseitige Untersuchung der örtlichen Bedingungendurch gewählte örtliche Vertrauensleute, durch Bauernkomitees erfor-dern — als Gegengewicht gegen die Adelskomitees, die ihren „gesetz-lichen" Raub in den sechziger Jahren verübten; die demokratischenForderungen des Programms definieren hinreichend die demokratischenInstitutionen, die für diesen Zweck nötig wären. Dies wäre eben die „radi-kale Revision der Agrarverhältnisse", von der das Programm der Gruppe„Befreiung der Arbeit" spricht. Wie bereits oben bemerkt, sind wir mitdiesem Punkt des Entwurfs der Gruppe „Befreiung der Arbeit" im Prinzipeinverstanden und möchten nur 1. die Bedingungen feststellen, unter denendas Proletariat für die Klasseninteressen der Bauernschaft kämpfen kann;2. den Charakter der Revision bestimmen: die Vernichtung der Überrestefronherrschaftlicher Abhängigkeit,- 3. den Forderungen konkreteren Aus-druck verleihen. — Wir sehen noch einen Einwand voraus: Die Revisionder Frage der Boden„abschnitte" und dgl. muß dazu führen, daß dieseLändereien den Bauern zurückgegeben werden. Das ist klar. Wird dies je-doch nicht das Kleineigentum, die Kleiriparzelle festigen? können denndie Sozialdemokraten wünschen, daß die kapitalistischen Großwirtschaf-ten, die vielleicht auf den den Bauern geraubten Bodenflächen betriebenwerden, durch kleine Wirtschaften ersetzt werden? Das wäre doch einereaktionäre Maßnahme! — Wir antworten: Zweifellos ist eine Ersetzungder großen Wirtschaft durch die kleine reaktionär, und wir dürfen nichtdafür eintreten. Aber die zu untersuchende Forderung ist doch bedingtdurch das Ziel, „die Überreste fronherrschaftlicher Abhängigkeit zu ver-nichten" — folglich kann sie nicht zur Zersplitterung der großen Wirt-schaften führen; sie bezieht sich lediglich auf die alten Wirtschaften, dieihrem Wesen nach zum Typus der reinen Fronwirtschaften gehören — undihnen gegenüber ist die von allen mittelalterlichen Einengungen freiebäuerliche Wirtschaft (siehe Punkt 3) nidbt reaktionär, sondern progressiv.Natürlich ist es nicht leicht, hier eine Grenzlinie zu ziehen — aber wir

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Entwurf eines Programms unserer Partei 245

glauben ja durchaus nicht, daß irgendeine Forderung unseres Programms„leicht" zu verwirklichen sein wird. Unsere Sache ist es, die Grundprin-zipien und Grundaufgaben festzulegen, für die Einzelheiten aber werdendie zu sorgen wissen, denen es beschieden sein wird, diese Aufgaben prak-tisch zu lösen.

Der letzte Punkt strebt seinem Zweck nach das gleiche an wie der vor-hergehende: den Kampf gegen alle (im russischen Dorf so reichlich vor-handenen) Überreste vorkapitalistischer Produktionsweise. Bekanntlichist die bäuerliche Pacht in Rußland sehr häufig nur eine Tarnung für dasWeiterbestehen der Fronverhältnisse. Die Idee dieses letzten Punktesnun haben wir Kautsky entlehnt, der mit dem Hinweis darauf, daß schondas liberale Ministerium Gladstone 1881 für Irland ein Gesetz erließ, dasden Gerichten das Recht zur Herabsetzung übermäßig hoher Pachtpreiseverlieh, unter die wünschenswerten Forderungen auch die folgende auf-nahm: „Reduzierung übermäßiger Pachtzinsen durch dazu eingesetzteGerichtshöfe". In Rußland wäre dies besonders nützlich (natürlich beidemokratischer Organisation dieser Gerichte) in bezug auf die Verdrän-gung der Fronverhältnisse. Dazu, so meinen wir, könnte auch die Forde-rung hinzugefügt werden, die Wuchergesetze auf knechtende Abmachun-gen auszudehnen: im russischen Dorf ist die Schuldknechtschaft so maßlosentwickelt, sie ist für den Bauern ah Arbeiter eine solch schwere Last, siehemmt den sozialen Fortschritt so ungeheuerlich, daß der Kampf gegensie besonders notwendig ist. Den knechtenden, wucherischen Charaktereiner Abmachung aber könnte das Gericht natürlich ebenso leicht fest-stellen wie die übermäßige Höhe einer Pachtzahlung.

Im großen und ganzen laufen die von uns vorgeschlagenen Forderun-gen unserer Meinung nach auf zwei Hauptziele hinaus: 1. alle vorkapi-talistischen, fronherrschaftlichen Institutionen und Verhältnisse auf demLande zu vernichten (eine Ergänzung finden diese Forderungen im erstenAbschnitt des praktischen Programmteils); 2. dem Klassenkampf auf demLande offeneren und bewußteren Charakter zu verleihen. Wir glauben, ge-rade diese Prinzipien müssen für das sozialdemokratische „Agrarpro-gramm" in Rußland richtungweisend sein; — es ist notwendig, sich ent-schieden von den in Rußland so zahlreichen Bestrebungen abzugrenzen,den Klassenkampf im Dorf beizulegen. Die herrschende liberal-volkstüm-lerische Richtung zeichnet sich gerade durch diesen Charakter aus, aber

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wenn wir sie entschlossen ablehnen (wie das auch im „Anhang zum Be-richt der russischen Sozialdemokraten auf dem internationalen Kongreßin London" geschehen ist), so darf nicht vergessen werden, daß wir dabeiden revolutionären Inhalt der Volkstümlerbewegung ausnehmen müssen.„Soweit die Volkstümlerrichtung revolutionär war, d. h. sich gegen denständisch-bürokratischen Staat und gegen die von ihm unterstützten bar-barischen Formen der Ausbeutung und Unterdrückung der Volksmassenwandte, soweit mußte sie mit den entsprechenden Abänderungen als einBestandselement in das Programm der russischen Sozialdemokratie ein-gehen." (Axelrod, „Zur Frage der gegenwärtigen Aufgaben und der Tak-tik", S. 7.) Im russischen Dorf verflechten sich gegenwärtig zwei Haupt-formen des Klassenkampfes: 1. der Kampf der Bauernschaft gegen dieprivilegierten Grundbesitzer und gegen die Überreste der Leibeigenschaft;2. der Kampf des im Entstehen begriffenen Dorfproletariats gegen dieDorfbourgeoisie. Für Sozialdemokraten ist natürlich der zweite Kampfvon größerer Bedeutung, aber sie müssen unbedingt auch den erstenKampf unterstützen, sofern das den Interessen der gesellschaftlichen Ent-wicklung nidbt widerspricht. Nicht zufällig nahm und nimmt die Bauern-frage in der russischen Gesellschaft und in der russischen revolutionärenBewegung soviel Platz ein-, diese Tatsache ist nur eine Widerspiegelungdessen, daß auch der erstgenannte Kampf immer noch große Bedeutungbehält.

Zum Schluß muß einem möglichen Mißverständnis vorgebeugt werden.Wir sprachen von dem „revolutionären Appell" der Sozialdemokratie andie Bauern. Bedeutet dies nicht, sich verzetteln, der notwendigen Kon-zentration der Kräfte auf die Arbeit unter dem IndustrieproletariatSchaden tun? Durchaus nicht; die Notwendigkeit einer solchen Konzen-tration geben alle russischen Sozialdemokraten zu, auf sie wird sowohlim Entwurf der Gruppe „Befreiung der Arbeit" vom Jahre 1885 als auchin der Broschüre „Die Aufgaben der russischen Sozialdemokraten" imJahre 1898 hingewiesen. Folglich besteht durchaus kein Grund zu be-fürchten, daß die Sozialdemokraten ihre Kräfte verzetteln werden. EinProgramm ist ja keine Instruktion: das Programm muß die ganze Bewe-gung umfassen, in der Praxis aber muß natürlich bald die eine, bald dieandere Seite der Bewegung in den Vordergrund gerückt werden. Niemandwird die Notwendigkeit bestreiten, im Programm nicht nur von den Indu-

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Entwurf eines "Programms unserer "Partei 247

stfiearbeitern, sondern auch von den Landarbeitern zu sprechen, obwohlgleichzeitig kein einziger russischer Sozialdemokrat je daran gedacht, hat,beim gegenwärtigen Stand der Dinge die Genossen aufzufordern, aufsLand zu gehen. Aber die Arbeiterbewegung wird unvermeidlich von selbst,sogar unabhängig von unserem Bemühen, zur Verbreitung der demokra-tischen Ideen auf dem Lande führen. „Die Agitation auf der Grundlageder ökonomischen Interessen wird unvermeidlich die sozialdemokratischenZirkel unmittelbar auf Tatsachen stoßen lassen, die ihnen die überausenge Interessensolidarität zwischen unserem Industrieproletariat und denBauernmassen anschaulich zeigen" (Axelrod, ib., S. 13), und das ist derGrund, weshalb ein „Agrarprogramm"* (im aufgezeigten Sinn-, streng-genommen ist es natürlich gar kein „Agrarprogramm") für die russischenSozialdemokraten dringend notwendig ist. In unserer Propaganda undAgitation stoßen wir ständig auf bäuerliche Arbeiter, d. h. auf Fabrik-und Werkarbeiter, die Verbindungen mit dem Dorf aufrechterhalten,dort ihre Verwandten, ihre Familie haben, dorthin fahren. Für die Fra-gen der Loskaufzahlungen, der solidarischen Haftung, der Pachtzahlunghat sogar fast jeder hauptstädtische Arbeiter ein lebhaftes Interesse (wirsprechen gar nicht erst z. B. von den Arbeitern im Ural, wo die sozial-demokratische Propaganda und Agitation gleichfalls einzudringen begon-nen hat). Wir würden unsere Pflicht versäumen, wenn wir uns nicht be-mühten, den Sozialdemokraten und klassenbewußten Arbeitern, die oftins Dorf kommen, genaue Anleitung zu geben. Ferner darf auch die Dorf-intelligenz nicht vergessen werden, z. B. die Volksschullehrer, die sowohlmateriell als auch geistig eine sie so erniedrigende Stellung einnehmen,die die Rechtlosigkeit und Knechtung des Volkes aus solcher Nähe beob-achten und so am eigenen Leibe verspüren, daß sich ohne Zweifel (beiweiterem Anwachsen der Bewegung) unter ihnen die Sympathie mit demSozialdemokratismus immer mehr ausbreiten wird.

Also dies müssen unserer Meinung nach die Bestandteile eines Pro-gramms der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands sein: 1. Dar-legung des Grundcharakters der ökonomischen Entwicklung in Rußland;2. Darlegung des unvermeidlichen Ergebnisses des Kapitalismus: Zunahmedes Elends und Zunahme der Empörung der Arbeiter; 3. Darlegung desKlassenkampfes des Proletariats als der Grundlage unserer Bewegung;

* „Agrarprogramm" bei Lenin deutsch. Der Tibers.

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4. Darlegung der Endziele der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung—ihres Strebens, zur Verwirklichung dieser Ziele die politische Macht zuerobern —, des internationalen Charakters der Bewegung; 5. Darlegungder Notwendigkeit des politischen Charakters des Klassenkampfes; 6. dieErklärung, daß der russische Absolutismus, der die Rechtlosigkeit undKnechtung des Volkes bedingt und die Ausbeuter begünstigt, das Haupt-hindernis der Arbeiterbewegung ist und daß deshalb die Erkämpf ung derpolitischen Freiheit, die auch im Interesse der gesamten gesellschaftlichenEntwicklung notwendig ist, die nächste politische Aufgabe der Parteibildet; 7. die Erklärung, daß die Partei alle Parteien und Bevölkerungs-schichten unterstützen wird, die gegen den Absolutismus kämpfen, daßsie gegen die demagogischen Machenschaften unserer Regierung kämpfenwird; 8. Aufzählung der grundlegenden demokratischen Forderungen —dann 9. der Forderungen zugunsten der Arbeiterklasse und 10. der For-derungen zugunsten der Bauern, wobei der allgemeine Charakter dieserForderungen zu erklären ist.

In voller Erkenntnis der Schwierigkeit der Aufgabe, das Programmohne e;ne Reihe von Beratungen mit den Genossen völlig befriedigendzu formulieren, halten wir es doch für notwendig, dieses Werk in Angriffzu nehmen, denn wir glauben, daß es (aus den obenerwähnten Gründen)nicht aufgeschoben werden darf, und hoffen, daß sowohl alle Theoretikerder Partei (an ihrer Spitze die Mitglieder der Gruppe „Befreiung derArbeit") als auch alle praktisch arbeitenden Sozialisten in Rußland (undnicht allein die Sozialdemokraten: es wäre uns sehr erwünscht, die Mei-nung der Sozialisten anderer Fraktionen zu hören, und wir würden esnicht ablehnen, ihre Meinungen zu veröffentlichen) und ebenso alleklassenbewußten Arbeiter überhaupt uns zu Hilfe kommen werden.

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EINE RUCKLÄUFIGE RICHTUNG

IN DER RUSSISCHEN SOZIALDEMOKRATIE

Die Redaktion der „Rabotsdiaja Mysl" hat eine „Sonderbeilage zur,Rabotschaja Mysl'" (September 1899) herausgegeben, da sie wünscht,„jene ganze Masse von Mißverständnissen und Unbestimmtheiten zu zer-streuen, die hinsichtlich der Richtung der ,Rabotschaja Mysl' bestehen(wie die Behauptung zum Beispiel, daß ,wir die Politik ablehnen')"- (Vor-bemerkung der Redaktion.) Wir sind sehr froh darüber, daß die „Rab.Mysl" endlich offen Programmfragen aufwirft, von denen sie bisheranscheinend nichts wissen wollte, wir protestieren jedoch entschiedengegen die Behauptung, die „Richtung der ,Rabotschaja Mysl' ist eineRichtung der fortgeschrittenen russischen Arbeiter" (wie die Redaktion angleicher Stelle erklärt). Nein, wenn die Redaktion der „Rab. Mysl" denWeg gehen will, der in der genannten Veröffentlichung vorgezeichnet wird(vorläufig nur vorgezeidmet wird), so bedeutet dies, daß sie das Programmfalsch versteht, das die Begründer der russischen Sozialdemokratie aus-gearbeitet und an das sich bisher alle in Rußland tätigen russischen Sozial-demokraten gehalten haben; es bedeutet, daß sie einen Sdnitt zurüdk tutgegenüber jener Stufe theoretischer und praktischer Entwicklung, die dierussische Sozialdemokratie bereits erreicht hat.

Die Richtung der „Rabotschaja Mysl" wird im Leitartikel der „Son-derbeilage" : „Unsere Wirklichkeit" (unterzeichnet R. !M.) dargelegt. Die-sen Artikel müssen wir nun auch mit aller Gründlichkeit untersuchen.

Schon gleich zu Beginn des Artikels zeigt es sich, daß R. M. „unsereWirklichkeit" überhaupt und unsere Arbeiterbewegung im besonderendirekt falsd) darstellt, daß er eine über die Maßen enge Auffassung vonder Arbeiterbewegung offenbart und ihre höheren Formen, die sie unter

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der Führung der russischen Sozialdemokraten bereits entwickelt hat, nichtsehen will. In der Tat: „Unsere Arbeiterbewegung", so sagt R. 7A. gleichzu Beginn des Artikels, „enthält Ansätze der mannigfaltigsten Organi-sationsformen", angefangen von Streikgemeinschaften und bis hinauf zulegalen (gesetzlich gestatteten) Vereinigungen. — Und weiter nichts? fragtder Leser voll Befremden. Hat denn R. "M. in Rußland wirklich keinehöheren, keine fortgeschritteneren Organisationsformen der Arbeiter-bewegung bemerkt? Er scheint sie nicht bemerken zu wollen, denn gleichauf der nächsten Seite wiederholt er seine These in noch bedeutend ent-schiedenerer Form: „Die Aufgaben der Bewegung im gegebenen Augen-blick, die wahre Arbeitersache der russischen Arbeiter", sagt er, „redu-zieren sich darauf, daß die Arbeiter mit allen möglichen Mitteln ihreLage verbessern", und bei Aufzählung dieser Mittel werden doch wiedernur Streikorganisationen und legale Vereinigungen genannt! Danach alsowürde sich die russische Arbeiterbewegung auf Streiks und legale Ver-einigungen reduzieren! Aber das ist doch eine direkte "Unwahrheit! Dierussische Arbeiterbewegung hat schon vor 20 Jahren eine umfassendereOrganisation gegründet, umfassendere Aufgaben gestellt (darüber gleicheingehender). Die russische Arbeiterbewegung hat Organisationen ge-schaffen wie den St. PetersburgerST und den Kiewer88 „Kampfbund",den Jüdischen Arbeiterverband89 u. a. R. TA. sagt zwar, die jüdische Ar-beiterbewegung trage einen „besonderen politischen Charakter", sie seieine Ausnahme. Aber das ist wiederum eine Unwahrheit, denn wenn derJüdische Arbeiterverband „vereinzelt" dastünde, so hätte er sich nicht miteiner Reihe von russischen Organisationen vereinigt und nicht mit ihnendie „Sozialdemokratische Arbeiterpartei Rußlands" gegründet. Die Grün-dung dieser Partei ist der größte Schritt der russischen Arbeiterbewegunghei ihrer Verschmelzung mit der russischen revolutionären Bewegung.Dieser Schritt hat klar gezeigt, daß die russische Arbeiterbewegung sichnicht auf Streiks und legale Vereinigungen reduziert. Wie konnte es ge-schehen, daß die russischen Sozialisten, die in der „Rab. Mysl" schreiben,diesen Schritt nicht sehen wollen, seine Bedeutung nicht begreifen wollen?

Das geschah, weil R. M. weder das Verhältnis der russischen Arbeiter-bewegung zum Sozialismus und zur revolutionären Bewegung in Ruß-land noch die politischen Aufgaben der russischen Arbeiterklasse versteht.„Der charakteristischste Richtungsanzeiger unserer Bewegung", schreibt

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Eine rüddäufige Richtung in der russischen Sozialdemokratie 251

R. 7A., „sind natürlich die von den Arbeitern erhobenen Forderungen."Wir fragen, weshalb denn zu den Richtungsanzeigern unserer "Bewegungnicht die Forderungen der Sozialdemokraten und der sozialdemokrati-schen Organisationen gerechnet werden? Mit welchem Recht trennt R. !M.die Forderungen der Arbeiter von den Forderungen der russischen Sozial-demokraten? R. 7d. aber führt diese Trennung in seinem ganzen Artikeldurch, wie überhaupt die Redaktion der „Rab. Mysl" sie in jeder Num-mer ihrer Zeitung durchführt. Um diesen Fehler der „Rab. Mysl" klar-zustellen, müssen wir die allgemeine Frage des Verhältnisses des Sozialis-mus zur Arbeiterbewegung klarstellen. In allen europäischen Ländernhaben Sozialismus und Arbeiterbewegung anfänglich getrennt voneinan-der bestanden. Die Arbeiter führten den Kampf gegen die Kapitalisten,sie organisierten Streiks und Gewerkschaften, die Sozialisten aber standenabseits von der Arbeiterbewegung, sie schufen Lehren, die die bestehendekapitalistische, bürgerliche Gesellschaftsordnung kritisierten und die Er-setzung dieser Ordnung durch eine andere, höhere, durch die sozialistischeOrdnung verlangten. Das getrennte Bestehen von Arbeiterbewegung undSozialismus hatte zur Folge, daß beide schwach und unentwickelt waren:die nicht mit dem Kampf der Arbeiter verschmolzenen Lehren der Sozia-listen blieben bloße Utopien, fromme Wünsche, die auf das wirklicheLeben keinen Einfluß hatten; die Arbeiterbewegung blieb im Kleinkrambefangen, zersplittert, sie erlangte keine politische Bedeutung, sie wurdenicht durch die fortschrittliche Wissenschaft ihrer Zeit erleuchtet. Deshalbsehen wir in allen europäischen Ländern, daß sich immer stärker das Be-streben geltend macht, Sozialismus und Arbeiterbewegung zu einer ein-heitlichen sozialdemokratischen Bewegung zu verschmelzen. Der Klassen-kampf der Arbeiter verwandelt sich bei einer solchen Verschmelzung inden bewußten Kampf des Proletariats für seine Befreiung von der Aus-beutung durch die besitzenden Klassen, es entwickelt sich die höchsteForm der sozialistischen Arbeiterbewegung: die selbständige sozialdemo-kratische Arbeiterpartei. Auf die Verschmelzung des Sozialismus mit derArbeiterbewegung hingewirkt zu haben ist das Hauptverdienst vonK. Marx und Fr. Engels: sie schufen eine revolutionäre Theorie, die dieNotwendigkeit dieser Verschmelzung erklärte und den Sozialisten dieAufgabe stellte, den Klassenkampf des Proletariats zu organisieren.

