PROVINZ - OPUS 4...Eine erste Sammlung 143 Neue Einteilung 145 Konzentration auf die Einheimischen...

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Ein Portrait über die Uckermark Diplomarbeit Maxi Albrecht Juni 2009 PROVINZ PROVINZ – Ein Portrait über die Uckermark Diplomarbeit von Maxi Albrecht

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  • Ein Portrait über die Uckermark

    DiplomarbeitMaxi AlbrechtJuni 2009

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    P R O V I N ZEin Portrait über die Uckermark

    DiplomarbeitMaxi AlbrechtJuni 2009

    Betreuende Professoren:Prof. Jutta SimsonFrank Gottsmann

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    Toren bereisen in fremden Ländern die Museen, Weise gehen in die Tavernen.

    Erich Kästner

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    R E I S E N

    R E I S E T Y P E N16 Die ersten Zeugen – Entdecker der Frühzeit 16 Marco Polo, Johann von Mandeville und Columbus – Reisen bedeutet Abenteurer zu sein 18 Johann Wolfgang von Goethe – Bildungshunger stillen 19 Johann Gott-fried Seumes – Politisches Reisen 19 Alexander von Humboldt – For-schungsreisen 20 Don Quijote und Faust – Abenteuerliches Reisen 20 Pilgerfahrer – Religiöses Reisen 21 Fazit

    R E I S E E M P F I N D E N

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    V O R W E G9 Motivation 10 Vorhaben 11 Ziel

    R E I S E N H E U T E22 Der moderne Reisende 22 Extremreisen 22 Zurück zur Natur 23 Wanderungen 24 Das Nahe rückt näher 24 Die Strecke ist kein Hin-dernis mehr 25 Die Orientierung schwindet 25 Digitales Zeitalter 26 Bilderfl ut 27 Japanische Touristen 29 Souvenirs 29 Privileg der Rei-chen 30 Hippibewegung 31 Das Automobil 31 Fahrende Völker 32 Das Berggefühl 32 Das Glück unterwegs fi nden 33 Herz los reisen 34 Das Wahre sehen 35 Befangenheit 35 Lesendes Reisen 35 Virtuelles Reisen 37 Fazit

    R E I S E F Ü H R E R41 Wozu sie dienen 42 Nomadenzeit 42 Um das Jahr Null 42 Mit-telalter 44 16. Jahrhundert 46 17. Jahrhundert 48 18. Jahrhundert 56 19. Jahrhundert 62 Zeitschriften 64 Erster Reiseveranstalter 66 Die Erfi ndung der Fotografi e 68 Erste Fotosammlung von der Welt 70 Erste tragbare Kamera 72 Erster Reiseführer 74 Erste komplette Reise zeitschrift 76 Fazit

    R E I S E F Ü H R E R H E U T E79 Eine Analyse zur Zeit bestehender Reiseführer 80 Preiswerte Rei-seführer 82 Reiseführer für unterwegs 84 Reiseführer mit einer über-

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    U C K E R M A R K137 Das Provinzielle an der Uckermark 138 Meine Vorgehensweise 141 Eine erste Sammlung 143 Neue Einteilung 145 Konzentration auf die Einheimischen 148 Interviewform 149 Die Geschichten 150 Die Re-daktion 150 Die Gestaltung 150 Kleine Landkarten 151 Die Farben 152 Bildmaterial – Fotos 153 Bildmaterial – Zeichnungen 155 Die Schrift 158 Das Format 158 Das Papier 159 Das Raster 160 Der Name 161 Der Titel 164 Die Erscheinung 164 Der Preis 165 Der Aufbau 170 Der Umschlag 172 Ausgabe 2 174 Ausgabe 3 176 Fazit

    Z U L E T Z T178 Schlusswort 183 Quellenverzeichnis 190 Danksagung 191 Eides-stattliche Erklärung

    D E F I N I T I O N P R O V I N Z121 Ein Versuch der Defi nition 122 Die Gemeinschaft 123 Die Vereine 124 Die Heimatpresse 125 Die Bodenständigkeit 125 Der Konsum 127 Die Zugezogenen 128 Die Modernität 128 Die Arbeit 129 Die Klischees 129 Der Reiz an der Einsamkeit 130 Der Reiz an der Schönheit 131 Das Verwilderte ist schön 132 Landschaft symbolisiert Gesundheit 132 Ge-pfl egte Anlagen 133 Schönheit im Sinne des Betrachters 134 Fazit

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    P R O V I N Z

    M E I N E A R B E I T

    sichtlichen Landkarte 86 Reiseführer mit vorgefertigten Touren 88 Reiseführer mit einem Überthema 90 Literarische Reiseführer 92 In-formative Reiseführer 94 Bilderbuch-Reiseführer 96 Reiseführer in Magazinform 98 Reise-Sonderausgaben 100 Internetseiten als Reise-informationslieferant 102 Reisetagebücher 104 Reisebeschreibungen aus Sicht der Einwohner 106 Magazine mit Reiserubriken 108 Son-derreihen mit Überthema 110 Freie, illustrative Reiseführer 112 Reise-Hörbücher 114 Fazit

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    MotivationLetztens zeigte mir ein Freund seine Zeichnungen, die er auf seiner Pilgerung nach Santiago de Compostella festgehalten hatte. Er würde das auf jeder Reise so machen, erzählte er mir, sich hinsetzen und zeichnen. Sein Skizzenbuch war gefüllt mit Zeichnungen von Weg-strecken, Personen, Unterkünften, typischen Situationen, die er da erlebt hatte. Ich war fasziniert von dem Anblick, von den Zeichnungen gerade auch auf dem Naturpapier, von den verschiedenen Techniken – mal verwendete er Bleistift, Buntstift, dann wieder Kohle. Dieses Buch lebte förmlich von diesen Zeichnungen, die er mit seinen Tagebuchauf-zeichnungen zusammenbrachte. Eine tolle Reiseerinnerung.

    Bei mir wurde sofort eine Reisesehnsucht geweckt, die viel stärker war, als sie jemals bei mir durch herkömmliche Reiseführer ausgelöst wurde. Ich fragte mich woran das liegt.

    Aus den herkömmlichen Reiseführern kennt man nur die übertrieben romantischen Fotos, die meistens mit der Realität nichts zu tun hatten. Das Authentische an dieser Reiseaufzeichnung meines Freundes war es, das mich so faszinierte, das mich innehalten ließ und geduldig blättern und schauen.

    Mich überkam sofort ein Fern weh, ich wollte selbst auf Reisen gehen und das mit meiner langjährigen Leidenschaft des Zeichnens verbin-den. Ich wollte schauen, wie man am besten einen Eindruck einer Reise zum Ausdruck bringen kann, wie man ihn konservieren kann. Wie man ein Portrait einer Gegend so darstellen kann, dass man es schafft andere Menschen dafür zu begeistern selbst hinzufahren. Den Anlass des Diploms fand ich dafür als geeignet.

    Ich wollte mich mit dem Thema Reiseführer näher auseinandersetzen. Dieses Thema reizte mich sehr. Schließlich hatte ich schon einige Erfahrungen mit Reiseführern auf meinen Reisen gemacht. Diese konnte ich mit einbringen und mich so dem Thema nähern.

    V O R W E G

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    VorhabenMein Entschluss, ein Portrait einer Gegend anzufertigen um mit diesem Portrait wie ein Reiseführer zu agieren, stand also fest. Ich brauchte nur noch eine Gegend, die ich portraitieren wollte.

    Dabei war mein erster Gedanke gleich bei der Uckermark. Eine Gegend, die gegensätzlicher zu Berlin nicht sein könnte.

    Hier in Berlin überkommt mich manchmal ein Gefühl, dass ich von der Hektik des Alltags verschlungen werde, dass mich hier im Zentrum zu viele Menschen umgeben, und dass ich einfach auch abgelenkt werde von ihnen. Ich wollte raus aus Berlin.

    Ich wollte in eine Gegend, wo ich durchatmen konnte und in der ich mich wohlfühlte. Wo ich das einfache Leben spüre, das Ursprüngliche und Bodenständige. Es reizte mich dieses Unkünstliche kennenzulernen. Ich entschied mich für das Überthema Provinz. Ich verbinde mit ihr schließlich diese Eigenschaften. Der Gegensatz zwischen Metropole und Provinz war dabei sehr anregend.

    Die Uckermark ist der dünnstbesiedelste Landkreis Deutschlands und zählt zu den Provinzen, die von den Touristen eher gemieden werden. Grund genug mich diesem Gebiet zu widmen und den Leuten zu zeigen, dass dieses Gebiet sehenswert ist.

    Die Uckermark liegt vor den Toren von Berlin, also in meiner direkten Nachbarschaft, trotzdem war ich erst einmal da. Mich interessierte vor allem ein Gebiet, was ich vorher noch nicht kannte, was ich wirklich neu entdecken musste. Ich wollte ein Portrait einer Gegend schaffen, an das ich frisch und unvoreingenommen rangehen konnte.

    ZielMein Ziel ist es, den Menschen ein generelles Gefühl für Provinzen zu geben. Ihnen zu zeigen, dass da nicht nur Klischees beheimatet sind, sondern dass da Menschen wie du und ich wohnen. Ich möchte die Vorurteile beiseite räumen und ein authentisches Bild zeigen.

    Ich möchte vor allem den gestressten beschleunigten Großstadtmen-schen ansprechen, der diese schönen Gegenden vor der Tür hat, sie aber nicht kennt oder aus den Vorurteilen heraus meidet.

    Ich möchte mit meinem Endprodukt, das die Eigenschaften eines Reiseführers haben soll, Menschen in die Uckermark führen. Ich möchte ihnen ein Bild von der Uckermark geben, das sie dazu bringt, selbst einmal dahin zu fahren. Ich möchte die Reisesehnsucht in ihnen wecken.

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    Jede Reise beginnt mit dem Träumen, der Neugier vor dem noch Fremden. Wir werden Zeugen der Welt, wir sehen sie und nehmen an ihr teil. Sie zieht uns in ihren Bann, bis unsere Neugierde befriedigt ist und uns fasziniert hat. Eine Reise bringt uns zum Staunen, verführt uns, überrascht uns.

    Früher fi ng Reisen auch mit Neugier an, man wollte Gebiete erschlie-ßen, Neues kennenlernen, von dem Gesehenen Kunde tun und somit die Welt verbinden, globalisieren. Reisen ist eine jahrtausendealte Geschichte von der räumlichen und terrestrischen Ausweitung der Welt. Es existierten seit Menschengedenken Vorstellungen von der unentdeckten Welt. Man konnte sie sich nur in Gedanken ausmalen, sich vorstellen wie es im himmlischen Jerusalem ist, von dem die Bibel berichtet, oder das „Reich der Mitte“, von dem so allerhand Sagen existierten. Getrieben von der Neugier, diese Gebiete selbst zu entdecken, gingen viele mutige Abenteurer auf Reisen.

    Heute sind die klassischen Ziele eher Mallorca, die Karibik, Thailand oder Florida. Die Ziele der schnellen Welt. In der globalen, faktisch bekannten Welt ist der Traum vom Paradies mehr denn je ein Wunsch-bild, eine Projektion. Gerade weil die Paradiese entdeckt sind, müssen wir uns „neue“ suchen, oder schaffen. Das allgemeine Reisen in der modernen, beschleunigten Welt gaugelt uns vor, dass man jedes Land bereisen kann. Objektiv gibt es ja heute auch nichts mehr zu entde-cken, subjektiv noch alles.

    Um sich der heutigen Reisephilosophie nähern zu können, muss man einen Blick in die Apodemik, die Geschichte des Reisens, werfen, auf die Globalisierer, die uns die ersten Bilder von der Welt brachten bis zu den „modernen“ Pionieren. Schließlich gibt es sehr unterschiedli-che Arten zu Reisen. Im Nachfolgenden werden diese Reisetypen vorgestellt.

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    Die ersten Zeugen – Entdecker der Frühzeit Marco Polo, Columbus, Magellan, Vasco da Gama oder James Cook gel ten als die Urfahrer. Sie haben uns nach Ostasien, Amerika, Afrika und in die Südsee geführt. Jedoch ist Geschichte immer nur das, was uns überliefert ist. So sind die bekannten Helden des Reisens tatsäch-lich nicht die ersten Reisenden.

    Der in der Tat erste Globalisierer und uns bekannte Geschichtsschrei-ber ist der Grieche Herodotos von Halikarnossos. Sein Geschichtswerk erfasst die Zeit vor 2.500 Jahren. Er analysierte die Welt zur damaligen Zeit geografi sch und kulturell. Er widmete sich der Kriegsführung,den Sprachen und Sitten der Griechen, Persern und Ägyptern. Sein Geschichts werk ist einem Reisebericht schon ziemlich ähnlich. Er gilt als erster, der das Unbekannte erschlossen hat, indem er über den Horizont der damaligen Welt geschaut hat, ganz unabhängig davon, ob die Welt eine Scheibe oder eine Kugel ist.

