Protestantische Heiligen-memoria im 16. Jahrhundert
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Protestantische Heiligen-memoria im 16. JahrhundertAuthor(s): Thomas FuchsSource: Historische Zeitschrift, Bd. 267, H. 3 (Dec., 1998), pp. 587-614Published by: Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH (and its subsidary Akademie Verlag GmbH)Stable URL: http://www.jstor.org/stable/27632364 .
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Protestantische Heiligen-memoria im 16. Jahrhundert
Von
Thomas Fuchs
I.
Als einer der bewegenden und historisch bedeutsamen Augenblicke des Reformationszeitalters gilt und galt die Konfrontation zwischen
Martin Luther und Kaiser Karl V. auf dem Wormser Reichstag 1521.
Nachdem Luther in einer dramatischen St?ndesitzung vor Kaiser und
Reich am 18. April einen Widerruf verweigert hatte1), gab der junge Kaiser in einer nicht minder dramatischen Szene am darauffolgenden
Tag vor den Reichsst?nden eine Erkl?rung ab, die der weiteren Haltung des Kaisers in der Auseinandersetzung mit der reformatorischen Her
ausforderung den Weg wies2). Karl trat in dieser Erkl?rung entschieden
gegen Luther auf. Zwei Argumente spielten dabei eine zentrale Rolle.
Aufgrund seiner k?niglichen Abstammung und seiner Funktion als Be
sch?tzer der Christenheit sei er dazu verpflichtet, der H?resie entschie
den entgegenzutreten. Diesen politisch, vom Amtscharakter des r?mi
schen Kaisertums gepr?gten Vorstellungen stellte er eine zweite ?ber
legung an die Seite: Luther m?sse schon deshalb irren, weil ansonsten
die Christenheit seit mehr als 1000 Jahren sich im Irrtum befunden
h?tte. Dieses traditional-genealogische Argument geh?rte zum Stan
dardrepertoire altgl?ubiger Polemik gegen die Neuerung.3)
') Deutsche Reichstagsakten unter Kaiser Karl V Bd. 2 (Der Reichstag zu Worms
1521). Bearb. v. Adolf Wrede. Gotha 1896, 557.
2) Ebd. 594-596. Vgl. Hans Wolter, Das Bekenntnis des Kaisers, in: Fritz Reuter
(Hrsg.), Der Reichstag zu Worms von 1521. Reichspolitik und Luthersache. Worms
1971,222-236.
3) Deutsche Reichstagsakten, Bd. 2 (wie Anm. 1), 592f.; Hieronymus Vehus, Ad
illustrem principem et dominum d. Georgium Saxonie Ducem Thuringie Landtgra vium et Misne Marchionem. De re Lutherana. Leipzig 1522, Bl. Blr (Flugschriften des fr?hen 16. Jahrhunderts. Ser. 1-10. Hrsg. v. Hans-Joachim K?hler, Leiden
1978-1987, Fiche 1553, Nr. 4027).
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588 Historische Zeitschrift Band 267 (1998)
Um als eine legitime Bewegung existieren zu k?nnen, mu?te die Re
formation diesem Argument im Diskurs der Reformationsepoche etwas
entgegensetzen, galt doch den Theologen die Geschichte nur als die
,Mitte der Zeit' zwischen der Passion und dem Eschaton, die Existenz des Menschen als eine vorl?ufige auf dem Weg zu seiner eigentlichen
Bestimmung. Die N?he zum heilsgeschichtlichen Anfangspunkt aller Existenz und seine Sukzession verlieh dem menschlichen Tun Wahr
heit und damit Legitimit?t. Die Reformation versuchte, ihr Legitimi t?tsdefizit auf vielfache Weise auszugleichen. Ihre Protagonisten ver
wiesen auf die korrupte und verdorbene Amtskirche, sie verwiesen auf
ihre verst?rkten Bem?hungen um das Seelenheil jedes Individuums, und sie behaupteten, mit ihrem Handeln dem Willen Gottes, den sie im
alleinigen Rekurs auf sein Wort zu erkennen glaubten, eher zu entspre
chen als die Papstkirche. Hier ist schon ein zentrales Moment der Selbstrechtfertigung der
reformatorischen Bewegung ber?hrt: die Bezugnahme auf die Ge schichte. Die reformatorische Bewegung stellte idealtypisch und for
mal in ihrer Erinnerung nichts anderes dar als die Vergegenw?rtigung des fr?hen Christentums. In diesem Sinne bezeichneten sich die Refor
matoren mit Titulaturen, die sie in der Bibel oder in der ?berlieferung der alten Kirche gefunden hatten bzw. lie?en nur diese gelten.4) Den
Altgl?ubigen galt dies als blasphemische ?berh?hung ?ber die Gott realiter und geistlich n?herstehenden Kirchenv?ter.5)
Demgem?? behaupteten die Reformatoren, da? ihre Bewegung eben keine neue Bewegung darstelle, sondern eine zutiefst traditionale, hi
storische. Deshalb bem?hte sich die katholische Polemik um den Nach
weis, da? Luther eben Neues gelehrt habe.6) Und im Gegenzug behaup
4) So dezidiert in: Das Zweite Helvetische Bekenntnis. Confessio Helvetica poste rior, verfa?t von Heinrich Bullinger. Hrsg. v. Walter Hildebrandt u. Rudolf Zim
mermann. 4. Aufl. Z?rich 1967, Kap. 18, 90.
5) Die Lutheraner machen aus jedem Presbyter einen Bischof und nennen sich
prahlerisch Bisch?fe und ecclesiastes, so Johannes Eck in der Thesenreihe f?r die
Doktorpromotion Konrad Thumans am 23. Februar 1526 (Bayerische Staatsbiblio
thek M?nchen, Einbl. VII, Nr. 38); Ecclesiastes von Altenburg nannte sich bei
spielsweise Wenzeslaus Linck in einer Flugschrift: Hans-Joachim K?hler, Biblio
graphie der Flugschriften des 16. Jahrhunderts. T. 1: Das fr?he 16. Jahrhundert
(1501-1530). Bd. 2. T?bingen 1992, Nr. 2192; Johannes Eck, Des heiligen Konzils zu Konstanz Entschuldigung, in: Adolf Laube (Hrsg.), Flugschriften gegen die Re
formation (1518-1524). Berlin 1997, 127-141, hier 129.
6) Johannes Eck, Enchiridion. Handb?chlein gemainer stell unnd Artickel der jetzt
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T. Fuchs, Protestantische Heiligen-memoria 589
tete die reformatorische Polemik, da? die neue Kirche die wahrhaft alte sei und die altgl?ubigen Lehren neu seien.7)
Wir stehen hier an einem neuralgischen Punkt der Auseinanderset
zung zwischen Reformation und alter Kirche, der Behauptung der Re
formatoren, da? ihre Bewegung schon allein dadurch legitimiert sei, da? sie alt sei, zu den Wurzeln des Christentums zur?ckkehre, ja gera
dezu die apostolische Zeit wieder aufleben lasse.8) Landgraf Wil
helm V. von Hessen-Kassel meinte in diesem Sinne nach der Ver?ffent
lichung des Restitutionsedikts in einem Brief an Landgraf Georg II. von Hessen-Darmstadt, da? man niemals die zum Urchristentum zu
r?ckgekehrte hessische Kirche aufgeben werde.9) Dieser Befund l??t sich an vielen Punkten belegen, am Rekurs auf die Bibel als alleinige
Quelle des Glaubens, an den schon erw?hnten Titulaturen reformatori
scher Amtstr?ger, an den kommunalen Religionsgespr?chen10), die mit
den ersten urchristlichen Synoden parallelisiert wurden, an der Ge
schichtsschreibung, den Martyriologien und Heiligenkalendern, eben
ganz allgemein an der Erinnerungspolitik der Neugl?ubigen. Diese Er
innerungspolitik besa? eine grundlegende Bedeutung f?r die protestan tische Identit?t in der fr?hen Neuzeit. F?r das Reformationsfest am
31. Oktober 1717 wurde in Augsburg ?ffentlich eine ?Ged?chtnis S?ule" in der Form eines Bogens aufgerichtet. Auf den beiden Funda
menten stand: ?Was alle Heilige geglaubet/ und getrieben/ Die alte
Wahrheit ists so/ Luther hat geschrieben", und: ?Des Papstes Joch und
Zwang/ der irrenden Gewissen/ Ist durch Lutheri Lehr gewal-/ tiglich zerrissen."11)
Die Stiftung von Legitimit?t durch den traditionalen Rekurs auf die
schwebenden Neuwen leeren. Faksimile-Druck der Ausgabe Augsburg 1533. Hrsg. v. Erwin Iserloh. M?nster 1980, 2.
7) Matthias Flacius Illyricus, Beweisung das nicht die vnsere Christi/ Sonder die
Papistische Religion/ new vnd auffr?risch/ vnd ein vrsach alles vngl?cks sey. Mag
deburg [1553?] (Flugschriften des sp?teren 16. Jahrhunderts. Hrsg. v. Hans-Joa
chim K?hler, Ser. 1 ff. Leiden 1990ff., Fiche 569, Nr. 1080).
8) Ebd. Bl. A2v.
9) Christoph von Rommel, Neuere Geschichte von Hessen. Bd. 4. Kassel 1843, 71.
10) Hierzu Thomas Fuchs, Konfession und Gespr?ch, Typologie und Funktion der
Religionsgespr?che in der Reformationszeit. K?ln/Weimar/Wien 1995, 457 f.
n) Kupferstich in: Staats- und Stadtbibliothek Augsburg, 2? Cod. Aug. 127, fol. 345.
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Geschichte als memoria12) ?u?erte sich vielgestaltig in der reformatori schen Bewegung, am deutlichsten in der Geschichtsschreibung, der
Martyriologie und der Heiligen-raeraona. In der Geschichtsschreibung bedeutete dies zun?chst die Ausschaltung der Geschichte der r?mi
schen Kirche als eines zentralen Faktors f?r die Entwicklung wahren
christlichen Glaubens und Lebens. Dies konnte dadurch geschehen, da? allgemein eine germanisch-lutherische Urreligion behauptet wurde, die die Entwicklung des Glaubens in eine Zeit vor Christus und
damit hinter die gesamte apostolische und r?mische Epoche der Kirche
zur?ckversetzte, wie wir es bei Philipp Cl?ver nachweisen k?nnen, der
im fr?hen 17. Jahrhundert eine ideengeschichtlich ?u?erst wirksame
Germanengeschichte vorlegte. Cl?ver behauptete, da? die germanische G?ttertrias Sol - Luna -
Vulkan, ganz ?hnlich der jesuitischen Akko
modationsthese w?hrend der chinesischen Mission13), der trinitari
schen Gottheit entsprochen habe.14) Eine zweite, nun national engere
Interpretation behauptete eine Tradition apostolischer Mission in Deutschland noch vor Bonifatius, die dann dem gewaltt?tigen und in
quisitorischen Vorgehen des Missionars erlegen sei. Der Th?ringer Hi storiker Georg Michael Pfefferkorn hatte im sp?ten 17. Jahrhundert diese These zu einem eigenst?ndigen Geschichtsbild ausgearbeitet.15) Den Katholiken galt diese These als so bedrohlich f?r ihr ganzes Selbstverst?ndnis wie auch teilweise den national denkenden Prote
stanten, da? der brandenburgisch-ansbachische Resident in Erfurt, der Historiker Johann Heinrich von Falckenstein, in seiner Th?ringischen Chronik noch in den drei?iger Jahren des 18. Jahrhunderts sich zu einer scharfen Polemik dagegen herausgefordert sah.16)
12) Zum Begriff der ?memoria" siehe: Otto Gerhard Oexle, Memoria als Kultur, in:
ders. (Hrsg.), Memoria als Kultur. G?ttingen 1995, 9-78.