Ganz genauso war es auch in Rußland. Auch bei uns stand der Sozialis-

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mus sehr lange, viele Jahrzehnte lang, abseits vom Kampf der Arbei-ter gegen die Kapitalisten, von Arbeiterstreiks usw. Einerseits verstandendie Sozialisten nicht die Theorie von Marx, von der sie meinten, daß sieauf Rußland nicht anwendbar sei; anderseits steckte die russische Arbeiter-bewegung noch ganz in ihrer Keimform. Als 1875 der „SüdrussischeArbeiterbund" und 1878 der „Nordrussische Arbeiterbund" gegründetwurden, da standen diese Arbeiterorganisationen der Richtung der rus-sischen Sozialisten fern; diese Arbeiterorganisationen forderten für dasVolk politische Rechte, sie wollten für diese Rechte kämpfen, die russi-schen Sozialisten aber hielten damals irrigerweise den politischen Kampffür eine Abweichung vom Sozialismus. Doch die russischen Sozialistenblieben bei ihrer unentwickelten, falschen Theorie nicht stehen. Sie schrit-ten vorwärts, sie machten sich die Theorie von Marx zu eigen, sie entwik-kelten in Anwendung auf Rußland die Theorie des Arbeitersozialismus,die Theorie der russischen Sozialdemokraten. Die Gründung der russischenSozialdemokratie ist das Hauptverdienst der Gruppe „Befreiung der Ar-beit" — Plechanows, Axelrods und ihrer Freunde.* Seit Gründung derrussischen Sozialdemokratie (1883) hat sich die russische Arbeiterbewe-gung jedesmal, wenn sie auf breiter Front hervortrat, den russischenSozialdemokraten unmittelbar genähert und das Bestreben gezeigt, sichmit ihnen zu verschmelzen. Die Gründung der „SozialdemokratischenArbeiterpartei Rußlands" (im Frühjahr 1898) bedeutete einen gewaltigenSchritt vorwärts auf dem Wege zu dieser Verschmelzung. Heute ist esdie [Hauptaufgabe aller russischen Sozialisten und aller klassenbewußtenrussischen Arbeiter, diese Verschmelzung dauerhaft zu machen, die „So-zialdemokratische Arbeiterpartei" zu festigen und zu organisieren. Wervon dieser Verschmelzung nichts wissen will, wer künstlich eine Tren-nung zwischen der Arbeiterbewegung und der Sozialdemokratie in Ruß-land herbeizuführen sucht, der bringt der Sache des Arbeitersozialismusund der Arbeiterbewegung in Rußland nicht Nutzen, sondern Schaden.

Gehen wir weiter. „Was die umfassenden Forderungen, die politischenForderungen, anbelangt", schreibt R. TA., „so sehen wir nur in den For-

* Die Verschmelzung des russischen Sozialismus und der russischen Arbei-terbewegung wird in der Broschüre eines unserer Genossen „Das rote Bannei-in Rußland. Abriß der Geschichte der russischen Arbeiterbewegung" histo-risch verfolgt. Diese Broschüre wird bald erscheinen.90

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Eine rückläufige Ridhtung in der russischen Sozialdemokratie 253

derungen der Petersburger Weber... im Jahre 1897 einen ersten und nochwenig bewußten Fall, wo unsere Arbeiter derartige umfassende politischeForderungen erhoben haben." Wir müssen abermals sagen, daß diesabsolut unwahr ist. Durch den Abdruck derartiger Sätze offenbart dieRedaktion der „Rabotschaja Mysl" erstens eine für einen Sozialdemokra-ten unverzeihliche Vergeßlichkeit in bezug auf die Geschichte der russi-schen revolutionären Bewegung und Arbeiterbewegung und zweitens eineunverzeihlich enge Auffassung der Arbeitersache. Umfassende politischeForderungen haben russische Arbeiter sowohl in dem Maiflugblatt desSt. Petersburger Kampfbundes 1898 als auch in den Zeitungen „St. Peter-burgski Rabotschi Listok" und „Rabotschaja Gaseta" erhoben, welch letz-tere von den führenden Organisationen der russischen Sozialdemokraten1898 als das offizielle Organ der „Sozialdemokratischen ArbeiterparteiRußlands" anerkannt wurde. Mit der Ignorierung dieser Tatsachen gehtdie „Rab. Mysl" rückwärts und bestätigt vollauf die Meinung, daß siedie Vertreterin nicht der fortgeschrittenen Arbeiter, sondern der unteren,unentwickelten Schichten des Proletariats ist (R. 7A. selbst bemerkt in sei-nem Artikel, daß die „Rab. Mysl" bereits auf diesen Umstand aufmerk-sam gemacht wurde). Die unteren Schichten des Proletariats kennen dieGeschichte der russischen revolutionären Bewegung nicht, auchÄ.JW. kenntsie nicht. Die unteren Schichten des Proletariats verstehen nicht das Ver-hältnis zwischen Arbeiterbewegung und Sozialdemokratie, auch R. 7d.begreift dieses Verhältnis nicht. Weshalb haben die russischen Arbeiter inden neunziger Jahren nicht ihre besonderen Organisationen, getrennt vonden Sozialisten, gegründet wie in den siebziger Jahren? Weshalb habensie ihre politischen Forderungen nicht getrennt von den Sozialisten erho-ben? R. 7d. erklärt dies offenbar damit, daß „die russischen Arbeiter dar-auf noch sehr wenig vorbereitet sind" (S. 5 seines Artikels), aber mit die-ser Erklärung bestätigt er nur noch ein übriges Mal die Meinung, daß ernur als Vertreter der unteren Schichten des Proletariats zu sprechen be-rechtigt ist. Die unteren Schichten der Arbeiter waren sich während derBewegung der neunziger Jahre des politischen Charakters der Bewegungnicht bewußt. Nichtsdestoweniger aber wissen alle (und %.. M. sagt dasselbst), daß die Arbeiterbewegung der neunziger Jahre eine große politi-sche Bedeutung gewonnen hat. Dies kam daher, daß den Charakter derBewegung wie immer und überall die fortgeschrittenen Arbeiter bestimm-

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ten, denen die Arbeitermasse folgte, weil sie ihr bewiesen hatten, daß siebereit und fähig sind, der Arbeitersache zu dienen, weil sie es verstandenhatten, das volle Vertrauen der Arbeitermasse zu gewinnen. Diese fort-geschrittenen Arbeiter aber waren Sozialdemokraten,- viele von ihnenhatten sogar persönlich an jenen Auseinandersetzungen zwischen den An-hängern des Volkswillen und den Sozialdemokraten teilgenommen, dieden Übergang der russischen revolutionären Bewegung vom bäuerlichenund verschwörerischen Sozialismus zum Arbeitersozialismus kennzeich-neten. Es ist deshalb begreiflich, weshalb diese fortschrittlichen Arbeiterjetzt nicht abgesondert von den Sozialisten und Revolutionären in beson-deren Organisationen vereinigt sind. Eine solche Absonderung hatte Sinnund war notwendig, als der Sozialismus sich von der Arbeiterbewegungabgesondert hielt. Eine solche Absonderung wäre unmöglich und sinnlosgewesen, hätten es die fortgeschrittenen Arbeiter mit dem Arbeitersozia-lismus und mit sozialdemokratischen Organisationen zu tun gehabt. DieVereinigung der fortschrittlichen Arbeiter mit den sozialdemokratischenOrganisationen war durchaus natürlich und unvermeidlich. Sie war dasResultat jener großen historischen Tatsache, daß in den neunziger Jahrenzwei tiefe gesellschaftliche Bewegungen in Rußland einander fanden: einespontane, eine Volksbewegung in der Arbeiterklasse, und eine andere: dieEntwicklung des gesellschaftlichen Denkens zur Theorie von Marx undEngels, zur Lehre der Sozialdemokratie.

Wie maßlos eng die „Rab. Mysl" den politischen Kampf auffaßt, siehtman an folgendem. Zu den umfassenden politischen Forderungen schreibtR. M.: „Damit aber ein solcher politischer Kampf von den Arbeitern ganzbewußt und selbständig geführt werden könne, ist es notwendig, daß ervon den Arbeiterorganisationen selbst geführt wird, daß diese politischenForderungen der Arbeiter sich auf ihre, von ihnen erkannten allgemeinenpolitischen Erfordernisse und Interessen des Augenblicks stützen" (diesbemerke man!), „daß diese Forderungen die Forderungen der Arbeiter-organisationen (Berufsorganisationen) selbst sind, daß sie von ihnen wirk-lich gemeinsam ausgearbeitet und von diesen Arbeiterorganisationengleichfalls gemeinsam, aus eigener Initiative, aufgestellt werden..." Undweiter folgt die Erklärung, daß die nächsten allgemeinen politischen For-derungen der Arbeiter vorerst immer noch (•!) der Zehnstundentag unddie Wiedereinführung der durch das Gesetz vom 2. VI. 1897 abgeschaff-

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Sine rückläufige Richtung in der russischen Sozialdemokratie 255

ten Feiertage bleiben. — Und hiernach kann die Redaktion der „Rab.Mysl" sich noch wundern, daß man sie bezichtigt, die Politik abzulehnen!Ja, ist denn diese Reduzierung der Politik auf den Kampf der Berufs-verbände für einzelne Reformen keine Ablehnung der Politik? Ist siekeine Abkehr von dem Grundgebot der internationalen Sozialdemokra-tie, daß die Sozialdemokraten bestrebt sein müssen, den Klassenkampfdes Proletariats in selbständigen politischen Arbeiterparteien zu organi-sieren, die für die Demokratie als TAitiel zur Eroberung der politischenMacht und zur Errichtung der sozialistischen 'Gesellschaft durch dasProletariat kämpfen? Mit geradezu grenzenlosem Leichtsinn werfen un-sere neuesten Verfälscher des Sozialdemokratismus alles über Bord, wasden Sozialdemokraten teuer ist, was dazu berechtigt, in der Arbeiter-bewegung eine weltgeschichtliche Bewegung zu sehen. Sie kümmert esnicht, daß die hundertjährigen Erfahrungen des europäischen Sozialis-mus und der europäischen Demokratie die Notwendigkeit lehren, dieGründung selbständiger politischer Arbeiterparteien anzustreben. Siekümmert es nicht, daß die Geschichte der russischen revolutionären Be-wegung in einem langen und schwierigen Prozeß die Vereinigung desSozialismus mit der Arbeiterbewegung, die Vereinigung der großen sozia-len und politischen Ideale mit dem Klassenkampf des Proletariats herbei-geführt hat. Sie kümmert es nicht, daß die fortgeschrittenen russischenArbeiter bereits den Grundstein gelegt haben für die „Sozialdemokra-tische Arbeiterpartei Rußlands". Nieder mit alledem! Befreien wir unsvon dem allzu umfangreichen ideellen Gepäck und von den allzu schwerenund anspruchsvollen historischen Erfahrungen — sollen doch „vorerst"nur Berufsverbände „bleiben" (ob solche in Rußland gegründet werdenkönnen, ist, wenn wir von legalen Vereinigungen absehen, bisher nochdurch nichts bewiesen), sollen doch diese Berufsverbände „aus eigenerInitiative" Forderungen ausarbeiten, Forderungen des „Augenblicks",Forderungen nach kleinen und kleinlichen Reformen!! Was ist das? Dasist doch die Predigt einer rückläufigen Bewegung! Das ist doch eine ArtPropaganda für die Zerstörung des Sozialismus!

Und man beachte, daß die „Rabotschaja Mysl" nicht nur den Gedan-ken entwickelt, die lokalen Organisationen sollten die lokalen Kampf-formen und die besonderen Anlässe zur Agitation selbst finden, die Agita-tionsmethoden usw. selbst ausarbeiten — gegen diesen Gedanken würde

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niemand etwas einzuwenden haben. Niemals haben die russischen Sozial-demokraten auch nur im geringsten darauf prätendiert, die Selbständig-keit der Arbeiter in dieser Beziehung einzuengen. Nein, die „Rab. Mysl"will die großen politischen Aufgaben des russischen Proletariats voll-ständig beiseite schieben und sich „vorerst" „bloß" auf die „Interessendes Augenblicks" beschränken. Bisher wollten die russischen Sozialdemo-kraten, gestützt auf jede Forderung des Augenblicks, durch eine Agitation,die an solche Forderungen anknüpft, das Proletariat zum Kampf für seinnächstes Ziel — zum Kampf gegen die Selbstherrschaft — organisieren.Jetzt will die „Rab. Mysl" den Kampf des Proletariats auf den Klein-kampf für kleine Forderungen beschränken. R. TA. weiß sehr wohl, daßer sich von den Ansichten der ganzen russischen Sozialdemokratie lossagt,wenn er den Anklägern der „Rab. Mysl" die folgende Antwort gibt:Man sagt, der Sturz des Zarismus sei die nächste Aufgabe der russischenArbeiterbewegung. Welcher Arbeiterbewegung denn aber, so fragt R.TA.,„der Streikbewegung? der yHlfsvereinigungen? der Arbeiterzirkel?"(Seite 5 des Artikels). Wir antworten ihm hierauf: Sprechen Sie nur fürsich, für Ihre Gruppe, für die von ihr vertretenen unteren Schichten desProletariats einer bestimmten Gegend, aber wagen Sie es nicht, für diefortgeschrittenen russischen Arbeiter zu sprechen! Die unteren Vertreterdes Proletariats wissen häufig nicht, daß nur eine revolutionäre Parteiden Kampf für den Sturz der Selbstherrschaft zu führen vermag. JL TA.weiß dies ebenfalls nicht. Die fortgeschrittenen russischen Arbeiter aberwissen es. Die unteren Vertreter des Proletariats wissen häufig nicht, daßsich die russische Arbeiterbewegung nicht auf den Streikkampf, auf Hilfs-vereinigungen und Arbeiterzirkel beschränkt, daß die russische Arbeiter-bewegung schon lange danach strebt, sich als revolutionäre Partei zuorganisieren, und daß sie dieses Streben durdi die Tat bewiesen hat.7L TA. weiß dies ebenfalls nicht. Die fortgeschrittenen russischen Arbeiteraber wissen es.

JL TA. sucht sein völliges Unverständnis für den Sozialdemokratismusals ein besonderes Verständnis für „unsere Wirklichkeit" auszugeben.Sehen wir uns seine Ansiditen in dieser Frage etwas näher an.

„Vom eigentlichen Begriff der Selbstherrschaft...", schreibt R.TA.,„ ..wollen wir hier nicht weiter reden, da wir bei jedem unserer Ge-sprächspartner die allerdeutlichste und klarste Vorstellung von derartigen

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Eine rüdkläußge Ridhtung in der russisdhen Sozialdemokratie 257

Dingen voraussetzen." Wir werden gleich sehen, daß R. JA. selber einenim höchsten Grade undeutlichen und unklaren Begriff von derartigen Din-gen hat, zunächst aber wollen wir noch einen Umstand erwähnen. Ge-hören Arbeiter zu den Gesprächspartnern von R. M.? Ja, natürlich. Undwenn das der Fall ist, woher sollen sie dann den allerdeutlichsten Begriffvon der Selbstherrschaft nehmen? Es ist offenkundig, daß hierfür die um-fassendste und systematischste Propaganda der Ideen der politischen Frei-heit überhaupt notwendig ist, eine Agitation notwendig ist, die mit jedereinzelnen Erscheinungsform polizeilicher Gewalttaten und bürokratischerUnterdrückung eine „deutliche Vorstellung" (in den Köpfen der Arbeiter)von der Selbstherrschaft verbindet. Dies scheint klar zu sein. Und wenndas der Fall ist, kann dann eine rein lokale Propaganda und Agitationgegen die Selbstherrschaft erfolgreich sein? ist es nicht unbedingt not-wendig, sie in ganz Rußland so zu organisieren, daß sie zu einer plan-mäßigen Tätigkeit, das heißt zur Tätigkeit einer Partei wird? Weshalb hatR.3H. denn unter den nächsten Aufgaben der russischen Arbeiterbewegungnicht auch die Aufgabe genannt, eine systematische Propaganda und Agi-tation gegen die Selbstherrschaft zu organisieren? Nur weil er die un-deutlichste und unklarste Vorstellung von den Aufgaben der russischenArbeiterbewegung und der russischen Sozialdemokratie hat.

Dann geht R. JA. zur Erläuterung dessen über, daß die Selbstherr-schaft eine gewaltige „persönliche Macht" (militärisch gedrillte Bürokratie)und eine gewaltige „ökonomische Macht" (finanzielle Mittel) darstellt.Ohne uns bei den „undeutlichen" Seiten seiner Erläuterung aufzuhalten(und es gibt hiersehrviel „Undeutliches"),gehen wir zur Hauptsache über:

„Nun also", fragt R. TA. die russische Sozialdemokratie, „wird dennnicht den russischen Arbeitern im gegenwärtigen Augenblick geraten, denSturz eben dieser persönlichen Macht und die Besitzergreifung dieserökonomischen Macht zur ersten und nächsten Aufgabe ihrer heutigen(erst in Keimform vorhandenen) Organisationen zu machen? (von denRevolutionären, die sagen, die Zirkel fortgeschrittener Arbeiter müßtendiese Aufgabe übernehmen, reden wir gar nicht erst)."

Wir reiben uns erstaunt die Augen und lesen diese ungeheuerlicheStelle zwei- und dreimal. Haben wir uns wirklich nicht geirrt? Nein, wirhaben uns nicht geirrt: R. 74. weiß wirklido nidot, was Sturz der Selbst-herrschaft heißt. Dies ist unglaublich, aber Tatsache. Ja, und kann man

17 Lenin, Werke, Bd. 4

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258 W.3. Lenin

nach der von R. 7A. offenbarten Gedankenverwirrung dies überhaupt fürunglaublich halten?

TL. M. wirft die Ergreifung der Macht durch die Revolutionäre und denSturz der Selbstherrschaft durch die Revolutionäre durcheinander.

Die alten russischen Revolutionäre (die Anhänger des Volkswillen)strebten nach Ergreifung der Macht durdi eine revolutionäre Partei. Nachder Ergreifung der Macht, dachten sie, werde „die Partei die persönlicheMacht" der Selbstherrschaft „stürzen", d. h. an Stelle der Beamten eigeneBeauftragte ernennen, „die ökonomische Macht ergreifen", d. h. alle finan-ziellen Mittel des Staates in ihre Hand bringen und eine soziale Umwäl-zung vollziehen. Die (alten) Anhänger des Volkswillen strebten wirklichden „Sturz der persönlichen und die Besitzergreifung der ökonomischenMacht" der Selbstherrschaft an, wenn man schon nach dem Beispiel vonTL.7A. diese plumpen Ausdrücke gebrauchen will. Die russischen Sozial-demokraten haben sich entschieden gegen diese revolutionäre Theorie ge-wandt. Plechanow unterzog sie einer schonungslosen Kritik in seinenSchriften „Sozialismus und politischer Kampf" (1883) und „UnsereMeinungsverschiedenheiten" (1885) und zeigte den russischen Revolu-tionären ihre Aufgabe: Gründung einer revolutionären Arbeiterpartei,deren nächstes Ziel der Sturz des Absolutismus sein muß. Was aber istSturz des Absolutismus? Um dies für TL 7d. TXL erläutern, müssen wirzunächst die Frage beantworten: Was ist Selbstherrschaft? Selbstherr-schaft (Absolutismus, unbeschränkte Monarchie) ist eine Regierungs-form, bei der die oberste Gewalt restlos und ungeteilt (unumschränkt)dem Zaren gehört. Der Zar erläßt die Gesetze, er ernennt die Beamten,er vereinnahmt und verausgabt die Volksgelder ohne jede 'Beteiligung desVolkes an der Qesetzgebung und an der 'Kontrolle derVerwältung. Selbst-herrschaft ist daher unumschränkte Herrschaft der Beamten und der Poli-zei und Rechtlosigkeit des Volkes. Unter dieser Rechtlosigkeit hat dasganze Volk zu leiden, die besitzenden Klassen aber (besonders die reichenGutsherren und Kapitalisten) üben einen sehr starken Einfluß auf die Be-amtenschaft aus. Die Arbeiterklasse dagegen hat doppelt zu leiden: so-wohl unter der Rechtlosigkeit des ganzen russischen Volkes als auch unterder Knechtung der Arbeiter durch die Kapitalisten, die die Regierungzwingen, ihren Interessen zu dienen.

Was bedeutet nun Sturz des Absolutismus? Das bedeutet, daß der Zar

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Eine rüdkläufige JZidhlung in der russischen Sozialdemokratie 259

auf die unumschränkte Macht verzichtet, daß das Volk das Recht erhält,seine Vertreter zum Erlaß von Gesetzen, zur Beaufsichtigung der Tätig-keit der Beamten, zur Beaufsichtigung der Vereinnahmung und Veraus-gabung der Mittel des Staates zu wählen. Eine solche Regierungsform,bei der das Volk an der Gesetzgebung und Verwaltung teilnimmt, heißtkonstitutionelle Regierungsform (Konstitution = Gesetz über die Beteili-gung von Volksvertretern an der Gesetzgebung und Staatsverwaltung).Also Sturz der Selbstherrschaft bedeutet die Ersetzung der autokratischenRegierungsform durch eine konstitutionelle Regierungsform. Somit istzum Sturz der Selbstherrschaft keinerlei „Sturz der persönlichen Machtund Besitzergreifung der ökonomischen Macht" erforderlidi, erforderlidiist vielmehr, daß die Zarenregierung gezwungen wird, auf ihre unum-schränkte Macht zu verzidaten und einen aus Volksvertretern bestehendenSemski Sobor [Nationalversammlung] zur Ausarbeitung einer Verfassungeinzuberufen („eine demokratisdie Verfassung" [Volksverfassung, dieden Interessen des Volkes entspridit] „zu erkämpfen", wie es in dem 1885von der Gruppe „Befreiung der Arbeit" veröffentliditen Programment-wurf der russisdien Sozialdemokraten heißt).