    Griechenland galt als das Zentrum der Welt, doch Herodot brachte uns Kunde von der „anderen“ Welt von damals z. B. aus Sizilien, Ägypten (Alexandrien), Phönizien, Libyen und natürlich aus Persien. Er stützte sich darüber hinaus auf Erzählungen von deren Nachbarn und wiederum von deren Nachbarn. So reichte seine Erkenntniswelt bis in die entlegendsten, wirklich fremden Gebiete und Völker. Herodot gilt daher als erster globaler Reisender der westlichen Welt, der nicht ethnozentrisch denkt.

    Polo, Mandeville und Columbus – Reisen bedeutet Abenteurer zu seinErst 1.700 Jahre später brachte der Venezianer Marco Polo den geradezu utopischen Mut auf, die Welt erstmals transkontinental zu erfahren. In Von Venedig nach China beschreibt er seinen Weg bis an den Hof des legendären Mongolenherrschers Kublai Khan. Er zählte in dieser Zeit als der mächtigste Mann der Welt. Marco Polo weilte siebzehn Jahre

    lang in seinem Reich und kam da in den Genuss als erster Europäer Seide anzufassen und von der Mystik des Ostens zu erfahren, abseits vom christlichen Glauben. Es wird jedoch häufi g vergessen, dass seine Reisemotive nicht ohne Machtinteressen waren. Immerhin steht er für die Erschließung neuer Horizonte und erster „Völkerkunde“. Seine Berichte basieren auf Geschichten und Erzählungen, oftmals weiss man nicht, ob sie wahr oder fi ktiv sind. In seinen Aufzeichnungen fehlt beispiels weise jeglicher Hinweis auf die unübersehbare Große Mauer.

    Ein anderer Globalisierer ist Johann von Mandeville. Sein Interesse galt dem Bewusstsein, fremden Völkern gegenüber auf seinen Reisen mit Toleranz zu begegnen. Er möchte die Welt erfassen, ohne sie zugleich vereinnahmen zu wollen. Gewiss war er spirituell beseelt davon, den christlichen Glauben in die Welt zu tragen. Er schwärmte von Jerusalem. Jedoch stand sein Staunen über die Inder, Afrikaner, Südseeinsulaner für höchsten Respekt. Dabei spielt keine Rolle, dass man ihm nachsagt, mehr noch als Marco Polo, dass er seine Reisen nicht selbst unternommen haben soll. Sein Reisebuch Von seltsamen Ländern und wunderlichen Völkern von 1356 ist wegweisend für unver-einnahmendes, interkulturelles, entdeckendes Reisen. Vielleicht ist es ein erster systematischer Reisebericht überhaupt.

    Auch Columbus hatte diesen Reisebericht gelesen und auf seinen Reisen mitgeführt. Die Berichte von Marco Polo und Johann von Mandeville schildern Columbus ein Indien, was für ihn zum Zauberwort für das irdische Paradies geworden ist. Das Land steht für eine un -bekannte reiche Welt und allein ihr Betreten ist der goldene Schlüssel zum Paradies. Columbus‘ Bordbuch klingt wie ein nüchterner, völlig am Ziel orientierter Sachbericht und Erfolgsdokument für den spani-schen Hof. Er ist aber auch Protokoll seines Tagtraums. Der wahre Ruhm liegt im Verwirklichen die ses Traums und im Abfahren ins völlig Unbekannte, das Überfahren der psychologischen Schwelle. Columbus und später auch Magellan sind Symbol für die Fahrt in das offene

    R E I S E T Y P E N

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    Nirgendwo. Das ist der Kernpunkt von Entdeckungsfahrten, hier treffen sich Reisen und Abenteuer.

    Johann Wolfgang von Goethe – Bildungshunger stillenDas Ideal der modernen Bildungsreise fi ndet ihren Ursprung in Goethes klassischem Werk Die italienische Reise von 1786. Goethe fi ndet auf seiner Italienreise nicht nur seine Liebe zur Natur bestätigt, son dern kann auch dem Reiz an der antiken Kunst nachgeben. Er sieht darin eine Bereicherung der Persönlichkeit, frei von den Zwän-gen des Berufslebens, in der man sich entfalten und entwickeln kann. Eine Bildungsreise, die nicht nur dem Kennenlernen der Sehenswür-digkeiten gewidmet ist, sondern vor allem der Selbstfi ndung dienen soll, der Kultivierung der Reisenden. Er war der Meinung, dass Kunst- und Natur s tudium der Persönlichkeitsbildung dienen, der Vervollkomm nung des Ichs.

    So wurde Italien zu einer doppelsinnigen Reisesehnsucht für Goethe, als Muße und der Befriedigung des Bildungshungers: „Die Hauptab-sicht meiner Reise war: mich von den phisisch moralischen Übeln zu heilen die mich in Deutschland quälten und mich zuletzt unbrauchbar machten; sodann den heißen Durst nach wahrer Kunst zu stillen ...“ 1

    Goethes Italienische Reise ist eine Geschichte des refl exiven Verweilens, des Studierens, der Bildung und der gelebten Muße. Es ist zugleich der erste Aufbruch eines hochrangigen Gelehrten, der sich allmählich den aufklärerischen Gedanken entzog.

    Die Italienische Reise ist Prototyp für den Kunst- und Bildungscharakter des Reisens: Man wollte Michelangelo, Raffael, Tizian selbst sehen, die Geschichte des Alten Europa erfassen. Für diese Art von Reisen zur Goethezeit war ein auf geklärter Geist die Voraussetzung und damit natürlich Eliten vorbehalten.

    Johann Gottfried Seumes – Politisches Reisen Ein zweites markantes Zeichen für das bewusste Sehen der Welt setzte Johann Gottfried Seume mit seinem Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802. Im Gegensatz zu Goethe, der in Italien das Ideal der Antike wieder aufl eben lassen wollte, zeigte er eine Art Gegenbildungs- reise zu Goethe. Er suchte nicht nach dem Perfekten son dern den unmittelbaren Zugang zur italienischen Lebens wirkl ichkeit.

    Es ist ein Weg zu Fuß, bei dem der aufgeklärte Spaziergänger zum politischen Akteur und Menschenrechtler wird. Er setzt sich außerdem kritisch mit den sozialen Aspekten auseinaner. Er machte die katho-lische Kirche für das vorherrschende Elend zur Umbruchzeit der Französischen Revolution verantwortlich.

    Er ist vom „Lustwandler“ im Mittelalter zum „denkenden“ Geher geworden, wo er sich in ein bewusstes Verhältnis zur Landschaft und zu den Menschen stellt. Seume kam zu Hause als glücklicher Mensch an, in einem anderen Sinne als Goethe, nämlich mit ergangenen Erfahrungen, mit der Spannung zwischen Bewegung und Verweilen. Denn, so Seumes: „Wer geht, sieht im Durchschnitt anthropologisch und kosmisch mehr als wer fährt.“. 2

    Alexander von Humboldt – ForschungsreisenAn Alexander von Humboldt lassen sich heute noch gern Generatio-nen von Anthrophologen, Geographen und Botaniker messen. Er hatte das Auge fürs Ganze, mit dem Blick auf das Kosmische. Sein For-schergeist steht für eine verantwortungsvolle Einstellung im Umgang mit der Natur, die ihm nie nur Quelle der Erkenntnis, sondern auch Quelle des Schönen, des Erhabenen und der Moral war.

    Humboldts große Forschungsarbeiten sind nicht nur wissenschaftliche Erstentdeckungen sondern auch große, lite rarisch beeindruckende

    2 Johann Gottfried Seume, Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802, S. 81 Johann Wolfgang von Goethe an Herzog Carl August (1788), S. 659

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    Man ging aber nicht nur für den Zweck der eigenen Erkenntnis auf Reisen, sondern um ein christliches Gebot in die Tat umzusetzen. Die Pilgerfahrt ist eine Art Initiation um als vollwertiges Mitglied anerkannt zu werden, aber auch ein Zeichen der Ergebenheit. Die Duldung der körperlichen Strapazen war ein Beweis für die Glaubensfestigkeit.

    Die Pilgerfahrt geht darauf zurück, dass die übernatürlichen Mächte ihre Kraft an bestimmten Orten besonders stark entfalten. Diese Kräfte wollte man selbst erleben, man wollte Gott ganz nah sein. Also machte man sich auf den Weg, diese Kräfte zu fi nden.

    FazitHeute fi ndet man sicherlich aus allen Reisemotiven etwas in jedem. Das eine Motiv ist bei dem einen stärker ausgeprägt als bei dem anderen. Trotzallem überwiegt in unserer heutigen Gesellschaft das Reisemotiv der Erholung und der Krafttankung.

    Die Leute möchten am Strand liegen oder einen Wellness-Urlaub machen. Oder sie sind aktiv mit dem Fahrrad unterwegs, um sich fi t zu halten. Neben allen kulturellen und unterhaltsamen Absichten, für die man auf Reisen geht, steht der Erholungs-Faktor meiner Meinung nach weit oben. Es gibt natürlich auch Tourisiten, auf die das nicht zutrifft. Sie reisen um etwas zu erleben, um andere Kulturen kennen-zulernen oder einfach Spaß zu haben.

    In unserer beschleunigten Gesellschaft denke ich aber, dass wir uns vor allem in unserer Freizeit erholen wollen. Dazu muss man gar nicht weit weg fahren. Doch das wissen die meisten Reisenden nicht. Sie legen eher merkwürdige Reise-Phänomene an den Tag, die ich auf den nächsten Seiten vorstellen möchte.

    Reiseberichte, worin auch die Freundschaft zu seinem Lehrer in der Kunst des Reisens, Georg Forster, dem großen Reiseschriftsteller und Chronisten von James Cook, be grün det ist. Und selten hat jemand das vorgelebt, was Immanuel Kant einmal sagte: „es ist nichts, was den geschulten Verstand mehr kultiviert und bildet, als Geographie.“ 3

    Don Quijote und Faust – Abenteuerliches ReisenEin rastloser Tagträumer und ein unbeirrbarer Fantast des aben teu er-lichen Rittertums ist Cervantes‘ Don Quijote. Er ver kör pert zwei Reisety-pen: zum einen den, des nach Illusionen des kurz zeitigen Genießens schmachtenden modernen Reisenden, der entgegen aller Vernunft seinen Weg geht, sowie den nach Er kennt nis dürstenden modernen Vagabunden, dessen un be irr bares Ziel, die Erfahrung der Welt, zugleich der Weg ist.

    Für das Streben nach Erkenntnis und den überirdischen Erfahrungen, sowie der Unterschiede zwischen irdischem Dasein und spiritueller Welt, steht auch Goethes Faust. „Mut zu unbekannten Meeren, tätig-weites Erfahrenwollen, übers Bekannte und Gewesene hinaus“ 4 das einen offen für das wilde Abenteuer macht. So defi niert Ernst Bloch das „faustische Reis emotiv“.

    Pilgerfahrer – Religiöses ReisenDie Hauptform des „unnützen“ Reisens war im christlichen Mittelalter die Pilgerfahrt. Sie war eine Aktivität mit vielen Facetten, wo sich Neugier, Langeweile, Reiselust und auch weniger harmlose weltliche Motive mit dem eigentlichen religiösen Zweck verbanden. Die Pilger-reise wird oft mit der Bildungsreise gleich gestellt. Man war auch hier auf der Suche nach Erkenntnis, was die Welt zusammenhält.

    3 Klaus Kufeld, Reisen – Ansichten und Einsichten, S. 234 Ernst Bloch, Tübinger Einleitung in die Philosophie, Frankfurt am Main 1970, S. 64

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    Der moderne ReisendeAn den klassischen Reisetypen, die eben vorgestellt wurden, kann man das moderne Zeitalter des Reisens nur noch geistig messen. Der Tech-nische Fortschritt, vom Last-Minute-Angebot bis zum Fernfl ug, haben die unvergleichlich besseren, schnelleren und bequemeren Möglich-keiten für das Reisen hervorgebracht. Jedoch sollten wir uns den

    „geistigen Maßstab“ unserer Vorgänger erhalten, weil er uns unsere Verantwortung gegenüber der Welt vor Augen hält.

    Man muss bedenken, dass man sich heute paradiesische Zustände am Reiseort wünscht. Wir kennen diese Ansichten durch die zahllosen Reisekataloge und die Medien. Einst war es der Reiseweg an sich, der die Sehnsuchten erfüllte, heute ist es die Ankunft an einem bestimm-ten Ort, der diese Befriedigung schaffen soll.