13) Andrew F Walls, Art. ?Mission VI: Von der Reformation bis zur Gegenwart", in: Theologische Realenzyklop?die. Bd. 23. Hrsg. v. Gerhard M?ller. Berlin/New
York 1994, 40-59, hier 44.
14) Philipp Cl?ver, Germaniae antiquae libri tres. Leiden 1616, Cap. XXIX, 244:
Priscos Germanos unum, verum, aeternum Deum in trinitate coluisse, sub Solis,
Lunae, atque Ignis numinibus; reproduziert in: Bibliotheca Palatina. Druckschrif
ten - Stampati Palatini - Printed Books. Hrsg. v. Leonard Boyle u. Elmar Mittler
(Microfiche-Edition). M?nchen o. J., Pal. III, 49.
15) Georg Michael Pfefferkorn, Merkw?rdige und Auserlesene Geschichte von der
Landgrafschaft Th?ringen. Frankfurt am Main/Gotha 1684, 61 f.
16) Johann Heinrich von Falckenstein, Th?ringische Chronicka, oder vollst?ndige Alt=Mittel= u. Neue Historie von Th?ringen. Erfurt 1738, 217 f.
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Im historiographischen Diskurs und in der Erinnerung an Bonifatius als Heiliger siegte dann aber ein anderes Bild, da? er im eigentlichen Sinne evangelisch bzw. lutherisch-rechtgl?ubig gelehrt habe.17) Seine
marginalen, falschen und altgl?ubigen Lehr?u?erungen wurden damit
erkl?rt, da? dem Missionar nur die richtige Belehrung gefehlt und er
eben in der Zeit p?pstlicher Dunkelheit gelebt habe.18)
II.
Die legitimit?tsstiftende Erinnerungspolitik des Protestantismus
wurde prinzipiell auf drei Referenzhorizonten vollzogen: dem Refe renzhorizont einer nat?rlich geoffenbarten christlichen Urreligion, die
weitere Auspr?gungen in der Bibel erhalten haben soll, in dem Hori zont der Schrift selbst und der urchristlichen Gemeinde sowie drittens
in dem Referenzhorizont der Geschichte der christlichen Kirche. Die auf diesen drei Referenzhorizonten aufbauenden Erinnerungssy
steme konnten dabei durchaus miteinander wie auch innerhalb eines
Referenzsystems konkurrieren. Der nationale, lutherisch gepr?gte Hu
manismus profitierte vom naturreligi?sen Referenzhorizont in der Ge
schichtsschreibung, die Theologie formal vom Referenzhorizont der
Schrift im Sinne des sola scriptura, w?hrend Martyriologien und Heili
genkalender negativ und positiv vornehmlich das Legitimit?tsbed?rfnis auf dem Referenzhorizont der Geschichte der Kirche des sich formie renden und formierten Protestantismus bedienten.
Die Zeit vor 1550 bedeutete f?r die Reformationsepoche eine relativ
chronik- und hagiographiearme Zeit. Erst f?r die zweite Generation der Reformatoren stellte sich idealtypisch das Problem der Legitimit?tsbil
dung und Selbstvergewisserung, als die Reformation selbst zur Tradi tion geworden war. Der Referenzhorizont der christlichen Kirche in der
Erinnerungspolitik des Protestantismus erlangte erst dadurch Bedeu
tung, da? die Reformation selbst Geschichte wurde und in den heilsge
17) Wilhelm Dilich, Hessische Chronica. T. 2. Kassel 1605, ND Kassel 1961, 95/
96; Johann Ludwig Gottfrid, Historische Chronica, oder Beschreibung der f?r
nehmsten Geschichten, so sich von Anfang der Welt bi? auf das Jahr Christi 1619
zugetragen. [Frankfurt am Main] 1710, 447.
18) Wigand Lauze, Von den loblichen herkommen, Geschlechten, Leben, Thaten
vnd absterben der konige vnd fursten zu Hessen, auch was sich bei eines jedem
Regierung in der selben Landschaft verlaufen habe, Gesamthochschulbibliothek
Kassel, 2? Ms. Hass. 2/1, fol. 116v.
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schichtlichen Zeitablauf integriert werden mu?te, da? die Reformation selbst als Teil des individuellen Ged?chtnisses zur erinnerten Tradition
wurde. Die erste Generation der Reformatoren bezog sich auf die
Schrift und die urchristliche Gemeinde und konnte in geradezu escha
tologischer Perspektive ihr eigenes Wirken als die Vorbereitung auf das Wiederkommen des Herrn interpretieren wie auch als Wiederholung der biblischen Geschichte von Jesus Christus.19) Demgem?? stellte sich das Problem des Umgangs mit der Tradition ganz ?hnlich wie den ersten Christen, da? zwei miteinander konkurrierende Religionen exi
stierten, die nun die gemeinsame Tradition zu monopolisieren und zu
erobern versuchten.
Der Aufbau der Geschichte der Kirche als drittem Referenzhorizont der protestantischen Erinnerungspolitik geschah dabei auf einer grund s?tzlichen Ebene in zwei miteinander konkurrierenden und sich diame tral widersprechenden Erinnerungskonzepten. Dieses Gegensatzpaar
soll im folgenden mit den Begriffen , Gegengeschichte' und ,Eigenge schichte' bezeichnet werden. Die beiden Begriffe lassen sich recht klar den beiden Erinnerungsgattungen ,Martyriologium' und ?Heiligenka
lender '
zuweisen. Die Konzeptionen ,Eigengeschichte4 und , Gegenge
schichte' f?hrten in der Erinnerung des Protestantismus deshalb zu sich
widersprechenden Erinnerungsinhalten, da sie einmal die Geschichte der Kirche als identit?tsstiftend ablehnten, zum anderen im Gegensatz dazu die Geschichte der Kirche als zur eigenen Tradition geh?rend
behaupteten. So verdammte Heinrich Bullinger in seiner martyrio
logischen Gegengeschichte die gro?en scholastischen Theologen wie
Albertus Magnus, Bonaventura, Thomas von Aquin und Duns Scotus
in der Tradition der antischolastischen Polemik der Reformation als
Handlanger der p?pstlichen Machtentfaltung und Werkzeuge der Ver
folgung der wahren Kirche durch die P?pste20), w?hrend sie in den pro testantischen Heiligenkalendern als Schriftgelehrte und evangelische
Prediger geehrt wurden21).
,9) Hierzu siehe Thomas Fuchs, Martin Luther. F?hrungsgestalt in der Reforma
tion der Reformatoren, in: Martin Greschat/G?nther Lottes (Hrsg.), Luther in seiner
Zeit. Pers?nlichkeit und Wirken des Reformators. Stuttgart 1997, 69-87.
20) Heinrich Bullinger, Veruolgung. Von der schweren/ langwirigen veruolgung der Heiligen Christlichen Kirchen. Z?rich 1573, Bl. 85r, in: Bibliotheca Palatina
(wie Anm. 14), Pal. V, 376.2. 21
) Thomas von Aquin: Andreas Hondorf, Calendarium Historicum. Oder der Hei
ligen Marterer Historien. Frankfurt am Main 1575, Bl. 37v, in: Bibliotheca Palatina
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T. Fuchs, Protestantische Heiligen-memoria 593
Die protestantischen Martyriologien konstruierten ihre Gegenge schichte in dem Sinne, da? neben der p?pstlichen Kirche immer eine
sukzessive, rechtgl?ubige und unterdr?ckte Kirche parallel dazu exi stiert und ihre Materialisierung in den M?rtyrern gefunden habe. Sol che eigenst?ndige reformatorische M?rtyrerkataloge entstanden erst
mals in den f?nfziger Jahren des 16. Jahrhunderts in spezifisch konfes sionellen Auspr?gungen22), sei es mit Matthias Flaccius Illyricus' ?Ca
talogus testium veritatis" von 155623) oder mit Ludwig Rabes ?Histo rien der Heyligen Auserw?lten Gottes Zeugen" von 1557/5824) f?r den
lutherischen, Jean Crespins ?Le livre de Martyrs" von 1564 f?r den reformierten oder John Fox' ?Book of Martyrs"25), erstmals 1554, und
Miles Co verdales ?Certain most godly, fruitful, and comfortable letters
of such true Saintes and holy Martyrs of God" von 156426) f?r den
anglikanischen Bereich. Solche martyriologisehen Gegengeschichten lassen sich auch im Dissens-Bereich der Reformation nachweisen, bei
spielsweise in der Geschichte der hutterischen Br?der.27) Diese Konzeption einer martyriologischen Gegengeschichte reichte
so weit, da? quasi jeder irgendwann einmal von der Kirche verurteilte
(wie Anm. 14), Pal. V, 390; Dominikus: Abraham Saur, Calendarium Historicum, Das ist ein besondere t?gliche Hau? vnd Kirchen Chronica. Frankfurt am Main
1594, 297; Bonaventura: Hondorf, Calendarium Historicum, Bl. 105r/v.
22) Frieder Schulz, Art ?Hagiographie IV: Protestantische Kirchen", in: Theologi sche Realenzyklop?die. Bd. 14. Hrsg. v. Gerhard M?ller. Berlin/New York 1985,
377-380, hier 378. Hierzu grundlegend: Annemarie Br?ckner/Wolfgang Br?ckner,
Zeugen des Glaubens und ihre Literatur. Altv?terbeispiele, Kalenderheilige, prote stantische M?rtyrer und evangelische Lebenszeugnisse, in: Wolfgang Br?ckner
(Hrsg.), Volkserz?hlung und Reformation. Ein Handbuch zur Tradierung und Funk
tion von Erz?hlstoffen und Erz?hlliteratur im Protestantismus. Berlin 1974, 520
578.
23) Matthias Flaccius Illyricus, Catalogus testium veritatis, qui ante nostram aeta
tem reclamarunt Papae. Basel 1556, reproduziert in: The Lutheran Reformation.
Sources, 1500-1650 on Microfiche. I. Germany. Ed. by William S. Maltby. Leiden
1992, Nr. 119.
24) Ludwig Rabe, Historien der Heyligen Au?erw?lten Gottes Zeugen. 8 Teile in
4 Bden. Stra?burg 1557/58, in: Bibliotheca Palatina (wie Anm. 14), Pal. IV, 499.
25) Vgl. J. F Mozley, John Foxe and His Book. London 1940.
26) Vgl. Susan Wabuda, Henry Bull, Miles Coverdale, and the Making of Foxe's
Book of Martyrs, in: Diana Wood (Ed.), Martyrs and Martyrologies. Oxford 1993, 245-258.
27) A. J. F Zieglschmid (Hrsg.), Die ?lteste Chronik der Hutterischen Br?der. Ein
Sprachdenkmal aus fr?hneuhochdeutscher Zeit. Ithaca, N. Y. 1943.