Weshalb muß der Sturz der Selbstherrschaft die erste Aufgabe der rus-sischen Arbeiterklasse sein? Weil die Arbeiterklasse unter der Selbst-herrsdiaft ihren Kampf nicht an breiter Front zu entwickeln vermag, weilsie sich keine festen Positionen weder auf ökonomischem nodi auf poli-tisdiem Gebiet erkämpfen kann, weil sie nidit festgefügte Massenorgani-sationen gründen und vor allen werktätigen Massen das Banner dersozialen Revolution entfalten kann, und weil sie nidit die Massen lehrenkann, für diese Revolution zu kämpfen. Nur bei politischer Freiheit istein entschlossener Kampf der ganzen Arbeiterklasse gegen die Klasse derBourgeoisie möglich, und das Endziel dieses Kampfes besteht darin, daßdas Proletariat die politische Macht erobert und die sozialistische Gesell-sdiaft erriditet. Eben diese Erkämpfung der politischen Macht durch dasorganisierte Proletariat, das eine lange Sdiule des Kampfes durdigemadithat, wird wirklidi „Sturz der persönlichen und Besitzergreifung der öko-nomischen Macht" der bürgerlichen Regierung sein, diese Machtergreif ungaber haben die russisdien Sozialdemokraten den russischen Arbeiternniemals als nächste Aufgabe gestellt. Die russischen Sozialdemokratenhaben stets gesagt, daß die russisdie Arbeiterklasse nur bei politisdier

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260 W.3. Centn

Freiheit, bei einem an breiter Front geführten Kampf der Massen fähigsein wird, die Organisationen für diesen endgültigen Sieg des Sozialismuszu schaffen.

Auf welchem Wege aber kann die russische Arbeiterklasse die Selbst-herrschaft stürzen? Die Redakteure der „Rab. Mysl" spötteln ja sogarüber die Gruppe „Befreiung der Arbeit", die die russische Sozialdemo-kratie gegründet und in ihrem Programm gesagt hat: „Der Kampf gegendie Selbstherrschaft ist selbst für die Arbeiterzirkel obligatorisch, dieheute die Keimformen der künftigen russischen Arbeiterpartei darstellen."Der „Rab. Mysl" (siehe Nr. 7 des Blattes und den hier behandeltenArtikel) erscheint das lächerlich: Sturz der Selbstherrschaft durch Arbei-terzirkel! Wir antworten den Redakteuren der „Rab. Mysl" hierauf: überwen lacht ihr? über euch selbst lacht ihr! Die Redakteure der „Rab. Mysl"beklagen sich, daß die Polemik der russischen Sozialdemokraten gegensie nicht kameradschaftlich sei. Mögen die Leser selbst urteilen, auf wes-sen Seite wir eine unkameradschaftliche Polemik finden: auf Seiten deralten russischen Sozialdemokraten, die ihre Ansichten klar ausgesprochen

, haben und geradeheraus erklären, welche Ansichten der „Jungen" sie fürirrig halten und warum; — oder aber auf Seiten der „Jungen", die, ohneihre Gegner zu nennen, heimlich sticheln, bald gegen den „Verfassereines deutschen Buches über Tschernyschewski" (Plechanow, wobei siediesen mit einigen legalen Schriftstellern zusammenwerfen, ohne irgend-welchen Grund dazu zu haben), bald gegen die Gruppe „Befreiung derArbeit", indem sie einzelne Sätze des Programms dieser Gruppe entstelltzitieren, ohne diesem ein auch nur einigermaßen bestimmtes eigenes Pro-gramm entgegenzustellen. Jawohl! Wir erkennen die Pflicht der Kamerad-schaft an, die Pflicht, alle Genossen zu unterstützen, die Pflicht der Duld-samkeit gegenüber den Meinungen von Genossen, aber für uns ergibt sichdie Pflicht der 'Kameradschaft aus der Pflicht vor der russischen und vorder internationalen Sozialdemokratie und nicht umgekehrt. Wir halten unsder „Rab. Mysl" gegenüber nicht deshalb zur Kameradschaft verpflichtet,weil ihre Redakteure unsere Genossen sind, sondern wir halten die Redak-teure der „Rab. Mysl" nur deshalb und insoweit für unsere Genossen, alssie in den Reihen der russischen (und folglich auch der internationalen)Sozialdemokratie arbeiten. Wenn wir daher überzeugt sind, daß „Ge-nossen" zurückgehen, hinter das sozialdemokratische Programm, daß

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Eine rückläufige RidhtuncJ in der russischen Sozialdemokratie 261

„Genossen" die Aufgaben der Arbeiterbewegung einengen und verstüm-meln, so halten wir es für unsere Pflicht, unsere Überzeugung mit vollerBestimmtheit auszusprechen, ohne Platz für Unklarheiten zu lassen!

Wir sagten soeben, daß die Redakteure der „Rab. Mysl" die Ansichtender Gruppe „Befreiung der Arbeit" entstellen. Möge der Leser selbst ur-teilen. „Wir sind willens, diejenigen unserer Genossen nicht zu verstehen",schreibt JZ. TA., „die ihr Programm der .Befreiung der Arbeit' für eineeinfache Antwort auf die Frage halten: ,Woher sollen die Kräfte zumKampf gegen die Selbstherrschaft genommen werden?'" (An einer an-deren Stelle: „Unsere Revolutionäre betrachten die Bewegung der Arbei-ter als das beste Mittel zum Sturz der Selbstherrschaft.") Man schlageden von der Gruppe „Befreiung der Arbeit" 1885 veröffentlichten undvon P. B. Axelrod in seiner Broschüre „Zur Frage der gegenwärtigen Auf-gaben und der Taktik der russischen Sozialdemokratie" (Genf 1898) wie-der abgedruckten Programmentwurf der russischen Sozialdemokratenauf — und man wird sehen, daß dem Programm die völlige Befreiung derArbeit vom Joch des Kapitals, der Übergang aller Produktionsmittel ingesellschaftliches Eigentum, die Ergreifung der politischen Macht durch •die Arbeiterklasse, die Gründung einer revolutionären Arbeiterpartei zu-grunde gelegt worden ist. Daß JL TA. dieses Programm entstellt, daß eres nicht verstehen will, ist klar. Er klammert sich an P. B. Axelrods Wortezu Anfang der Broschüre, wo dieser sagt, das Programm der Gruppe „Be-freiung der Arbeit" „war die Antwort" auf die Frage: Woher die Kräftenehmen zum Kampf gegen die Selbstherrsdiaft? Aber es ist dodi einehistorische Tatsache, daß das Programm der Gruppe „Befreiung derArbeit" eine Antwort auch auf diese Frage der russischen Revolutionäre,auch auf diese Frage der ganzen russischen revolutionären Bewegung war.Wenn nun das Programm der Gruppe „Befreiung der Arbeit" auf dieseFrage die Antwort gegeben hat, bedeutet das denn etwa, daß die Arbeiter-bewegung für diese Gruppe, die Gruppe „Befreiung der Arbeit", nur einMittel war? Dieses „Unverständnis" von R. TA. bezeugt doch nur, daßihm allgemeinbekannte Tatsadien aus der Tätigkeit der Gruppe „Be-freiung der Arbeit" nidit bekannt sind.

Weiter. Wie kann denn der „Sturz der Selbstherrschaft" die Aufgabevon Arbeiterzirkeln sein? R. TA. begreift das nicht. Man schlage das Pro-gramm der Gruppe „Befreiung der Arbeit" auf: „Für das Hauptmittel

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262 TV.1 Lenin

des politischen Kampfes der Arbeiterzirkel gegen den Absolutismus",heißt es dort, „halten die russischen Sozialdemokraten die Agitationinnerhalb der Arbeiterklasse und die weitere Verbreitung sozialistischerIdeen und revolutionärer Organisationen unter den Arbeitern. Eng mit-einander zu einem einheitlichen Ganzen verbunden, werden diese Orga-nisationen nicht bei einzelnen Zusammenstößen zwischen ihnen und derRegierung stehenbleiben und nicht säumen, im geeigneten Moment zumallgemeinen, entscheidenden Angriff auf die Regierung überzugehen."Eben diese Taktik haben die russischen Organisationen befolgt, die imFrühjahr 1898 die „Sozialdemokratische Arbeiterpartei Rußlands" grün-deten. Und sie haben bewiesen, daß solche Organisationen in Rußlandeine große politische Macht darstellen. Wenn diese Organisationen eineeinzige Partei bilden und gegen die autokratische Regierung eine um-fassende Agitation entfalten, wobei sie alle Elemente der liberalen Oppo-sition ausnutzen, so wird diese Partei die Aufgabe, politische Freiheit zuerkämpfen, zweifellos erfüllen können. Wenn die Redakteure der „Rab.Mysl" „willens sind", das „nicht zu verstehen", so sind wir „willens",ihnen zu raten: Lernt gefälligst, Herrschaften, denn an und für sidi sinddiese Dinge durchaus nicht so schwer zu begreifen.

Kehren wir jedoch zu R. 7A. zurück, den wir bei seinen Betrachtungenüber den Kampf gegen die Selbstherrschaft verlassen haben. Die eigeneAnsicht von R. !M. über diese Frage illustriert noch klarer die neue — rück-läufige — Richtung der „Rab. Mysl".

„Das Ende der Selbstherrschaf t ist klar", schreibt R. 7A. „ . . . Der Kampfmit der Selbstherrschaft ist für alle lebensfähigen Gesellschaftselementeeine der Bedingungen ihrer gesunden Entwicklung." Hieraus folgt wohl,wird der Leser denken, daß der Kampf mit der Selbstherrschaft auch fürdie Arbeiterklasse notwendig ist? Nein, wartet nur. R. 7Ä. hat seineeigene Logik und seine eigene Terminologie. Unter dem Wort „Kampf"versteht er, wenn er das Wort „gesellschaftlicher" (Kampf) hinzufügt,etwas ganz Besonderes. Nach Schilderung der legalen Opposition gegendie Regierung, in der sich viele Schichten der russischen Bevölkerung be-finden, schließt R. 7A. •. „Sowohl der Kampf für die öffentliche Selbstver-waltung auf dem Lande und in den Städten als auch der Kampf für dieöffentliche Schule und der Kampf für die öffentliche Unterstützung derhungernden Bevölkerung usw.ist doch ein Kampf mit der Selbstherrschaft."

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Eine rüddäufige Ridhtung in der russisdhen Sozialdemokratie 263

„Die Notwendigkeit des gesellschaftlichen Kampfes mit der Selbstherr-schaft der Beamten ist für alle bewußten fortschrittlichen Schichten undGruppen der Bevölkerung offensichtlich. Mehr als das. Dieser gesellschaft-liche Kampf, der, wie wir gesehen haben, infolge eines sonderbaren Miß-verständnisses bei vielen russischen revolutionären Schriftstellern keine ge-neigte Aufmerksamkeit findet, wird von der russischen Gesellschaft be-reits geführt, und nicht erst seit gestern." „Die wirkliche Frage ist, wiediese einzelnen Gesellschaftsschichten... diesen" (dies bemerke man!)„Kampf mit der Selbstherrschaft so erfolgreich wie möglich führen kön-nen... Die Hauptfrage aber für uns ist: Wie sollen diesen gesellschaft-lichen (!) Kampf mit der Selbstherrschaft unsere Arbeiter führen..."

In diesen Betrachtungen von R. TA. häufen sich wiederum Verworren-heit und Fehler in unglaublicher Menge.

Erstens verwechselt R. TA. die legale Opposition mit dem Kampf gegendie Selbstherrschaft, mit dem Kampf für den Sturz der Selbstherrschaft.Diese für einen Sozialisten unverzeihliche Verwechslung wird bei ihmdurch den ohne Erklärung gebrauchten Ausdruck „Kampf mit der Selbst-herrschaft" hervorgerufen: dieser Ausdruck kann (mit einem Vorbehalt)sowohl den Kampf gegen die Selbstherrschaft als auch den Kampf gegeneinzelne Maßnahmen der Selbstherrschaft auf dem Boden dieses selbenautokratischen Systems bedeuten.

Zweitens gleitet R. TA., indem er die legale Opposition zum gesell-schaftlichen Kampf mit der Selbstherrschaft rechnet und sagt, unsere Ar-beiter müßten „diesen gesellschaftlichen Kampf" führen, somit zu derAuffassung ab, unsere Arbeiter sollten keinen revolutionären Kampfgegen die Selbstherrschaft führen, sondern legale Opposition gegen dieSelbstherrschaft treiben, d. h., er gleitet ab zu einer ungeheuerlichen Ver-flachung der Sozialdemokratie und zu ihrer Verwechslung mit dem alier-gewöhnlichsten und armseligsten russischen Liberalismus.

Drittens sagt R. TA. die direkte TAnwahrheit über die russischen sozial-demokratischen Schriftsteller, wenn er behauptet, daß sie der legalenOpposition keine Beachtung schenken (R. TA. zieht es freilich vor, seineVorwürfe „kameradschaftlich" ohne Nennung des Namens zu machen.Aber wenn er nicht die Sozialdemokraten im Auge hat, so sind seine Wortejedes Sinnes bar). Im Gegenteil, sowohl die Gruppe „Befreiung der Arbeit"als auch P. B. Axelrod gesondert, sowohl das „Manifest der Sozialdemo-

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264 'W.J.Lenin

kratischen Arbeiterpartei Rußlands" als auch die Broschüre „Die Aufgabender russischen Sozialdemokraten" (die von der „SozialdemokratischenArbeiterpartei Rußlands" herausgegeben und von Axelrod als 'Kommen-tar zum „Manifest" bezeidinet worden ist) — sie alle haben der legalenOpposition nicht nur Beachtung gesdienkt, sondern auch das Verhältnisdieser Opposition zur Sozialdemokratie auf das genaueste klargestellt.

Erklären wir das alles. Welchen „Kampf mit der Selbstherrsdiaft" füh-ren unsere Semstwos, unsere liberalen Vereinigungen überhaupt, die libe-rale Presse? Führen sie einen Kampf gegen die Selbstherrsdiaft, einenKampf für den Sturz der Selbstherrsdiaft? Wem, einen soldben Kampfhaben sie nie gejährt und führen sie nidot. Einen soldien Kampf führenlediglich die Revolutionäre, die nicht selten aus der Mitte der liberalenGesellschaft hervorgehen und sidi auf die Sympathie der Gesellsdiaftstützen. Aber einen revolutionären Kampf führen — das ist durchaus nichtdasselbe wie mit den Revolutionären sympathisieren und ihnen Unter-stützung erweisen; Kampf gegen die Selbstherrschaft ist durchaus niditdasselbe wie legale Opposition gegenüber der Selbstherrsdiaft. Die rus-sisdien Liberalen bringen ihre Unzufriedenheit mit der Selbstherrsdiaftlediglich in einer solchen Form zum Ausdruck, die die Selbstherrschaftselbst gestattet, d. h., die die Selbstherrschaft als ungefährlidi für dieSelbstherrsdiaft betrachtet. Die stärkste Ersdieinungsform der liberalenOpposition waren lediglich die an die Zarenregierung geriditeten 'Bitt-schreiben der Liberalen, das Volk zur Verwaltung heranzuziehen. Unddie Liberalen nahmen jedesmal geduldig die groben polizeilichen Ab-lehnungen hin, die auf diese Bittschreiben folgten, sie ertrugen die un-gesetzlidien und barbarischen Verfolgungen, mit denen die Gendarmen-regierung selbst auf gesetzlidie Versudie, die eigene Meinung zu sagen,antwortete. Die liberale Opposition mir nidits dir nidits in einen gesell-sdiaftlidien Kampf gegen die Selbstherrsdiaft verwandeln heißt die Sachedirekt verfälschen, denn die russischen Liberalen haben niemals eine revo-lutionäre Partei zum Kampf für den Sturz der Selbstherrsdiaft organisiert,obgleidi sie hierfür stets sowohl materielle Mittel als audi ausländisdieVertreter des russisdten Liberalismus finden konnten und finden können.R. 7A. aber verfälscht die Sache nicht nur, sondern er zieht hier auch denNamen des großen russischen Sozialisten N. G. Tschernyschewski herein.„Verbündete der Arbeiter in diesem Kampf", sdireibt TL M., „sind alle

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Eine rückläufige Wartung in der russisdien Sozialdemokratie 265

fortschrittlichen Schichten der russischen Gesellschaft, die ihre gesell-schaftlichen Interessen und Einrichtungen verteidigen, die ihre gemein-samen Vorteile klar begreifen, die ,niemals vergessen'" (R. TA. zitiertTschernyschewski), „welchen großen .Unterschied es macht, ob eine Ver-änderung auf einen unabhängigen Beschluß der Regierung hin oder au}das formelle Verlangen der Qesellsdbaft hin herbeigeführt wird'." Wenndieses Urteil auf alle Vertreter des „gesellschaftlichen Kampfes", wieR. TA. ihn versteht, d. h. auf alle russischen Liberalen, bezogen wird, soist das eine direkte Tälsdhuncj. Die russischen Liberalen haben niemalsformelle Forderungen an die Regierung gerichtet, und eben deshalb habendie russischen Liberalen niemals eine selbständige revolutionäre Rolle ge-spielt und können sie auch jetzt in keiner Weise spielen. Verbündete derArbeiterklasse und der Sozialdemokratie können nicht „alle fortschritt-lichen Schichten der Gesellschaft" sein, sondern nur revolutionäre Parteien,die von Angehörigen dieser Gesellschaft gegründet werden. Die Liberalendagegen können und sollen überhaupt nur eine der Quellen zusätzlicherKräfte und Mittel für die revolutionäre Arbeiterpartei sein (wie das auchP. B. Axelrod in der obengenannten Broschüre mit voller Klarheit gesagthat). N. G. Tschernyschewski hat ja die „fortschrittlichen Schichten derrussischen Gesellschaft" gerade deshalb schonungslos verspottet, weil siedie Notwendigkeit formeller Forderungen an die Regierung nicht begrif-fen und teilnahmslos zusahen, wie die aus ihrer Mitte hervorgegangenenRevolutionäre unter den Schlägen der autokratischen Regierung zugrundegingen. JL. TA. zitiert Tschernyschewski in diesem Fall genauso sinnlos,wie die im zweiten Artikel der „Sonderbeilage" aus dem Zusammenhanggerissenen Tschernyschewski-Zitate sinnlos sind, die zeigen sollen, daßTschernyschewski kein Utopist gewesen sei und daß die russischen Sozial-demokraten angeblich nicht die ganze Bedeutung des „großen russischenSozialisten" erfaßt hätten. Plechanow hat in seinem Buch über Tscherny-schewski (die im Sammelband „Sozialdemokrat"91 enthaltenen, in deut-scher Sprache als Buch erschienenen Artikel) die Bedeutung Tscherny-schewskis vollauf gewürdigt und sein Verhältnis zur Theorie von Marxund Engels klargestellt. Die Redaktion der „Rab. Mysl" dagegen hat nurgezeigt, daß sie unfähig ist, eine einigermaßen zusammenhängende undallseitige Einschätzung Tschernyschewskis, seiner starken und schwachenSeiten, zu geben.

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266 W.l Lenin

Die „wirkliche Frage" der russischen Sozialdemokratie besteht durch-aus nicht darin, wie die Liberalen den „gesellschaftlichen Kampf" zu füh-ren haben (unter dem R. 7A., wie wir gesehen haben, die legale Oppo-sition versteht), sondern darin, wie eine revolutionäre, für den Sturz desAbsolutismus kämpfende Arbeiterpartei zu organisieren ist, die sich aufalle oppositionellen Elemente in Rußland stützen könnte, die alle Erschei-nungsformen der Opposition für ihren revolutionären Kampf ausnutzenkönnte. Hierfür ist eben eine revolutionäre Arbeiterpartei notwendig,weil nur die Arbeiterklasse in Rußland ein entschlossener und konsequen-ter Kämpfer für die Demokratie sein kann, weil die liberalen Elementeohne energische Beeinflussung durch eine solche Partei „im Zustand einerschlaffen, untätigen, schlummernden Kraft bleiben können" (P. B.Axel-rod, zitierte Broschüre, S. 23). Wenn R. 7d. sagt, unsere „fortschrittlichstenSchichten" führten einen „wirklichen (!!) gesellschaftlichen Kampf mitder Selbstherrschaft" (S. 12 des Artikels von R. 9A.), die Hauptfrage füruns sei, „wie unsere Arbeiter diesen gesellschaftlichen Xampj mit derSelbstherrschaft führen sollen", wenn er solche Dinge sagt, so sagt ersich im Grunde vollständig von der Sozialdemokratie los. Wir könnenden Redakteuren der „Rab. Mysl" nur ernstlich raten, recht gut darübernachzudenken, wohin sie wollen und wo ihr wahrer Platz ist: unter denRevolutionären, die das Banner der sozialen Revolution in die werktätigenKlassen tragen und sie in einer politischen revolutionären Partei organi-sieren wollen, oder unter den Liberalen, die ihren „gesellschaftlichenKampf" führen (d. h. legale Opposition betreiben). Gibt es doch in derTheorie der „gesellschaftlichen Selbsttätigkeit" der Arbeiter, in der Theo-rie der „gesellschaftlichen gegenseitigen Hilfe" und der Berufsverbände,die sich „vorerst" mit dem Zehnstundentag begnügen, in der Theorie vom„gesellschaftlichen Kampf" der Semstwos, der liberalen Vereinigungenusw. mit der Selbstherrschaft — gibt es dodi in dieser Theorie rein garnichts Sozialistisches, nichts, was die Liberalen nicht anerkennen würden!Geht doch im Grunde das ganze Programm der „Rab. Mysl" (soweit manhier von einem Programm reden kann) dahin, die russischen Arbeiter inihrer Unentwickeltheit und Zersplitterung zu belassen und sie zum An-hängsel der Liberalen zu machen.