    ExtremreisenDas moderne Reisen hat heute eine Art Spezialerlebnis hervorge-bracht, um das Fehlen des „Entdeckens“ zu kompensieren. Ausdruck dafür sind Adventure-Touren, Extrem-Bergsteigen, wagemutige Ballon-fahrten und Weltumsegelungen bis zu Reisen zum Mond.

    Diese Fahrten sind Ausdruck dafür, etwas Besonderes machen zu wollen und wirklich Neues zu entdecken, was andere vielleicht noch nicht gesehen haben. Fakt ist, dass wir heute überall hinfahren können, und uns dabei das Außergewöhnliche fehlt.

    Zurück zur NaturAuf der anderen Seite zeigen sich wieder Formen des Reisens und Urlaubmachens, die zu einem zeitgemäßen „Zurück-zur-Natur“ wollen, wie „Urlaub auf dem Bauernhof“, „Agriturismo“ in Italien oder auch in der Bäderkultur, die heute „Spa“ heißt.

    R E I S E N H E U T E

    Was wir heute mit dem Begriff „Wellness“ wieder entdecken ist eine sehr alte Kultur, die die Römer schon gepfl egt haben und heute auf der ganzen Welt verbreitet ist.

    Zu dieser Wiederentdeckung gehört auch die Empfi ndung der Reise-sehnsucht als Kontrast etwa zum Lebensalltag. Unsere Träume vom Reisen werden zur Sehnsucht. Utopien beginnen sich als Wirklichkeit auszugeben. Gerade die Werbung spielt da eine erhebliche Rolle. Wir begeben uns auf die Reise, wenn die Träume voller Ungeduld keinen Aufschub mehr dulden.

    Meist ist es der unruhige, gehetzte und entbehrende Mensch unserer Zeit, der sich seine Lebensqualität in einem Ruhepol wiederbeschaffen möchte. Er entfl ieht dem Alltag, richtet sich das Leben für eine kalkulierte Frist schön ein, das kann Urlaub sein, oder auch Ort und Zeit für Inspiration. Mit Abstand zum Alltag geht man nicht auf Reisen, sondern man schafft sich ein zweites „Zuhause“, einen Ort für kreati-ves Wirken. Für Theodor Fontane war das zum Beispiel Schottland, in dem er gern durchatmete. Für andere Menschen ist das ihre Garten-laube, wo sie teilweise den Sommer verbringen. Sie tauchen ab in die Parallelwelt zum Alltag und machen es sich dort heimisch, um anzukommen.

    WanderungenWährend sich die einen wieder nur niederlassen und den Alltag gegen eine künstlerische Beschäftigung unter Sonne und Zypressen eintau-schen, gibt es den anderen, bewegten Trend, der dem Unterwegssein verpfl ichtet bleibt – und nicht auf das Verweilen an einem Ort ausge-richtet ist.

    So erfreuen sich Spaziergänge, Wanderungen, Pilgerreisen, Trekkings verstärkt großer Beliebtheit, vielleicht weil der beschleunigte Mensch

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    Der Umgang mit der Reisezeit fällt uns leichter, je langsamer das Verkehrsmittel ist, bis hin zum Gehen. Das hatte Konsequenzen für das Reisen. Das Gefühl für Distanz und Zeit ist nach einem Flug von Berlin nach Sydney gleichsam verloren. Mit dem Verkehrsmittel ändert sich der Charakter des Reisens und mit ihm das Reisegefühl. Es zeigt sich also, dass die Idee des Reisens eine Geschichte der Träume von der Welt ist, und dass die Ziele der Menschen seit jeher die gleichen sind. Jedoch haben sich die Wege dahin verändert.

    Die Orientierung schwindetWir kommen heute einfach an, ohne das wirkliche Reisen kennen zulernen. Der Aufwand, den eine solche Strecke früher ausgemacht hatte, fällt völlig unter den Tisch. Wir kümmern uns kaum noch um Orientierung, lassen uns chauffi eren, wir setzen uns in das Verkehrs-mittel und steigen wieder aus. Und letzten Endes sind wir noch ge-nervt, wenn es nicht dem Anspruch unserer Bequemlichkeit entspricht. Für uns ist Reisen keine Welt der Wege mehr, sondern nur noch Strecke, von der wir nur die Anfangs- und Endpunkte wahrnehmen. Der Weg dazwischen ist verschwunden, in dem wir ihn mit Freizeit, wie lesen oder fernsehen ausfüllen. Der Reisende hat nur noch einen Ablaufplan im Kopf, wann er wo zwischenlandet oder ankommt.

    Digitales ZeitalterDas „digitale Zeitalter“ hat eine Wende für das Reisen mit sich gebracht, nicht immer zugunsten des Reisens. Das schnelle Urlaub-machen unter dem Vorwand der Zeitersparnis wirkt sich auf Kosten unserer Phantasie aus und bringt bei den Menschen einen neuen

    „Reisezeitgeist“ hervor. Wer heute eine Reise buchen möchte, klickt sich in die Website des Reiseveranstalters und macht sich dort ein Vorab-Bild von seinem Ziel. Man muss sich nur vor seiner Entschei-dung bewusst sein, dass diese verschönenden Illusionen nicht immer

    im Unterbewusstsein seinen Kulturverlust spürt. Der Weg ist wieder das Ziel. Der moderne, gestresste und gehetzte Mensch hat ohnehin das ständige Gefühl, etwas zu verpassen. Dabei hat er den Blick für die Schönheit des Unterwegsseins verloren, die zum Innehalten aufruft. Der berühmte Pilgerweg Santiago de Compostella erfreut sich aus diesem Bewusstsein heraus wachsender Besucherzahlen.

    Das Nahe rückt näherAber auch die Nähe tritt dem Fernen in Konkurrenz. Die Menschen sind auf der Suche nach dem bewussten Einlassen auf Landschaften, sogar heimische Landschaften. Sie sehen wieder das Randständige, Vergessene. Immer mehr Radwege werden aus dem Boden gestampft, die dazu einladen sollen, die Umgebung zu erkunden. Das Fahrradfah-ren wird wieder in den Rang einer anerkannten Reise gehoben.

    Auch Axel Hacke hat in seinem Deutschlandalbum einen Blick für das Nahe, uns Umgebende. Erst dadurch entsteht ein authentisches Bild von den Bewohnern.

    Lucius Burckhardt, weist darauf hin, dass wer heute wieder so reist, also aktiv gegen die „Entwertung“ der Strecke arbeitet, anthropholo-gisch und kosmisch mehr sieht. 5

    Die Strecke ist kein Hindernis mehrWenn Lucius Burckhardt von „Entwertung“ spricht, ist gemeint, dass es heute keine große Sache mehr ist, irgendwohin zu kommen. Mit den Errungenschaften des Maschinenzeit alters zu Beginn des 19. Jahr-hunderts, mit der Dampfmaschine, der Eisenbahn, dem Auto oder dem Flug zeug ging die Überwindung der Distanz einher, die mit der Erfi ndung des Internets schließlich gar in der Aufhebung der Strecke mündete.

    5 Klaus Kufeld, Reisen – Ansichten und Einsichten, S. 27

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    der Wahrheit entsprechen. Mit Google-Earth kann man sich sogar bis ins Detail anschauen, wo man landen wird. Binnen Sekunden lässt sich übers Internet in Erfahrung bringen, wie das Wetter am Zielort ist. Das Ferne ist in die Nähe gerückt worden, die Gefühle vermischen sich, die Gedanken gönnen sich schnelle Befriedigung.

    Bilderfl utSchnell befriedigt ist man auch wenn man beachtet, dass die Welt, besonders die Reisewelt der beschleunigten Menschen, einer Bilder-fl ut gleicht. Das Vorbei-Rauschen der Bilder, so wie unaufhörliches Fernsehen, lässt uns in unserem Empfi nden abstumpfen und das Auge müde und unsensibel werden. Der Kontrast zwischen den Bildern verschwimmt immer mehr.

    Es sind nicht die Bilder der Konzentration und der Anstrengung, die sich in unseren Köpfen einprägen und zu Leitbildern des Reisens werden. Es sind vielmehr die Superlative und die Aufgeregtheit, die die Bilder des Reisens dominieren: das höchste Bauwerk der Welt in Toronto, die höchste Eisenbahn in China, die größte Kirchenorgel in Passau. Der Welttourismus und die Reiseverlage schicken uns die exotischen und extremen Bilder direkt in unser Wohnzimmer, um unsere Lust am Reisen zu wecken: Was will man nicht alles gesehen haben!

    Mit dem Aufkommen des Fotoapparates bzw. der Videokamera, oder heute fast nur noch Digicam, konnten wir unseren Drang befriedigen im gelebten Augenblick zu verweilen und ihn zu wiederholen wann immer wir wollen. Eine Technik, die uns das genaue Hinsehen und das Innehalten erspart. Sie erlaubt uns Versäumtes jederzeit nachholen zu können. So werden wir faul: sehfaul und denkfaul. Bewusst ist uns dies sicherlich in diesem Moment nicht, erst im Wohnzimmer beim An-schauen der Bilder merken wir, dass wir doch das eine oder andere

    nicht wirklich wahr genommen haben. Wir betrachten dann schwär-merisch die Vergangenheit und versuchen uns die Bilder zusammen zu suchen, die uns entgangen sind.

    Japanische TouristenJeder kennt die japanischen Touristen. Sie stehen als Symbol für perfekte Reisetechnik, für das moderne, schnelle, auf Konsum ausgerichtete Reisen: das eilige Schauen ohne das Sehen, das Durchfahren ohne das Durchleben, das Festhalten auf den Speicher-karten der Digicams ohne Teilnahme und Genuss am Moment.

    Für den japanischen Touristen ist es wichtiger da gewesen zu sein, als da zusein. Sie klappern alles ab, was ihnen die Reiseführer Europas anordnen. Sie sind beinahe selbst eine „Sehenswürdigkeit“. Oder vielleicht fühlen wir uns als Sehenswürdigkeit, weil wir die Rolle der Bereisten einnehmen, wenn sie über uns drüber schwärmen und uns selbst auf ein Foto bannen.

    Und sind wir nicht auch fassungslos, wenn diese Touristen ihr Interes-se an wenigen rankingverdächtigen, sehenswürdigen Objekten befriedigen, sei es der Kölner Dom, das Heidelberger Schloss oder das Brandenburger Tor? Haben wir nicht das Gefühl ihnen sagen zu wollen:

    „Berlin ist mehr als das Brandenburger Tor.“? Fast immer sind es Bau-werke, die sie fotografi eren, Monumente, Denkmäler. Selten werden Landschaften, Stimmungsbilder, Volkstümlichkeit festgehalten – das Oktoberfest ist da sicher eine Ausnahme. Da erblickt man in den letzten Jahren auch immer mehr Japaner.

    Wenn man dieses Phänomen anschaut, begreift man, was der moder-ne Reisende sehen möchte. Reisegruppen müssen sich immer auf den kleinsten gemeinsamen Nenner einigen, mit der Tendenz zum Durchschnittsgeschmack. Die Grup pe wird sich immer eher für das

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    Brandenburger Tor entscheiden als über die Kastanienallee zu laufen. Dazu kommt der Wettlauf mit der Urlaubszeit, die in Japan bedeutend kürzer ist als in Deutschland. Es ist demnach nicht verwunderlich, dass der Reisende alles Wichtige und Sehenswerte in diese Zeit stopfen möchte.

    Und das alles muss in einem rasanten Tempo vonstatten gehen, dass gar keine Zeit zum Hinschauen und Verweilen bleibt. Aus diesem Grund ist die Kamera zum Kultmedium geworden, zu einer Art Konserve des versäumten Sehens, zu einer Berechtigung, die Städte so schnell abzuklappern, abzufotografi eren und dann wieder zu verschwinden.