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594 Historische Zeitschrift Band 267 (1998)
Ketzer zum Ahnherren der Reformation gemacht wurde.28) Heinrich
Bullinger interpretierte die Geschichte der wahren Kirche als eine Ver
folgungsgeschichte.29) In den Martyrien der Rechtgl?ubigen soll sich
die wahre Kirche immer wieder materialisiert haben. Er z?hlte seit der
Geburt Christi, beginnend mit dem Kindermord von Bethlehem, insge
samt 20 Verfolgungswellen, denen die wahrhaft rechtgl?ubige Kirche
ausgesetzt war. Dabei ereigneten sich die ersten 19 Verfolgungen eben
von Herodes ?ber die Verfolgungen durch die r?mischen Kaiser und
Vandalen bis zu den Verfolgungen durch den Islam. Die letzte und
schwerste Bedr?ngnis sei aber die Verfolgung durch die r?mischen
P?pste, die mit der weltlichen Machtentfaltung der r?mischen Kirche
seit Bonifatius III. eingesetzt haben soll, bei anderen Autoren mit Kai
ser Konstantin oder dem Regierungsantritt Karls des Gro?en30), gip
felnd in der r?mischen Tyrannei seit Gregor VII. mit ihrem ersten H?
hepunkt in der Verfolgung Kaiser Heinrichs IV.31) Neben der Verfol
gung der Kaiser, der Gang nach Canossa zeigt hier die Verbundenheit
Bullingers mit der national orientierten humanistisch-reformatorischen
Geschichtsschreibung32), gab es danach einen zweiten Verfolgungs
typus gegen Ketzer, die sich den p?pstlichen Ordnungen widersetzt h?t
ten: ?Vnd s?mlichs nennen ich hie eigentlich n?ben den vorerzelten
B?pstischen kriegen/ die B?pstische veruolgung/ wider die Christen/
vnnd ?ber die Christenlichen kirchen/ welche wider r?chtgloubige l?t/
von de? gloubens w?gen/ wie in der ersten kirchen/ erweckt worden
ist".33) So wie die ersten Gl?ubigen von den Kaisern verfolgt worden
28) Bullinger, Veruolgung (wie Anm. 20), Bl. 73rf.
29) Ebd.
30) Antonius Corvinus, Von der Concilien Gewalt vnd Autoritet/ worin dieselbige
steht/ wie fern sie sich strecke/ vnnd wie fern man/ was sie beschliessen/ zuhalten
schuldig sey/ gr?ndlicher bericht. O.O. 1537, Bl. D3v, in: Flugschriften des sp?te
ren 16. Jahrhunderts (wie Anm. 7), Fiche 358, Nr. 690; J?rg V?geli, Schriften zur
Reformation in Konstanz 1519-1538. Bearb. v. Alfred V?geli. Halbbd. 1: Texte
und Glossar. T?bingen/Basel 1972, 57. 31
) Bullinger, Veruolgung (wie Anm. 20), Bl. 73 f.
32) Ebd. Bl. 77r, verwies auf Aventin; Canossa als das gr??te Ungl?ck der deut
schen Nation auch bei: Lauze, Von den loblichen herkommen (wie Anm. 18), fol.
177rf.; Nikolaus von Amsdorf, Wahrhafftige Historia/ wie der Bapst ist der oberste
worden/ inn der Christenheit. Aus bewerten Cronicken. N?rnberg 1535, in: Flug
schriften des sp?teren 16. Jahrhunderts (wie Anm. 7), Fiche 125, Nr. 249.
33) Bullinger, Veruolgung (wie Anm. 20), Bl. 83v.
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T. Fuchs, Protestantische Heiligen-memoria 595
sind, werden in dieser letzten Zeit die Gl?ubigen von den P?psten ver
folgt.
Bei den M?rtyrerkatalogen handelte es sich durchaus um publizisti sche Erfolge. Von Ludwig Rabes ?Historien der Heyligen Auserw?lten
Gottes Zeugen" sind allein im 16. Jahrhundert mehr als 20 Ausgaben und Teilausgaben bekannt, obwohl es sich um ein monumentales Werk in acht Teilen und vier B?nden mit mehreren tausend Seiten handelt.34)
Bildete dabei die Gegengeschichte der Kirche den Referenzhorizont
der Erinnerung, so konnte wiederum die lutherische Reformation zu
einem zweiten negativen Referenzhorizont werden, so in der M?rtyrer
geschichte der hutterischen Br?der oder auch anderer t?uferischer
Gruppen.35)
Diesem Konzept der Gegengeschichte stand eine Eigengeschichte der Heiligenmemoria gegen?ber, die sich im Gegensatz dazu in die Tra
dition der Kirche stellte und die Heiligenkalender der r?mischen Kirche
fortzuschreiben suchte und bestimmten Selektionskriterien der Erinne
rung unterwarf.36) Diese sehr traditionale Form der Erinnerungspolitik, die nicht nur das Programm der gelehrten katholischen Heiligenvereh
34) Verzeichnis der im deutschen Sprachbereich erschienenen Drucke des
XVI. Jahrhunderts. Hrsg. v. der Bayerischen Staatsbibliothek in M?nchen in Ver
bindung mit der Herzog August Bibliothek in Wolfenb?ttel. Bd. 16. Stuttgart 1990, R31-R52.
35) Ziegelschmid, Die ?lteste Chronik (wie Anm. 27); 1660 entstand ein mennoni
tischer ?M?rtyrerspiegel" mit einer Sammlung von M?rtyrerberichten und -Zeug nissen: Hans-J?rgen Goertz, Religi?se Bewegungen in der Fr?hen Neuzeit. (Enzy
klop?die deutscher Geschichte, Bd. 20.) M?nchen 1993, 35.
36) Neben diesen bewu?t ?berarbeiteten Heiligenkalendern existierten im prote stantischen Bereich zur Datierung die traditionellen Heiligenkalender verbunden
mit astrologischen Spekulationen unver?ndert in den sogenannten ?Schreibkalen dern" weiter. Beispiele hierf?r sind: Johann Klain, Schreibkalender auffs M. D.
LXXVIII Jar nach Christi vnsers Seligmachers geburt. N?rnberg [1577], in: Biblio
theca Palatina (wie Anm. 14), Pal. IV, 213.4. Johann Klain war ?Medicus Ordina
rius" der Stadt Frankfurt am Main. Der Kalender war Graf Philipp Ludwig von Ha
nau gewidmet; Andreas Rosa, Alter vnd Newer Schreibkalender auff das Jar nach
Christi Geburt M. D. LXXXX. N?rnberg [1589], in: Bibliotheca Palatina (wie Anm. 14), Pal IV, 517.2. Andreas Rosa war Stadtarzt von Amberg. Den Kalender
widmete er Pfalzgr?fin Camarina Sophia; Victorin Sch?nfeld, Schreib Calender auff
das Jar nach der Geburt Jesu Christi M. D. XCI. Magdeburg [1589], in: Bibliotheca
Palatina (wie Anm. 14), Pal. IV, 517.3. Victorin Sch?nfeld bezeichnete sich als
?Mathematicus" aus Marburg. F?r den englischen Bereich hat solche Kalender un
tersucht: David Cressy, Bonfires and Bells. National Memory and the Protestant
Calendar in Elizabethan and Stuart England. Berkeley/Los Angeles 1989.
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596 Historische Zeitschrift Band 267 (1998)
rung zu imitieren suchte, behauptete schon allein durch ihre Existenz die ?berlegenheit ?ber die ?berkommene und mit Fabeln und L?gen
geschichten durchsetzte katholische Hciligcn-memoria. In diesem Sinne erinnerte Abraham Saur in seinem ?Calendarium historicum" an
den hl. Franziskus am 4. Oktober, dem traditionellen Tag des Heiligen, polemisierte aber gegen die Verehrung des Heiligen besonders in sei nem Orden und gegen die falschen Lehren des Franziskus selbst: ?Die
sen Franciscum erheben die Papisten/ vnd sonderlich seines Ordens
mitgenossene Br?der/ bi? in Himmel. Vnnd wiewol kein zweiffei/ da? er ein frommer Mann gewesen sey/ welcher einen besondern eyffer ge
habt hat/ Jedoch befindet man in seinem Leben/ da? er/ mit vielen Ab
g?ttischen vnd Abergl?ubischen dingen/ vmbgangen/ vnnd viel zu sei ner Gesellschafft gereitzet hat", und weiter mit einer Kritik an der Le
gendenbildung um den Heiligen herum, gipfelnd in der Polemik gegen die Stigmata des hl. Franziskus: ?Dieser Orden/ welchen man nennt
Franciscaner Bettel Orden/ ist auffkommen/ vnder Bapst Honorio III. anno Christi 1223. Au? diesem Orden sind andere Vngeziffer vnd Ge schmei? entstanden/ als Minores, Maiores, In summa, diesen Orden
vergeichen seine Gesellen gantz/ dem Leben/ Lehr/ Leiden vnd Sterben vnsers Hey lands Jesu Christi/ vnd seine 5. Wunden sind bey jhnen ein h?herer verdienst/ den der gantze verdienst vnseres HERRN Christi. Sie fahren hin mit jm/ wir wollen bey vnserm Herrn Christo blei
ben."37) Obwohl hier Franziskus und seine Folgen scharf abgelehnt wurden, war die Erinnerungskraft des Heiligen immer noch so stark,
da? er nicht einfach vergessen werden konnte. Aber Saur setzte dage
gen positiv die Geschichte eines reformatorischen M?rtyrers ab, der
den Ordensgr?nder verdr?ngen sollte.
Dieser Verdr?ngungsproze? wurde aber nicht nur theologisch unter
mauert, sondern konnte auch auf der Grundlage der reformatorischen
Kritik an den Legenden historisch, ja mithin kritisch fundiert sein. Saur
lehnte die memoria f?r Richard den Angelsachsen ab, angeblich ein
K?nig, der auf dem Weg nach Rom 720 gestorben sein soll38), und in
stallierte sie dagegen f?r den lutherischen M?rtyrer Robert Barnes: ?An
statt Richardi/ de? man an diesem Tag gedencket/ dieweil ich kein ge
37) Saur, Calendarium historicum (wie Anm. 21), 537 f.
38) Lexikon der christlichen Ikonographie. Bd. 8. Hrsg. v. Wolfgang Braunfels.
2. Aufl. Rom/Freiburg/Basel/Wien 1994, 266.
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T. Fuchs, Protestantische Heiligen-memoria 597
wisse Histori finde/ wil ich diesen frommen Mann/ Robertum Barum hiemit in die zal der M?rtyrer setzen."39)
Der traditionale Rekurs auf die Geschichte heiliger Personen in den
neugl?ubigen Heiligenkalendern ist schon deshalb bemerkenswert, weil die Reformatoren gehofft hatten, da? das Gedenken an die Heili
gen von selbst, wie auch die in ihren Augen anderen abergl?ubischen Praktiken der r?mischen Kirche, durch die Predigt des Evangeliums aussterben werde, so Luther in den ?Schmalkaldischen Artikeln".40)
Aber gerade diese Hoffnung verwirklichte sich nicht, hielt sich doch die Heiligenverehrung bis hin zum Wallfahrtswesen in vielen prote stantischen Gebieten.41) 1552 lie? die Stadt Wismar M?nzen schlagen, die den hl. Laurentius zusammen mit seinem Marterger?t, dem Rost,
zeigten.42) Selbst in Hessen-Kassel geh?rten Heiligenbilder in den Kir chen und ihre Verehrung noch zu Zeiten des Landgrafen Moritz zum
religi?sen Normalverhalten der Bev?lkerung.43) Dabei hatte sich die Ablehnung der Heiligenanrufung und Heiligen
memoria seit dem Ausbruch des Konflikts bei den Reformatoren immer weiter versch?rft.44) Besonders Melanchthon forderte eine Rationali
sierung der Erinnerung an die Heiligen, was allgemein als Proze? vom
heiligen Bewu?tsein hin zum s?kularen Denken interpretiert werden
k?nnte. Im ?Examen ordinandorum" von 1552 wollte er die Predigt
?ber die Heiligen nur insofern zulassen, als man daraus ersehen k?nne,
welchen Menschen sich Gott offenbart und sein Wort zur St?rkung des
39) Saur, Calendarium historicum (wie Anm. 21), 94.
40) Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche. 4. Aufl. G?ttin
gen 1959, 407^68, ebenso Huldreich Zwingli, De vera et falsa religione commen
tarius. Bearb. v. Walther K?hler u. Georg Finsler. (Huldreich Zwingiis S?mtliche
Werke. Hrsg. v. Emil Egli u.a., Bd.3.) Leipzig 1914, 590-912, hier 833. 41
) Ernst Walter Zeeden, Die Entstehung der Konfessionen. Grundlagen und For
men der Konfessionsbildung im Zeitalter der Glaubensk?mpfe. M?nchen/Wien
1965; ders., Katholische ?berlieferungen in den lutherischen Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts. M?nster 1959, 47 f.
42) Christian Schlegel, Biblia in Nummis, Das ist: Kurtzer Entwurff der vornehm
sten Biblischen Spr?che und Historien/ die auf Medaillen/ Ducaten/ Thalern und
andern M?ntzen [...] gef?hrt werden. Jena 1703, 89.
43) Christoph von Rommel, Neuere Geschichte von Hessen. Bd. 2. Kassel 1837,
581, 608 f.
44) Hierzu David Bagchi, Luther and the Problem of Maryrdom, in: Wood (Ed.),
Martyrs (wie Anm. 26), 209-219; Ulrich K?pf Protestantismus und Heiligenver
ehrung, in: Peter Dinzelbacher/Dieter R. Bauer (Hrsg.), Heiligen Verehrung in Ge
schichte und Gegenwart. Ostfildern 1990, 320-344.
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598 Historische Zeitschrift Band 267 (1998)
Glaubens mitgeteilt habe.45) Diesem Standpunkt f?gte er ein martyrio logisch-historisches Argument hinzu: Die Geschichte der Heiligen lege
Zeugnis davon ab, wie Gott die Kirche durch alle Verfolgungen hin durch erhalten habe. In der ?Confessio Saxonica" von 1551 waren
diese Forderungen p?dagogisch untermauert worden.46) Die Heiligen anrufung wurde wie von der gesamten reformatorischen Bewegung ka
tegorisch abgelehnt. Zur Unterweisung des Volkes sei die Predigt der
Heiligen n?tzlich, da es notwendig sei, die Geschichte der Kirche zu
kennen, von ihren Zeugnissen zu wissen, worauf die Kirche gegr?ndet
sei und welche Lehren die V?ter, Propheten, Apostel und M?rtyrer ver
treten h?tten. Aus dieser Geschichtsbetrachtung soll nach Melanchthon idealiter ein vorbildhafter Glaube vorgestellt werden, der Menschen zur
Nachahmung reizen solle.
Dieser Bruch, weg vom heiligen Bewu?tsein hin zu s?kularem Den
ken, zeigt sich deutlich im Unterschied zur vorreformatorischen Heili
gentheologie. Gabriel Biel hatte gemeint, da? wir uns der Heiligen er
innern, damit sie bei Gott f?r uns bitten.47) Erm?glicht wurde diese Bitte durch die von den Heiligen erworbenen Verdienste. Aus diesem
Konzept erwuchsen die im sp?ten Mittelalter immer dichter gewobenen Legendenteppiche, beispielhaft sei hier auf den bedeutendsten Text die ser Gattung, die ?Legenda ?urea" des Jacobus de Vor?gine aus dem
13.Jahrhundert verwiesen. Die dadurch immer heiliger werdenden
Heiligen vermehrten den Gnadenschatz der Kirche immer mehr, der den Gl?ubigen Heilsgewi?heit garantierte, was wiederum in einer Art Zirkelschlu? durch die Wunder als Zeichen der Gnade Gottes verifiziert werden konnte.
Die Reformation brach radikal mit dieser Tradition durch die Indivi
dualisierung des Heilsgeschehens. Im Sinne Melanchthons wurden die
Heiligenlegenden scharf kritisiert und als L?gengeschichten zur?ckge wiesen. Im Kern blieb dann nur noch die p?dagogische Funktion der
HeiligQn-memoria bestehen. An einem Beispiel soll dieser Proze? ver
deutlicht werden: Die hl. Elisabeth von Th?ringen geh?rte zu den am
meisten verehrten Heiligen des Mittelalters und avancierte zur Schutz
patronin zweier bedeutender Reichslandschaften, Hessen und Th?rin
45) Melanchthons Werke in Auswahl. Hrsg. v. Robert Stupperich. Bd. 6: Bekennt
nisse und Lehrschriften. G?tersloh 1955, 228.
46) Ebd. 160 f.
47) Robert Lansemann, Die Heiligentage, besonders die Marien-, Apostel- und En
geltage in der Reformationszeit. G?ttingen 1938, 57.
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T. Fuchs, Protestantische Heiligen-memoria 599
gen.48) Seit der Elisabeth-Vita des Dietrich von Apolda wurde ein dich tes Netz von Wundergeschichten um die Heilige gelegt und kanonisiert, das bis zur Reformation tradiert wurde.49) Die Neugl?ubigen lehnten diesen Legendenteppich scharf ab und reduzierten ihre Heiligkeit auf ihr vorbildhaftes, barmherziges und christliches Verhalten: ?Dorumb solte man es bei erinnerung ires grossen vnd standhafftigen Glaubens
gegen Gott vnd der Liebe, so sie gegen den Armen erzeiget, billich ha ben bleiben lossen, sie nicht angebettet noch angeruffen, noch einige hulffe bei ire gesucht noch gehoffet haben, in bedencken, das vns die
heylige schlifft allein zu Christo weiset vnd saget, das der allein vnser
barmhertziger vnd trauwer hoher priester sey in allen anligen vnd noten
[Hebr 3, 14.16], so wir fur Gott etwas anzutragen vnd zuhandlen haben,
zu dem solten alle menschen fliehen, als von deme sich auch Gott der vatter allein finden vnd erbitten losse."50)
III.
Bei den hier behandelten lutherischen Heiligenkalendern handelt es
sich um die ?Fastorum ecclesiae christianae libri duodecim" des Na
than Chytraeus von 1573, Abraham Saurs ?Calendarium Historicum" von 1572, Andreas Hondorfs ?Calendarium historicum. Oder der Hei
ligen Marterer Historien" von 1573 sowie um Kaspar Goltwurws ?Kir chen Calender" von 1559. Vorl?ufer hatten diese Texte in den V?terle ben von Georg Major und Hermann Bonn.51) Bonn erinnerte in seinen
48) Matthias Werner, Mater Hassiae - Flos Ungariae - Gloria Teutoniae. Politik
und Heiligenverehrung im Nachleben der Hl. Elisabeth von Th?ringen, in: J?rgen Petersohn (Hrsg.), Politik und Heiligenverehrung im Hochmittelalter. Sigmaringen 1994,449-540.
49) Monika Renner (Hrsg.), Die Vita der heiligen Elisabeth des Dietrich von
Apolda. Marburg 1993. Beispiele f?r die Tradierung der Elisabethlegende bis zur
Reformation: Wigand Gerstenberg, Landeschronik, in: Die Chroniken des Wigand
Gerstenberg von Frankenberg. Bearb. v. Hermann Diemar. Marburg 1909, 1-318, hier 151 f.; Johannes Rothe, D?ringische Chronik. Hrsg. v. R. v. Liliencron. Jena
1859, 344 f.
50) Lauze, Von den loblichen herkommen (wie Anm. 18), fol. 226r; so dann auch in
den Heiligenkalendern: Saur, Calendarium historicum (wie Anm. 21), 602; Hon
dorf, Calendarium Historicum (wie Anm. 21), Bl. 172v.
51) Hermann Bonnus, Farrago praecipuorum exemplorum, de Apostolis, Martyri bus, Episcopis, et Sanctis Patribus ueteris Ecclesiae, qui docentes uerbum Dei, et
ueritatem illius adserentes Christianae religioni fideliter patrocinati sunt. Quorum
cognitio in primis utilis et necessaria praedicatoribus uerbi Dei. Schw?bisch Hall
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600 Historische Zeitschrift Band 267 (1998)
Heiligenviten nicht nur an im reformatorischen Sinne als Lehrer des
Evangeliums herausragende V?ter und M?rtyrer, sondern bot auch eine
Beispielsammlung f?r richtiges evangelisches Verhalten in der Ge schichte der Kirche. In Form von Anekdoten formulierte diese Bei
spielsammlung ?berzeitliche reformatorische Wahrheiten, wie sie schon vor der Reformation in der Kirche gelehrt und ge?bt worden
seien. ?berzeitlichkeit wurde durch Anonymit?t der gebotenen Bei
spiele richtigen Verhaltens erzeugt. Dahinter steht die These, die dann in den Heiligenkalendern reproduziert wurde, da? die wahre protestan
tische Kirche schon immer innerhalb der Geschichte der Kirche und nicht wie bei den Martyriologien au?erhalb der Kirche existiert habe. So habe ein M?nch, den Bonnus bezeichnenderweise Senior nennt, ei
nen anderen ?ber das Fasten mit einem Wortspiel belehrt: Es sei besser
Fleisch (carnis) zu essen und Wein zu trinken als das irdische Leben
(carnes) der Br?der durch Mi?gunst zu verzehren.52) Die Darstellung der Heiligenviten diente Bonnus neben der Polemik vornehmlich ei nem p?dagogischen und selbstreferentiellen Zweck. Sie sollten das
wahrhafte Leben christlicher Amtstr?ger verdeutlichen und das richtige Leben der protestantischen Geistlichen beweisen. So schrieb er, da? man im Leben des hl. Martin von Tours erkennen k?nne, wie ein wah
rer Bischof oder Lehrer des Evangeliums sein solle. In einem Kloster,
die zu dieser Zeit noch ?ffentliche Schulen gewesen seien, mit diesem
Argument begr?ndeten die Reformatoren die Entfremdung des Kir
chenguts durch die protestantischen Obrigkeiten53), sei dieser in der
heiligen Schrift unterrichtet worden. Danach habe der Heilige die doc trina Euangelia gegen die Arrianer gelehrt und eben nicht das Ver trauen auf die Werke, man k?nnte hinzuf?gen, wie es eben die Altgl?u
bigen f?r Bonnus taten.54) Als Bischof habe er dann selbst eine Kloster schule in der Hoffnung gegr?ndet, da? dadurch die Lehre des Evan
geliums sich immer weiter ausbreiten werde. Den katholischen Amts
1539; Georg Major, Vitae patrum, in vsum ministrorum verbi, quo ad eius fieri
potuit repurgatae. Wittenberg 1544, in: The Lutheran Reformation (wie Anm. 23), Nr. 237. Vgl. K?pf Protestantismus (wie Anm. 44), 334 f.
52) Bonnus, Farrago (wie Anm. 51), Bl. 74v.
53) Beispielhaft in einer Rechtfertigungsschrift f?r die Aufhebung des Klosters
Haina in Hessen: Johannes Lezner, Kurtze Beschreibung des Klosters Haina in
Hessen, in: Johann Philipp Kuchenbecker, Analecta Hassiaca. Collectio IV Mar
burg 1730, 305-340.
54) Bonnus, Farrago (wie Anm. 51), Bl. 9rf.