Einige Sätze von- R. M. sind besonders seltsam. „Das ganze Malheurist nur", läßt R. M. sich vernehmen, „daß unsere revolutionäre Intelligenz,

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Eine rückläufige Richtung in der russischen Sozialdemokratie 167

die von der politischen Polizei schonungslos verfolgt wird, den Kampfmit dieser politischen Polizei für einen politischen Kampf mit der Selbst-herrschaft hält." Welchen Sinn kann eine solche Erklärung haben? Diepolitische Polizei heißt eben deshalb politisch, weil sie die Feinde derSelbstherrschaft und die Kämpfer gegen die Selbstherrschaft verfolgt.Deshalb kämpft auch die „Rab. Mysl", solange sie ihre Verwandlung ineinen Liberalen noch nicht vollzogen hat, gegen die politische Polizei —ebenso wie alle russischen Revolutionäre und Sozialisten, wie alle klassen-bewußten Arbeiter gegen sie kämpfen. Aus der Tatsache, daß die politi-sche Polizei Sozialisten und Arbeiter schonungslos verfolgt, daß die Selbst-herrschaft über eine „straffe Organisation", „über tüchtige und geschickteStaatsmänner" verfügt (S. 7 des Artikels von R. 7A.), aus dieser Tatsachekönnen sich nur zwei Schlußfolgerungen ergeben: Der feige und jämmer-liche Liberale schließt daraus, unser Volk überhaupt und die Arbeiter imbesonderen seien noch wenig zum Kampf vorbereitet und alle Hoflfnungmüsse auf den „Kampf" der Semstwos, der liberalen Presse usw. gesetztwerden, denn dies sei „ein wirklicher Kampf mit der Selbstherrschaft"und nicht nur ein Kampf mit der politischen Polizei. Der Sozialist undjeder klassenbewußte Arbeiter schließt daraus, daß die Arbeiterparteimit allen Kräften ebenfalls danach streben muß, eine „straffe Organisation"zu schaffen, aus den fortgeschrittenen Arbeitern und den Sozialisten „tüch-tige und geschickte Revolutionäre" heranzubilden, die die Arbeiterparteiauf das Niveau des führenden Kämpfers für die Demokratie heben undes verstehen, alle oppositionellen Elemente an sie heranzuziehen.

Die Redakteure der „Rab. Mysl" bemerken nicht, daß sie eine schiefeEbene betreten haben, auf der sie zu der ersten Schlußfolgerung abgleiten!

Oder: „Was uns an diesen Programmen verblüfft" — d. h. an den Pro-grammen der Sozialdemokraten —, schreibt R.M., „ist auch dies, daß sieewig die Vorzüge der Tätigkeit von Arbeitern in einem (bei uns nichtexistierenden) Parlament in den Vordergrund stellen, während sie... dieWichtigkeit einer Beteiligung der Arbeiter" an den gesetzgebenden Ver-sammlungen der Fabrikanten, an den Kammern für Fabrikangelegen-heiten, an der öffentlichen Selbstverwaltung in den Städten „vollständigignorieren" (S. 15). Wenn die Vorzüge eines Parlaments nicht in denVordergrund gerückt werden, woher sollen dann die Arbeiter von politi-schen Rechten und politischer Freiheit erfahren? Wenn man von diesen

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268 TV.1. Lenin

Fragen schweigt — wie das die Zeitung „Rab. Mysl" tut —, heißt dasnicht, in den unteren Arbeiterschichten die politische Unwissenheit auf-rechterhalten? Was die Beteiligung der Arbeiter an der öffentlichen Ver-waltung der Städte anbelangt, so hat kein einziger Sozialdemokrat irgend-wann und irgendwo den Nutzen und die Wichtigkeit der Tätigkeit sozia-listischer Arbeiter in der städtischen Selbstverwaltung bestritten, es istjedoch lächerlich, hiervon in Rußland zu reden, wo keinerlei offenes Her-vortreten des Sozialismus möglich ist, wo Begeisterung der Arbeiter fürstädtische Selbstverwaltung (auch wenn diese möglich wäre) in der Praxisbedeuten würde, daß die fortgeschrittenen Arbeiter von der sozialistischenArbeitersache zum Liberalismus abgelenkt würden.

„Die Haltung der fortgeschrittenen Arbeiterschichten zu einer solchen(autokratischen) Regierung...", sagt JL. !M.r „ist ebenso verständlich wiedie Haltung der Arbeiter zu den Fabrikanten." Also sind, wie hierausnach dem gesunden Menschenverstand folgt, die fortgeschrittenen Arbeiter-schichten nicht weniger klassenbewußte Sozialdemokraten als die Sozia-listen aus den Reihen der Intellektuellen, und deshalb ist das Streben der„Rab. Mysl", die einen von den anderen zu trennen, unsinnig und schäd-lich. Also hat die russische Arbeiterklasse bereits die Elemente für dieBildung einer selbständigen politischen Arbeiterpartei hervorgebracht undselbständig herausgebildet. Die Redakteure der „Rab. Mysl" aber ziehenaus der Tatsache der politischen Bewußtheit der fortgeschrittenen Arbei-terschichten den Schluß..., es sei notwendig, diese Fortgeschrittenen zu-rückzuzerren, um sie auf der Stelle treten zu lassen! „Welchen Kampfsollen die Arbeiter wünschenswerterweise führen?" fragt R. JH., und erantwortet: Wünschenswert ist der Kampf, der möglich ist, und möglichist der, den die Arbeiter „im gegebenen Augenblick" „führen"!!! Es hältschwer, in schärferer Form dem sinnlosen und prinzipienlosen Opportu-nismus Ausdruck zu geben, von dem die für die modische „Bernsteiniade"begeisterten Redakteure der „Rab. Mysl" infiziert sind! Wünschenswertist, was möglich ist, und möglich ist, was im gegebenen Augenblick vor-handen ist! Das ist doch dasselbe, als ob man einem Menschen, der sichangeschickt hat, einen weiten und schwierigen Weg zurückzulegen, aufdem ihn eine Menge Hindernisse und eine Menge Feinde erwarten, wennman einem solchen Menschen auf die Frage: Wohin soll ich gehen? ant-worten wollte: Es ist wünschenswert, dorthin zu gehen, wohin zu gehen mög-

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Eine rückläufige Richtung in der russischen Sozialdemokratie 269

lieh ist, und möglich ist es, dorthin zu gehen, wohin du im gegebenen Augen-blick gehst! Das eben ist Nihilismus, nur kein revolutionärer, sondern einopportunistischer Nihilismus, wie ihn entweder Anarchisten oder bürger-liche Liberale zeigen! Wenn R. TA. die russischen Arbeiter zum „partiel-len" und „politischen" Kampf „auffordert" (wobei er unter politischemKampf nicht den Kampf gegen die Selbstherrschaft, sondern nur den„Kampf um Verbesserung der Lage aller Arbeiter" versteht), so forderter die russische Arbeiterbewegung und die russische Sozialdemokratiedirekt auf, einen Schritt zurück zu tun, fordert er die Arbeiter im Grundegenommen auf, sich von den Sozialdemokraten zu trennen und auf dieseWeise alles über Bord zu werfen, was auf Grund der europäischen undder russischen Erfahrungen errungen wurde! Für den Kampf um Verbes-serung ihrer Lage und nur für diesen Kampf bedürfen die Arbeiter durch-aus nicht der Sozialisten. In allen Ländern wird man Arbeiter finden, dieden Kampf um die Verbesserung ihrer Lage führen, aber nichts vom So-zialismus wissen oder sich sogar feindlich zu ihm verhalten.

„Zum Schluß", schreibt R. TA., „ein paar Worte über unsere Auffas-sung vom Arbeitersozialismus." Nach dem oben Dargelegten fällt es demLeser nicht mehr schwer, sich vorzustellen, von welcher Art diese „Auf-fassung" ist. Es handelt sich einfach um einen Abklatsch des „modischen"Bernsteinschen Buches. Unsere „jungen" Sozialdemokraten setzen an dieStelle des proletarischen Klassenkampfes die „gesellschaftliche und poli-tische Selbsttätigkeit der Arbeiter". Wenn wir uns erinnern, wie R. TA.den gesellschaftlichen „Kampf" und die „Politik" auffaßt, so wird es füruns klar sein, daß dies eine direkte Rückkehr zu der „Formel" gewisserlegaler russischer Schriftsteller ist. Anstatt genau das Ziel (und das We-sen) des Sozialismus zu bezeichnen: Übergang des Bodens, der Fabrikenusw., überhaupt aller Produktionsmittel in das Eigentum der ganzen Ge-sellschaft und Ersetzung der kapitalistischen Produktion durch eine nacheinem allgemeinen Plan geleitete Produktion im Interesse aller Gesell-schaftsmitglieder, anstatt dessen weist R. TA. zunächst auf die Entwicklungder Berufsverbände und der Konsumvereine hin und erwähnt nur neben-her, daß der Sozialismus zur vollen Vergesellschaftung aller Produktions-mittel führt. Dafür wird in fetter Schrift gedruckt: „Der Sozialismus istlediglich eine weitere, höhere Entwicklung des modernen Gemeinwesens" —eine bei Bernstein entlehnte Phrase, die die Bedeutung und das Wesen

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des Sozialismus nicht nur nicht klarmacht, sondern beides verdunkelt.Alle Liberalen und alle Bourgeois sind unbedingt für die „Entwicklungdes modernen Gemeinwesens", so daß sie sich alle über die Erklärungvon R. M. freuen werden. Trotzdem aber sind die Bourgeois feinde desSozialismus. Die Sache ist die, daß das „moderne Gemeinwesen" sehrviele verschiedene Seiten hat und daß von denen, die diesen allgemeinenAusdruck benutzen, der eine die eine, der andere die andere Seite imAuge hat. Folglich drischt R. 7d., statt den Arbeitern die Begriffe desKlassenkampfes und des Sozialismus zu erläutern, nur nebelhafte undirreführende Phrasen. Anstatt schließlich das Mittel zu nennen, das dermoderne Sozialismus zur Verwirklichung des Sozialismus gezeigt hat— die Eroberung der politischen Macht durch das organisierte Proleta-riat —, anstatt dessen spricht JL. 7A. nur von der Unterstellung der Pro-duktion unter ihre (der Arbeiter) gesellschaftliche Verwaltung oderunter die Verwaltung einer demokratisierten gesellschaftlichen Macht,demokratisiert „durch ihre (der Arbeiter) tätige Beteiligung an denKammern, die sich mit allen möglichen Fabrik- und Werkangelegen-heiten befassen, an Schiedsgerichten, an allen möglichen Versammlun-gen, Kommissionen und Beratungen zur Ausarbeitung von Arbeits-gesetzen, durch Beteiligung der Arbeiter an der gesellschaftlichen Selbst-verwaltung und schließlich an einer allgemeinen Vertretungskörper-schaft des Landes". Die Redakteure der „Rab. Mysl" rechnen also zumArbeitersozialismus nur einen solchen Sozialismus, der auf friedlichemWege erreicht wird, und schließen den revolutionären Weg aus. DieseEinengung des Sozialismus und seine Herabwürdigung zu einem ganzgewöhnlichen bürgerlichen Liberalismus stellt wiederum einen riesigenSchritt rückwärts dar gegenüber den Ansichten aller russischen und derüberwältigenden, erdrückenden Mehrheit der europäischen Sozialdemo-kraten. Die Arbeiterklasse würde es natürlich vorziehen, die Macht fried-lich zu übernehmen (wir haben bereits früher gesagt, daß diese Macht-ergreifung nur durch die organisierte Arbeiterklasse, die die Schule desKlassenkampfes durchgemacht hat, vollzogen werden kann), wollte dasProletariat aber auf die revolutionäre Machtergreifung verzichten, sowäre das sowohl vom theoretischen als auch vom praktisch-politischenStandpunkt aus eine Torheit und würde lediglich eine schändliche Kon-zession an die Bourgeoisie und alle besitzenden Klassen bedeuten. Es ist

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sehr wahrscheinlich — sogar im höchsten Grade wahrscheinlich —, daß dieBourgeoisie dem Proletariat keine friedliche Konzession machen, sondernim entscheidenden Augenblick ihre Privilegien mit Gewalt verteidigenwird. Dann wird der Arbeiterklasse kein anderer Weg zur Verwirk-lichung ihres Zieles bleiben als die Revolution. Das ist der Grund, wes-halb das Programm des „Arbeitersozialismus" von der Eroberung derpolitischen Macht schlechthin spricht, ohne das Mittel zu dieser Erobe-rung zu bestimmen, denn die Wahl dieses Mittels hängt von der Zukunftab, die wir nicht genau bestimmen können. Die Tätigkeit des Proletariatsaber in jedem Fall auf friedliche „Demokratisierung" allein beschränkenwollen heißt, wir wiederholen das, den Begriff des Arbeitersozialismusganz willkürlich einengen und verflachen.

Wir werden die anderen Artikel der „Sonderbeilage" nicht ebenso ge-nau untersuchen, über den Artikel zur 10. Wiederkehr des Todestagesvon Tschernyschewski haben wir schon gesprochen. Was nun die Propa-gierung der Bernsteiniade durch die Redakteure der „Rab. Mysl" anbe-langt, die in der ganzen Welt von allen Feinden des Sozialismus über-haupt und den bürgerlichen Liberalen im besonderen so gierig auf gegriffenwurde und gegen die sich die erdrückende Mehrheit der deutschen Sozial-demokraten und der deutschen klassenbewußten Arbeiter (auf dem Par-teitag in Hannover) so entschieden ausgesprochen haben — was die Bern-steiniade anbelangt, so ist hier nicht der Ort, ausführlich von ihr zu reden.Uns beschäftigt hier die russische Bernsteiniade, und wir haben bereitsgezeigt, welche grenzenlose Gedankenverwirrung „unsere" Bernsteiniadebedeutet, wie sehr sie jede Spur selbständiger Ansichten vermissen läßt,welchen entschiedenen Rückschritt gegenüber den Anschauungen der rus-sischen Sozialdemokratie sie bedeutet. Von der deutschen Bernsteiniadewollen wir lieber die Deutschen selbst sprechen lassen. Wir bemerkennur noch, daß die russische Bernsteiniade noch unendlich tiefer steht alsdie deutsche. Bernstein hat trotz all seiner Fehler und trotz seines offen-kundigen Strebens, sowohl in theoretischer als auch in politischer Hinsichtzurückzugehen, noch so viel Verstand und so viel Gewissenhaftigkeit be-halten, daß er, der selbst zu keiner neuen Theorie beziehungsweise kei-nem neuen Programm gelangt ist, es abgelehnt hat, im Programm derdeutschen Sozialdemokratie Abänderungen vorzuschlagen, und im letz-ten, entscheidenden Augenblick erklärt hat, er nehme die Resolution

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Bebeis an, eine Resolution, die der ganzen Welt feierlich verkündet, daßdie deutsche Sozialdemokratie bei ihrem alten Programm und ihrer altenTaktik bleibt. Und unsere russischen Bernsteinianer? Ohne auch nur einHundertstel dessen getan zu haben, was Bernstein getan hat, gehen sie soweit, einfach nichts von der Tatsache wissen zu wollen, daß alle russischensozialdemokratischen Organisationen 1898 das Fundament der „Sozial-demokratischen Arbeiterpartei Rußlands" gelegt, ihr „Manifest" heraus-gegeben, die „Rabotschaja Gaseta" zu ihrem offiziellen Organ erklärthaben und daß alle diese Publikationen ganz und gar auf dem Boden des„alten" Programms der russischen Sozialdemokraten stehen. UnsereBernsteinianer scheinen sich gar nicht bewußt zu sein, daß, wenn sie diesealten Anschauungen verworfen haben und zu neuen gelangt sind, ihresittliche Pflicht, ihre Pflicht vor der gesamten russischen Sozialdemokratiesowie vor den Sozialisten und Arbeitern, die alle ihre Kräfte für die Vor-bereitung und Gründung der „Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Ruß-lands" eingesetzt haben und die jetzt zum großen Teil die russischenGefängnisse füllen, daß diese Pflicht von den Vertretern der neuen An-sichten verlangt, sich1 nicht darauf zu beschränken, versteckt gegen irgend-welche „unserer Revolutionäre" im allgemeinen zu sticheln, sondern direktund offen zu erklären, mit wem sie und womit sie eigentlich nicht einver-standen sind, welche neuen Anschauungen und welches neue Programmsie eigentlich an die Stelle der alten setzen.

Wir haben nun noch eine, und zwar vielleicht die wichtigste Frage zubetrachten: Wie ist das Aufkommen einer solchen rückläufigen Richtungin der russischen Sozialdemokratie zu erklären? Es geht unserer Meinungnach nicht an, die Sache allein mit den persönlichen Eigenschaften derRedakteure der „Rab.Mysl", allein mit dem Einfluß der modischen Bern-steiniade zu erklären. Die Sache erklärt sich unserer Meinung nach haupt-sächlich durch eine Besonderheit in der historischen Entwicklung der rus-sischen Sozialdemokratie, die die enge Auffassung vom Arbeitersozialis-mus hervorgebracht hat — und zeitweilig hervorbringen mußte.

In den achtziger Jahren und zu Beginn der neunziger Jahre, als dieSozialdemokraten in Rußland praktisch zu arbeiten begannen, hatten siees erstens mit den Anhängern des Volkswillen zu tun, die ihnen vorwar-fen, daß sie sich dem politischen Kampf, diesem Vermächtnis der russi-schen revolutionären Bewegung, fernhielten, und mit denen die Sozial-

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Eine rückläufige Richtung in der russischen Sozialdemokratie 273

demokraten hartnäckig polemisierten, und zweitens mit der russischenliberalen Gesellschaft, die gleichfalls damit unzufrieden war, daß die revo-lutionäre Bewegung von der Richtung des Volkswillen zur Sozialdemo-kratie umschwenkte. Die Polemik sowohl gegen die einen als auch gegendie anderen drehte sich um die Frage der Politik. In ihrem Kampf gegendie beschränkte Auffassung der Anhänger des Volkswillen, die die Poli-tik auf Verschwörerei reduzierten, konnte es geschehen, daß sich die So-zialdemokraten gegen Politik überhaupt aussprachen, und zuweilen tatensie das auch (da eine bestimmte enge Auffassung von Politik herrschte).Anderseits konnten die Sozialdemokraten in den liberalen und radikalenSalons der bürgerlichen „Gesellschaft" nicht selten Worte des Bedauernsdarüber hören, daß die Revolutionäre den Terror aufgegeben hatten:Leute, die am meisten um ihre eigene Haut bangten und im entscheiden-den Augenblick den Helden, die Schläge gegen die Selbstherrschaft führ-ten, die Unterstützung verweigerten, diese Leute bezichtigten die Sozial-demokraten heuchlerisch des politischen Indifferentismus und lechzten nachder Wiedergeburt einer Partei, die für sie die Kastanien aus dem Feuerholen würde. Natürlich lernten die Sozialdemokraten derartige Leuteund ihre Phrasen hassen, und sie wandten sich der kleineren, dafür aberauch ernsteren Arbeit zu, unter dem Industrieproletariat Propaganda zutreiben. Der enge Charakter dieser Arbeit war anfangs unvermeidlichund widerspiegelte sich auch in engen Erklärungen einiger Sozialdemo-kraten. Diese Enge schreckte jedoch auch jene Sozialdemokraten nicht,die die umfassenden historischen Ziele der russisdien Arbeiterbewegungkeineswegs vergaßen. Was ist schon dabei, wenn mitunter die Worte derSozialdemokraten eng gefaßt sind: dafür ist ihr Werk weit. Dafür lassensie sidi nicht auf nutzlose Verschwörungen ein, dafür machen sie sidinicht mit den Balalaikins92 des bürgerlichen Liberalismus gemein, son-dern gehen in die Klasse, die einzig und allein eine wirklich revolutio-näre Klasse ist, und fördern die Entwicklung ihrer Kräfte! Mit jedemSchritt auf dem Wege zur Ausbreitung der sozialdemokratischen Propa-ganda, glaubten sie, werde diese Enge ganz von selbst hinwegfallen. Inbedeutendem Maße ist es auch wirklich so gekommen. Von der Propa-ganda ging man zur umfassenden Agitation über. Die umfassende Agi-tation vergrößerte natürlich immer mehr die Anzahl der klassenbewußtenfortschrittlidien Arbeiter; es begannen sich revolutionäre Organisationen

18 Lenin, Werke, Bd. 4

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zu bilden (der St. Petersburger, der Kiewer und andere „Kampfbünde",der Jüdische Arbeiterverband). Diese Organisationen begannen natürlichnach Verschmelzung zu streben, was ihnen schließlich auch gelang: sievereinigten sich und legten das Fundament für die „SozialdemokratischeArbeiterpartei Rußlands". Man hätte meinen sollen, jetzt sei kein Bodenmehr vorhanden gewesen für die alte Enge und sie werde endgültig überBord geworfen werden. Es kam aber anders: Die Ausbreitung der Agi-tation brachte die Sozialdemokraten in Fühlung mit den untersten, amwenigsten entwickelten Schichten des Proletariats,- die Heranziehung die-ser Schichten erforderte vom Agitator die Fähigkeit, sich dem niedrigstenAuffassungsniveau anzupassen, gewöhnte ihn daran, die „Erfordernisseund Interessen des gegebenen Augenblicks" in den Vordergrund zurücken und die umfassenden Ideale des Sozialismus und des politisdienKampfes zurüdczustellen. Der zersplitterte, handwerklerische Charakterder sozialdemokratischen Arbeit, die äußerst schwache Verbindung zwi-schen den Zirkeln Verschiedener Städte, zwischen den russischen Sozial-demokraten und ihren Genossen im Ausland, die sowohl solidere Kennt-nisse und reichere revolutionäre Erfahrungen als auch einen weiterenpolitischen Horizont hatten, führten natürlich dazu, daß diese {absolutnotwendige) Seite der sozialdemokratischen Tätigkeit übermäßig aufge-bauscht wurde, und konnte dazu führen, daß einzelne Personen überdieser Seite der Tätigkeit die übrigen vergessen konnten, um so mehr, alsmit jedem Hochgehen die bewußtesten Arbeiter und Intellektuellen ausden Reihen der kämpfenden Armee ausschieden und sich eine feste revo-lutionäre Tradition und Kontinuität nodi nidit herausbilden konnten.Eben in dieser übermäßigen Aufbauschung einer Seite der sozialdemo-kratischen Arbeit sehen wir auch die Hauptursache des traurigen Abfallsvon den Idealen der russischen Sozialdemokratie. Dazu nehme man nochdas Sdiwärmen für ein modisches Büchlein, die Unkenntnis der Geschichteder russischen revolutionären Bewegung und die kindisdie Originalitäts-sucht — und man hat alle Elemente, aus denen die „rückläufige Richtungin der russischen Sozialdemokratie" besteht.