    Der Fotoapparat erzeugt Bilder der Distanz und nicht der Nähe. Hierzu gibt es eine kleine Geschichte von Günter Grass:

    „Vor ein paar Jahren war ich mit einer Gruppe junger Schriftsteller, die ich eingeladen hatte, im Jemen. Unser Programm mit Lesungen und Diskussionen war sehr interessant. Und irgendwann machten wir eine lange Überlandreise mit dem Bus. Alle zwei Stunden war Pause, und wir gingen irgendwo raus, meistens hatte man einen schönen Blick in die Landschaft. Da gingen dreißig Leute raus, ich setzte mich auf den nächsten Stein, nahm meinen Notizblock raus und zeichnete. Um mich herum hörte ich ein Klick, Klick, Klick... Und dann kam ein Hirte, malerisch angezogen, Prophetenbart und Turban, und alle wollten den fotografi eren, wofür er dann Geld haben wollte. Und ich habe ihn gezeichnet. Keinen Pfennig wollte er dafür haben. Er war sehr stolz und fühlte sich sehr geehrt.“6

    Während also der Blick durch die Kamera den anderen außen vor lässt und ihn in das Innere der Kamera verbannt, bezog der Stift von Grass den Menschen mit ein, weil er sieht, was mit ihm geschieht. Würde man einmal ohne Fotoapparat losfahren, müsste man wieder wacher

    und aufmerksamer umherziehen, dann wären es die eigenen gesehenen Bilder, von einer Landschaft, von einer Kirche oder von den Menschen, die man sich zu Hause in Erinnerung ruft. Die eigenen Augen und das Gedächtnis spielen wieder die Hauptrolle.

    SouvenirsBlickt man in einen Souvenirladen in irgendeiner Stadt, erschaudert man vor dem ganzen Kitsch, der unser Kulturgut repräsentieren soll. Wenn ich z. B. sehe wie viele schreckliche Varianten es von dem Brandenburger Tor gibt, sei es als Figur, auf Tassen, T-shirts oder als Spaßartikel, frage ich mich, ob das überhaupt jemand kauft. Der Reiz für viele Touristen doch ein Souvenir zu kaufen, ist ein Zwang, alles einzupacken, was man gesehen hat, ein Pfand für den Beweis des Da-Gewesenseins. Um dieses Souvenir zu Hause vielleicht auch so zu platzieren, dass Freunde und Familie sofort staunen, wo man schon überall war.

    Privileg der ReichenDas Reisen ist und bleibt ein unbewusstes Privileg. Die Sehnsucht auf Reisen zu gehen, keimt erst, wenn man sich keinen exis tentiellen Problemen entgegen gestellt sieht, wenn man rund um versorgt ist, bzw. dem Alltag entfl iehen möch te. „Froh schlägt das Herz im Reisekittel, Vorrausgesetzt, man hat die Mit tel“, um es mit Wilhelm Buschs Worten zu sagen. 7

    Die Fahrkarten und Unterkünfte sind teuer. Auch Freizeit muss man sich erst einmal leisten können. Reisende kommen zu 95 Prozent aus einer überschaubaren Anzahl von Ländern: Deutschland, Schweiz, Österreich, Italien, Frankreich, Japan, Australien, Kanada, USA, Skandinavien, England.

    6 Gespräch zwischen Günter Grass und Klaus Kufeld, 3. April 2006, Behlendorf 7 Nimm mich mit... Eine kleine Geschichte der Reisebegleiter, Marie Simon, S. 113

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    In Malaysia, Kenia, Columbien oder Mexico macht man sich nicht einmal einen Begriff vom Reisen. Oftmals hat man das Gefühl, dass die Menschen dort gar nicht wissen, was wir in ihrem Land wollen. Sie können nicht verstehen, warum wir da sind, wo man nichts hat und warum wir von dort fortgegangen sind, wo man alles hat.

    Reisen wird also immer ein Privileg der Reichen bleiben. Das war auch innerhalb von Deutschland so. Vor dem Ersten Weltkrieg blieb das Bürgertum bis auf wenige Ausnahmen vom Reisen und dem Luxus der mondänen Welt ausgeschlossen. Es war mit Arbeit beschäftigt und gönnte sich keine Ferien.

    Erst die Goldenen Zwanziger bringen das Zeitalter des Reisens. Jetzt ist es nicht mehr nur den Besserverdienern gestattet Urlaub zu machen, sondern auch immer mehr Menschen aus dem Bürgertum. Sie möchten nun auch was von der Welt sehen.

    HippibewegungIn den USA der 1950er Jahre gibt es eine neue Generation, die im Umherziehen ihre Wurzeln fi nden möchte. Sie brechen Regeln und Tabus und sehen den Sinn des Lebens im Unterwegssein, frei nach den Vorstellungen Jack Kerouacs Buch On the Road. Sie versammeln sich und demonstrieren gegen die angespannten Verhältnisse des Kalten Krieges. Sexuelle Freizügigkeit, Arbeitsverweigerung, Sympathie für den Kommunismus, Flucht in die Tagträumerei und exzessiver Alkohol- oder Drogenkonsum sind charakteristisch für diese Generation. Das Kino erfi ndet in dieser Zeit das Genre road movie.

    In den 60er Jahren entsteht daraus die Hippie-Bewegung, die sich vor allem durch Gemeinschaftssinn und politisches Engagement auszeich-net. Für die Hippies wird das Woodstock-Festival zu einer pazifi stischen Pilgerreise. Trampen wird zum normalen Fortbewegungsmodus. Sie

    sind teilweise monatelang unterwegs bis die fi nanziellen Mittel auf -gebraucht sind. Für die lange Abwesenheit bauen sie sich Wagen zu Häusern um. Am Ende bringen sie Geschichten mit, die Städterseelen zum Träumen bringen. Sie folgten dem Ruf der Straße und reihen sich in die Liga der Reiseberichterstatter mit ein.

    Das AutomobilAuch unter den Nicht-Hippies etabliert sich das Automobil als Reise-mittel. Die Wirtschaft ist nach dem Zweiten Weltkrieg wieder stark und die Leute können es sich leisten mobil zu sein. Ein eigenes Auto zu haben wird der Wunsch von vielen, um damit auf Reisen zu gehen. Camping und Picknick mit dem eigenen Auto wird sehr beliebt. Das Naturerlebnis mit der Mobilität zu vereinen, hatte eine unwahrschein-liche Anziehungskraft. Diese Zeit war Quelle von vielen Erfi ndungen wie Picknick-Koffer, Thermoskannen, Dosenöffner, Tupperwaren oder Plastikgeschirr. Auch der ADAC wird geboren, ihre Mitgliederzeitschrift Motor welt wird damals zur größten Automobilzeitschrift der Welt.

    Fahrende VölkerGanze Völker, wie Sinti und Roma, leben einen mobilen Le bensstil. Ihr Le ben ist das Reisen. Auch bei den Nomaden war das schon so. Sie überleben, weil sie umherziehen, weil sie abhängig sind von Jahres-zeiten und von den Wanderungen der Tiere. Sie orientieren sich an den Sternen und markieren ihre Strecken. Auch Sinti und Roma haben ihre Zeichen, das Patrin, was aus Stoffstücken, Buschwerk und Fäden besteht.

    Das BerggefühlEin neues Reiseziel wird nach dem Zweiten Weltkrieg auch die Bergwelt, die bis dahin nur ihren Bewohnern vorbehalten war.

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    Einst bedeutete diese Bergwelt Furcht und Angst, mit dem Aufkom-men der romantischen Malerei, gerät man beim Anblick von Bergen ins Schwärmen. Auch Horace Bénedict de Saussure, der Alpenfor-scher, der als Erster systematisch die Alpen bereist hatte, den Montblanc bestiegen hat und seine Forschungsergebnisse 1779 – 1796 in vier Bänden veröffentlicht hat, sorgt für Begeisterung an den Bergen.

    Man reist in die Berge, um die „frische Luft“ zu genießen. Die Anzahl der Kurorte wächst stetig in den Tälern. Man hofft diverse Krankheiten mit Höhenluft heilen zu können.

    Schon im 18. Jahrhundert entsteht die Idee der Sommerfrische. Man fl ieht von der Stadt in die Natur. Man sucht Erholung im Grünen. Durch den Ausbau des Straßennetzes kann man diesen Wünschen nachkommen.

    Im späten 19. Jahrhundert wird auch der Wintersport entdeckt und ab den 1930ern auch als Urlaub angeboten.

    Auch Thermalbäder und Sommerbadeorte erfreuen sich steigender Besucherzahlen. Die medizinische Wirkung ist seit der Antike bekannt, doch niemals zuvor verband man sie mit Vergnügen. Rügen als größte Sommerfrische verzeichnet 1910 schon 81.000 Gäste.

    Das Glück unterwegs fi ndenWie aber kann der Mensch im Reisen zu „Glück“ kommen? Wir schaffen uns temporäre Orte, um für Augenblicke unseres Lebens einen Mythos, eine Phantasie zu leben. Eine Zeit, in der wir dem Alltag entfl iehen und unsere Wünsche ausleben können. Wir schaffen uns Befriedigung in dem Erlebten und kommen vielleicht so zu unserem Glück. Dies geschieht natürlich nur, wenn wir richtig schauen und uns auf das neue Ziel einlassen. Wenn wir auf unserer Reise etwas lernen,

    erkennen und uns dabei denken, also aktiv bei der Sache sind. Es soll nicht nur ein bloßes Abfahren und ein Ankommen sein. Viel zuviel würde an uns vorbei ziehen. Zu hohe Erwartungen sind dabei aber auch nicht hilfreich. Man ist an Hermann Hesse erinnert, der in Siddharta sagt: „Suchen ist ein Ziel haben, Finden ist frei sein, kein Ziel haben.“ Der Charak ter des Reisens sollte sich also mit dieser Freiheit verbinden.

    Herzlos reisenSind wir erst einmal aufgebrochen, lassen wir uns von der Faszination des Neuen bannen und, dem Alltag enthoben, „lassen wir uns gehen“. Denn„auf Reisen nimmt man alles hin, die Empörung bleibt zu Hause. Man schaut, man hört, man ist über das Furchtbarste begeistert, weil es neu ist.“8

    Das Verblüffende aber ist sein Schluss daraus, dass gute Reisende herzlos sind. Was heißt das? Vergessen wir was uns normalerweise am Herzen liegt, uns lieb ist, was wir bevorzugen, um offen zu sein für das Neue. Keine Ansprüche an die neue Umgebung zu stellen, lässt alles zu. Nur so sind wir offen für neue Eindrücke.

    Wichtig ist zu wissen, dass sich mit der Globalisierung auch der Geist des Reisens verändert hat. Zwar mag das Reisemotiv heute kein anderes sein als zu Zeiten von Goethes Italienischer Reise, jedoch scheint die Sinnlichkeit des Reisens, die wir etwa mit dem Empfind-samen Reisen Laurence Sternes oder mit dem Endeckungspathos eines Alexander von Humboldt oder Georg Forster verbinden, heute verloren gegangen zu sein.

    Mit der Globalisierung müssen wir keine abenteuerlichen Strecken mehr überwinden, wir fl iegen einfach geradlinig zum Ziel und lassen uns dort absetzen. An diesem Punkt fangen uns die Reiseführer auf,

    8 Klaus Kufeld, Reisen – Ansichten und Einsichten, Ausspruch von Elias Canetti, S. 27

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    BefangenheitWenn man auf Reisen ist, merkt man seine seelische und geistige Befangenheit, seine Häuslichkeit. Sobald man aufbricht, löst sich diese Starre, denn es ist nichts mehr da, an was man sich aus Gewohnheit klammern könnte. Jede Minute eine neue Wahrnehmung, ein fremder Mensch, eine ungewohnte Szene, jede Sekunde ein neues Peilen und Orientieren, Justieren und Entscheiden. Je weiter man vorhat wegzu-gehen, desto größer die Erwartung, manchmal gar Angst vor dem Unbekannten. Immer jedoch blendet sich objektiv ein neues Ge sichts-feld ein, in dem man sich subjektiv orientiert – und es auch kann, weil man es muss. So ist das Reisen Loslösung von der eigenen Klamme-rung, Aufbruch, Bewährung des Denkens. Vielleicht wird das Reisen mit sehenden Augen dann zu Lebenskunst. Weil man vor allem er-kennt, dass in der Fremde nichts fremd ist, außer man selbst.

    Lesendes ReisenReisen sind Literatur geworden. Überall begegnet uns der Geist der Dichter und Denker. Sie sind eine sehende, schreiben de und belesene Reisegesellschaft. Von ihren Gedanken können wir uns begleiten lassen oder zu einer Reise anregen lassen. Mit ihnen zu reisen, bedeutet die Reise zu verlangsamen und einmal inne zu halten. Meistens treffen wir die Schriftsteller dort an, wo sie gelebt haben oder gereist sind, wir be-geben uns dann auf Spurensuche. Wir erleben Goe thes Italienische Reise mit, entdecken Deutschland mit Axel Hackes Deutschlandalbum oder erkennen die Bedeutung des Bodensees für Martin Walser in Heimatlob‘.

    Schon beim Lesen wird man auf die Reise mitgenommen, wir lassen uns von deren Gedankenwelt begleiten und inspirieren. Wir schauen quasi durch die Augen von anderen und lassen unsere dadurch öffnen. Wir erkennen Landschaften, wie wir sie so noch nie gesehen haben, und auch nicht sehen würden. Wir können die halbe Welt bereisen wie im Flug ohne Station zu machen.

    sie zeigen uns wo wir unterkommen können, wo wir was zu essen fi nden, und wo wir was erleben können. Sie erleichtern uns die Orientierung.