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T. Fuchs, Protestantische Heiligen-memoria 601
tr?gem, die sich den bisch?flichen Namen anma?ten und nicht vom
wahren Amtscharakter ber?hrt seien, stellte Bonus den hl. Nikolaus als
Vorbild entgegen.55) Die Autoren der genuinen Heiligenkalender geh?rten in die zweite
Reihe der Reformation, waren teilweise nicht einmal Theologen. Na
than Chytraeus, aus dem Kraichgau stammend, lebte von 1543 bis
1598. Er lehrte seit 1564 als Professor f?r lateinische Sprache in Ro
stock, das er nach schweren Angriffen des Ministeriums wegen einiger
calvinistischer ?u?erungen 1593 verlassen mu?te, und wechselte an
schlie?end nach Bremen ans Gymnasium.56) Sein Heiligenkalender ist
aber nicht durch reformierte Tendenzen gepr?gt. So wird darin keines
einzigen wichtigen reformierten Theologen gedacht, w?hrend an Per
sonen wie Luther und Melanchthon erinnert wird.
Abraham Saur war ebenfalls kein Geistlicher. 1545 in Frankenberg/ Hessen geboren, studierte er in Wittenberg und Marburg und schlo? mit
dem Magisterexamen ab. 1568 ging er zun?chst ans Reichskammerge
richt und noch im gleichen Jahr als Prinzenerzieher zu Graf Wolrad von
Waldeck. 1570 gab er diese Stelle auf. 1575 begegnet Saur als Advokat
und Prokurator am hessischen Samthofgericht in Marburg, wo er 1593
verstarb.57)
Andreas Hondorf wurde um 1530 in Naumburg geboren. Nach sei
nem Studium in Wittenberg und Leipzig wurde er 1547 in Merseburg zum Pfarrer ordiniert. Hondorf amtierte auf verschiedenen Pfarrstellen
in der weiteren Umgebung von Naumburg. Am 13. Januar 1572 ver
starb er in Droy?ig. Sein Heiligenkalender, der erst nach seinem Tode
erschien, wurde von Vinzenz Sturm herausgegeben.58)
Kaspar Goltwurm schlie?lich wurde wahrscheinlich 1524 gebo
ren.59) Nach seinem Studium in Wittenberg und Marburg trat er zu
55) Ebd. Bl. 22r/v.
56) Thomas Fuchs, Nathan Chytraeus (1543-1698). Zum 450. Geburtstag eines
Kraichgauer Humanisten, in: Badische Heimat 74, 1994, 113-120; Sabine Pettke
(Hrsg.), Nathan Chytraeus. Quellen zur zweiten Reformation in Norddeutschland.
K?ln/Weimar/Wien 1994.
57) Vgl. Gail Larrabee, Abraham Saur - Ein gro?er Sohn Frankenbergs, in: Hei
matjahrbuch f?r das Frankenberger Land 1986, 33-40.
58) Heidemarie Schade, Andreas Hondorffs Promptuarium Exemplorum, in:
Br?ckner (Hrsg.), Volkserz?hlung (wie Anm. 22), 646-703.
59) Bernward Deneke, Kaspar Goltwurm. Ein lutherischer Kompilator zwischen
?berlieferung und Glaube, in: Br?ckner (Hrsg.), Volkserz?hlung (wie Anm. 22),
124-177.
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602 Historische Zeitschrift Band 267 (1998)
n?chst als Prinzenerzieher 1545 in den Dienst Graf Philipps III. von
Nassau-Saarbr?cken. Er wirkte in Nassau-Weilburg mit einer kurzen
Unterbrechung w?hrend des Interims bis zu seinem Tode 1559.
Inhaltlich und formal sind alle Heiligenkalender von ?berraschender
Einheitlichkeit. Nur die ?Fasti" des Chytraeus weichen davon etwas ab,
nicht in dem Sinne, da? an andere Heilige als in den anderen Kalendern
oder andere Inhalte erinnert wurde, sondern vielmehr formal, da Chy
traeus als Humanist, wie schon der Titel verr?t, sich an die ?Fasti" des
Ovids angelehnt hatte, d. h. da? seine ?Fasti" in Gedichtform und auf
lateinisch abgefa?t sind. Wir haben es hier also mit einer sehr einheitli
chen Erinnerungsgattung zu tun, und schon in den f?nfziger Jahren des
16. Jahrhunderts stand mehr oder weniger fest, an welche Personen als
Heilige im lutherischen Sinne erinnert werden konnte. Wir k?nnen
hierbei von einem echten Kanonisationsproze? sprechen, der durch be
stimmte Selektionsprinzipien gesteuert wurde, die auf der reformatori
schen Theologie beruhten. Jedenfalls gebrauchte Abraham Saur diesen
Begriff f?r den 4. Oktober, den Tag des Franz von Assisi: ?Es mag auch
Franciscus Enneas, Burgensis, hieher canoniziert werden".60)
Diese Heiligen- oder historischen Kalender sind ganz traditional
nach den Jahrestagen von Heiligen oder Festen geordnet. Erinnert wer
den konnte an die Heiligen sowohl an ihrem Geburts- wie auch an ih
rem Todestag oder unter dem Datum eines namensgleichen ?lteren Hei
ligen. Dadurch wurde immer mehr als ein Heiliger pro Tag vorgestellt, so da? z.B. bei Saur ?ber 1000 heilige Personen und Feiertage aufgeli stet wurden. Die Nennung der Heiligen besitzt f?r die Zeit der Alten
Kirche einen deutlichen Schwerpunkt. Zum Mittelalter hin werden die
Nachrichten immer sp?rlicher, und es wird fast ausschlie?lich an Perso
nen erinnert, die im reformatorischen Sinne uminterpretiert werden
konnten, bevor mit der Reformation wiederum ein Schwerpunkt zu be
obachten ist, der nicht nur M?rtyrer mit einschlo?, sondern auch andere
herausragende Protagonisten der Reformation wie Luther, Erasmus,
Hermann von Wied und Eberhard Schnepf auff?hrten.61) An einen
Thomas Becket erinnerten die Autoren selten, da er f?r die falsche Sa
6?) Saur, Calendarium historicum (wie Anm. 21), 537.
61) Hermann von Wied: Hondorf, Calendarium Historicum (wie Anm. 21), Bl. 11 v;
Schnepf: Caspar Goltwurm, Kirchen Calender. Frankfurt am Main 1559, Bl. 3r, in:
Bibliotheca Palatina (wie Anm. 14), Pal. IV, 947; Erasmus: Saur, Calendarium
historicum (wie Anm. 21), 316; Luther: ebd. 592; Luther ist in allen Heiligenkalen dern vertreten.
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T. Fuchs, Protestantische Heiligen-memoria 603
che gestorben war, so die Kritik von John Fox.62) Hierbei liegt eine These Luthers zugrunde, die f?r die Selektion der Heiligen nicht unbe deutend war: Nicht die Strafe macht jemanden zum M?rtyrer, sondern der Grund der Strafe.63) Wir haben hier also formal einen ganz ?hnli chen Kanonisationsproze? wie bei der Bibel: Der Inhalt eines Textes entscheidet ?ber sein biblisch-Sein. Wollte an Thomas Becket erinnert
werden, mu?te demnach die causa seines Todes neu bestimmt werden.
Dies tat Abraham Saur. Bei ihm wurde Becket nicht wegen der Vertei
digung p?pstlicher Rechte gegen?ber dem K?nig vertrieben und sp?ter ermordet, sondern da er ?die vnbillichkeit des K?nigs/ das Recht vnd
freyheit der Kirchen vertheidiget/ vnnd allerley Abg?tterey/ vnnd auch sonst das vnz?chtige Leben de? K?nigs/ vnd seines gottlosen Hoffge sindes/ ernstlich gestraffet hat".64)
Nutzten die Verfasser der Heiligenkalender zwar eine traditionelle
Erinnerungsgattung, so suchten sie doch ad fontes zu gelangen. Bis auf
wenige Ausnahmen griffen sie nicht auf die mittelalterlichen Heiligen legenden zur?ck, sondern suchten die ?lteste ?berlieferung. Ganz all
gemein unterlag ihre memoria bestimmten Selektionskriterien. Negativ war dies eine antir?mische Tendenz, die theologisch auf dem sola fide aufbaute und sich vehement gegen bestimmte Tendenzen in der Heili
gentheologie richtete. Positiv war dies ein lutherisches Glaubensver st?ndnis. Andreas Hondorf hob bei der memoria f?r Ambrosius von
Mailand ein lutherisches Glaubensbekenntnis des Kirchenvaters her vor: ?Es ist auch dieser Ambrosius in seinem predigen vnd schreiben fast lauter vnd rein gewesen/ als f?rnemlich von der Rechtfertigung des
Menschen lehret er also/ lib. 2. de Iacob. Quia non operibus iustifica mur, sed fide, quoniam Carnalis infirmitas operibus impedimento est,
sedfidei claritas factorum obumbrat errorem, quae meretur Veniam de
lictorum. Vnsere gute Werck machen vns nicht gerecht/ sondern allein
der Glaube/ denn fleischliche Schwacheit verhindert in vns gute Werck/ aber die klarheit des Glaubens verdunckelt den Jrrthumb vnser
Wercken/ welcher Glaub allein erlanget Vergebung der S?nden. Item 1. ad Corinth. 1. cap. Hoc Constitutum est a deo, vt qui credit in Chri
stum, saluus sit sine opere, sola fide, gratis: Dieses ist also von GOTT
beschlossen/ das/ wer an Christum glaubet/ ohne Werck selig werde/
62) Bagchi, Luther (wie Anm. 44), 214f.
63) Ebd. 214.
M) Saur, Calendarium historicum (wie Anm. 21), 652; hier h?ngt Saur ab von:
Martyrologium Romanum. Hrsg. v. Hippolytus Delhaye u.a. Br?ssel 1940, 606.
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604 Historische Zeitschrift Band 267 (1998)
allein durch den Glauben/ welcher vmd sonst vnd au? gnaden erlanget
Vergebung der S?nden. Von guten Wercken lehret er auch fein/ da? sie au? einem guten Glauben her fliessen sollen/ damit sie dennoch auch
jre Stadt haben".65) Und Bischof Ulrich von Augsburg wurde wegen seines angeblichen Einsatzes gegen den Z?libat von den Autoren der
Kalender unter die Heiligen gez?hlt.66) Heilige Gottes zeichnen sich durch das Beharren auf der Schrift aus, durch ihre Beziehung zu Gott durch die Schrift. In der Marienikonographie der Reformation trat des halb ein vorher eher am Rande stehendes Motiv in den Vordergrund: In den ?Postillen" des Johannes Mathesius ist bei der Pfingstpredigt die
Ausgie?ung des Heiligen Geistes dargestellt.67) ?ber der sitzenden Maria schwebt die Taube als Symbol des Heiligen Geistes. In ihren H?nden h?lt sie, umgeben von den Aposteln, eine Bibel.
Dies bedeutete, da? das Heiligenleben nach diesen Kriterien ges?u bert wurde bzw. in diesen dargestellt werden konnte. Bei der Schilde
rung der Feiertage wird dies besonders deutlich. Bei allen Feiertagen gab Saur dem Leser eine lutherische Kritik an der Feiertagspraxis der r?mischen Kirche mit auf den Weg und wies ihn auf die richtige Feier
tagspraxis hin. Auch hierbei liegt die Tendenz zugrunde, zu einer als ur
christlich verstandenen Praxis zur?ckzukehren und die im Laufe der Geschichte eingerissenen Mi?br?uche zu beseitigen. ?ber den Palm
sonntag berichtet Saur gem?? dieser Tendenz: ?Diesen Tag begehet man in der Christlichen Kirchen/ nit wie im Bapstumb/ mit Laruen vnd Narrenwerck/ sondern mit Christlichem singen/ lesen vnd predigen/ darinn man anzeigt die Herrliche Zukunfft vnsers HERRN Jesu Christi/ vnnd we? wir vns zu jm/ als einen sanffm?tigen K?nig/ sitzend auff einem Esel/ vertr?sten/ vnd wie wir vns/ wie di? V?lcklein/ danckbar vnnd dienstlich/ inn seinem Reich/ halten sollen".68) Dies wird dann vom Autor mit der Reformation parallelisiert, eine durchgehend zu be obachtende Tendenz der Protagonisten der Reformation, ihr eigenes
65) Hondorf, Calendarium Historicum (wie Anm. 21), Bl. 55v.