Somit müssen wir auf die Frage nach dem Verhältnis der fortgeschritte-nen Schichten des Proletariats zu seinen unteren Schichten und nach derBedeutung der sozialdemokratischen Arbeit in den einen wie in den an-deren Schichten ausführlicher eingehen.

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Eine rückläufige JlidhtuncJ in der russisdben Sozialdemokratie 275

Die Geschichte der Arbeiterbewegung aller Länder zeigt, daß die Ideendes Sozialismus am frühesten und am leichtesten von den am besten ge-stellten Arbeiterschichten aufgenommen werden. Aus ihrer Mitte haupt-sächlich stammen jene führenden Arbeiter, die jede Arbeiterbewegunghervorbringt, Arbeiter, die es verstehen, das volle Vertrauen der Arbeiter-massen zu gewinnen, Arbeiter, die sich ganz und gar der Aufklärung undOrganisierung des Proletariats widmen, Arbeiter, die den Sozialismusganz bewußt aufnehmen und die sogar selbständig sozialistische Theorienausgearbeitet haben. Jede lebensfähige Arbeiterbewegung hat solche Füh-rer aus der Arbeiterklasse hervorgebracht, ihre Proudhon und Vaillant,ihre Weitling und Bebel. Auch unsere russische Arbeiterbewegung ver-spricht in dieser Beziehung hinter der europäischen nicht zurückzubleiben.Während die gebildete Gesellschaft das Interesse an ehrlicher, illegalerLiteratur verliert, wächst unter den Arbeitern das leidenschaftliche Stre-ben nach Wissen und nach dem Sozialismus, treten unter den Arbeiternwirkliche Helden hervor, die — trotz ihrer abscheulichen Lebensverhält-nisse, trotz abstumpfender Zwangsarbeit in der Fabrik — so viel Cha-rakter und Willensstärke aufbringen, um zu lernen, zu lernen und nochrmals zu lernen und sich zu klassenbewußten Sozialdemokraten, zu einer„Arbeiterintelligenz" heranzubilden. In Rußland gibt es diese „Arbeiter-intelligenz" schon, und wir müssen alle Kräfte aufbieten, damit sich ihreReihen ständig erweitern, damit ihre großen geistigen Ansprüche vollbefriedigt werden, damit aus ihren Reihen Führer der Sozialdemokra-tischen Arbeiterpartei Rußlands hervorgehen. Die Zeitung, die zum Or-gan aller russischen Sozialdemokraten werden will, muß deshalb auf demNiveau der fortgeschrittenen Arbeiter stehen; sie darf ihr Niveau nichtkünstlich senken, sondern muß es, im Gegenteil, ständig heben, sie mußalle taktischen, politischen und theoretischen Fragen der internationalenSozialdemokratie verfolgen. Nur dann werden die Ansprüche der Arbeiter-intelligenz befriedigt werden, nur dann wird sie die russische Arbeitersacheund folglich auch die russische revolutionäre Sache in ihre Hände nehmen.

Der zahlenmäßig kleinen Schicht der führenden Arbeiter folgt diebreite Schicht der mittleren Arbeiter. Auch diese Arbeiter streben leiden-schaftlich zum Sozialismus, beteiligen sich an Arbeiterzirkeln, lesensozialistische Zeitungen und Bücher, nehmen an der Agitation teil undunterscheiden sich von der vorhergehenden Schicht nur dadurch, daß sie

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keine völlig selbständigen Führer der sozialdemokratischen Arbeiterbe-wegung werden können. In der Zeitung, die das Parteiorgan sein würde,wird der mittlere Arbeiter manche Artikel nicht verstehen, er wird sichvon einer komplizierten theoretischen oder praktischen Frage keinen kla-ren Begriff machen. Hieraus folgt durchaus nicht, daß die Zeitung zumNiveau der Masse ihrer Leser hinabsteigen muß. Im Gegenteil, die Zeitungmuß gerade das Niveau ihrer Leser heben und mithelfen, aus der mittlerenArbeiterschicht führende Arbeiter zu entwickeln. Von der lokalen prak-tischen Tätigkeit ganz in Anspruch genommen, vor allem an der Chronikder Arbeiterbewegung und den nächsten Fragen der Agitation interessiert,muß ein solcher Arbeiter mit jedem seiner Schritte den Gedanken an diegesamte russisdie Arbeiterbewegung, an ihre historische Aufgabe, an dasEndziel des Sozialismus verbinden, und deshalb muß eine Zeitung, derenLesermasse mittlere Arbeiter sind, notwendigerweise mit jeder lokalen undbegrenzten Frage den Sozialismus und den politischen Kampf verbinden.

Der mittleren Schicht schließlich folgt die Masse der unteren Schichtendes Proletariats. Es ist sehr wohl möglich, daß eine sozialistische Zeitungfür diese ganz oder doch fast ganz unverständlich sein wird (ist doch auchin Westeuropa die Zahl der sozialdemokratischen Wähler viel größer alsdie Leserzahl sozialdemokratischer Zeitungen), aber es wäre absurd, dar-aus sdiließen zu wollen, daß eine Zeitung der Sozialdemokraten sich einemmöglichst niedrigen Niveau der Arbeiter anpassen müsse. Daraus folgtnur, daß auf diese Schichten andere Mittel der Agitation und Propagandawirken müssen: möglichst populär geschriebene Broschüren, mündlicheAgitation und — vor allem — Flugblätter aus Anlaß lokaler Ereignisse.Selbst hierauf dürfen sich die Sozialdemokraten nicht beschränken: es istsehr wohl möglich, daß die ersten Schritte zur Erweckung des Klassen-bewußtseins in den unteren Arbeiterschichten von der legalen Aufklärungs-tätigkeit gemacht werden müssen. Für die Partei ist es sehr wichtig, sidadiese Tätigkeit zunutze zu machen, sie eben dorthin zu lenken, wo sieam nötigsten ist, legal tätige Funktionäre auszusenden, damit sie dasNeuland unter den Pflug nehmen, das dann von den sözialdemokratisdienAgitatoren besät werden wird. Die Agitation unter den unteren Arbeiter-schichten muß natürlich den persönlichen Besonderheiten des Agitatorssowie den Besonderheiten der Gegend, des Berufs usw. den größten Spiel-raum lassen.. „Man verwechsle nidit Taktik mit Agitationsweise", sagt

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Eine rückläufige Ttichtung in der russischen Sozialdemokratie 177

Kautsky in seinem Buch gegen Bernstein. „Diese" (die Agitationsweise)„muß sich individuellen und lokalen Verhältnissen anpassen. In der Agi-tation muß man es jedem Agitator überlassen, durch jene Mittel zu wir-ken, die ihm zu Gebote stehen; der eine wirkt am meisten durch seineBegeisterung, der andere durch schlagenden Witz, der dritte durch dieFülle der Tatsachen usw. Und wie nach dem Agitator muß sich die Agita-tion nach dem Publikum richten; man muß so sprechen, daß man verstan-den wird, muß an das den Zuhörern Bekannte anknüpfen. Das ist ja selbst-verständlich und gilt nicht bloß für die Bauernagitation. Man wird auch zuDroschkenkutschern anders sprechen als zu Seeleuten, und zu diesenwieder anders als zu Schriftsetzern. In der Agitation muß individualisiert.werden, aber unsere Taktik, unser politisches "Handeln muß einheitlichsein." (S. 2/3.) Diese Worte eines führenden Vertreters der sozialdemo-kratischen Theorie enthalten eine vortreffliche Bewertung der Agitationin der Gesamttätigkeit der Partei. Diese Worte zeigen, wie unbegründetdie Befürchtungen derjenigen sind, die da glauben, die Gründung einerrevolutionären Partei, die einen politischen Kampf führt, behindere dieAgitation, dränge sie in den Hintergrund oder enge die Freiheit der Agi-tatoren ein. Im Gegenteil, nur eine organisierte Partei kann eine breiteAgitation entfalten, kann den Agitatoren in allen ökonomischen und poli-tischen Fragen die notwendige Anleitung (und das Material) geben, kannjeden lokalen Agitationserfolg zur Belehrung aller russischen Arbeiterausnutzen, kann die Agitatoren in die Schicht oder in die Gegenden schik-ken, wo sie mit größtem Erfolg tätig zu sein vermögen. Nur in einerorganisierten Partei werden Menschen, die über agitatorisdie Fähigkeitenverfügen, imstande sein, sich ganz dieser Sache zu widmen — zum Vor-teil sowohl für die Agitation als auch für die übrigen Seiten der sozial-demokratischen Arbeit. Wie hieraus ersichtlich, würde derjenige, der überdem ökonomischen Kampf die politische Agitation und Propaganda ver-gißt, der die Notwendigkeit vergißt, die Arbeiterbewegung so zu organi-sieren, daß sie in den Kampf einer politischen Partei ausmündet, abge-sehen von allem anderen, sich sogar der Möglichkeit begeben, die Ge-wjnnung der untersten Schichten des Proletariats für die Arbeitersachedauerhaft und erfolgreich in die Wege zu leiten..Aber solche Übertreibung einer Seite der Arbeit zum Nachteil der an-

deren, ja sogar mit dem Bestreben, diese anderen Seiten.ganz über Bord;

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278 IV.3. Lenin

zu werfen, droht Folgen zu haben, die für die russische Arbeiterbewegungnoch unvergleichlich schädlicher sind. Die unteren Schichten des Proleta-riats können geradezu demoralisiert werden, wenn sie die verleumderischeBehauptung hören, die Begründer der russischen Sozialdemokratie sähenin den Arbeitern nur ein Mittel zum Sturze der Selbstherrschaft, wennsie die Aufforderung hören, sich auf die Wiedereinführung der Feiertageund auf die Berufsverbände zu beschränken, sich nicht um die Endzieledes Sozialismus und die nächsten Aufgaben des politischen Kampfes zukümmern. Solche Arbeiter können (und werden) stets auf den Köderjedes beliebigen von der Regierung und der Bourgeoisie hingeworfenenAlmosens anbeißen. Unter dem Einfluß der Propaganda der „RabotschajaMysl" können die unteren Schichten des Proletariats, die völlig unent-wickelten Arbeiter, von jener bürgerlichen und durch und durch reaktio-nären Überzeugung durchdrungen werden, der Arbeiter könne und müssesich für nichts weiter als eine Lohnzulage und die Wiedereinführung derFeiertage („Interessen des Augenblicks") interessieren, das arbeitendeVolk könne und müsse allein mit seinen Kräften, allein mit seiner „eige-nen Initiative" die Arbeitersache führen, ohne danach zu streben, sie mitdem Sozialismus zu verschmelzen, ohne danach zu streben, die Sache derArbeiter zur höchsten und wichtigsten Sache der ganzen Menschheit zumachen. Die unentwickeltsten Arbeiter können, wir wiederholen das,durch diese Überzeugung demoralisiert werden, wir sind jedoch über-zeugt, daß die fortgeschrittenen russischen Arbeiter, diejenigen, die dieArbeiterzirkel und die gesamte sozialdemokratische Tätigkeit leiten, die-jenigen, die jetzt unsere Gefängnisse und Verbannungsorte, vom Gou-vernement Archangelsk bis Ostsibirien füllen — daß diese Arbeiter einederartige Theorie mit Entrüstung ablehnen werden. Die ganze Bewegungauf die Interessen des Augenblicks reduzieren heißt auf die Unentwickelt-heit der Arbeiter spekulieren, heißt ihre schlechtesten Neigungen begün-stigen. Das heißt die Verbindung zwischen Arbeiterbewegung und So-zialismus, zwischen den völlig klar herausgebildeten politischen Bestre-bungen der fortgeschrittenen Arbeiter und den spontanen Erscheinungs-formen des Massenprotestes künstlich zerreißen. Das ist nun der Grund,weshalb der Versuch der „Rabotschaja Mysl", mit einer besonderen Rich-tung hervorzutreten, besondere Aufmerksamkeit verdient und einenbesonders energischen Protest erforderlich macht. Solange die „Rabo-

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Eine rückläufige Richtung in der russischen Sozialdemokratie 279

tschaja Mysl", die sich offenbar den unteren Schichten des Proletariatsanpaßt, die Frage nach dem Endziel des Sozialismus und dem politischenKampf angelegentlich umging, jedoch nicht ihre besondere Richtung de-klarierte, schüttelten viele Sozialdemokraten nur den Kopf und hofften,die Mitglieder der Gruppe „Rab. Mysl" würden mit der Entwicklung undErweiterung ihrer Arbeit selbst ihre Enge leicht überwinden. Wenn aberMenschen, die bisher die nützliche Arbeit einer Vorbereitungsklasse ge-leistet haben, anfangen, über ganz Europa großen Lärm zu machen, undunter Ausnützung der modischen Theorien des Opportunismus erklären,sie wollten die ganze russische Sozialdemokratie für viele Jahre (wennnicht für immer) in die Vorbereitungsklasse setzen — wenn, mit anderenWorten, Menschen, die bisher durch nützliche Arbeit ein Fäßchen Honigzusammengetragen haben, „in aller Öffentlichkeit" kellenweise Teer inden Honig gießen, dann müssen wir gegen diese rückläufige Richtungentschieden Front machen!

Die russische Sozialdemokratie, sowohl in der Person ihrer Begründer,der Mitglieder der Gruppe „Befreiung der Arbeit", als auch in Gestaltder russischen sozialdemokratischen Organisationen, die die „Sozialdemo-kratische Arbeiterpartei Rußlands" gegründet haben, hat stets die beidenfolgenden Grundsätze anerkannt: 1. Das Wesen der Sozialdemokratie istdie Organisierung des proletarischen Klassenkampfes mit dem Ziel, diepolitische Macht zu erobern, alle Produktionsmittel in die Hände der gan-zen Gesellschaft zu übergeben und die kapitalistische Wirtschaft durchdie sozialistische zu ersetzen; 2. die Aufgabe der russischen Sozialdemo-'kratie ist es, eine russische revolutionäre Arbeiterpartei zu organisieren,die den Sturz der Selbstherrschaft, die Erkämpfung politischer Freiheit zuihrem nächsten Ziel macht. Wer sich von diesen Grundsätzen abwendet(die im Programm der Gruppe „Befreiung der Arbeit" genau formuliertund im „Manifest der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands"verkündet worden sind), der wendet sich von der Sozialdemokratie ab.

Qesdhrieben Ende 1899.

Zuerst veröffentlicht 1924 Nach einem von unbekanh-in der Zeitschrift ter Hand abgeschriebenen,„ProletarskajaReuroluzija" von Cenin durchgesehenen(Die proletarische Revolution) SVr. 8l9. Manuskript.

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AUS ANLASS DER „PROFESSION DE FOI"*

Die vom Kiewer Komitee verfaßte „Profession de foi" gibt, obgleichsie nur ein Rohentwurf ist, für dessen Bearbeitung und Redaktion, wiedas Kiewer Komitee erklärt, einfach keine Zeit vorhanden war, doch dieMöglichkeit, sich eine genügend klare Vorstellung von den Ansichten desKiewer Komitees zu bilden, und diese Ansichten müssen zweifellos denenergischen Protest derjenigen russischen Sozialdemokraten hervorrufen,die auf dem Standpunkt der alten Prinzipien der Sozialdemokratie stehen,wie sie in Rußland von der Gruppe „Befreiung der Arbeit" proklamiert,wiederholt in Veröffentlichungen der SDAPR dargelegt und in derenManifest bestätigt wurden. Die Ansichten des Kiewer Komitees wider-spiegeln zweifellos einen bedeutenden Einfluß jener neuen Richtung „jun-ger russischer Sozialdemokraten", die sich in ihrer extremen Entwicklungmit dem Bernsteinianertum verschmolzen und solche Erzeugnisse hervor-gebracht hat wie die bekannte Sonderbeilage zur „Rabotschaja Mysl"(September 1899) und das nicht weniger bekannte „Credo"*.

Man kann nicht sagen, daß die „Profession de foi" völlig zu dieseropportunistischen und reaktionären Richtung paßt, aber die „Professionde foi" tut so ernstliche Schritte nach dieser Seite, sie läßt eine solcheVerwirrung in den Grundideen des Sozialdemokratismus, ein solchesSchwanken des revolutionären Denkens erkennen, daß wir es für unserePflidit halten, die Kiewer Genossen zu warnen und ihre Abweichung vonden seit langem feststehenden Prinzipien sowohl der internationalen alsaudi der russischen Sozialdemokratie eingehend zu untersuchen.

* Glaubensbekenntnis, Programm, Darlegung einer Weltanschauung.

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Aus Anlaß der „Profession de foi" 281

Schon der erste Satz der „Profession de foi" erregt das ernsteste Be-fremden: „Das Kiewer Komitee erkennt den Kampf für die politischenRechte des Proletariats als nächste gemeinsame Aufgabe der Arbeiter-bewegung in Rußland an, hält es jedoch nicht für möglich, die Masse derArbeiter im gegenwärtigen Augenblick zu politischen Aktionen aufzu-rufen, mit anderen Worten, politische Agitation zu treiben, da der rus-sische Arbeiter in seiner Masse noch nicht zum politischen Kampf reifist." Wir berühren nicht die Formulierung dieser Stelle; uns sind nur dieGedanken wichtig, die hier entwickelt und (dies bemerke man) an ande-ren Stellen der „Profession de foi" mehrfach wiederholt werden, die Ge-danken aber sind von einer Art, daß wir uns nur fragen können: „Sinddie, die das geschrieben haben, wirklich Sozialdemokraten?"

„Der russische Arbeiter ist in seiner Masse noch nicht zum politischenKampf reif"! Wenn dies wahr wäre, so wäre es soviel wie ein Todesurteilfür die ganze Sozialdemokratie, denn das bedeutet, daß der russischeArbeiter in seiner Masse noch nicht für den Sozialdemokratismus reifist. In der Tat, nirgends in der Welt gab es oder gibt es eine Sozialdemo-kratie, die nicht unteilbar und unauflöslich mit dem politischen Kampfverbunden wäre. Sozialdemokratie ohne politischen Kampf ist ein Flußohne Wasser, ist ein schreiender Widerspruch, ist eine Rückkehr ent-weder zum utopischen Sozialismus unserer Ururgroßväter, die die„Politik" mißachteten, oder zum Anarchismus oder aber zum Trade-Unionismus.