    Die Reiseführer aber nehmen uns nicht ab Erkenntnis und Glück in der Welt zu fi nden. Herzlosigkeit heißt dann für mich übertragen auf die heutige Zeit wahrscheinlich Wachheit, Konzentration, Entdeckungswil-le, persönliche Urteilskraft.

    Das Wahre sehenDeshalb erfordert das moderne Reisen eine neue Qualität des Hin-schauens und letztlich des Sehens. Denn das Sehen ist der Geist des Reisens. Während das schnelle Reisen und Urlaubmachen den Traum von Ferne, von Wegsein und Distanz bringt, will man auf das Gefühl für Einzelheiten hinaus, ein Auge für sogenannte Nebensachen, Blick für Nähe, worin sich die Dimension der Ferne zurückspiegelt.

    Zum Sehen des Ganzen gehört die Naturerfahrung, die Vielfalt kultu-reller Traditionen. Wir sehen dabei oft inmitten von Armut überall Wohlstand und Überfl uss und umgekehrt. Wer dort wegsieht, lässt es sich gut gehen, wie man so schön sagt. Sicherlich ist das eine Frage der Ethik, gerade wenn wir uns abseits der abgelaufenen Wege bewegen. Denn die Reisewelt hat immer eine hochoffi zielle, traumhaf-te Seite, egal ob in New York oder in Nairobi. Wie es aber zwei, drei Straßen weiter aussieht, in der Bronx oder im Slum, gehört zu der selben Wirklichkeit. Wir müssen verstehen, dass die Reisewelt ein eingeschränktes Sichtfeld hat, in der wir nur präparierte, vor gefertigte Ausschnitte der Welt zu sehen bekommen. Wieviel mehr wir erkennen, liegt an uns.

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    Virtuelles ReisenReisen kann man sogar ohne unterwegs zu sein. Immanuel Kant hat nie Königsberg verlassen und trotzdem war die Reiseliteratur seine liebste. Tatsächlich ist es so, wenn wir mit den Gedanken durch die Welt fl iegen, dann reisen wir in gewisser Weise auch. Die Phantasie ersetzt das Reisen. Das sind Reisen nach Utopia. Auch beim Reisen in die Welt der Bücher begeben wir uns in eine andere Welt. Melvilles Moby Dick ist Produkt seiner Phantasie, ebenso das Werk von Jules Verne Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer. Die Phantasie wird zum Reiseveranstalter und führt zu den Orten, an die man sich schon immer hingeträumt hat.

    FazitIn Zeiten des Last-minute-Urlaubs und der Billigfl ieger wol len alle schnelle Erholung und Unterhaltung, die nichts mehr kostet. Es zählt möglichst weit weg zu fahren, um vor Freunden und der Familie zu glänzen. Hauptsache man hat die Welt gesehen, schon fühlt man sich als Weltversteher.

    Alle wollen möglichst weit weg, um viel von der Welt zu sehen, neue Kulturen kennen lernen, raus aus dem alten Leben, sich neu entde-cken. Dagegen kann man nichts sagen, jedoch ist die Art und Weise wie wir reisen, was wir davon erwarten kaum noch mit dem ursprüng-lichen Reiseerlebnis vergleichbar. Früher war der Weg das Reisen, heute ist es das Ankommen und Konsumieren.

    Dabei vergisst man was um einen herum passiert. Gerade weil alle weit weg wollen, wird das Nahe übersehen. „Warum in die Ferne schweifen? Sieh, das Gute liegt so nah!“ sagte bereits Goethe. Dabei bedeutet das Nahe für viele Heimat. Doch die Gewissheit, dass man sie immer um sich haben kann, verdrängt das wirkliche Anschauen und Kennenlernen dieser Gegenden.

    Es sind die Provinzen, die um uns herum liegen, dünn besiedelte Gebiete fernab von den großen Städten. Sie sind idyllisch und erholsam, doch sie sind vergessen. Der Blick nach links und rechts bringt viel mehr zu Tage als man erwartet. Leider haftet dem Rand ständigen eine Spur Langeweile an. Argumente diese Provinzen zu meiden, gibt es viele. Die einen sagen, dass man da nicht viel erleben kann, und andere, dass sie eh schon alles kennen, dass sie lieber Neues erleben wollen.

    Dabei ist es gerade dieses Vorurteil, was nicht mehr zulässt, dass wir die Details erkennen, das Authentische und Natürliche. Dass wir denken, wir müssen woanders hin, weil es woanders schöner sein

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    kann. Reiseveranstalter gaukeln uns Unterhaltung, Action und ein besonderes Kulturerlebnis vor, was wir in kürzester Zeit bekommen können. Und das wird von den Touristen auch dankend angenommen. Sie werden rumgeführt in den fremden Gegenden und interessieren sich für jede Kleinigkeit.

    Doch fragt man sie, was in ihrer Gegend so los ist, dann wissen sie oft nicht, was sie empfehlen können. Die heimischen Landschaften kennt man ganz oft nicht so genau. Gerade das ist das Erschreckende. Dabei sind gerade die heimischen Gegenden so prägend für jeden von uns.

    In meiner Diplomarbeit möchte ich zeigen, dass man gar nicht weit weg fahren muss, um die Schönheit der Welt zu sehen. Es soll eine Rückbesinnung auf umliegende Landschaften geben, die von vielen nicht gekannt werden. Es soll zudem eine Rückbesinnung auf das Reisen an sich geben, man soll wieder aufmerksam schauen lernen und wachsam sein für die kleinen Dinge.

    Ich möchte die Provinzen reisewürdig machen indem ich sie in einem Portrait vorstelle. Die Bühne für dieses Portrait ist eine Art Reiseführer. Um mich aber diesem Vorhaben zu nähern, werde ich vorher die Welt der Reiseführer analysieren.

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    Wozu sie dienen Das Wesen eines Reiseführers verstehen wir in erster Linie als ein Buch gewordener Lexikoneintrag. Was wir darin lesen, bringt Informa-tion, System und eine gewisse Orientierung am Reiseziel. Wir gebrau-chen ihn für eine perfekte Ankunft, er ist uns eine Hilfestellung für Urlaub, Ausfl ug, Geschäftsreise oder Shoppingtrip. Der Reiseführer ver spricht Genuss am Ziel, erhöht unser Wissen und trifft manche Entscheidung für uns. Wir können ruhigen Gewissens seinen Empfeh-lungen folgen, ohne größeren Anstrengungen ausgesetzt zu sein. Es ist bequem für uns, das Vorgelebte nachzumachen. Das bereits Selektier-te wird uns schmackhaft gemacht.

    Der Reiseführer setzt uns schon vor der Reise am Ziel ab, wir können bequem auf dem Sofa Entscheidungen treffen, was wir sehen wollen, wo wir schlafen oder welche landestypische Küche wir genießen können. Diverse Reiseführer bedienen gezielt Urlauberinteressen: die der Naturliebhaber, der Sightseer, der Rucksacktouristen usw.. Ein Reiseführer gibt aber auch im Handumdrehen jeden „Geheimtipp“ preis, der vom Massentourismus überrannt wird.

    Der Reiseführer gibt uns Hintergrundwissen. Ohne ihn würden wir eher schwer an diese Informationen gelangen. Wir bekommen alles kompakt, sortiert und gesammelt. Oft erleben wir mit ihm einen Aha-Effekt, weil wir Dinge nicht wussten. Er erscheint uns nützlich und lehrreich. Ohne ihn würden wir auf Reisen nicht so viel sehen und verstehen.

    R E I S E F Ü H R E R

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    Nomadenzeit Die Anfänge der Reiseaufzeichnungen fi nden wir bereits im Nomaden-tum. Die Erdteile wurden in einer Folge von Wan derbewegungen be-siedelt. Aus dieser Zeit stammen prähistorische Zeichnungen, meist Tierdarstellungen, an Orten, wo diese Tiere nie gelebt haben: die abgebildeten Mammuts beispielsweise in den Höhlen der Dordogne, im Südwesten Frankreichs, lebten damals mindestens 500 Kilometer entfernt. Anatomische Details verraten aber, dass die Zeichner diese Tiere hautnah beobachtet haben mussten, um sie dann später zurück in der Heimat an die Wände zu zeichnen. Es wäre nicht möglich gewesen, sie nur von Erzählungen her abzubilden. Abenteuerliche Menschen hatten also die Bilder dieser kolossalen Tiere mitgebracht und weitergegeben, um sie ihren Artgenossen zu zeigen.

    Um das Jahr NullÜber Jahrhunderte stehen die Reiseschilderungen der Bibel allein. Man konnte bspw. Beschreibungen des himmlischen Jerusalem darin lesen. Diese Landschaftsbilder waren zwar nur Beiwerk, es ging ja hauptsächlich um das Wort Gottes. Aber durch die Verbreitung der Bibel vollzog sich auch eine Vervielfältigung dieser Landschaftsbeschreibungen. Aus der Bibel erfuhren die Leute also, wie es in Jerusalem aussieht. In dieser Zeit werden viele Straßen ausgebaut, bspw. die 1.100 Kilometer lange Straße von dem ehemaligen italienischen Brindisi bis nach Antiochia, in Syrien. An dieser Straße gab es damals schon Meilenstei-ne, Herbergen, Fahr- und Reitgelegenheiten. Die Gastfreundschaft war ja oberstes Gebot.

    MittelalterIm Mittelalter gab es neben den höfi schen Gesandten, Rittern, Händ-lern und Gelehrten, die aus politischen Gründen unterwegs waren. Vor allem die Pilger begaben sich auf Reisen. Für diese Menschen bedeu-tete das Reisen ein gefährliches Abenteuer. Sie sind Unfällen und Straßenräubern ausgesetzt und besser bewaffnet unterwegs gewesen. Es war sicherer man hatte keine Waren dabei und trug eher ärmliche Kleidung. Außerdem war das Wegenetz undurchsichtig und unkomp-fortabel.

    Man war als Fremder in der Welt unterwegs, auf der Suche nach Erleuchtung und als Zeichen, der völligen Hingabe an Gott. Bis heute übt das Pilgern eine große Faszination auf viele Menschen aus.

    Schließlich bedeutet das Pilgern sich auf die Grundlagen des Mensch-sein zu besinnen. Durch das Gehen gelangt man zur inneren Einkehr und erkennt die Sinnlichkeit der Natur und der Religion.

    Die Reisetagebücher aus dem Mittelalter, die heute noch existieren, sind meist Aufzeichnungen von Pilgern über ihre Ausgaben und Unterkünfte.

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    16. JahrhundertMit dem Beginn des 16. Jahrhunderts, begann sich das Reisen aus der Religion zu lösen. Es entstand das Bedürfnis zu forschen, zu entde-cken, zu verstehen und damit auch eine Reiselust. Das Zeitalter der Entdeckungsreisen und wirtschaftlichen Eroberungen begann. Die Expeditionen werden von Zeich nern, Gelehrten oder begabten Literaten begleitet, deren Aufgabe es ist, das Gesehene naturgetreu wiederzuge-ben. In der Heimat sollen diese Aufzeichnungen die Neugierde, den Wissensdurst und den Wunsch nach Exotischem verstärken.

    1585 landet die Flotte unter Ralph Lane, einem englischen Edelmann, an der Küste von North Carolina. Mit an Bord ist der Künstler und Kartograph John White, der Zeichnungen von Flora und Fauna sowie von den Bewohnern machen soll. Die Besatzung möchte die Secotan-Dörfer auf dem Festland erkunden. John White widmet sich der genau-en Beschreibung und Abbildung der Behausungen dieser Indianer und ihrer Gebrauchsgegenstände, etwa der breiten Kochgefäße. Er hält auch Szenen der Kultur und Tätigkeiten fest, etwa den Maisanbau oder die Kochmethoden.

    > IndianertanzIm Sommer feierten die

    Secotan zweimal das Wachsen des Maises:

    einmal mit dem Fest des grünen Korns und dem

    Erntedankfest.

    > Algonkin aus North Carolina

    Der Körper des Man nes ist bemalt, er trägt eine

    Feder auf seinem bis auf einen Kamm kahlgescho-

    renen Kopf, eine Kette und ein Perlenarmband. Um die Hüfte hat er eine

    Wild lederschürze, und zwischen seinen Beinen

    hängt der Schwanz eines Pumas.