66) Saur, Calendarium historicum (wie Anm. 21), 381; Saur spielt hierbei auf den
sogenannten Pseudo-Udalrich-Brief an, der w?hrend der Reformationszeit durch
Drucke verbreitet worden ist; vgl. hierzu Erwin Frauenknecht, Die Verteidigung der Priesterehe in der Reformzeit. Hannover 1997.
67) Johannes Mathesius, Postilla Oder Ausslegung der Sontags Euangelien ?ber
das gantze jar. N?rnberg 1565, T. 2, B1.39v, in: The Lutheran Reformation (wie Anm. 23), Nr. 243.
68) Saur, Calendarium historicum (wie Anm. 21), 171.
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T. Fuchs, Protestantische Heiligen-memoria 605
Handeln mit der Geschichte Jesu gleichzusetzen: ?Also ist er auch zu vns in Teutschland/ durch geringe/ vnnd vor der Welt verachte Men schen mit seinem heiligen G?ttlichen Wort einkommen vnnd vns sei nen gnedigen willen offenbaret".
Die Parallelisierungstendenz schlo? auch den Referenzhorizont des Urchristentums mit ein. Den Beginn der Kreuzeswoche am 30. April verband unser Autor wieder mit einer heftigen Attacke gegen die r?mi
sche Heiligentheologie: ?Man nennt diese Wochen/ die Creutzwochen/ welche man im Bapstumb gantz mi?brauchet/ dann da tragen sie jhre h?ltzin Creutz vnnd G?tzen von einer Kirchen zu der andern/ mit gros sem vnverst?ndigen Gepl?rr/ vnnd betten an jhre G?tzen/ f?r die Frucht auff dem Felde. Nach solchem lauffen Huren vnd Buben/ M?nch vnnd Pfaffen/ in die Wirtsh?user vnd hinder die Zeune/ schlemmen vnd pras sen/ vnnd thun/ was jhr G?tzendienst von jnen fordert". Die urchrist liche Praxis dagegen wurde dem Leser als positives Gegenst?ck vor
Augen gef?hrt: ?Vorzeiten ist es bey den Christen viel anders gewesen. Dann in der grewlichen Verfolgungen/ haben sie von einer Statt zu der andern m?ssen weichen/ vnd haben/ neben dem heiligen Creutz de? Leidens/ auch ein h?ltzern Creutze vorgetragen/ darmit gezeugt/ da? sie an den gecreutzigten Christum glauben/ vnd haben von hertzen
Gott/ vmb h?lff vnnd erhaltung seiner Kirchen/ angeruffen vnnd gebet ten".69)
Neben der Feiertagspraxis wurde auch die Verehrung heiliger Pa trone durch bestimmte soziale Gruppen bzw. f?r bestimmte Formen der
Lebensbew?ltigung einer heftigen Polemik unterworfen und als aber
gl?ubische Praxis angegriffen. Wurde die hl. Gertrude in ihrer christli chen Lebenspraxis als vorbildhaft vorgestellt, die sich als der im Ge
spr?ch vergewissernde Glaube manifestiere, und daraus eine Norm
christlichen Lebens abgeleitet, so wird die Praxis der Heiligenvereh rung verworfen: ?Sie hat auch mit den Christlichen Frauwen vnd Jung frauwen gute kundschafft gehabt/ vnd hat dieselbige offt besucht/ vnd auch zu sich gefordert/ vnd mit jnen gantz keusche vnd Christliche Ge
sprech gehalten/ wie dan solchs Christlichen Jungfrauwen geb?rt zu thun. Dieser Gerdraut halten die alten Weiber/ da? sie Meu?/ Ratten vnd ander Vngeziffer vertreibet/ so sie angebetten wird".70)
Den Verehrern des hl. Georg als Schutzpatron warfen unsere Auto
69) Ebd. 247.
70) Ebd. 167.
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606 Historische Zeitschrift Band 267 (1998)
ren ganz direkt vor, einen r?misch-heidnischen Kult fortzusetzen:
?Dieser Georgius ist/ vnder Diocletiano/ ein Krieg?man gewest/ vnnd
vnder jhm get?dt worden. Diesen halten die Rittermessigen Reuter
vnnd Krieg?knechte f?r jren Patron/ eben wie die Heyden Martern f?r
jhren Krieg?-Gott angebettet haben".71) In der memoria f?r Urbanus werden beide Tendenzen zu einer w?
sten Polemik gegen die alte Kirche verbunden: ?Dieser Vrbanus ist ein
frommer Christlicher Bischoff zu Rom gewesen/ vmb wahrer Bekannt
nu? Christi willen/ ist er/ vnder M. Antonino, R?mischem Key ser/
vmbbracht worden. An diesem tag/ brauchen die Weinleut das heyd nisch Fest Bacchi. Dann wann S. Vrbanus tag klar vnnd hell ist/ halten
die Abergl?ubigen Leut/ der Wein soll wol gerahten/ Vnnd tragen einen
strohern vnd h?ltzern G?tzen/ mit grossem geschrey/ durch alle Gas
sen/ vnnd fahen an/ von Morgen/ bi? wider Morgen/ zu fressen vnd
sauffen/ damit vermeynen sie ein gl?ckselig Weinjahr von S. Vrbano zu
erlangen. Wenn aber derselbige tag nicht klar vnnd hell ist/ so schleyf fen sie den G?tzen durch alle stinckende Pf?tzen. Wer wolt aber solcher
Abg?tterey vnnd Blindheit nicht lachen".72) Die hier angesprochenen Fehlentwicklungen nach reformatorischer
Sichtweise in der Heiligen-memoria wie Wunderglauben und Reli
quienverehrung wurden nur insofern angegriffen, als sie das solus
Christus zu behindern schienen. An durch Gott vollbrachte Wunder an
seinen Auserw?hlten glaubten diese Autoren prinzipiell. So wird ?ber
die hl. Appolinaris berichtet, sie habe ?durch die krafft Gottes/ viel
Wunderwerck gethan".73) Und selbst f?r die eigene Zeit hielt Saur an
den Wundern Gottes gegen?ber den M?rtyrern fest. Bei der Hinrich
tung englischer M?rtyrer am 16.Juli 1546 habe ?in ihrer Marter [...] Gott/ in den Wolcken/ gro? Wunderwerck h?ren vnd sehen lassen".74)
Problematischer gestaltete sich der Zugang zu den Reliquienwun dern f?r die Lutheraner. Wenn sie nicht kategorisch abgelehnt wurden, indem sie einfach vergessen wurden, wurden sie symbolisch gedeutet.
Hierbei bestand das Problem, da? aufgrund des ad fontes und des ur
christlichen Referenzhorizontes ein Glaubw?rdigkeitsanspruch zumin dest der urchristlich-altkirchlichen Heiligenlegenden formuliert war, der nur schwierig abzulehnen war. Hierbei half eine symbolische Deu
71) Ebd. 235.
72) Ebd. 298.
73) Ebd. 417.
74) Ebd. 422.
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T. Fuchs, Protestantische Heiligen-memoria 607
tung. Bei der Kreuzerhebung wird zwar die Episode um Kaiserin He
lena geschildert, aber daraus folgende Konsequenzen durch eine sym
bolische Deutung sofort entsch?rft: ?Mann schreibet/ da? Helena/ ein
Engell?nderin/ Constantini Magni, de? Keysers/ Mutter/ sey/ au?
Christlichem Eiffer/ gen Jerusalem gezogen/ vnd hab/ mit flei?/ da?
Creutz/ daran vnser Heyland Jesus Christus gehenget ist worden/ ge sucht. Nach vieler M?he/ habe sie/ vnder dreyen Creutzen/ das rechte
gefunden/ mit der Vberschrifft Pilati/ vnnd hab dasselbige/ mit grosser Reuerentz/ erhaben vnd auffgerichtet/ vnd das hinfurt ehrlich zu halten/
hat sie einen Tempel gebauwet [...] Vnnd wiewol es billich/ das man
solche alte Monmumento solt ehrlich halten/ Jedoch soll man diesel
bige nicht zur Abg?tterey gebrauchen/ sonder wir sollen das Creutz/
Leiden vnd Sterben/ vnnd einigen Verdienst vnsers Herren Jesu Christi/
in vnser Hertz erheben/ vnnd vns desselbigen/ inn n?ten/ tr?sten".75)
F?r die Erinnerung an die Heiligen war ihr schriftgem??es Handeln
auf dem Hintergrund lutherischer Fr?mmigkeit von ausschlaggebender
Bedeutung. Dabei besa?en unsere Autoren prinzipiell f?nf M?glichkei ten des Umgangs mit der Heiligentradition: Vergessen, Neusch?pfung,
?bernahme, Traditionskritik und Umdeutung. Das Vergessen betraf vor allem bedeutende mittelalterliche Heilige,
die durch ihre herausragende Stellung in der Kirche sich selbst unm?g lich gemacht hatten.76) Neusch?pfungen von Heiligen wurden in der
martyriologischen Gegengeschichte gefunden ebenso wie im eigenen Zeithorizont, von Jan Hus bis Martin Luther. Besonders die Heiligen der Alten Kirche konnten aufgrund ihres heilsgeschichtlichen Ortes
und der geringen Bedeutung Roms ohne gr??ere Schwierigkeiten in
den protestantischen Heiligenkalendern weitergegeben werden.
Ungleich interessanter sind hier die Umgangsweisen der Umdeutung und Traditionskritik. Die Umdeutung bestimmter heiliger Personen und
ihres Lebens sowie eine entsprechende Neuformulierung ihrer Legende
konnte geradezu absurde Neuinterpretationen nach sich ziehen. Im
Rahmen des lutherischen Geschichtsbildes wurde Bonifatius wie ein
75) Ebd. 507. Hondorf, Calendarium Historicum (wie Anm. 21), B1.70v, diffa
mierte die mit der Kreuzesauffindung und dem Kreuz selbst zusammenh?ngenden
Wundergeschichten und res?mmierte demgem??: ?Wer gerne wil viel l?gen lesen/
neme f?r sich der Papisten Legenda/ da wirdt er eine zimliche notturft finden/ die da
gar artig gedrehet vnd gespicket sein".
76) Beispielsweise P?pste und Kardin?le wie: Innozenz V, Gregor VII. und Petrus
Damiani: Martyrologium Romanum (wie Anm. 64), 249, 206, 73.