Die erste profession de foi des internationalen Sozialismus, das „Kom-munistische Manifest", hat bereits die seitdem zu einer Binsenwahrheitgewordene Tatsache festgestellt, -daß jeder Klassenkampf ein politischerKampf ist, daß die Arbeiterbewegung nur dann über den Keimzustandund das Kindheitsstadium hinauswächst, wenn sie zur Klassenbewegungwird, wenn sie zum politischen Kampf übergeht. Die erste profession defoi des russischen Sozialismus, die 1883 ersdiienene Broschüre Plecha-nows „Sozialismus und politischer Kampf", bestätigte diese Wahrheit inAnwendung auf Rußland und zeigte, wie eigentlich und warum eigentlichdie russische revolutionäre Bewegung zur Verschmelzung des Sozialismusund des politischen Kampfes, zur Verschmelzung der spontanen Bewe-gung der Arbeitermassen mit der revolutionären Bewegung, zur Ver-schmelzung von Klassenkampf und politischem Kampf führen muß. Das

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282 •W.J.Lenin

Kiewer Komitee, das sich auf den Standpunkt des Sozialismus und desKlassenkampfes stellt, gleichzeitig aber die Möglichkeit bestreitet, „diebreiten Massen im gegenwärtigen Augenblick zu politischen Aktionenaufzurufen", gibt im Grunde genommen die Prinzipien des Sozialdemo-kratismus völlig preis, und der Wunsch, auf dem Boden dieser Prinzipienzu bleiben, verwickelt es in eine Reihe schreiender Widersprüche.

In der Tat, wie kann man von „politischer Erziehung" der Arbeiterreden, ohne die politische Agitation und den politischen Kampf für mög-lich zu halten? Muß denn unter Sozialdemokraten wirklich noch bewie-sen werden, daß es ohne politischen Kampf und politische Aktionen keiner-lei politische Erziehung geben kann? Kann man denn wirklich glauben,daß die Arbeitermassen durch irgendwelche Kurse oder Bücher usw., ohnepolitische Tätigkeit und politischen Kampf politisch erzogen werden kön-nen? Soll denn wirklich die rassische Sozialdemokratie zum Standpunktder Fronherren zurückgehen, die erklärten, erst einmal müsse man dieBauern erziehen, dann erst könne man sie freilassen, oder zum Stand-punkt unserer vor der Regierung auf dem Bauch kriechenden Federfuch-ser, die sagen, erst müsse das Volk erzogen und dann erst könnten ihmpolitische Rechte gegeben werden? Wie kann man es sich zur Aufgabemachen, die Erkenntnis von der Notwendigkeit des Kampfes für politischeRechte zu wecken, und es gleichzeitig nicht für möglich erachten, dieArbeiter zu politischen Aktionen aufzurufen, es nicht für möglich halten,politische Agitation zu treiben? Die Erkenntnis von der Notwendigkeitdes politischen Kampfes wecken und gleichzeitig nicht zu politischemKampf aufrufen?! Was ist das? Was soll das heißen? Und ein derartigerWirrwarr ist durchaus nicht das Resultat von Unklarheiten eines Rohent-wurfs oder seiner noch nicht endgültigen Bearbeitung, sondern das natür-liche, unvermeidliche Resultat jener Zweideutigkeit und Halbschlächtig-keit, von der alle Anschauungen des Kiewer Komitees durchdrungen sind.Einerseits will es auf dem Boden der seit langem feststehenden Grund-prinzipien der internationalen und der russischen Sozialdemokratie blei-ben, anderseits schwärmt es für jene Bernsteinschen Modewörtchen vonder „Notwendigkeit", der „Allmählichkeit" (am Ende des Abschnitts Ider „Profession de foi" des Kiewer Komitees), von dem „unmittelbarökonomischen Charakter der Bewegung", von der Unmöglichkeit politi-scher Agitation und politischen Kampfes, von der Notwendigkeit, auf dem

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Aus Anlaß der „Vrojession de foi" 283

festen Boden der realen Bedürfnisse und Erfordernisse zu bleiben (alsob der Kampf für politische Freiheit nicht durch das allerrealste Bedürfnisund Erfordernis hervorgerufen würde!), kurzum für die modischen Wört-chen, aus denen so modische Werke gewoben werden wie das „Credo"und die Sonderbeilage zur „Rabotschaja Mysl". Untersuchen wir den In-halt der These, in der sich wie in einem Brennpunkt alle schwachen Sei-ten der uns vorliegenden „Profession de foi" konzentrieren, nämlich derThese, es sei unmöglich, „die Masse der Arbeiter im gegenwärtigenAugenblick zu politischen Aktionen aufzurufen", mit anderen Worten,politische Agitation zu treiben, da der russische Arbeiter in seiner Massenoch nicht zum politischen Kampf reif sei. Diese letztere Behauptung istvöllig unwahr, zum Glück (wir sagen zum Glück, denn wenn sie wahrwäre, müßte sie die russischen Marxisten und Sozialdemokraten unweiger-lich in jenen Sumpf trade-unionistischer und bürgerlich-liberaler Verfla-chung führen, in den sie die Autoren des „Credo", der „RabotschajaMysl"und ihre zahlreichen Handlanger in unserer legalen Literatur zu stürzensuchen). Der russische Arbeiter ist in seiner Masse nicht nur zum politi-schen Kampf reif, sondern hat auch seine Reife schon viele Male gezeigtund viele Male — und dabei nicht selten spontan — politische Kampfaktevollbracht.

In der Tat, ist denn die Massenverbreitung von Aufrufen, in denendie Regierung getadelt, in denen die Regierung gegeißelt wird, nicht einpolitischer Kampfakt? Ist denn der russische Arbeiter in seiner Massenicht kraft „eigener Mittel" mit allzu übermütig gewordenen Polizistenund Soldaten fertig geworden; hat er nicht oft seine verhafteten Genossenmit Gewalt befreit? Hat er nicht an vielen Orten in direkten Straßen-kämpfen gegen Militär und Polizei gekämpft? Hat denn der russischeArbeiter in seiner Masse nicht mehr als 20 Jahre lang seine besten, ent-wickeltsten, seine ehrlichsten und kühnsten Genossen in die Reihen derrevolutionären Zirkel und Organisationen geschickt? Aber einer Mode-doktrin bürgerlicher Vulgarisierung zuliebe sollen wir, die Vertreter derrevolutionären Sozialdemokratischen Partei, all dies vergessen und es fürunmöglich erklären, die Arbeitermassen zu politischen Aktionen aufzu-fordern! Man wird uns vielleicht entgegenhalten, daß die angeführtenTatsachen häufig eher spontane Explosionen als ein politischer Kampfwaren. Aber waren denn unsere Streiks — antworten wir — nicht lediglich

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284 W.3. Centn

bloße spontane Explosionen, solange die revolutionären Zirkel der Sozia-listen sich nicht der breiten Agitation, der Aufforderung der Arbeiter-massen zum Klassenkampf, zum bewußten Kampf gegen ihre Unter-drücker zugewandt hatten? Kann man denn in der Geschichte auch nureine einzige Volksbewegung, auch nur eine einzige Klassenbewegungnachweisen, die nicht mit spontanen, unorganisierten Explosionen begon-nen hätte, die ohne das bewußte Eingreifen gebildeter Vertreter der be-treffenden Klasse organisierte Form angenommen, politische Parteiengeschaffen hätte? Wenn der unaufhaltsame, spontane Drang der Arbeiter-klasse zum politischen Kampf bisher zum großen Teil lediglich in un-organisierten Explosionen zum Ausdruck kommt, so werden nur die„Moskowskije Wedomosti"93 und der „Grashdanin" 94 daraus denSchluß ziehen, daß der russische Arbeiter in seiner Masse für politischeAgitation noch nicht reif sei. Ein Sozialist dagegen wird daraus den Schlußziehen, daß die Notwendigkeit politischer Agitation, umfassendster Auf-forderung der Arbeitermassen zu politischen Aktionen und zum politi-schen Kampf schon längst herangereift ist; wenn wir auf diese Aufforde-rung verzichten, tun wir nicht unsere Pflicht und, im Grunde genommen,hören wir auf, Sozialdemokraten zu sein, weil wirtschaftliche und ge-werkschaftliche Organisationen ohne politischen Kampf stets und überallvon eifrigen Anhängern der Bourgeoisie gepredigt wurden; daher kannjenes systematische Verschweigen des politischen Kampfes und der poli-tischen Aufgaben der russischen Arbeiterklasse, das wir z. B. in der Zei-tung „Rabotschaja Mysl" gesehen haben, nur als verbrecherisch undschändlich bezeichnet werden. Dieses Verschweigen ist gleidibedeutend.mit Demoralisierung des politischen Bewußtseins der Arbeiter, die daspolitische Joch sehen und fühlen, die sich spontan gegen dieses Joch auf-lehnen, jedoch bei ihren sozialistischen Führern auf Gleichgültigkeit sto-ßen oder aber sie sogar gegen die Ideen des polirischen Kampfes polemi-sieren hören. Es kann nur als Gleichgültigkeit und äußerste Engstirnigkeitbezeichnet werden, wenn man uns sagt, die Ideen politischer Freiheitmüßten „allmählich" in die Masse getragen werden — also haben wiruns wohl bisher zu sehr beeilt, diese Ideen in die Masse zu tragen, man:müßte uns zügeln und zurückhalten!!! Oder wenn man uns sagt, „die;Lage der Arbeiterklasse" dürfe nur „insoweit politisch beleuchtet werden,als in jedem einzelnen Fall Anlaß dazu vorhanden ist", als ob.die alltäg-

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Aus Anlaß der „Profession de foi" 285

lichsten, in Massen überall anzutreffenden Tatsachen aus dem Arbeiter-leben nicht „Anlässe" für politische Agitation böten?!

Das Bestreben, die politische Agitation in jedem einzelnen Fall auf vor-handene Anlässe zu beschränken, ist entweder sinnlos oder widerspiegeltlediglich das Bestreben, einen Schritt zurück in Richtung auf das „Credo"und die „Rabotschaja Mysl" zu tun, das Bestreben, den ohnehin allzuengen Rahmen unserer propagandistischen und agitatorischen Tätigkeitnoch mehr einzuengen. Man wird uns vielleicht weiter entgegenhalten, dieArbeitenrwssen verstünden noch nicht die Idee des politischen Kampfes,eine Idee, die nur für einzelne entwickeltere Arbeiter faßlich sei. Aufdiesen Einwand, den wir von den „jungen" russischen Sozialdemokratenso häufig zu hören bekommen, antworten wir, erstens, daß die Sozial-demokratie stets und überall die Vertreterin der klassenbewußten undnicht der nicht klassenbewußten Arbeiter war und nidbts anderes seinkann, daß es nichts Gefährlicheres und Verbrecherischeres geben kann alsdas demagogische Liebäugeln mit der mangelnden Entwicklung der Ar-beiter. Wenn wir das zum Kriterium unserer Tätigkeit machen wollen,was für die breiteste Masse sofort, unmittelbar und im höchsten Gradefaßlich ist, so müssen wir den Antisemitismus predigen oder, sagen wir,auf dem Boden einer Adresse an den Pater Johann von Kronstadt95 Agi-tation treiben.

Es ist die Aufgabe der Sozialdemokratie, das politische Bewußtsein derMassen zu entwickeln und nicht hinter der politisch rechtlosen Masse ein-herzutraben; zweitens — und das ist die Hauptsache — ist es falsch, daßdie Massen die Idee des politischen Kampfes nicht verstehen. Auch dereinfachste Arbeiter wird diese Idee verstehen, unter der Voraussetzungnatürlich, daß der Agitator oder Propagandist es versteht, so an ihn her-anzutreten, daß er ihm diese Idee vermittelt, daß er sie ihm in verständ-licher Sprache und gestützt auf ihm bekannte Tatsachen des täglichenLebens zu erklären weiß. Aber diese Voraussetzung ist ja auch für die Er-klärung der Bedingungen des ökonomischen Kampfes notwendig: auchauf diesem Gebiet ist ein einfacher Arbeiter aus den unteren und mittle-ren Schichten der Masse nicht imstande, sich die allgemeine Idee des öko-nomischen Kampfes zu eigen zu machen,- diese Idee machen sich einigewenige gebildete Arbeiter zu eigen, denen die vom Instinkt und vomunmittelbaren nächsten Interesse geleitete Masse folgt.

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286 W J.Lenin

Ebenso auch auf dem Gebiet der Politik: die allgemeine Idee des poli-tischen Kampfes wird sich natürlich nur ein gebildeter Arbeiter zu eigenmachen, dem die Masse folgt, weil diese sehr gut ihre politische Recht-losigkeit fühlt (wie das Kiewer Komitee an einer Stelle seiner „Professionde foi" zugibt) und weil die unmittelbarsten tagtäglichen Interessen sieständig mit allen möglichen Erscheinungsformen der politischen Unter-jochung zusammenstoßen lassen. In keiner einzigen politischen oder so-zialen Bewegung, in keinem einzigen Land hat es jemals ein anderes Ver-hältnis zwischen der Masse der betreffenden Klasse oder des Volkes undden an Zahl geringen gebildeten Vertretern der Klasse oder des Volkesgegeben und konnte es auch nicht geben als nur dies eine: die Führereiner bestimmten Klasse sind stets und überall ihre fortgeschrittenen, ihregebildetsten Vertreter. Auch in der russischen Arbeiterbewegung kannes nicht anders sein. Und deshalb muß die Ignorierung der Interessen undder Bedürfnisse dieser fortgeschrittenen Arbeiterschicht, das Bestreben,bis zum Fassungsvermögen der unteren Schichten hinabzusteigen (anstattdas Bewußtsein der Arbeiter ständig auf ein höheres Niveau zu heben)notwendigerweise die allerschädlichste Wirkung ausüben und den Bodendafür vorbereiten, daß in die Arbeiterschaft alle möglichen nicht sozia-listischen und nicht revolutionären Ideen eindringen.

Um die Untersuchung der vom Kiewer Komitee vertretenen Ansichtenüber den politischen Kampf abzuschließen, [füge ich folgendes hinzu].In einer äußerst seltsamen und gleichzeitig für die ganze „Profession defoi" äußerst charakteristischen Weise betrachtet das Komitee, das es fürunmöglich hält, im gegenwärtigen Augenblick die breiten Arbeitermassenzu politischen Aktionen aufzufordern, es als wünschenswert, Jei/demon-strationen zu rein agitatorischem Zweck (und nicht zum Zweck der Ein-wirkung auf die Regierung) zu veranstalten, wenn die Anlässe hierzuden breiten Massen verständlich sind. Sozialisten rufen die Arbeiter auf,nidht auf die Regierung einzuwirken!!! Weiter geht's nimmer... Unbe-greiflich ist nur, wie denn Demonstrationen möglich sind, die auf die Re-gierung nidht einwirken. Will man den Arbeitern empfehlen, innerhalbder vier Wände ihrer engen Behausungen zu demonstrieren und vorherdie Türen zuzuschließen? oder will man vielleicht mit der geballten Faustin der Tasche demonstrieren? das allerdings wird bestimmt nicht die soschädliche und verderbliche „Einwirkung auf die Regierung" haben! Was

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Aus Anlaß der „Profession de joi" 287

„Teildemonstration" bedeutet, will uns gleichfalls nicht in den Kopf. Be-deutet das vielleicht: eine gewerkschaftliche Demonstration wegen aus-schließlich gewerkschaftlicher Fragen (noch einmal: Was hat hiermit dennder Sozialismus zu tun?) oder vielleicht aus partiellen politischen Anläs-sen und nicht gegen das ganze politische System, gegen die Selbstherr-schaft überhaupt? Aber wenn das der Fall ist, sind das dann nicht diereinsten Ideen des „Credo" und des äußersten Opportunismus, der äußer-sten Erniedrigung, der Verdunkelung des politischen Bewußtseins und derpolitischen Aufgaben der Arbeiterklasse? Wenn dem so ist, sollen wirdann nicht lieber das „geflügelte Wort" eines „jungen" hauptstädtischenSozialdemokraten wiederholen: „Es ist verfrüht, die Selbstherrschaftunter den Arbeitern zu diskreditieren"?...

Äußerste Beschränktheit der Ansichten spricht aus der „Profession defoi" nicht nur in der Frage der „Politik". „Agitatorische Einwirkung aufdie Masse", so lesen wir, „kann sich gegenwärtig nur äußern erstens inder Förderung des ökonomischen Kampfes des Proletariats,- deshalb nutztdas Komitee jeden Zusammenstoß der Arbeiter mit den Unternehmernoder jeden größeren Mißbrauch von Seiten der Unternehmer aus, um sichmit einem Aufruf an die Arbeiter zu wenden, den Arbeitern ihre Lage zuerklären, sie zum Protest aufzufordern, bei Streiks die Führerrolle zuübernehmen, ihre Forderungen zu formulieren, die besten Wege zu ihrerDurchsetzung zu weisen und mit all dem in der Arbeiterklasse dasSelbstbewußtsein zu entwickeln" und — weiter nichts; mehr wird unsüber den ökonomischen Kampf nicht gesagt. Und das ist eine professionde foi! Man lese diese Stellen noch einmal aufmerksam durch: es istwiederum die Sprache des „Credo" und sind die Gedanken des „Credo"(wodurch ein übriges Mal der schwere Irrtum der Redaktion des „Rabo-tscheje Delo" illustriert wird, die beharrlich versucht, die Ansichten der„jungen Ökonomisten" zu verschleiern, und in ihnen nur eine Abwei-chung einzelner Personen sehen möchte).

Einem Sozialisten dient der ökonomische Kampf als Basis für die Or-ganisierung der Arbeiter zu einer revolutionären Partei, für die Zusam-menfassung und Weiterentwicklung ihres Klassenkampfes gegen die ganzekapitalistische Ordnung. Nimmt man jedoch den ökonomischen Kampfals etwas sich selbst Genügendes, so gibt es in ihm nichts Sozialistisches,und die Erfahrungen aller europäischen Länder zeigen uns eine Masse

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288 W.lLenin

von Beispielen nicht nur sozialistischer, sondern auch antisozialistischerGewerkschaftsverbände.

Die Aufgabe eines bürgerlichen Politikers ist es, „den ökonomischenKampf des Proletariats zu fördern", die Aufgabe eines Sozialisten ist es,dafür zu sorgen, daß der ökonomische Kampf die sozialistische Bewegungfördert und die Erfolge der revolutionären Arbeiterpartei mehrt. Die Auf-gabe eines Sozialisten ist es, die unauflösbare Verschmelzung des ökono-mischen und des politischen Kampfes zum einheitlichen Klassenkampf dersozialistischen Arbeitermassen zu fördern. Somit öffnen die verschwom-menen Ausdrücke der „Profession de foi" des Kiewer Komitees den Bern-steinschen Ideen Tür und Tor und legalisieren eine unzulässig engstirnigeEinstellung zum ökonomischen Kampf.

Die agitatorische Einwirkung auf die Masse muß in breitester, sowohlökonomischer als auch politischer Agitation bei allen Anlässen und zuallen Erscheinungsformen jeder Art von Unterdrückung bestehen, in einerAgitation, die wir benützen müssen, um eine immer größere Anzahl vonArbeitern in die Reihen der revolutionären Sozialdemokratischen Parteihineinzuziehen, um den politischen Kampf in allen erdenklichen Erschei-nungsformen zu begünstigen, um diesen Kampf aus seinen spontanenFormen hinüberzuleiten in die Form des Kampfes einer einheitlichen poli-tischen Partei. Die Agitation muß somit als Mittel zur weiten Verbrei-tung des politischen Protestes und höher organisierter Formen des politi-schen Kampfes dienen. Gegenwärtig ist der Rahmen unserer Agitation zueng, der Kreis der von ihr berührten Fragen zu begrenzt, und unserePflicht ist es, nicht diese Enge zum Gesetz zu erheben, sondern danachzu streben, uns von ihr frei zu machen, danach zu streben, unsere agita-torische Tätigkeit zu vertiefen und zu erweitern.

In der von uns untersuchten „Profession de foi" führt diese Enge nichtnur zu den oben festgestellten theoretischen Verirrungen, sondern auch zurEinengung der praktischen Aufgaben. Eine solche Einengung ist in demWunsch zu erkennen, „eine Untersuchung der Lage der Arbeiter in den ört-lichen Fabriken und Werken mittels Fragebogen und anderer Methodenzur nächsten dringenden Aufgabe zu machen". Gegen Fragebogen über-haupt, die ein notwendiges Zubehör der Agitation sind, können wir natür-lich nichts einwenden, aber sich mit einer Untersuchung befassen heißt dieohnehin spärlichen revolutionären Kräfte unproduktiv verausgaben.

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Aus Anlaß der „Profession de foi" 289

Vieles könnte ja auch aus unseren legalen Untersuchungen geschöpft.werden. Zur nächsten dringenden Aufgabe sollte die Erweiterung derAgitation und der Propaganda (besonders der politischen) gemacht wer-den, um so mehr, als der schöne Brauch, selbständige Korrespondenzenan die sozialistischen Zeitungen einzusenden, der jetzt unter unserenArbeitern Verbreitung findet, für Material in ausreichender Menge sorgt.

Eine noch größere Einengung ist darin zu erkennen, daß in der Frageder Kassen nur „gewerkschaftliche Streikkassen als wünschenswert be-zeichnet werden und kein Wort darüber gesagt wird, daß diese Kassenin die Sozialdemokratische Partei eingegliedert werden müssen, daß siedem politischen Kampf dienen müssen.