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    17. Jahrhundert Erst im 17. Jahrhundert wandelte sich die Motivation des Reisens. Nicht mehr das politische Interesse stand im Vordergrund, sondern der Bildungsgedanke und das Genießen fremder Kulturen. Üblich für die Epoche des Barock stand die Grand Tour bzw. Kavaliersreise. Diese Reise wurde Männern An fang 20 vorbehalten, bis spät ins 18. Jahrhun-dert fast ausschließlich Adeligen. Sie gehörte zu einer guten Biografi e. Begleitet von einem Hofmeister waren die Ziele Italien, Paris und Wien. Der junge Reisende sollte die europäischen Kulturen kennenlernen und gebildet und welterfahren in die Heimat zurückkehren. Dann erst konnte er ein wohldotiertes Amt antreten. Die jungen Männer führ-ten auf ihrer Grand Tour Tagebuch, schrieben Briefe nach Hause und machten Aufzeichnungen. Apodemiken, also Reiseführer lieferten die Anleitung nicht nur für das richtige, sinnvolle Reisen, sondern auch für das rechte Beobachten und fachgemäße Aufzeichnen. Indem die Reisenden ihre Beobachtungen in der Fremde festhielten, schufen sie neue Reiseführer.

    In der Zeit entsteht eine ganze Palette neuer visueller Möglichkeiten, die auf Genauigkeit und Beweisbarkeit gründen. Die Wissenschaft for-dert genau zu beobachten, festzuhalten und das neu Entdeckte in die neu entstehenden Kategorien des Wissens einzuteilen. Die Naturwis-senschaften sind dem Geheimnis des Lebens und seiner Entwicklung auf der Spur. Die Forscher versuchen den Ursprung des Menschen zu fi nden und kehren dabei der göttlichen Schöpfung den Rücken zu. Die entstehenden Aufzeichnungen machen die Abenteuer greifbar und mitteilbar, zudem beweisen sie den Geldgebern wie wichtig diese Expeditionen sind und begründen auch, warum man erneut die Segel setzt und zu neuen Eroberungen aufbricht.

    Zacharias Wagener ist ein Vertreter aus der Zeit. Als 19-Jähriger reist er nach Brasilien. Er steht als Kartograph in den Diensten des Gouverneurs Johann Moritz. Währenddessen verfasst er ein eigenes

    Thierbuch, wo er die Flora und Fauna Brasiliens festhält. Das vollstän-dig erhaltene, ledergebundene Thierbuch enthält 111 Aquarellillustrati-onen. Die Mehrzahl der Bilder trägt im oberen Teil der Illustration eine Nummer und den Namen des Objektes. Erklärende Bildunterschriften begleiten diese. Der Autor dokumentiert aber auch die verschiedensten Fische, Algen- oder Krebstierarten, detaillierte Karten von Hafenstäd-ten oder ganze Gesamtansichen von Kolonialgebäuden und -siedlungen. Auf seinen Exkursionen ins Landesinnere malt er eine Menge Ganzkör-perportraits von Einwohnern oder typischen Szenen.

    Aquarell einer Passions frucht (Maracuja) aus dem ThierbuchHäufi g zeigt Wagener von derselben Pfl anze mehrere Ansichten: so wie hier, einmal im Ganzen und in der Hälfte geteilt.

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    18. Jahrhundert Im 18. Jahrhundert bleibt das Reisen eine abenteuerliche, kühne und einfallsreiche Sache. Der Globus weist immer noch weiße Flecken auf, an den Küsten der eroberten Kontinente hat man längst Wurzeln geschlagen, aber ins Landesinnere haben sich bisher nur wenige vorgewagt.

    Trotz dieses praktischen Nutzens der Reisen für die Wissenschaft, überkommen den reisenden Künstler überwältigende Gefühle ange-sichts der unendlichen Fernen. Oft packt ihn Verwirrung in Anbetracht der seltsamen Sitten unbekannter Menschenarten, die er nicht begreift. Es beeindrucken ihn Tiere von ungewöhnlichem Äußeren, die er so noch nie gesehen hat. Seine Annahmen von dem bisher Bekannten werden gesprengt, er wird überrascht, staunt und wird in seiner Phan-tasie befl ügelt. Es kam oft vor, dass der Entdecker in seinen Zeich-nungen seiner Vorstellungskraft freien Lauf lässt. Oftmals hat man da auch übertrieben, um die Menschen daheim zu beeindrucken.

    Das Reisetagebuch lebt also von der Entdeckung der Welt, wird aber zunehmend Ausdruck spiritueller und philosophischer Erfahrungen oder auch ein Ersatz für Träume.

    Auf der Suche nach der Wahrheit formulieren diese Kün st ler eine neue Ästhetik, um auch Gefühle zum Ausdruck zu bringen. Eindrücke, Er-lebnisse und Stimmungen ihrer Reise möchten sie genauso einfangen, neben den Entdeckungen. Ihre Ausdrucksweise gestaltet sich indivi-dueller. Der Reisebericht wird zu einer Bühne, auf der alles auspro-biert werden darf, weit mehr als auf der Leinwand des akademischen Künstlers zu Hause, der unter der Aufsicht des Meisters steht.

    Das Reisetagebuch wird zu einem treuen Wegbegleiter, dem man sich anvertrauen kann. Es hilft einem die Leiden der Fremde und die Angst vor der Gegenwart zu ertragen und sogar Gefahren zu überstehen.

    Und es wird zum Beweisstück, zum Zeugen, zum Heiligtum, wenn die Reise erst einmal zu Ende ist. Die Reisenden geben darin ihre Erfah-rungen und ihr Wissen weiter, egal ob von den Dünen der Wüste, dem unendlichen Eismeer oder dem Inneren des Dschungels. Sie durch-leben danach noch einmal ihre Reise und können so in Erinnerungen schwelgen.

    Viele Reisende hatten die Befürchtung, dass ihre Werke in der Heimat verblassen würden. Sie verglichen ihre Aufzeichnungen mit „aus ihrem angestammten Boden entrissene Bäume, die fern von dem Land sind, wo man sie fand“9, die hier fern ab von dem Entstehungsort ihre Blüte verlieren. Oftmals sind die Hefte auch gar nicht für die Öffentlichkeit bestimmt, sondern als Gedächtnisstütze für einen selbst gedacht. Eine Art per-sönliche Dokumentation.

    „Nie empfand ich eine so große Sehnsucht wie beim Wiederlesen dieser Fahrtenbücher, deren vergilbte und vom Fischöl fettige Seiten ich umwende.“10 äußerte der Ethnohistoriker Jean Malaurie am Ende seines Lebens.

    9 Unterwegs, Reisetagebücher aus fünf Jahrhunderten, Farid Abdelouahab, S. 9910 Unterwegs, Reisetagebücher aus fünf Jahrhunderten, Farid Abdelouahab, S. 193

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    Die Notizen von dem Ingenieur Duplessis sind Beispiele für Reiseauf-zeichnungen, die sich weniger dem Aussehen der Tiere und den Unterkünften der Menschen widmen, auch nicht sonderlich ins Detail gehen, sondern vielmehr Überlebensstrategien darlegen, mit denen man so eine Reise überstehen kann. Er schreibt über Ankergründe in den Buchten der Insel, die Verteidigungsmöglichkeiten, Trinkwasser-quellen und Nachschubwege an Land. „Wozu führt man Tagebücher, wenn man nicht von den Feststellungen zu profi tieren weiß, die man während einer Reise gemacht hat, wenn man sich am selben Ort befi ndet? Und wenn man mit so viel Sorgfalt all das niederschreibt, was man für nötig hält, tut man es nicht, um den anderen oder sich selbst einen Weg zu bahnen, wenn man durch Zufall zur gleichen Jahreszeit in dieselbe Gegend gerät?“11 Aus diesem Reisetagebuch wurde im Jahr 1764 die Karte Feuerlands veröffentlicht.

    11 Unterwegs, Reisetagebücher aus fünf Jahrhunderten, Farid Abdelouahab, S. 29

    < Muschelfangszene in der MagellanstraßeDuplessis erklärt in seinen Zeichnungen, wie die Einheimischen leben und in ihrer Gegend zurecht kommen. In der Abbildung erklärt er bspw. dass sie mit angezogenen Beinen Muscheln fangen.

    > Grossmaulfi sch gefangen vor der Insel

    Saint-Vincent„Sie sind von verschiede-

    ner Größe, ihre Haut ist fest, rot und mit blauen

    Flecken bedeckt.“ Mit präziser, feiner Schrift

    berichtet der Autor von den anatomischen

    Details deses selbsamen Fisches.

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    Ein weiterer Vorreiter ist der Entdecker James Cook. Er unternahm innerhalb von zwölf Jahren drei Reisen, aus denen eine wahre Fülle an graphischem Material hervor ging. Sechs talentierte Zeichner, darunter auch Johann Forster, fertigten hunderte von Zeichnungen an, die in den Bereich der Völkerkunde, Naturkunde und Landschaftsmalerei gehören. Anhand dieses Bildmaterials kann man die sagenhafte Zeit der großen Entdeckungen, einen wahren Mythos der Seefahrtgeschich-te nacherleben. Er hinterlässt mit zahl reichen Zeichnungen und den Tagebüchern seiner drei Rei sen ein unermesslich reiches Zeugnis von der großen geographischen und menschlichen Vielfalt der Tropen und auch als erster vom Südpol.

    > Kapitän James Cook von Nathaniel Dance Holland,

    Cook vor seiner dritten Reise, er trägt seine Kapi-tänsuniform und verweist

    mit seinem Finger auf eine Landkarte. Er drückt Mut

    und Entschlossenheit aus.

    > Der Pinguin Pygoscelis Antarctica

    von Johann Forster. Während Cooks zweiter

    Reise malt Forster dieses Aquarell eines Pinguins. Die Resolution überquert

    dabei als erstes Schiff der Welt den südlichen Polar kreis und kämpft sich durch meterhohe

    Eisberge.

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    < Portrait eines Maori-Häuptlings aus Neuseeland, von Parkinson und ChambersDieser Portraitstich entstand 1773 in London nach einer Tuschezeich-nung, die Parkin son 1770 angefertigt hatte.

    < Blick auf die Hütten der Tschuktschen, von EllisEine Federzeichnung von Cooks dritter Reise. Sie zeigt Tschuktschen, An-gehörige eines sibirischen Volksstammes von der nordasiatischen Küste.

    < Portrait eines Mannes aus Tasmanien, von WebberDieser Stich entstand nach einer Zeichnung von 1777. Nachdem die Schiffe am Anfang der dritten Reise in der Adventure Bay vor Anker gegangen waren um Proviant aufzunehmen, begegneten sie den ersten Tasmaniern, die vollkom-men nackt waren und keinen Schmuck trugen.

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    19. Jahrhundert Im 19. Jahrhundert erobert man selbstbewusster und nimmt alles in Beschlag, was einem vor die Füße kommt. Es ist das Zeitalter der kolonialen Eroberung angebrochen, mit politischen Interessen im Vordergrund. Unter den Ländern in Europa ist ein Wettkampf ausge-brochen, wer als erster die Flagge seines Landes auf jungfräulichen Boden hisst. Wissenschaft, Handel und Patriotismus gehen Hand in Hand. Am Ende des 19. Jahrhunderts entsenden und unterstützen die Regierungen zahlreiche Expeditionen. An diesen Fahrten ist zuneh-mend das Militär beteiligt, um die Forscher zu schützen. Die Forscher stehen dadurch aber auch in der Pfl icht, den Wissens-durst der Mitmenschen zu befriedigen. Sie wollen alles von den entfernten Landstrichen und deren Völker wissen, sie verschlingen die Berichte nach der Rückkehr der Forscher. Sie gieren nach Exotik, aber auch nach Fortschritten, die ihr Land in der Wissenschaft getan hat, oder welche Länder sie neu in Besitz genommen haben. Immer mehr wissenschaftliche Gesellschaften fungieren als Sponsor. Sie möchten eine eigene Expedition entsenden und fi nanzieren zusammen mit staatlicher Unterstützung solche Reisen. Dabei steht die Erforschung bestimmter Regionen im Vordergrund, die den politischen Interessen wiederum von Nutzen sind. Die Investitionen übersteigen deutlich die Höhe der benötigten Menge, doch es soll an nichts mangeln. Hilfspersonal und Ausrüstung wird in erstaunlichem Ausmaß mitgenommen.