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lutherischer Prediger gew?rdigt. Er habe die reine Lehre des Evangeli ums gepredigt, viele Abg?ttereien und falschen Gottesdienst abge schafft und den wahren Gottesdienst aufgerichtet.77) Entgegen der Re
zeptionsgeschichte und dem Bewu?tsein der Zeitgenossen wurde an
Beda Venerabilis als ein Schriftgelehrter und nicht als ein Historiker er
innert: ?Dieser ist ein vortrefflicher/ gelehrter Engell?ndischer Priester
gewesen. Er hat gelebt/ zur zeit Justiniani II. R?mischen Keysers/ im
j?hr Christi 692. Er hat vnzehlich viel inn heiliger G?ttlicher Schrifft
geschrieben. Vnder andern vortrefflichen/ ein B?chlein/ De Natura &
temporibus. Er ist vmb seiner hohen Tugend vnd Kunst willen/ Venera
bilis Beda, das ist/ der Ehrwirdige Beda/ genannt worden. Nachdem er
viel m?he vnd arbeit/ mit lesen/ schreiben vnd predigen/ vollbracht hat/ ist er seliglich/ im 72. Jahr seines alters/ vnnd im 732. Jar Christi/ ge
storben".78)
Der hl. Dominikus wurde von den Autoren der Heiligenkalender zu
einem antiklerikalen Prediger gemacht, seine Ordensgemeinschaft zu
einer Versammlung evangelischer Geistlicher. ?Dieser ist ein Hispa
nier/ von Clararoga b?rtig gewesen. Jn seiner jugend hat er sich zu Va
lent?a, in Gottseligen K?nsten vnnd heiliger Schrifft/ ge?bet. Dieweil er
aber s?he/ da? sich die grossen Canonici, vnnd andere/ de? Predig ampts gar nit annamen/ hat er/ au? Christlichem Eyffer/ jhm ein Gesell schafft versamlet/ durch welche die Lehr de? Euangelij solt au?gebrei tet werden. Daher kompt der Prediger Orden/ welcher ist best?tiget
worden/ vnder Honorio III. Bapst/ im 1220. Jahr Christi".79) Andreas
Hondorf bezeugte Thomas von Aquin ganz traditionell f?r sein theolo
77) Saur, Calendarium historicum (wie Anm. 21), 320. Vgl. Leonhard Krentzheim,
Chronologia, Das ist Gr?ndliche vnd fleissige Jahrrechnung/ Sampt Verzeichnung der f?rnemsten Geschichten/ Verenderungen vnd Zufell/ so sich beyde in Kirchen
vnd WeltRegimenten zugetragen haben/ zu jeder Zeit/ Von anfang der Welt/ bi? auf
vnsere/ Beyde aus heiliger G?ttlicher Schrifft/ vnd andern glaubwirdigen vnd be
werten Historien/ so wol aus dem Calculo Astron?mico genommen/ vnd trewlich
zusammen gezogen. G?rlitz 1577, Bl. 140r: (zum Jahr 716) ?S. Bonifacius. Der
Bapst Gregorius 2. weyhet S. Bonifacium/ der au? Engellandt kam/ zum Ertzbi
schoff zu Meintz/ vnd schicket in in Deutschlandt/ die Bischoffen vnnd Geistligkeit zu reformieren. Sigebert. loan. Auentinus. Dieses ist das 800. Jahr vor D. Martin
Luthern." Hervorzuheben ist hier, da? Bonifatius nicht als Missionar nach Deutsch
land kam, sondern als Reformator.
78) Saur, Calendarium historicum (wie Anm. 21), 299; nach der Druckgeschichte zu schlie?en, wurden von Beda v. a. seine Hymnen, Aristoteleskommentare und die
Kirchengeschichte gelesen; Verzeichnis (wie Anm. 34), Bd. 2, B 1418-1446.
79) Saur, Calendarium historicum (wie Anm. 21), 297.
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gisches Werk die Ehre der Heiligkeit, betonte dabei aber, da? Thomas eben nicht nur ein bedeutender Schriftgelehrter gewesen sei, sondern
auch ein bedeutender Vertreter der Philosophie, obwohl gerade dieser bedeutende Scholastiker den Reformatoren als einer der Hauptschuldi gen an der sophistischen Theologie der Kirche galt.80)
Der kritische Umgang mit der Tradition konnte besonders problema tisch sein, da hiermit auch bedeutende politische Konflikte involviert sein konnten, so der Hinweis in der Legende Papst Sylvesters, da? es
die Konstantinische Schenkung nicht gegeben habe.81) Von enormer
Sprengkraft war die These der Kalender, da? Petrus niemals in Rom
bzw. niemals Papst gewesen sei.82) Diese Frage war in der Reforma
tionszeit heftig umstritten. Johannes Cochlaeus warf Martin Luther vor,
dieser greife mit der Bemerkung, Petrus sei niemals in Rom gewesen,
den Apostel an, als ob er nicht Gottes Freund oder ein Heiliger gewesen sei.83) Cochl?us sah durchaus die Gefahr, da? Petrus dadurch nicht
mehr das Haupt der Kirche sein k?nne und damit auch nicht der Papst. In den Heiligenkalendern wurde als Geschichte Petri nur die Ge schichte der Bibel ?ber ihn berichtet. Damit wurde nicht nur das Fun dament der r?mischen Kirche angegriffen, sondern Petrus wurde ge
m?? reformatorischer Auslegung in die Reihe der Apostel zur?ckge r?ckt und seiner Spitzenstellung beraubt.84)
Heilige und ihre Geschichte wurden nicht nur kritisiert, entmytholo
gisiert und umgedeutet, sondern auch neu geschaffen. Am Beispiel des
s?chsischen Kurf?rsten Johann Friedrichs des ?lteren soll dieser Pro ze? ganz kurz nachgezeichnet werden. In den Heiligenkalendern wurde
der Kurf?rst als standhafter Bekenner des Wortes Gottes in den Katego
rien der Passionsgeschichte verherrlicht: ?Dieser Christliche vnd l?bli che F?rst/ ist geboren/ den 30. Tag Junij im 1503. Jar. Er hat nit allein/ auff vielen gehaltenen Reichstagen/ die wahre Christliche Religion selbst m?ndlich bekannt/ sondern auch dieselbige zu vertheidigen/ (mit
Gottes h?lff) sein Leib/ Leben/ Weib/ Kind/ Land/ vnnd Leut williglich
80) Hondorf, Calendarium historicum (wie Anm. 21), Bl. 38v.
81) Saur, Calendarium historicum (wie Anm. 21), 654.
82) Hondorf, Calendarium Historicum (wie Anm. 21), Bl. 30v.; Saur, Calendarium
historicum (wie Anm. 21), 368.
83) Johannes Cochl?us, Ob St. Peter zu Rom gewesen sei, verdeutscht durch J.
Dietenberger, in: Adolf Laube (Hrsg.), Flugschriften gegen die Reformation
(1518-1524). Berlin 1997, 598-610.
84) So seit der Leipziger Disputation, vgl. Fuchs, Konfession (wie Anm. 10), 173 f.
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dargegeben. Denn im 1546. Jahr/ ist er au?gezogen/ neben anderen Christlichen F?rsten vnd St?nden/ dem Bapst vnnd seiner Gottlosen Gesellschafft zu widerstehen. Dar?ber der l?bliche F?rst grosse gef?hr lichkeit vberstanden. Denn/ nach vielen gef?hrlichkeiten/ ist er bey
M?lberg/ von den Keyserischen/ mit gewaltigen hauffen/ vnversehens/ in dem er inn zuh?runge GOTTES Worts/ vnnd inn seinem Gebett an
d?chtiglich gestanden/ vberfallen/ vnnd sich Ritterlich zu wehren be
weget worden. Jn dem Streit/ auff der Lochischen Heyden hat er sich so Ritterlich gehalten/ da? er sich keinem Spanischen Ruffianer/ sondern einem Teutschen Edelmann/ (Trott genannt) ergeben hat wollen/ Dar umb hat er auff dem lincken Backen eine Wunden empfangen/ vnd ist also verspeyet vnd verspottet/ vor Carolum V. Rom. Keyserl. May. gen
Pistritz/ ein Dorff der Vniversitet Wittenberg zugeh?rig/ wie der HERR Christus vor Pilatum gef?hrt/ vnnd daselbst/ in de? Keysers Gewalt vnnd custodiam zu begeben/ vberantwortet worden. Er ist aber/ nach
5. Jahren seiner Gefengnu?/ wunderbarlich/ wider sein wissen vnd wil len/ erlediget worden/ vnnd widerumb zu seinem Weib/ Kind/ Land vnnd Leuten kommen/ vnnd hat auch/ wie der K?nig Dauid/ aller seiner vornehmsten Feinde vngl?ckseligen vndergang/ vnd Gottes Raach/ an
jnen ge?bet/ erlebet vnd erfahren. Nachdem er sich nun/ mit allen sei nen Freunden/ etlicher Spaltung halben/ vergliechen/ hat er sich vnd sein ziel/ Gott gantz ergeben/ vnd vor seinem ende/ seine junge S?hne/ zu Christlicher Bestendigkeit vnd Redlichkeit/ vermahnet/ Jst darnach/ den 3. Tag Martij/ in Christo seliglich gestorben [. .]"85) Die anderen
Heiligenkalender berichten ganz ?hnlich ?ber den Kurf?rsten.86) Nach Andreas Hondorf begleitete Gott die Freilassung seines Heiligen mit himmlischen Zeichen. Genau zu dieser Stunde soll ein gro?es Unwetter ?ber Wittenberg getobt und der Donner das Elstertor zugeschlagen ha
ben.87) Erasmus Alber verherrlichte den Kurf?rsten in einem fiktiven
Dialog als den von Gott gezeichneten M?rtyrer: ?Luth. Gnediger Herr/ Wo kommen E. G. zu der Wunden vnter E. G. Angesicht/ Vnd wo
schlecht man solche Zeichen? Churf. Je Herr D. zu M?lberg an der Eiben/ in der werden Stad. Luth. Ich mein ir habt sie f?rm T?reken be kommen. Churf. Weder T?reken/ Tatter/ Italianer noch Hispanier/ ha ben mir des jemals angemutet/ sondern Gott vnd das Lutherische Euan
85) Saur, Calendarium historicum (wie Anm. 21), 479.
86) Goltwurm, Kirchen Calender (wie Anm. 61), Bl. 58v.
87) Hondorf, Calendarium Historicum (wie Anm. 21), Bl. 76r.
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T. Fuchs, Protestantische Heiligen-memoria 611
gelium haben mir das Leibzeichen auff die Backen gedruckt. Luth. Ja so ists Christo vnd seinen Christen allen ergangen".88)
Die Standhaftigkeit in der Gefangenschaft begr?ndete demnach vor
allem die Heiligkeit des Kurf?rsten. Schon w?hrend der Gefangen schaft setzte eine Verherrlichungspropaganda f?r den Kurf?rsten ein. Seine S?hne lie?en eine M?nze schlagen, die auf der einen Seite den Kurf?rsten mit blo?em Haupt und der in diesem Zusammenhang so
wichtigen Schramme im Gesicht zeigt mit der Umschrift ?Johan Fride rich Herczoge zu Sachsen". Auf der anderen Seite ist Christus am
Kreuz abgebildet mit der ?u?eren Umschrift ?Wer mich bekend vor den Menschen" und der inneren Umschrift ?Den will ich bekennen vor mei
nen" (Mt 10, 32). In der Mitte steht zu beiden Seiten des Kreuzes ?Va
ter", unter dem Kreuz die Jahreszahl 1548.89) Hierzu geh?rten auch
geistliche Lieder, die Johann Friedrich im Gef?ngnis verfa?t haben soll und sein Gottvertrauen behandeln: ?Wie sein wort lehrt/ so ich das werdt/ mit festem glauben fassen".90)
Gedruckt wurde ein Gebet des Kurf?rsten aus der Zeit der Gefangen schaft.91) Der Titelholzschnitt zeigt den Kurf?rsten sitzend in einem
Raum, wie er auf den Gekreuzigten in den Wolken blickt. In der Hand hallt er ein aufgeschlagenes Buch mit dem Text: ?Ach Hergot hilf aus
der not". Bei diesem Gebet handelt es sich um ein lutherisches Glau bensbekenntnis. Der Gebetsteil kreist um die Hilfe Gottes bei der imi
tatio Christi im Kreuz sowie um die Bitte des Schutzes f?r die von den
Feinden bedrohte Kirche. Der Kurf?rst sieht sich dabei selbst am Kreuz
und bittet Gott um Rettung, wie dieser Daniel aus der L?wengrube er
rettet habe.92)
88) [Erasmus Alber,] Die grosse Wolthat/ So vnser Herre Gott/ durch den Thewren
Propheten/ D. Martinum Luther/ in der Graff schafft Mansfeld geboren/ der Welt er
zeiget/ Vnd den R?mischen Widerchrist geoffenbaret. O.O. [kurz nach 1546], in:
Flugschriften des sp?teren 16. Jahrhunderts (wie Anm. 7), Fiche 159, Nr. 315.