Unsere konspirativen Kassen allein auf ökonomischer Tätigkeit be-schränken ist ein für die Autoren des „Credo" natürliches Bestreben, un-verständlich aber ist es in der „Profession de foi" eines Komitees derSozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands.

In der Frage der legalen Vereinigungen sind die Thesen der „Profes-sion de foi" nicht weniger eng, sie bringen genauso das Bestreben zumAusdruck, Konzessionen an die berüchtigte Bernsteiniade zu machen;wenn ein Komitee der Sozialdemokratischen Partei die Gründung vonKassen fördert, so heißt das wiederum, Kräfte verzetteln und die Grenzezwischen der reinen Kulturarbeit und der revolutionären Arbeit ver-wischen; eine revolutionäre Partei kann und muß sich die legalen Ver-einigungen zur Stärkung und Konsolidierung ihrer Arbeit, als Stätten fürdie Agitation, als praktischen Deckmantel für Verbindungen usw. unddgl. mehr zunutze machen — weiter aber auch nidits. Die Kräfte derSozialisten dazu zu verwenden, die Entstehung von Vereinigungen zufördern, ist in höchstem Maße unrationell; diesen Vereinigungen eineselbständige Bedeutung beizumessen, ist unrichtig; zu glauben, in legalenVereinigungen sei „völlige Unabhängigkeit von der Beteiligung und demDruck der Unternehmer" möglich, ist einfach lächerlich.

Schließlich hat sich auch auf die organisatorischen Pläne des KiewerKomitees die Enge seiner Ansichten und ihre spezifische Besonderheit aus-gewirkt. Darin allerdings sind wir mit dem Kiewer Komitee durchaus ein-verstanden, daß es nicht an der Zeit ist, sofort die Wiederherstellung derPartei zu proklamieren und ein neues ZK zu wählen, aber die Meinungvom „unmittelbar ökonomischen Charakter der Bewegung"; die Meinung,

19 Lenin, Werke, Bd. 4

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290 W.l Lenin

das russische Proletariat sei „für politische Agitation noch nicht geschult",halten wir für absolut irrig. Falsch wäre es auch, abzuwarten, bis „dielokalen Gruppen erstarken, zahlenmäßig wachsen, ihre Verbindungenmit der Arbeiterschaft festigen" — eine solche Erstarkung führt häufig zueinem sofortigen Hochgehen.

Nein, wir müssen unverzüglich das Vereinigungswerk in Angriff neh-men und es mit dem literarischen Zusammenschluß beginnen, mit derSchaffung eines gemeinsamen russischen Organs, das versuchen muß, dieWiederherstellung der Partei vorzubereiten, indem es als Organ für ganzRußland dient, allerorts Korrespondenzen und Materialien von den Zir-keln einholt, Platz für die Erörterung von Streitfragen einräumt, denRahmen unserer Propaganda und Agitation erweitert, den organisatori-schen Fragen, den taktischen und technischen Methoden der Arbeit be-sondere Aufmerksamkeit widmet, allen Bedürfnissen der entwickeltstenArbeiter gerecht wird und die Entwicklung der unteren Schichten des Pro-letariats (die durch Arbeiterkorrespondenzen und dgl. mehr heranzuzie-hen sind) ständig fördert, damit sie an der sozialistischen Bewegung undam politischen Kampf immer bewußter teilnehmen.

Nur auf diese Weise können unserer Überzeugung nach die realenBedingungen für den Zusammenschluß und die Wiedererrichtung derPartei vorbereitet werden, und nur die direkte und offene Polemik gegenden engen „Ökonomismus" und die immer mehr Verbreitung findendenBernsteinschen Ideen kann eine richtige Entwicklung der russisdien Ar-beiterbewegung und der russischen Sozialdemokratie sichern.

Qesdhrieben Ende 1899.

Zuerst veröftmtlidbt 1928 im 9Jadb einer AbsdhriftLenin-Sammelband VII. von unbekannter Hand.

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ÜBER GEWERBEGERICHTE

Gewerbegerichte heißen Gerichte, die sich aus gewählten Vertreternder Arbeiter und der Unternehmer (in der Industrie Fabrikanten) zu-sammensetzen und über die Angelegenheiten und Streitfälle verhandeln,die sich so häufig aus den Einstellungsbedingungen, aus der Festsetzungdes Lohns für gewöhnliche Arbeit und für Überstundenarbeit, aus be-stimmungswidrigen Arbeiterentlassungen, aus Entschädigungsansprüchenfür Materialfehler, aus unrichtiger Auferlegung von Geldstrafen usw.usw. ergeben. In den meisten westeuropäischen Staaten bestehen solcheGerichte, in Rußland nidit, und wir wollen untersuchen, welche Vorteilesie den Arbeitern bringen und weshalb es wünschenswert ist, Gewerbe-gerichte zu schaffen neben den gewöhnlichen Gerichten, in denen ein ein-ziger, von der Regierung ernannter oder von den besitzenden Klassengewählter Richter ohne irgendwelche von Unternehmern und Arbeiterngewählte Vertreter Recht spricht.

Der erste Vorteil eines Gewerbegerichts besteht darin, daß Arbeiterviel leichter zu ihm Zutritt haben. Um vor einem gewöhnlichen Gerichteine Klage anzustrengen, muß man ein Gesuch schreiben (zu diesemZweck hat man häufig einen Advokaten in Anspruch zu nehmen), mußman Gebühren erlegen, muß man lange auf die Termine warten, mußman für die Zeit der Gerichtsverhandlung die Arbeit versäumen, müssendie Zeugen von der Arbeit weggeholt werden, muß man nachher wiederwarten, bis die Sache auf Grund einer Beschwerde der unzufriedenen Pro-zeßpartei an einen höheren Gerichtshof gelangt, wo sie noch einmal neuentschieden wird. Kein Wunder, daß sich die Arbeiter so ungern an dieordentlichen Gerichte wenden! Die Gewerbegerichte dagegen bestehen

19«

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292 IV.I.Lenin

aus Unternehmern und Arbeitern, die zu Richtern gewählt worden sind.Seinem gewählten Kollegen die Beschwerde mündlich auseinanderzuset-zen ist für einen Arbeiter durchaus nicht schwer. Die Gewerbegerichtetagen gewöhnlich an Feiertagen oder überhaupt zu einer Zeit, wo dieArbeiter frei sind, also ihre Arbeit nicht zu unterbrechen braudien. Auchwerden die Streitfälle vor den Gewerbegerichten bedeutend schnellerverhandelt.

Der zweite Vorteil der Gewerbegerichte für die Arbeiter besteht darin,daß die hier tätigen Richter von Fabrik- und Werkangelegenheiten be-deutend mehr verstehen, daß die Richter außerdem nicht fremde Beamte,sondern Leute aus dem Ort sind, die die Lebensbedingungen der Arbeiterund die Bedingungen der lokalen Produktion kennen, wobei die Hälfteder Richter Arbeiter sind, die zu einem Arbeiter stets gerecht sein wer-den und ihn nicht als Trunkenbold, Frechling oder Dummkopf ansehen(wie das zum größten Teil von beamteten Richtern getan wird, die vonder Klasse der Bourgeoisie, der Klasse der Besitzenden gestellt werdenund fast stets ihre Verbindungen mit der bürgerlichen Gesellschaft, mitFabrikanten, Direktoren, Ingenieuren, aufrechterhalten, von den Arbei-tern jedoch wie durch eine chinesische Mauer getrennt sind). Die beamte-ten Richter sind am meisten darauf bedacht, daß die Angelegenheit auf demPapier glatt geht: daß nur ja in den Papieren alles in Ordnung ist, allesandere kümmert den Beamten nicht, der lediglich bestrebt ist, sein Gehaltzu bekommen und sich bei seinen Vorgesetzten beliebt zu machen. Das istder Grund, weshalb es in den Beamtengerichten stets eine so unerhörtlangwierige Papierwirtschaft, so viel Prozessiererei und spitzfindige Rechts-verdrehung gibt: ist irgend etwas nicht richtig zu Papier gebracht, istetwas nicht zum richtigen Zeitpunkt zu Protokoll genommen worden —so ist es aus mit der Sache, wie gerecht sie auch gewesen sein mochte. Diegewählten Vertreter der Fabrikanten und der Arbeiter haben, wenn sieRichter sind, gar keine Veranlassung, die Entscheidungen durch langwie-rige Schreibereien zu verschleppen: sie dienen nidit des Gehalts wegen,sie hängen nicht von beamteten Schmarotzern ab. Sie sind nicht daraufversessen, einen noch besseren Posten zu ergattern, sondern bemüht, dieStreitigkeiten zu schlichten, die die Fabrikanten hindern, ihre Produktionohne Stockung zu betreiben, die die Arbeiter hindern, ruhig ihre Arbeitfortzusetzen und die Schikanen und ungerechten Kränkungen von Seiten

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Tiber Qewerbegeridryte 293

der Unternehmer weniger fürchten zu müssen. Außerdem aber muß man,um den Streitigkeiten zwischen Unternehmern und Arbeitern auf denGrund gehen zu können, das Fabrikleben aus eigener Erfahrung gutkennen. Der beamtete Richter wirft einen Blick in die Arbeitsordnung,liest eine Bestimmung vor — und weiter will er nichts hören: die Bestim-mung ist verletzt, sagt er einfach, also trage die Folgen, alles andereinteressiert mich nicht. Die von Unternehmern und Arbeitern gewähltenRichter aber schauen nicht nur auf die Papiere, sondern auch darauf,wie es im Leben zugeht. Manchmal steht doch so eine Bestimmung fried-lich auf dem Papier, während es in der Praxis ganz anders zugeht. Einbeamteter Richter kann, selbst wenn er möchte, selbst wenn er die Fällemit aller Aufmerksamkeit untersucht, häufig nicht begreifen, worum eseigentlich geht, weil er nicht weiß, was Braudi ist, die Methoden derLohnberechnung nicht kennt, weil er nicht weiß, mit welchen Methodendie Meister häufig den Arbeiter unter Druck setzen, auch ohne die Be-stimmungen und den Tarif zu verletzen (beispielsweise Zuweisung eineranderen Arbeit, Lieferung anderen Materials usw. usf.). Gewählte Rich-ter, die selber arbeiten oder selber mit Fabrikangelegenheiten zu tunhaben, finden sich in allen diesen Fragen sofort zurecht, sie begreifenleicht, was der Arbeiter eigentlich will, sie sind nicht nur auf die Einhal-tung der Bestimmungen bedacht, sondern auch darauf, alles so zu regeln,daß der Arbeiter nicht unter Umgehung der Bestimmungen benachteiligtwerden kann, daß es auch keine Anlässe für Betrug und Willkür gibt. Dabrachten die Zeitungen vor kurzem eine Meldung, wonadi Mützenmacherauf eine Klage des Unternehmers hin beinahe wegen Diebstahls verurteiltworden wären — sie hatten Mützenstoffabfälle für sich verbraucht; eswar gut, daß sich ehrliche Anwälte fanden, die Erkundigungen einzogenund den Beweis führten, daß das in diesem Gewerbe so Brauch ist unddaß die Arbeiter nicht nur keine Diebe sind, sondern daß sie überhauptkeinerlei Vorschrift verletzt haben. Nun ist es aber doch so, daß ein ge-wöhnlicher, einfacher Arbeiter, der einen ganz niedrigen Lohn erhält, fastniemals an einen guten Anwalt herankommt, und deshalb fällen die be-amteten Richter, wie jeder Arbeiter weiß, in Arbeiterangelegenheiten sohäufig äußerst harte, ja sinnlos harte Urteile. Von beamteten Richtern istniemals volle Gerechtigkeit zu erwarten: wir haben bereits gesagt, daß dieseRichter zur Bourgeoisidasse gehören und in ihrer Voreingenommenheit von

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vornherein alles glauben, was der Fabrikant sagt, während sie den Wortendes Arbeiters keinen Glauben schenken. Der Richter schlägt im Gesetz nach:persönlicher Anstellungsvertrag (eine bestimmte Person wird gegen Lohneingestellt, um für einen anderen etwas herzustellen oder ihm Dienste zuleisten). Ihm ist es ganz einerlei, ob ein Ingenieur, ein Arzt, ein Fabrik-direktor von einem Fabrikanten engagiert wird oder ob ein ungelernterArbeiter eingestellt wird; der Richter denkt (infolge seiner papierenenSeele und seiner bürgerlichen Stumpfsinnigkeit), der ungelernte Arbeitermüsse seine Rechte ebensogut kennen und es verstehen, alles Erforder-liche vertraglich auszubedingen, wie ein Direktor, ein Arzt, ein Ingenieur.Das Gewerbegericht aber besteht (zur Hälfte) aus Richtern, die von denArbeitern gewählt worden sind und sehr gut verstehen, daß sich ein neueingestellter oder junger Arbeiter in der Fabrik oder im Kontor häufigwie in einem finsteren Walde vorkommt und sich gar nicht bewußt ist,einen „freien Vertrag" zu schließen, worin er alle für ihn wünschenswer-ten Bedingungen „vorsehen" kann. Nehmen wir als Beispiel nur folgendenFall: Ein Arbeiter will sich über ungerechte Anrechnung von Ausschuß-arbeit oder über Geldstrafen beschweren. Es ist gar nicht daran zu denken,eine solche Beschwerde bei einem beamteten Richter oder bei einem be-amteten Fabrikinspektor anbringen zu können. Der Beamte wird stets das-selbe erklären, das Qesetz räume dem Fabrikanten das Recht ein, denArbeitern Geldstrafen aufzuerlegen und schlechte Arbeit als Ausschuß-arbeit zu bezeichnen, und es sei nun schon Sache des Fabrikanten, zu be-stimmen, wann die Arbeit schlecht ist und wann die Schuld den Arbeitertrifft. Deshalb gehen auch die Arbeiter mit derartigen Klagen so seltenvor Gericht: sie dulden die Übergriffe, dulden und treten schließlich,wenn der Kelch ihrer Leiden voll ist, in Streik. Gäbe es unter den Rich-tern aber gewählte Vertreter der Arbeiter, so wäre es für die Arbeiterunvergleichlich leichter, in solchen Angelegenheiten ebenso wie in allen,auch den kleinsten betrieblichen Streitigkeiten und UngerechtigkeitenRecht und Schutz zu finden. Einem reichen beamteten Richter scheint esja, als ob solche Kleinigkeiten keiner Beachtung wert wären (eine Kleinig-keit wie heißes Wasser zum Teeaufbrühen oder die Anordnung, eineMaschine noch einmal zu reinigen, oder etwas Ähnliches), für den Arbeiteraber sind dies durchaus keine Kleinigkeiten; nur die Arbeiter selbst könnenbeurteilen, welche Menge von Schikanen, Kränkungen und Erniedrigun-

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gen manchmal durch kleinste, auf den ersten Blick unbedeutende, harm-lose Bestimmungen und Vorschriften in den Fabriken verursacht werden.

Der dritte Vorteil der Gewerbegerichte für die Arbeiter ist der, daß dieArbeiter in ihnen und durch sie lernen, sich mit den Gesetzen vertraut zumachen. Gewöhnlich kennen die Arbeiter (in ihrer Masse) die Gesetzenicht und können sie nicht kennen, obgleich Beamte und beamtete Rich-ter sie nichtsdestoweniger wegen Unkenntnis der Gesetze mit Strafenbelegen. Wenn der Arbeiter, den ein Beamter auf das Gesetz hinweist,zur Antwort gibt, er habe das Gesetz nicht gekannt, so wird der Beamte(oder Richter) entweder lachen oder schimpfen: „Niemand hat das Recht,sich mit Unkenntnis des Gesetzes zu entschuldigen" — so heißt es imrussischen Grundgesetz. Jeder Beamte und Richter setzt deshalb voraus,daß jeder Arbeiter die Gesetze kennt. Diese Voraussetzung aber ist docheine bürgerliche Lüge, eine von den Besitzenden und Kapitalisten gegendie Niditbesitzenden fabrizierte Lüge, genauso eine Lüge wie die An-nahme, der Arbeiter schließe mit dem Unternehmer einen „freien Ver-trag". In Wirklichkeit hat ein Arbeiter, der von Kindheit an in die Fabrikgeht, nachdem er kaum lesen und schreiben gelernt hat (und sehr, sehrviele haben gar nicht die Möglichkeit, lesen und schreiben zu lernen!),keine Zeit, die Gesetze kennenzulernen, er hat niemand, der sie ihm er-klärt, und die Sache wäre für ihn wohl auch zwecklos — denn die Gesetzebringen dem Arbeiter wenig Nutzen, wenn sie von Beamten, die der Bour-geoisie entstammen, angewendet werden, ohne daß der Arbeiter gefragtwird! Die bürgerlichen Klassen, die die Arbeiter beschuldigen, die Ge-setze nicht zu kennen, haben selber rein gar nichts getan, um den Arbei-tern den Erwerb solcher Kenntnisse zu erleichtern, und deshalb sind inWirklichkeit nicht so sehr die Arbeiter als vielmehr ihre Ausbeuter, diealles Eigentum besitzen, von fremder Arbeit leben und Bildung und Wis-senschaft ganz für sich allein haben wollen, an der Gesetzesunkenntnisder Arbeiter schuld. Keine Schule und keine Bücher werden und könnenden Arbeitern Gesetzeskenntnisse vermitteln, weil nur sehr, sehr wenigeArbeiter aus der Masse der vom Kapital niedergehaltenen Millionendes werktätigen Volkes Bücher lesen können, weil die Schule aus demgleichen Grunde ebenfalls nur von wenigen besucht wird, und auch die,die Schulunterricht erhalten haben, größtenteils nur lesen, schreiben undrechnen können; das aber reicht nicht aus, wenn es gilt, sich auf einem so

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komplizierten und schwierigen Gebiet wie die russischen Gesetze zurecht-zufinden. Die Arbeiter können mit den Gesetzen nur dann vertraut wer-den, wenn sie selber Gelegenheit haben, diese Gesetze anzuwenden undeine nach diesen Gesetzen geführte Gerichtsverhandlung zu hören undzu sehen. Sie könnten beispielsweise die Gesetze besser kennen, wennArbeiter zu Geschworenen ernannt würden (wobei die Fabrikanten ver-pflichtet werden müßten, ihnen für die Tage, die sie bei Gericht zubringen,den bisherigen Lohn weiterzuzahlen), aber in der bürgerlichen Gesell-schaft ist es so eingerichtet, daß nur Mensdien aus der besitzenden Klasse(und außerdem Bauern, die durch „öffentlidien Dienst", d. h. praktischdurch Dienst in unteren Polizeistellen, abgerichtet worden sind) Geschwo-rene sein können; die Besitzlosen dagegen, die Proletarier, müssen sidieinem fremden Gericht unterwerfen,- selbst Riditer zu sein haben sie keinRecht! Wenn Gewerbegeridite geschaffen werden, so wählen die Arbeiterselbst Kollegen aus ihrer Mitte zu Richtern, und diese Wahlen werden inbestimmten Zeitabständen wiederholt; auf diese Weise wenden gewählteVertreter der Arbeiter selbst die Gesetze an und erhalten die Möglich-keit, sich in der Praxis mit ihnen vertraut zu machen, das heißt nidit nurdie in einem Budi abgedrudrten Gesetze durchzulesen (dies bedeutet ja beiweitem noch nicht, mit den Gesetzen vertraut werden), sondern sich auchin der Praxis davon zu überzeugen, auf welche Fälle und wie diese öderjene Gesetze angewandt werden und wie sie sich auf die Arbeiter aus-wirken. Ferner aber ist es nach Einführung von Gewerbegeriditen niditnur den zu Riditern gewählten, sondern audi den übrigen Arbeitern vielleichter, die Gesetze kennenzulernen, weil ein Arbeiter mit einem Richteraus der Mitte seiner Kollegen stets leicht spredien und die nötigen Aus-künfte von ihm erhalten kann. Da Arbeiter zu einem Gewerbegeriditleiditer Zugang finden als zu einem Beamtengericht, so wird es von denArbeitern unvergleichlich häufiger besucht, die Arbeiter hören die Ver-handlung von Fällen, an denen Verwandte und Bekannte von ihnenbeteiligt sind, und werden so mit den Gesetzen bekannt. Für einen arbei-tenden Menschen aber ist es äußerst wichtig, nicht durch Bücher allein,sondern durdi das Leben selbst die Gesetze kennenzulernen, damit er ver-steht, in wessen Interesse diese Gesetze gesdirieben sind, in wessen Inter-esse die Leute handeln, die die Gesetze anwenden. Mit den Gesetzen ver-traut geworden, wird jeder Arbeiter klar sehen, daß dies die Interessen der

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besitzenden Klasse, der Eigentümer, der Kapitalisten, der Bourgeoisie, sindund daß die Arbeiterklasse niemals eine dauernde und grundlegendeVerbesserung ihres Schicksals erreichen wird, solange sie sich nicht selbstdas Recht erkämpft hat, eigene Vertreter zu wählen, die an der Abfassungvon Gesetzen und an der Aufsicht über ihre Anwendung teilnehmen.