    1799 macht sich auch Alexander von Humboldt auf zu seiner Orinoko-reise. Begleitet wurde Humboldt von Aimé Bonpland. Die abenteuerli-che Reise führte die beiden Forscher mehr als 2.700 Koilometer tief in das unentdeckte Gebiet des Orinoko hinein. Auf ihrer Reise sollte es auch an nichts fehlen. Die Crew beförderte eine für damalige Zeit hochmoderne Messinstrumente-Sammlung. Damit stand den Arbeiten

    nichts mehr im Wege. Humboldt führte neben den Studien der Natur-wissenschaften auch astrologische Beobachtungen durch. Getrieben wurden die Freunde auf ihrer insgesamt 9.650 Kilometer betragenden Strecke von ihrem Wissensdurst und trotzten so allen Gefahren und Anstrengungen. Der Wissensdurst blieb auch die einzige Motivation, denn einen kommerziellen Zweck hatte diese Expedition nicht. Humboldt revolutionierte mit seinen persönlichen Reisetagebuchauf-zeichnungen, seiner wissenschaftlichen Erkenntnis und der Dokumen-tation die damalige wissenschaftliche Welt. Bis heute lassen sich an ihm bedeutende Wissenschaftler messen.

    < Alexander von Humboldt und Aimé Bonpland in ihrer Hütte am OrinokoDer Kupferstecher H. Lademann zeigt Humboldt und Bonpland in einer Urwaldhütte am Orinoko inmitten ihrer Objektesammlung. Von den körperlichen Strapazen ist im Bild nichts zu sehen. Erst lange nach ihrer Reise, nämlich 1870, entstand dieses Werk, nach einer Zeichnung von Otto Roth. Alexander von Humboldt

    am Orinoko, Gemälde von F. G. Weitsch

    Von seiner Reise aus Süd-amerika zurückgekehrt, lässt sich der 32-jährige

    Humboldt von dem Maler Weitsch portraitieren.

  • 58 59R E I S E N

    Neun Bände seiner Tagebücher der Südamerikareise von 1799 bis 1804 sind im Original erhalten. Nicht nur in quantitativer Sicht sondern auch wegen ihrer literarisch-künstlerischen Vielfalt zählen diese Tagebü-cher zu den großartigsten Beispielen der Apodemik. Er schilderte jeden Tag Erlebtes und Beobachtetes. Er verband dieses mit Erkenntnissen anderer Wissenschaftler und seinen eigenen Schlussfolgerungen. So fi ndet man abenteuerliche Reiseschilderungen neben genauesten Mess-tabellen, Skizzen von Pfl anzen, Tieren, Landschaften und Karten. Oft sind die Blätter mit Randbemerkungen zu bereits publizierten Werken oder gelesener Literatur von Humboldt, versehen. Man erkennt, dass vor allem wissenschaftliche Befunde mit einer Moralvorstellung ver-bunden werden, die von Respekt der Würde des Individuums sprechen. Ein Mar kenzei chen von Humboldt.

    < Gymnotus ElectricusQuerschnitt durch einen-Zitteraal, der organische Elektrizität erzeugen kann. Dieser Querschnitt ist aus dem Reisetage-buch von 1800.

    < Aus dem HerbarIn Venezuela sammelten Humboldt und Bonpland viele für sie unbekannte Pfl anzen. Nach seiner Rückkehr übergab Hum-boldt die Hauptsammlung dieses Herbars dem Na-turhistorischen Museum in Paris.

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    Gauguin giert nach Exotik, so wie die meisten Menschen im 19. Jahr - hundert. Er möchte vor allem vor der „verlogenen und konventio-nellen“12 Zivilisation fl iehen, die er in Frankreich so satt hat. Er hat den Wunsch sein Leben wieder neu zu ordnen. dies erhofft er sich in der vergessenen und stillen Gegend von Tahiti zu fi nden. Doch schon bald ist er auch von der zu spürenden Verwestlichung auf Tahiti enttäuscht. Er zieht in ein abgelegenes Dorf auf der Insel, lernt die Maorie-Sprache und lässt sich durch seine Gefährtin in deren Kultur einführen. Sie befl ügelt ihn, durch sie beginnt er wieder zu arbeiten.

    Er führt graphische Experimente durch, er tränkt Papier, ver wendet verschiedene Materialien, schafft Holzschnitte und Skulp turen. Er schafft damit die Grundlagen für sein wunderbares Reisetagebuch, das er später Noa-Noa, voyage á Tahiti nennt. Noa heißt in der maorischen Sprache Duft, verdoppelt heißt es stark duftend.

    In dem Tagebuch fi nden sich die Dinge wieder, die zu dem Kampf des täglichen Lebens in den Tropen gehören. Man spürt die körperlichen Mühen und die Resignation. Dennoch erkennt man auch die Schönheit der Südseeinsel, die Gauguin gepackt hat.

    Nach seinem Tod fi ndet man das Tagebuch mit den 204 handschriftlich paginierten Seiten. Sie enthalten Fotos, Aquarelle, Tuschezeichnungen, Studien, Holzschnitte aus ver schie de nen Phasen. Die Techniken ver-mischen sich, traditonelle Re geln werden gebrochen, sein Stil wech-selt ständig. Seine Ar beiten werden zu einem Spiel zwischen Kontrast und Ungleichgewicht. Er öffnet den Weg der Collage mit verschiedens-ten Elementen. Die meisten Motive seiner Gemälde fi ndet man in den Tagebüchern wieder, sie dienten ihm als Vor lage. So wie uns sein Werk als Zeitzeuge der Reiseaufzeichnung dient.

    12 Unterwegs! Reisetagebücher aus fünf Jahrhunderten, S. 111 Noa-Noa, Voyage á TahitiBei Gauguin erkennt man das Zusam men spiel von ver schiedenen Darstellungs-Methoden, der Anfang der Collage-Technik.

  • 62 63R E I S E N

    ZeitschriftenVerlage, Zeitungen und Fachzeitschriften streiten sich um die Ver-öffentlichung der Mitbringsel. Weil sie so mitreissend geschrieben sind, werden sie teilweise Bestseller, wie z. B. der Reisebericht Sahara und Sudan, Ergebnisse Sechsjähriger Reisen in Afrika der Afrikaforscher Gerhard Rohlfs und Gustav Nachtigal. Dieser Reisebericht ist in reiner Literaturform.

    Es werden Zeitschriften ins Leben gerufen, die sich mit dieser Neu-gierde am Reisen der Menschen beschäftigen. 1860 gründet Èdouard Charton die Zeitschrift Le Tour du Monde, die sich als bemerkenswert erfolgreich beweist und bis zum Ersten Weltkrieg erscheint. Als ihre deutsche Schwester gilt die il lustrierte Zeitschrift für Länder- und Völkerkunde Globus. Beide Zeitschriften treffen den damaligen Ge-schmack der lesebegierigen Menschen, die interessiert am Exotischen sind und manchmal auch selbst auf Reisen gehen.

    Die Zeitschrift ist eine wahre Fundgrube zum Thema Reisen. Berühmte Persönlichkeiten, Adlige, Militärs, Forscher und Wissenschaftler veröffentlichen in Le Tour du Monde ihre Reiseberichte. Das waren politische Artikel über die Kolonial-Entwicklung, aber auch Ankündi-gungen neuer Reiseliteratur, Führer oder Karten, sowie Informationen zu Transportmitteln, klimatischen Bedingungen oder Hinweise zum Sammeln von Pfl anzen oder Insekten.

    So rät man dem Leser 1905, der eine Reise nach Marokko unterneh-men möchte, dass man diese wie eine kleine Expedition vorbereiten muss: „mit einem Führer, einem Koch und einem Soldaten aus der Umgebung des Kaids als militärischen Schutz. Auch Maultiertreiber und Geschenke wären notwendig.“. 13

    Wer in die Vereinigten Staaten aufbricht, dem wird nahe gelegt sich vor Ort einen dress suit case zu kaufen. Außerdem sollte man sich

    schleunigst einen amerikanischen Haarschnitt besorgen, wenn man nicht schon von weitem als Ausländer erkannt werden möchte.

    Auch Zeitschriften und Zeitungen leisten publizistische und fi nanzielle Unterstützung. Illustrated London News, Globus bzw. Petermanns Geogra-phische Mitteilungen oder die französische Le Tour de Monde setzen auf authentische Inhalte ihrer Zeitungen, frei nach der Devise: Die Wahr-heit ist bemer kens werter als jede Erfi ndung.

    Die amerikanischen Zeitungen New York Herald Tribune und Daily Telegraph halten in dieser Hinsicht den Rekord. Sie fi nanzierten den amerikanischen Journalisten Henry Morton Stanley, der von 1874 – 77 eine Expedition in das dunkle Herz Afrikas unternahm. 360 Träger begleiteten den Reisenden.

    < Henry Morton Stanley und David Livingstone Beide begegnen sich im Herzen Afrikas, in Udschidschi. Ein Jahr später, also 1872, erscheint dieser Stich in The Illustrated London News

    13 Nimm mich mit, Eine kleine Geschichte der Reisebegleiter, Marie Simon, S. 119

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    Es kommt in Mode, dass auch Frauen sich in dem männlich dominier-ten Umfeld auf Reisen begeben und ihre Berichte in der Heimat verkaufen. Die Frauen zeigen sich oft diskreter, auch sie fi nden ein großes Publikum. In Le Tour du Monde erscheint 1883 der Bericht von Carla Serena: Allein in der Steppe, meine Reise ins Land der Kalmucken und Kirgisen.

    Immer mehr Frauen folgen ihrem Vorbild. So z. B. auch die Englände-rin Mary Henrietta Kingsley, die in Westafrika unterwegs ist. All diese reisenden Frauen werden von einer wilden Lust getrieben, einmal auszubrechen und es den Männern gleich zu tun. Sie entwickeln dabei eine beispiellose Aben teuerleidenschaft.

    Mit der Erfi ndung der Eisenbahn, dem Automobil, des Dampfschiffes und schließlich dem Flugzeug tritt das Reisen in einen neuen Zeitab-schnitt. Die Reisen werden komfortabler und zeitsparender. 1854 meint der Schriftsteller Jules Lefévre-Deumier: „Wer schnell fährt, wird früher sterben, denn Reisen in atemberaubender Geschwindigkeit hinterlassen keine Erinnerung, mit der man seine Tage verlängern könnte.“14

    Erster ReiseveranstalterThomas Cook, Baptistenprediger und Buchhändler in den Midlands, fühlt sich 1841 als Reiseveranstalter „vom Himmel“ berufen. Er ver-bindet sich mit der Eisenbahngesellschaft um 485 Abstinenzler von Leicester ins 15 Kilometer entfernte Lough borough zu einem von ihm organisierten Volksfest hin und zu rück zu bringen. Alles für einen Schilling pro Person. Diese Un ternehmung fi ndet gute Resonanz, des-wegen folgen weitere Ausfl üge. Rundreisen durch Schottland werden ein Renner – Reiselektüre inbegriffen. Für Arbeiter, die keinen freien Tag haben, bietet er „Mondscheinfahrten“ an. 165.000 Arbeiter fahren 1851 in Sonderzügen nach London, um da die Weltaus stellung zu besuchen,

    1867 reisen 20.000 Menschen zur Weltausstellung nach Paris. Cook eröffnet nach und nach Reisebüros auf allen fünf Kontinenten. Bald kennen ganz viele Leute seinen Namen, es hatte sich nach einer Weile auch eingebürgert, dass die Teilnehmer seiner organisierten Reise liebevoll cooks oder cookies genannt wurden.

    Die Indische Regierung beauftragt ihn mit der Organisation einer Pilgerfahrt nach Mekka für 25.000 Muslime. Außerdem befördert die Firma Thomas Cook & Son indische Maharadschas zum Thronjubiläum der Queen Victoria nach Lon don, mitsamt Hofstaat und Dutzenden von Elefanten und Tigern. Auch Wilhelm II. beauftragt das Unternehmen mit der Organisation seiner Orientreise.

    < Thomas Cook, Begrün-der der Thomas Cook AGThomas Cook organisiert 1855 die erste Europa-Rundreise für britische Touristen. Die Europa-Rundreise führt über Brüssel, Köln, Heidelberg, Baden-Baden, Straßburg und Paris zurück über Le Havre oder Dieppe nach London.

    < historisches Plakat der Thomas Cook AGDie erste Weltreise, bei der 40.000 Kilometer zurückgelegt werden, beginnt am 26. Septem-ber 1872 in Liverpool und dauert 222 Tage. Die erste Werbung dafür sah so aus.

    14 Nimm mich mit... Eine kleine Geschichte der Reisebegleiter, Marie Simon, S. 7

  • 66 67R E I S E N

    Die Erfi ndung der Fotografi e Das visuelle Wiedergeben der Welt tritt durch die Erfi ndung der Fotografi e in ein neues, technisches Zeitalter ein.

    Die Anfänge dieser Technik, in Form der Daguerreotypie, wa ren für unterwegs noch schwer zu handhaben, man brauchte eine Menge Hilfsmittel. Erst Talbot entwickelte eine tragbare Reisekamera. Beide Techniken benutzte man um Landschafts- und Reiseeindrücke festzuhalten.