89) Schlegel, Biblia in Nummis (wie Anm. 42), 317.
90) Zwey sch?ne Newe Lieder/ de? frommen Johansen Friderichen von Sachsen/
welche er in seiner Gefengknu? gedichtet hat. O.O. o.J., in: Paul Hohenemser,
Flugschriftensammlung Gustav Freytag. Frankfurt am Main 1925, Nr. 4269. 91
) Ein christlich Gebet/ Not/ vnd anfechtung/ des Durchleuchtigen/ hochgebornen F?rsten vnd Herren/ Herrn Johanns Friderichen des Eltern/ Hertzogen zu Sachsen/
Landtgrauen in D?ringen/ vnd Marggrauen zu Meyssen/ etc. in seiner F. G. Cu
stodia/ zur Newstat/ Acht meyl vnter Wienn in Osterreich gemacht. N?rnberg 1568, in: ebd. Nr. 3730.
92) Ebd. Bl. A3v.
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612 Historische Zeitschrift Band 267 (1998)
Kaspar Aquila nahm die Figur des Daniel in einer schon 1547 ge druckten Trostschrift f?r den gefangenen Kurf?rsten ebenfalls auf.
Viele heilige M?nner in der Bibel wie Joseph und Daniel mu?ten das
Gef?ngnis um des Glaubens willen ertragen.93) Wurde hier Johann Friedrich schon mit den Heiligen verglichen, so in der weiteren Propa ganda mit Jesus Christus gleichgesetzt, wie wir es vorhin bei Abraham Saur gesehen haben. In Liedern gegen Herzog Moritz, den ?Judas von
Mei?en", wurde der fromme Kurf?rst wie Christus verraten und ver
kauft.94) Dieses Bild kehrt in mehreren Passionsspielen wieder, der Kurf?rst fungiert als Christus, die Papisten als Volk, Moritz als Judas, der Kaiser als Pilatus usw.95)
In den Leichenpredigten und Sterbeberichten f?r den Kurf?rsten ist Johann Friedrich dann der heilige Mann Gottes. In dem Bericht ?ber die letzten Stunden des Herzogs von Johann Stigel befindet sich auf dem Titelblatt als Motto Psalm 116, 15: Der Tod seiner Heiligen ist
wert gehalten vor dem Herrn.96) Johann Friedrich starb wie ein alttesta
mentlicher Patriarch im Kreise seiner S?hne, nachdem er alle wichtigen Gesch?fte erledigt hatte, in inst?ndigem Gebet. Stigel schlie?t in dem
Bewu?tsein, da? der M?rtyrer Gottes nun bei Gott sei: ?Also ist der hohe thewre F?rst/ Bekenner vnd Marterer Jhesu Christi/ in bu?ferti
gem glauben/ bekendtnu? vnd anruffunge seines vnd aller glaubigen Heilands vnnd Seligmachers Jhesu Christi/ welchen er f?r aller Welt/ wider alle anfechtunge/ die zunennen vnd au?zusprechen sind/ beken
net vnd bezeuget/ r?gigklich/ vnnd seligklich entschlaffen/ durch den Todt ins ewige Leben/ herrligkeyt vnnd seligkeyt hindurch gedrun
93) Kaspar Aquila, Eine christliche trostschrifft/ An den Churf?rsten zu Sachsen/
Hertzog Johans Friderichen/etc. Erfurt 1547, in: Hohenemser, Flugschriftensamm
lung (wie Anm. 90), Nr. 3534.
94) Rochus von Liliencron, Die historischen Volkslieder der Deutschen vom 13. bis
16. Jahrhundert. Bd. 4. Leipzig 1869, 466.
95) Richard Doebner, Ein Passionsspiel auf Kurf?rst Johann Friedrich den Gross
m?thigen, in: NArchS?chsG 3, 1882, 215-222. Bei der von Doebner gedruckten handschriftlichen Fassung handelt es sich aber nur um eine leicht abweichende Va
riante des Drucks: Passion des Gottforchtigen Johan Friderichs zu Sachsen. O.O.
1553, in: Verzeichnis (wie Anm.34), Bd. 15, P893.
96) [Johann Stigel,] Warhafftiger Bericht wie der Durchleuchtigst F?rst/ vnd
thewre Gottes Man/ Hertzog Johans Friderich/ der elter/ Hertzog in Sachsen vnnd
geborner Churf?rst/ etc. von dieser Welt abgeschieden. O.O. 1554, in: Hohenemser,
Flugschriftensammlung (wie Anm. 90), Nr. 3657.
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T. Fuchs, Protestantische Heiligen-memoria 613
gen".97) Auch in der Leichenpredigt von Johann Stoltz wurde der Kur
f?rst als leidender Nachfolger Christi vorgestellt: ?Wie denn auch seine
Bestendigkeit der Bekentnis des Euangelij so rein vnd gros gewesen ist/
das nicht allein die gantze Christenheit ein herrlich vnd tr?stlich Exem
pel vnd Spiegel daran gehabt/ Sondern auch die Feinde des Euangelij/ sich selbs darob entsatzt haben. Denn er sich weder durch grosse Ver
heissunge/ noch durch schreckliche Drewunge/ weder durch den den
grossen Abfal des Reichs/ noch durch langwirige Gefengnis von der
bekanten warheit des Euangelij hat abschrecken lassen. Sondern seinen
lieben Heiland vnd Erl?ser Christum den Herrn/ rein behalten/ vnd in
durch kein falsche Lere beflecken lassen. Kein Interim annemen/ in
kein papistisch Concilium willigen. Die Religions sachen keiner Crea
tur vnterworffen/ oder menschlicher Ordnung in Gottes sachen zugele
ben/ zusagen/ wollen/ Vnangesehen/ das grosse fahr des lebens/ oder
ewige Gefengnis drauff st?nde/ vnd da zu fast das gantze Reich auff
einmal dahin fiel/ In ein Interim vnd Bepstisch Concilium willigte/ vnd
damit das liebe Euangelium verleugnete".98) H?tte er dagegen nur ein
wenig nachgegeben, w?re er schnell aus der Haft entlassen worden, und
es w?re ihm gro?e Ehre, Gnade und Gunst widerfahren. Abschlie?end
kanonisierte Stoltz die memoria f?r den Kurf?rsten als Beispiel wahren
christlichen Lebens: ?Solch Exempel der Verfolgung/ Bestendigkeit/ vnd Erl?sung wird bey der Christenheit/ so lang die Welt stehet/ ia zu
ewigen zeiten nicht vergessen werden. Es sol vns auch dazu dienen/ das
wir Gottes Wort fleissig h?ren vnd lernen. Gott vmb beystand vnd be
stendigkeit bitten/ auch etwan wagen vnd leiden lernen vmb der War
heit willen/ vnd seiner h?lff vnd trosts erwarten/ Weil wir an vnserm
Heubt des alles ein solchen herrlichen Spiegel vnd F?rbild haben".99) Alle diese in der Propaganda sich vorfindenden Motive kehren in den
Berichten ?ber den Kurf?rsten in den Heiligenkalendern wieder.
Die Heiligenkalender, dies seien einige abschlie?ende Bemerkun
gen, wollten den Menschen vorbildhaftes, weil schriftgem??es und da
mit gottgef?lliges Handeln vorstellen. Aus dieser Darstellung wurden
dann Normhorizonte abgeleitet. So wurde der hl. Briktius zum Bischof
97) [Stigel,] Warhafftiger Bericht (wie Anm.96), Bl. B1 v.
98) Nikolaus von Amsdorf/Johann Stoltz, Vier Trostpredigten vber den Leichen des
Churf?rsten zu Sachsen/ Hertzogen Johans Friderichen etc. vnd seiner Gemahel
Hertzogin Sibilla/ geborne zu J?lich vnd Cleue etc. O.O. 1554, in: Hohenemser,
Flugschriftensammlung (wie Anm. 90), Nr. 3647.
99) Ebd. Bl. L3v/L4r.
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614 Historische Zeitschrift Band 267 (1998)
von Tours wegen seines christlichen Lebenswandels gew?hlt und sein Amt bestand vornehmlich in Predigen und Lehren: ?Dieser Brictius/
wollen etliche/ sey obgemeldetes S. Martini Turinensis Sohn gewesen. Er ist aber zu einem Thurinensischen Bischoff/ vmb seines Christlichen
Lebens willen/ nach absterben S. Martini/ erwehlet vnnd angenommen worden/ welcher auch die Kirch Christlich vnnd wol/ eine Zeitlang/ mit
trewlichem lehren vnnd predigen/ versehen vnnd regiert hat".100) In Abstraktion besteht das Besondere dieser Heiligenkalender darin, da? ihr Referenzhorizont zumindest teilweise die kirchliche Tradition bil dete. Entgegen der sonst zu beobachtenden Tendenz innerhalb der reformatorischen Bewegung, sei es in Exegese, Geschichte oder Theo
logie, die Kirchentradition zu vergessen und formal zum Referenzhori zont der Bibel und des Urchristentums zur?ckzukehren, stellten die
Heiligenkalender den Versuch dar, die Tradition der Kirche f?r die re
formatorische Bewegung und eine traditionale Identit?tsstiftung in der Zeit der Verfestigung dieser Bewegung herbeizuf?hren.
Zusammenfassung
Der Aufsatz rekonstruiert zwei Formen der historischen Legitimie rung der aus der reformatorischen Bewegung hervorgegangenen Ge
meinschaften gegen den Vorwurf der Altgl?ubigen, vom alten und wah ren Glauben abgewichen zu sein. Dieser Polemik setzten lutherische
wie auch reformierte Autoren zwei Geschichtskonzepte entgegen, die
mit den Begriffen ,Gegengeschichte' und ,Eigengeschichte' bezeichnet und gedeutet werden k?nnen. Mit dem ersten Konzept behaupteten die
Neugl?ubigen eine wahrhaft christliche, dem apostolischen Ideal ver
pflichtete Gegenkirche in der Geschichte, die von der Papstkirche un
terdr?ckt worden sei. Die Geschichte dieser wahren Kirche manife
stiere sich in den M?rtyrern des wahren Glaubens, die im christlichen
Abendland von den P?psten verfolgt worden seien. In dem zweiten
Konzept versuchten die Autoren protestantischer Heiligenkalender, die Geschichte der Kirche als ihre eigene Geschichte zu vereinnahmen.
Diese protestantische Eigengeschichte s?uberte die Heiligentradition nach bestimmten theologischen Grunds?tzen und stellte sie als zur
eigenen Vergangenheit geh?rend dar.
10?) Saur, Calendarium historicum (wie Anm. 21), 596.
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