Weiter (viertens) besteht eine gute Seite der Gewerbegerichte darin,daß sie die Arbeiter daran gewöhnen, selbständigen Anteil an öffentlichen,staatlichen Angelegenheiten zu nehmen (denn das Gericht ist eine staat-liche Institution, die Tätigkeit des Gerichts ist ein Teil der Staatsgeschäfte),daß sie die Arbeiter daran gewöhnen, ihre vernünftigsten, ehrlichstenund standhaft für die Sache der Arbeiter eintretenden Kollegen in Ämterzu wählen, in denen die Tätigkeit dieser Arbeiter der ganzen Arbeiter-klasse sichtbar ist, in Ämter, in denen die Vertreter der Arbeiter die Nöteund Forderungen aller Arbeiter vorbringen können. Es liegt im Interesseder Kapitalistenklasse, im Interesse der ganzen Bourgeoisie, die Arbeiterin Unwissenheit und Zersplitterung zu belassen und möglichst rasch dieArbeiter zu entfernen, die klüger als die andern sind und sich ihres Ver-stands und ihrer Kenntnisse nicht bedienen, um Verräter an der Arbeiter-sache zu werden, um sich bei den Meistern, bei den Unternehmern undbei der Polizei beliebt zu machen, sondern sie dazu benutzen, auch denübrigen Arbeitern zu helfen, mehr Wissen zu erwerben und zu lernen,gemeinsam für die Arbeitersache einzutreten. Damit nun solche fortge--schrittenen Arbeiter, die für die Sache der Arbeiter so nötig sind, allenArbeitern bekannt werden und ihr Vertrauen genießen, ist es sehr wichtig,daß alle die Tätigkeit eines solchen Arbeiters sehen, daß alle wissen, ober es versteht, die wirklichen Nöte und Wünsche der Arbeiter zum Aus-druck zu bringen und für sie einzustehen. Könnten die Arbeiter also solcheMenschen zu Richtern wählen, dann würden die Besten der Arbeiter allenbekannt sein, dann würden sie mehr Vertrauen genießen, und die Arbeiter-sache würde davon sehr großen Nutzen haben. Man sehe sich unsereGrundbesitzer, Industriellen und Kaufleute an: sie geben sich ja nichtdamit zufrieden, daß jeder von ihnen zum Gouverneur oder zum Ministerfahren und ihm seine Bitten vortragen kann; sie streben außerdem nochdanach, daß von ihnen gewählte Vertreter auch im Gericht sitzen (Ge-richte mit Ständevertretern) und direkt an der Verwaltung teilnehmen(z.B. von den Adligen gewählte Adelsmarschälle, Schulkuratoren usw.;

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von den Kaufleuten gewählte Mitglieder der Fabrikkammern, Mitgliedervon Börsen- und Messekomitees usw.)-Die Arbeiterklasse in Rußland aberbleibt völlig rechtlos: man betrachtet sie als ein Lasttier, das für andere zuarbeiten und sonst zu schweigen hat, das nicht wagen darf, seine Nöte undseine Wünsche vorzubringen. Könnten die Arbeiter ständig Kollegen ausihrer Mitte in dieGewerbegerichte wählen, so erhielten sie wenigstens einegewisse Möglichkeit, an den öffentlichen Angelegenheiten teilzunehmenund nicht nur die Meinungen einzelner Arbeiter—einzelner Pjotrs, Sidorsoder Iwans —, sondern die Meinungen und die Forderungen aller Arbeiterüberhaupt vorzutragen. Dann würden die Arbeiter den Gerichten nichtmit dem Mißtrauen gegenüberstehen wie jetzt den Beamtengerichten: siewürden sehen, daß es dort Kollegen von ihnen gibt, die für sie eintreten.

Ferner (fünftens) besteht ein Vorteil der Gewerbegerichte für die Ar-beiter darin, daß die Öffentlichkeit durch diese Gerichte mehr über dieFabrikangelegenheiten und alle sonstigen Vorfälle in den Fabriken er-fährt. Heute sehen wir, daß sowohl die Fabrikanten als auch die Regie-rung mit allen Kräften bemüht sind, das, was in den Fabriken vorgeht,vor der Öffentlichkeit geheimzuhalten: über Streiks darf nichts gedrucktwerden, die Berichte der Fabrikinspektoren über die Lage der Arbeiterwerden gleichfalls nicht mehr veröffentlicht, man bemüht sich, alle Miß-bräuche zu verschweigen und die Sadie so rasch wie möglich „hinterverschlossenen Türen", auf dem Amtswege, abzumachen, alle Arbeiter-versammlungen werden verboten. Kein Wunder, daß die Masse der Ar-beiter häufig sehr schlecht darüber Bescheid weiß, was in anderen Fa-briken, ja sogar in anderen Abteilungen der gleichen Fabrik geschieht.Gewerbegerichte, an die sich die Arbeiter häufig wenden könnten, vordenen außerhalb der Arbeitszeit und öffentlich, d. h. in Anwesenheitvon Arbeiterpublikum, verhandelt werden würde, brächten den Arbeiternauch dadurch großen Nutzen, daß sie dazu beitragen würden, jeden Miß-brauch an die Öffentlichkeit zu bringen, und so den Arbeitern den Kampfgegen die verschiedenen Mißstände in den Fabriken erleichtern, daß siedie Arbeiter daran gewöhnen würden, nicht nur an die Zustände ihrereigenen Fabrik allein, sondern auch an die Zustände in allen anderenFabriken, an die Lage aller Arbeiter überhaupt zu denken.*

* Natürlich darf hierbei nicht vergessen werden, daß Gewerbegerichte nureines der Mittel, nur einer der Wege, und bei weitem nicht der Hauptweg sind,

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Schließlich darf noch ein weiterer Vorteil der Gewerbegerichte nichtmit Schweigen übergangen werden: Sie gewöhnen die Fabrikanten, Direk-toren und Meister daran, die Arbeiter anständig, als gleichberechtigteStaatsbürger und nicht als Knechte, zu behandeln. Jeder Arbeiter weiß,wie häufig sich Fabrikanten und Meister eine empörend grobe Behand-lung der Arbeiter, Beschimpfungen usw. erlauben. Sich hierüber zu be-schweren ist für den Arbeiter schwer, und wehren kann er sich nur dortmit Erfolg, wo alle Arbeiter bereits ziemlich entwickelt sind und für einenKollegen einzustehen wissen. Die Fabrikanten und Meister sagen, unsereArbeiter seien unwissend und grob, deshalb müßten sie auch grob be-handelt werden. In unserer Arbeiterklasse gibt es wirklich noch vieleSpuren der Leibeigenschaft, wenig Bildung und viel Grobheit — das läßtsich nicht bestreiten. Aber wer ist hieran am meisten schuld? Schuld sindeben die Fabrikanten, die Meister, die Beamten, die sich den Arbeiterngegenüber benehmen wie Fronherren gegenüber Leibeigenen, die denArbeiter nicht als einen ebenbürtigen Menschen anerkennen wollen. DieArbeiter kommen mit einer höflichen Bitte oder Anfrage — aber überallwerden sie mit Grobheiten, Beschimpfungen und Drohungen empfangen.Ist es da nicht klar, daß die Fabrikanten, wenn sie die Arbeiter der Grob-heit zeihen, die Schuld von sich auf Unschuldige abwälzen? Die Gewerbe-gerichte würden unseren Ausbeutern rasch die Grobheit abgewöhnen: imGericht säßen Arbeiter neben Fabrikanten als Richter, beide würden ge-meinsam über die Fälle verhandeln und abstimmen. Die von den Fabri-kanten bestellten Riditer wären genötigt, die von den Arbeitern bestelltenRichter als ihnen Gleichgestellte und nicht als Lohnsklaven anzusehen.

um an die Öffentlichkeit zu treten. Richtig und vollständig können das Fabrik-leben, die Lage der Arbeiter und ihr Kampf nur durch freie Arbeiterzeitungenund freie Volksversammlungen, die alle Staatsangelegenheiten erörtern, derÖffentlichkeit zur Kenntnis gebracht werden. Genauso ist auch die Vertretungder Arbeiter in den Gewerbegerichten nur eines der Mittel der Vertretung, undbei weitem nicht das Hauptmittel: eine wirkliche Vertretung der Interessen undBedürfnisse der Arbeiter ist nur in einer vom ganzen Volke gewählten Vertre-tungskörperschaft (einem Parlament) möglich/ die Gesetze erlassen und ihrenVollzug beaufsichtigen würde. Wir werden weiter unten noch davon sprechen,ob unter den gegenwärtigen Verhältnissen in Rußland Gewerbegerichte mög-lich sind.

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Vor Gericht würden als streitende Parteien und Zeugen sowohl Fabri-kanten als auch Arbeiter stehen; die Fabrikanten würden sich darangewöhnen, ordentliche Verhandlungen mit den Arbeitern zu führen.Dies ist für die Arbeiter sehr wichtig, weil solche Verhandlungen heuteäußerst selten zustande kommen: der Fabrikant will einfach nichts davonwissen, daß die Arbeiter ihre Deputierten wählen, so bleibt den Arbeiternnur ein einziger Verhandlungsweg: der Streik, und dies ist ein schwie-riger, ja häufig sehr schwerer Weg. Ferner, wenn unter den Richtern auchArbeiter wären, dann könnten die Arbeiter ungehindert mit Klagen übergrobe Behandlung vor Gericht gehen. Die von den Arbeitern bestelltenRichter würden stets für sie Partei ergreifen, und die gerichtliche Vor-ladung eines Fabrikanten oder Meisters wegen Grobheit würde diesenschon die Lust austreiben, sich frech oder anmaßend zu benehmen.

Somit sind die Gewerbegerichte, die zu gleichen Teilen aus gewähltenVertretern der Unternehmer und der Arbeiter bestehen, für die Arbeitervon sehr großer Bedeutung und bringen ihnen viel Nutzen: die Arbeiterkommen an sie viel leichter heran als an die gewöhnlichen Gerichte, hiergibt es weniger Bürokratismus und Papierwirtschaft, hier kennen dieRichter die Bedingungen des Fabriklebens und urteilen gerechter. Siemachen die Arbeiter mit den Gesetzen bekannt, sie gewöhnen die Arbeiterdaran, eigene Vertreter zu wählen und an den Staatsgeschäften teilzu-nehmen, sie sorgen dafür, daß die Öffentlichkeit mehr von den Verhält-nissen in den Fabriken und von der Arbeiterbewegung erfährt, sie ge-wöhnen die Fabrikanten daran, die Arbeiter anständig zu behandeln undordentliche Verhandlungen mit den Arbeitern wie mit Gleichgestelltenzu führen. Kein Wunder daher, daß die Arbeiter in allen europäischenLändern die Einführung von Gewerbegerichten fordern, daß sie verlan-gen, solche Gerichte solle es nicht nur für die Arbeiter in den Fabrikenund Werken geben (die Deutschen und Franzosen haben derartige Ge-richte bereits), sondern auch für die Arbeiter, die zu Hause für Kapita-listen arbeiten (Kustare), und für die Landarbeiter. Von der Regierungernannte Beamte (sowohl JUdhter als audb fabrikinspektoreri) können nie-mals Institutionen ersetzen, an denen die Arbeiter selbst teilnehmen-. Diesbraucht nach allem, was wir oben gesagt haben, nicht mehr erläutert zuwerden. Jeder Arbeiter weiß überdies auch selbst aus eigener Erfahrung,was er von Beamten zu erwarten hat; jeder Arbeiter wird ausgezeichnet

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verstehen, daß es Lug und Trug ist, wenn man ihm sagt, die Beamten ver-stünden es nicht schlechter, für die Arbeiter zu sorgen, als von den Arbei-tern selbst gewählte Vertreter. Ein solcher Betrug ist sehr vorteilhaft füreine Regierung, deren Willen es ist, daß die Arbeiter auch weiter un-wissende, rechtlose und stumme Sklaven der Kapitalisten bleiben, unddeshalb bekommt man auch so oft diese verlogenen Versicherungen vonBeamten oder von Schriftstellern zu hören, die die Fabrikanten und dieRegierung in Schutz nehmen.

Die Notwendigkeit von Gewerbegerichten und ihr Nutzen für dieArbeiter liegen so klar auf der Hand, daß dies selbst russische Beamtelängst zugegeben haben. Freilich ist das so lange her, daß es viele ver-gessen haben! Das war damals, als unsere Bauern von der Leibeigenschaftbefreit wurden (im Jahre 1861, vor mehr als 38 Jahren). Etwa um dieseZeit beschloß die russische Regierung, auch die Gesetze über die Hand-werker und Fabrikarbeiter durch neue zu ersetzen: schon damals war esallzu klargeworden, daß nach der Freilassung der Bauern die alten Ar-beitergesetze nicht in Kraft bleiben konnten; als diese alten Gesetze aus-gearbeitet wurden, waren viele Arbeiter Leibeigene. So setzte die Regie-rung denn eine aus mehreren Beamten bestehende Kommission ein, dieden Auftrag erhielt, die in Deutschland und Frankreich (sowie in anderenLändern) geltenden Fabrikarbeitergesetze zu studieren und einen Ent-wurf für die Änderung der russischen Handwerker- und Fabrikarbeiter-gesetze auszuarbeiten. Der Kommission gehörten sehr gewichtige Per-sönlichkeiten an. Trotzdem aber machten sie sich an die Arbeit und ließenganze fünf Bände drucken, in denen sie die ausländischen Gesetze dar-legten und ein neues Gesetz für Rußland vorschlugen. Diesem von derKommission vorgeschlagenen Gesetz zufolge sollten Qewerbegeridbte mitvon Tabrikanten und Arbeitern zu gleichen Teilen gewählten Richterneingeführt werden. Veröffentlicht wurde dieser Entwurf im Jahre 1865,d. h. vor 34 Jahren. Nun, und was ist mit diesem Gesetzentwurf ge-schehen? wird der Arbeiter fragen. Weshalb hat denn nun die Regie-rung, die selber diesen Beamten den Auftrag gab, die notwendigen Ab-änderungen zu entwerfen, in Rußland keine Gewerbegerichte eingeführt?

Unsere Regierung ist mit dem Entwurf dieser Kommission ebenso ver-fahren, wie sie stets mit allen für das Volk und für die Arbeiter auch nureinigermaßen vorteilhaften Entwürfen verfährt. Die Regierung zahlte den

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Beamten Gehälter für ihre Mühen zum Wohle des Zaren und des Vater-lands; den Beamten wurden Orden um den Hals gehängt, höhere Rängeverliehen und noch einträglichere Posten zugeschanzt. Den von ihnenverfaßten Entwurf aber legte man seelenruhig „in das unterste Schub-fach", wie man in den Kanzleien zu sagen pflegt. Dort liegt dieser Ent-wurf bis auf den heutigen Tag. Die Regierung denkt gar nicht mehr daran,den Arbeitern das Recht zu geben, Kollegen aus ihrer Mitte, Arbeiter, inGewerbegerichte zu wählen.

Aber man kann doch nicht sagen, daß sich die Regierung seitdem keineinziges Mal der Arbeiter erinnert hat. Allerdings hat sie sich ihrer nichtaus freien Stücken erinnert, sondern ausschließlich unter dem Druck be-drohlicher Arbeiterunruhen und Streiks, aber immerhin hat sie sich ihrererinnert. Sie hat Gesetze erlassen über das Verbot der Kinderarbeit inden Fabriken, über das Verbot der Nachtarbeit für Frauen in bestimmtenProduktionszweigen, über die Verkürzung des Arbeitstags und die Er-nennung von Fabrikinspektoren. Wie diese Gesetze auch verklausuliertsein mögen, wie viele Schlupflöcher sie den Fabrikanten auch lassen, umdie Gesetze zu verletzen und zu umgehen, einen gewissen, geringen Nut-zen bringen sie dennoch. Weshalb also hat die Regierung es vorgezogen,keine Gewerbegerichte einzuführen, obgleich ein solches Gesetz schonlängst ausgearbeitet war, sondern neue Gesetze und neue Beamte — dieFabrikinspektoren — einzuführen? Der Grund hierfür ist absolut klar,und für die Arbeiter ist es sehr wichtig, diesen Grund restlos zu begreifen,weil sie an diesem Beispiel die ganze Politik der russischen Regierunggegenüber der Arbeiterklasse verstehen können.

Die Regierung hat neue Beamte eingesetzt, anstatt Gewerbegerichte zuschaffen, weil Gewerbegerichte das Bewußtsein der Arbeiter entwickelt,in ihnen das Bewußtsein ihrer Rechte, ihrer Menschen- und Bürgerwürdegehoben hätten, weil sie sie daran gewöhnt hätten, selbständig über Staats-angelegenheiten und über die Interessen der ganzen Arbeiterklasse nach-zudenken, weil sie sie daran gewöhnt hätten, ihre entwickeltsten Kollegenals Arbeitervertreter in ein Amt zu wählen, weil sie auf diese Weise demalleinigen Schalten und Walten der selbstherrlichen Beamten wenigstensteilweise ein Ende gemacht hätten. Das aber ist es ja gerade, was unsereRegierung am meisten fürchtet. Sie ist bereit, den Arbeitern sogar einigeAlmosen zu reichen (natürlich kleine Almosen, und zwar so, daß sie das,

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was sie mit der einen Hand vor aller Augen feierlich gibt, um sich Wohl-täter nennen zu können, mit der anderen Hand heimlich und allmählichwieder wegnimmt! Die Arbeiter haben diesen Trick schon am Beispiel desFabrikgesetzes vom 2. Juni 1897 kennengelernt!), sie ist bereit, Almosenzu reichen, um nur ja die unbeschränkte Macht der Beamten unangetastetzu lassen und zu verhindern, daß das Bewußtsein der Arbeiter erwacht,daß ihre Selbständigkeit sich entwickelt. Dieser für sie furchtbaren Ge-fahr entgeht die Regierung leicht durch die Ernennung neuer Beamter:die Beamten sind ihre gefügigen Diener. Den Beamten (beispielsweiseden Fabrikinspektoren) macht es nichts aus, wenn man ihnen die Ver-öffentlichung ihrer Berichte verbietet, ihnen macht es nichts aus, wennman ihnen verbietet, mit dem Arbeiter von seinen Rechten und von denMißbräuchen der Unternehmer zu sprechen, es bereitet keinerlei Mühe,sie zu Fabrikspitzeln zu machen, von denen man verlangt, daß sie überjede Unzufriedenheit und Unruhe der Arbeiter an die Polizei berichten.

Deshalb können die Arbeiter, solange' die jetzigen politischen Zuständein Rußland — das heißt die Rechtlosigkeit des Volkes, die Willkür derBeamten und Polizisten, die dem Volk nicht verantwortlich sind — be-stehen bleiben, nicht auf Einführung der für sie nützlichen Gewerbe-gerichte hoffen. Die Regierung begreift sehr wohl, daß Gewerbegerichtedie Arbeiter sehr rasch veranlassen würden, zu radikaleren Forderungenüberzugehen. Wenn die Arbeiter eigene Vertreter in die Gewerbegerichtewählen könnten, so würden sie bald sehen, daß dies nicht genügt, dadie die Arbeiter ausbeutenden Fabrikanten und Gutsherren ihre Vertreterin sehr viele, bedeutend höhere staatliche Institutionen entsenden; dieArbeiter würden unbedingt eine allgemeine Volksvertretung verlangen.Wenn die Arbeiter es erreichen könnten, daß die Fabrikangelegenheitenund die Nöte der Arbeiter in Gerichten öffentlich verhandelt werden, sowürden sie bald sehen, daß dies nicht genügt, denn in unserer Zeit könneneine richtige Publizität nur Zeitungen und Volksversammlungen gewähr-leisten, und die Arbeiter würden Versammlungsfreiheit, Redefreiheit undPressefreiheit fordern. Das ist auch der Qrund, weshalb die Regierungden Plan zur Einführung von Qewerbegeriditen in Rußland begraben bat!

Nehmen wir anderseits für einen Augenblick an, die Regierung würdeabsichtlich, um die Arbeiter zu betrügen, gleich jetzt Gewerbegerichte ein-führen, die jetzigen politischen Zustände aber unverändert lassen. Hätten

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die Arbeiter hiervon einen Nutzen? Sie hätten keinerlei Nutzen: die Ar-beiter selbst würden sogar davon absehen, ihre bewußtesten, ehrlichstenund der Arbeiterklasse ergebensten Kollegen in diese Gerichte zu wählen,weil sie wissen, daß man in Rußland wegen jedes offenen und ehrlichenWortes auf Grund eines einfachen Polizeibefehls festgenommen, ohneUntersuchung und Gerichtsverfahren ins Gefängnis geworfen oder nachSibirien verbannt werden kann!

Also ist die Forderung nach Gewerbegerichten mit wählbaren Vertre-tern der Arbeiter nur ein kleiner Teil einer umfassenderen und radika-leren Forderung: der Forderung nach politischen Rechten des Volkes, d. h.nach dem Recht, an der Verwaltung des Staates teilzunehmen und dieNöte des Volkes nicht nur in Zeitungen, sondern auch in Volksversamm-lungen offen zu erörtern.

Qesdbrieben Ende i899.

Zuerst veröftentlidht i924 ' TJadi einer Abschriftin der Zeitschrift von unbekannter Wand.„Vroletarskaja Rewoluzija" SVr. 8l9.