    Wenngleich die Produktion von Fotos immer noch aufwän dig war, ließ die verkürzte Belichtungszeit und das kleinere Gewicht der Fotoplatten zu, dass immer mehr Berufsfotografen auf Reisen gingen. Die einen ließen sich in den klas si schen Reiseorten nieder und verkauften da vor Ort ihre Fotos als Souvenirs, die anderen gehen mit ihren Apparaten auf Reise. Wie z. B. die Deutschen Rudolf Franz Lehnert und Ernst Heinrich Landrock, die 1903 zu einer zweimonatigen Fotoreise durch die Sahara aufbrechen. 1904 eröffnen sie in Tunis ein Geschäft, um ihre Aufnahmen zu vermarkten. Sie ziehen nach dem Zweiten Weltkrieg nach Kairo um, wo sie ihre Fotos und Postkarten von ägyptischen Alltagsszenen und Altertümer verkaufen. Das Geschäft existiert noch heute.

    > Karawane vor dem mameluckischen

    Grabkomplex Farag Ibn Barkuk bei KairoDieses Foto entstand

    etwa 1927.

    < Ägypterin aus Kairo Sie ist bekleidet mit dem traditionellen Gesichts-schleier, der Bischa, Foto von 1924.

    ZuckerrohrMit dem Rohstoff süßen die Ägypter ihr Lebens-elixier, den Schai. Nach der Ernte wird der Zuckerrohr auch gerne frisch gekaut.

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    Erste Fotosammlung von der WeltDer Bankier Albert Kahn schickte 1909 bis 1932 sieben Fotografen rund um die Welt, durch 37 Länder. Sein Wunsch war es ein enzyklopädisches Archiv des Planeten mit Hilfe von Autochrom-Platten, einer früheren Technik der Farbfotografi e, zu erstellen. Die von Kahn angeheuerten Fotografen transportierten eine komplette Expeditionsausrüstung, die einen riesigen Umfang hatte. Dabei waren Autochrome-Kameras, Holz-kis ten, die innen weich ausgepolstert waren, um die zer brech lichen Glasplatten zu schützen, Koffer mit allem, was man braucht, um im Freien zu übernachten, Arsenikseife, um von Termitenbissen verschont zu bleiben, Petroleumlampen, Chemikalien, luftdicht verschlossene Zinkkisten für die belichteten Platten. Insgesamt brachten sie 72.000 Autochrome, das sind farbige Glasplatten, mit zurück.

    Der Geograph Jean Brunhes ist verantwortlich für die Koordination dieser Expeditionen. Er legt die Reiserouten fest, das Budget und die Reisedauer. Er gibt Anweisungen wie die Landschaften und die Menschen fotografi ert werden sollen, auch, dass jede Aufnahme doppelt gemacht werden muss, da die Glasplatten leicht zerbrechen. Heute wird der Öffentlichkeit die Ausbeute einmal im Jahr im großen Hörsaal der Sorbonne gezeigt. Diese einzigartige Fotosammlung befi ndet sich das restliche Jahr im Museum Albert in Boulogne-Billan-court bei Paris.

    > Algerien

    < Palästina

    < Griechenland

    < Indien

    < Irak

    < Benin

  • 70 71R E I S E N

    Erste tragbare Kamera Man merkte aber, dass diese Art der Fotografi e auf Reisen sehr mühselig ist und nur Profi s vorbehalten war. Damit man als Amateur auch in den Genuss der Unterwegs-Fotografi e kommt, wollte man die Fotografi e so vereinfachen, dass man nur noch auf den Knopf drücken brauchte. Die Erfi ndung gelingt dem amerikanischen Fotopionier George Eastman. Er entwickelte 1894 den Rollfi lm und meldet am 4. Oktober 1888 eine einfache, handliche Kamera zum Patent an.

    Seine kleine schwarze Kiste, die für jedermann erschwinglich war, weil sie massenhaft hergestellt werden konnte, war mit einem 100-Aufnah-men-Film bestückt und kostete 25 Dollar. Eastman gibt diesem Apparat den eingängigen und werbewirksamen Namen Kodak, und wirbt mit dem Slogan: „You press the button, we do the rest!“

    Für nur 10 Dollar konnte man den Film vom Hersteller entwickeln lassen und den Apparat neu laden lassen. Von den individuellen hand-werklichen Anfängen der Fotografi e entwickelt sie sich zu einem der am besten funktionierenden Industriezweige des Jahrhunderts.

    Die Touristen lassen sich vor den Sehenswürdigkeiten ablichten. Sie nehmen dabei eine Pose ein, die sie von den Portraits früherer Kunstwerke gelernt haben.

    > Kodakanzeige für die Kodak Bownie von 1914,

    Diese Kamera war Modell Nr. 2, auch wenn No. 0

    auf der Anzeige steht. Sie war noch handlicher als

    die rste.

    < George EastmanDas Foto entstand 1884.

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    Erster ReiseführerKarl Baedeker ist Sohn einer Buchdrucker- und Verlegerfamilie. Auf der Suche nach Verlegbarem stößt er auf einen Reisebericht entlang des Rheins, geschrieben von dem Historiker J. A. Klein. Er kauft die Rechte daran ein und beschließt die Angaben vor Ort nachzuprüfen und die Beschreibungen wenn nötig zu ergänzen. Der Erfolg von Baedecker liegt im gründlichen und genauen Recherchieren und so schreibt er diesen Reisebericht fast neu. Seine Rheinreise von Mainz bis Cöln wird ein Handbuch für Schnellreisende und erscheint 1835. Es ist sofort ein Erfolg, denn Rheinreisen sind groß in Mode gekommen. Das liegt zum einen an der Zeit der Romantiker und andererseits an der Aufnahme des Schiffverkehrs auf dem Rhein durch die Preußisch-Rheinische Dampfschifffahrtsgesellschaft.

    Baedeckers Führer übertrifft sogar zwei andere zuvor ebenfalls gegründete Reihen, aus England und aus Frankreich. Der französische Schriftsteller und Journalist, der jegliche Füh rer verabscheute, sagte dazu: „Sie sind von Handelsreisenden nach Kilometern geschrieben, ergehen sich in unerträglichen und stets falschen Ausführungen, irrtümlichen Auskünften, völlig erfundenen Wegbeschreibungen – mit Ausnahme eines einzigen, eines hervorragenden deutschen Führers.“15

    Sein Geheimnis ist, dass er inkognito reist und testet, nicht so wie seine Kollegen. So kommt er an tatsächliche Bewertungen heran, die nicht durch Bevorzugung getäuscht wer den.

    Er sammelt akribisch Informationen vor Ort, meist in den einfachsten Herbergen, er nennt Preise und liefert wertvolle Tipps für Reisende mit einem schmalen Geldbeutel. Das Bildungsbürgertum ist ihm dafür sehr dankbar.

    Von da an wurden immer mehr Reiseführer ins Leben gerufen, die sich teilweise bis heute erhalten haben.

    15 Nimm mich mit... Eine kleine Geschichte der Reisebegleiter, Marie Simon, S. 120

    < Der TouristDie Lithographie von Paul Gavarni zeigt den Tou-risten mit dem Baedeker unterm Arm um 1840.

    < BaedekerDer berühmte Führer mit dem roten Umschlag und der Goldprägung wird seit 1846 auch ins Englische und Französische über-setzt.

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    Erste komplette ReisezeitschriftGab es noch vor dem Zweiten Weltkrieg Zeitschriften, die immer mal wieder Artikel von Reisenden veröffentlichten, so schossen nach Kriegsende Zeitschriften aus dem Boden, die sich gänzlich dem Reise-thema widmeten.

    Monat für Monat präsentierte z. B. Kurt Ganske in MERIAN seinen Lesern eine andere Stadt, eine Region oder eine Landschaft. Gerade nach dem Krieg wollte er den Menschen in diesen Monographien zeigen, dass sie sich der Vielfalt und des Reichtums von Kultur und Gesellschaft wieder bewusst werden sollen. Die Leser sollten die Welt, in der sie lebten, wieder schätzen und lieben lernen.

    Namensgeber war der Künstler und Gelehrte Matthaeus Merian, der schon nach dem Dreißigjährigen Krieg Kupferstiche vom zerstörten Deutschland anfertigte. Genau wie er wollte MERIAN dokumentieren und informieren.

    Die Texte waren unterhaltsam und bildend, sie sollten aber auch zum Reisen anregen. Vorbilder waren dabei Johann Gottfried Seume oder Johann Wolfgang von Goethe mit ihren Reiseaufzeichnungen, die mit einem bewussten Blick unterwegs waren.

    Auch die Autoren von MERIAN wollten auf Reisen gehen und über die Orte berichten. Dabei wollten sie es vermeiden, sich Moden und dem Zeitgeist hinzugeben. Lieber sollte ein detailgetreues Bild der Realität gezeigt werden, was authentisch ist und über den Tellerrand hinaus geht. Zusätzlich gab es später auch Tipps vor Ort für die Leser.

    MERIAN existiert nach über 60 Jahren auch heute noch. Neben den Themen über Deutschland weitete die Redaktion ihr Themenfeld auf Europa und die ganze Welt aus.

    < WürzburgHeft Nr. 1 in der Mono-graphiereihe „Merian“ erscheint am 1. Juli 1948.

    Rund um BerlinAuch die Uckermark wur-de als Thema gestreift.

    < Mark BrandenburgEine der ersten Ausgaben von MERIAN. Bis 1954 er-schienen die Magazine nur mit deutschen Themen.

    < SalzburgAb 1964 wurden die Titel farbig. Hier das erste Heft mit einem Farbfoto. Auch im Heft wird es bunt.

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    FazitDie Geschichte der Reiseaufzeichnungen zeigt, dass es seit jeher ein Wunsch ist, Erlebnisse und Entdeckungen aufzuschreiben, um sie der Nachwelt als Nachschlagewerk zu konservieren. Die Nachwelt kann sich daran orientieren und begangene Fehler vermeiden. Diese Aufzeichnungen werden zum Leitfaden für „richtiges“ Reisen.

    Es ist faktisch alles entdeckt und erschlossen. Alle Hinweise sind gegeben, die man zum „Überleben“ in der Fremde braucht. Auch gibt es kaum noch unentdeckte Tierarten. Jeder weiss wie ein Tiger aussieht, auch wenn er ihn, wenn es den Zoo nicht gäbe, noch nie in natura gesehen hat, außer man war selbst in Asien oder Afrika. Die Funktion des „Lehrbuchs“ fällt also bei den Reiseführern heute weg.

    Festhalten und Dokumentieren von exotischen und fremden Objekten und Gegenden, das war die Anfangsaufgabe dieser Reiseaufzeichnun-gen. Heute möchte man die eigenen Erinnerungen konservieren, um sie nicht zu vergessen. Eigene Erlebnisse und Erfahrungen werden festgehalten, Personen, die man getroffen hat, verewigt oder Situatio-nen haltbar gemacht, um sie dann bildhafter erklären zu können. Die eigenen Reisen sind mit Träumen und Sehnsüchten verbunden, die man sich so immer wieder ins Gedächtnis rufen kann. Noch in mehreren Jahren wird man solche Aufzeichnungen anschauen und in Erinnerungen schwelgen.

    Heute werden in der Reiseindustrie eher mit ver allgemeinerten Fotos geworben, die wenig neu sind. Die Eindrücke sind weniger mit Staunen und Wundern beladen, als noch zu früheren Zeiten. Die Individualität ist verschwunden. Heute klingt alles sehr selbstverständlich und banal. Ein Blick in die Reiseführerwelt von heute verrät mehr.

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    Eine Analyse zur Zeit bestehender ReiseführerBei meiner Analyse der bestenden Reiseführer auf dem heutigen Büchermarkt beschränke ich mich auf die Region der Uckermark. Ich hatte ja eingangs in meiner Dokumentation schon erwähnt, dass die Uckermark mein zu untersuchendes Themengebiet sein wird.

    Wenn man sich im Buchladen auf der Suche nach einem Reiseführer über die Uckermark umschaut, gibt es gar nicht so viele Bücher, die das Reiseziel „Uckermark“ beschreiben. Meistens sind das Reise-führer über ganz Brandenburg. Dabei ist die Uckermark, bzw. der Nordosten von Brandenburg eine Unterrubrik.

    Brandenburg-Literatur gibt es genügend. In diesem ganzen Angebot ist es total schwer, den richtigen Reiseführer für die Uckermark zu fi nden und ausfi ndig zu machen, was an dem einen besser ist als an dem anderen. Die Bücher gleichen sich in vielerlei Hinsicht, kaum einer sticht wirklich aus der Masse heraus. Sie zeigen die großen Städte und dere