Prozessmodellierung in der Medizin - stiftungaktuell.de · Alcatel-Lucent Stiftung in...

69
98 Prozessmodellierung in der Medizin Eberhard Beck, Sascha Berliner, Gero Decker, Marian Krüger, Stefan Krumnow, Stefanie Judith, Tina Meissner, Rüdiger Molle, Arnim Nethe, Alexander Riegler, Johannes Scheer, Thomas Schrader, Beatrice Streit, Dietmar Wikarski

Transcript of Prozessmodellierung in der Medizin - stiftungaktuell.de · Alcatel-Lucent Stiftung in...

98

Prozessmodellierung in der Medizin

Eberhard Beck, Sascha Berliner, Gero Decker, Marian Krüger, Stefan Krumnow, Stefanie Judith, Tina Meissner, Rüdiger Molle, Arnim Nethe, Alexander Riegler,

Johannes Scheer, Thomas Schrader, Beatrice Streit, Dietmar Wikarski

Alcatel-Lucent Stiftung in Zusammenarbeit mit

Impressum Stiftungsreihe 98 Redaktion Dr. Erich Zielinski Petra Bonnet M.A. Druck der Broschüre DCC Kästl GmbH & Co. KG Alle Rechte vorbehalten © 2012

Die Alcatel-Lucent Stiftung für Kommunikationsforschung ist eine nichtrechtsfähige Stiftung in der treuhänderischen Ver-waltung des Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft.

Angaben nach § 5 TMD/ § 55 RfStv

Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft e.V. Barkhovenallee 1 45239 Essen Telefon: (02 01) 8401-0 Telefax: (02 01) 8401-301 E-Mail: [email protected]

Geschäftsführer: Prof. Dr. Andreas Schlüter (Generalsekretär)

ISSN 0932-156x

Dokumentation der Tagung „MedPro2011 – Tagung zur medizinischen Prozessmodellierung“ Fachhochschule Brandenburg, 14. April 2011

Inhalt

Einleitung 3 Arnim Nethe Prozessmodellierung in der Medizin 4 Stefanie Judith, Arnim Nethe Prozessoptimierung durch Unterstützung der mobilen Datenkommunikation in der präklinischen Notfallversorgung 17 Rüdiger Molle, Stefan Krumnow Prozessintelligenz im Gesundheitswesen – Modellierung und Analyse von klinischen Pfaden 22 Gero Decker Prozessmodellierung mit BPMN 2.0 und Signavio 29 Alexander Riegler Qualitätssicherung bei Gesundheitsinformationen aus dem Internet – Vorstellung eines alternativen Datenbankprojektes 36 Dietmar Wikarski Prozessmodellierung zur Qualitätssicherung in den Bereichen Medizin, Rehabilitation und Ausbildung - Konzepte, Erfahrungen und Maxime 49 E. Beck, B. Streit, T. Meissner, J. Scheer, M. Krüger, S. Berliner, Th. Schrader Modellierung medizinischer Prozesse mit der Business Process Modeling Notation (BPMN) 55 Thomas Schrader Von der digitalen zur kollaborativen Pathologie - Prozessmodellierung für die Mammapathologie 59

3

Einleitung

Die MedPro2011 – Tagung zur medizinischen Prozessmodellierung – fand am 14. April 2011 im Audimax der Fachhochschule Bran-denburg statt und stand in der Tradition ähn-licher gemeinsamer Tagungen der beiden Fachbereiche Informatik und Wirtschaft in den Jahren 2008 und 2010, wo mit der Elekt-ronischen Gesundheitskarte und Telemedizi-nischen Anwendungen bereits aktuelle und zum Teil brisante Themen aufgegriffen und im Fach- und Interessiertenkreis diskutiert wurden.

Das Thema der medizinischen Prozessmo-dellierung wurde auf der Vorgänger-Tagung „Telemedizin und Kommunikation“ im Mai 2010 als spannend und aktuell ins Auge ge-fasst. Obwohl Prozessmodellierung bereits weitreichende Erfolge vor allem in der Abbil-dung, Analyse und Gestaltung von Unterneh-mensprozessen aufzuweisen hat, war diese „Kunst“ in der Medizin bisher vor allem dem administrativen Bereich vorbehalten. Originär medizinische Prozesse wie auch deren Ver-knüpfung mit administrativen Prozessen wur-den bislang eher selten betrachtet. Die MedPro 2011 widmete sich thematisch genau dieser Verbindung, um medizinische Pro-zessmodellierung als Bindeglied zwischen medizinischer Arbeit und administrativen Pro-zessen zu etablieren.

Rund 70 Teilnehmerinnen und Teilnehmer unterschiedlicher Fachdisziplinen trafen bei der Tagung zusammen, um Praxisanwen-dungen, Erfahrungen, Methoden und Tools der Prozessmodellierung vorzustellen. Insbe-sondere die Analyse und Gestaltung medizi-nischer Behandlung als Prozess, die Verwen-dung graphischer Modellierungssprachen und

Fragen der Integration von IT in Kranken-hausprozesse standen im Fokus der Veran-staltung.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die MedPro2011 ihrem Anspruch als Initialzün-dung für eine übergreifende und integrieren-de Betrachtung der Modellierung, Analyse und -Gestaltung medizinischer und administ-rativer Prozesse gerecht wurde. Da das Ta-gungsthema aus ganz unterschiedlichen Per-spektiven betrachtet wurde, entstanden aus den Einzelbeiträgen interessante und auf-schlussreiche Diskussionsrunden. Auch The-menfremde erhielten einen „prozessorientier-ten“ Einblick in den Klinikalltag. Der Tenor, dass die Thematik viel Potenzial für eine Nachfolgetagung enthält, war einhellig. Aus-führliche Informationen wie auch die Präsen-tationsfolien der Veranstaltung sind unter http://www.buergerservicenetz.de/index.php?id=105 zu finden.

Eberhard Beck, Thomas Schrader, Dietmar Wikarski

4

Prozessmodellierung in der Medizin Arnim Nethe

Einleitung

Prozessmodelle werden verwendet, um Pro-zesse oder ganz allgemein Abläufe zu be-trachten und beschreiben, um anschließend Vorhersagen über deren Verhalten machen zu können. Lassen sich solche Vorhersagen treffen, können dann die gewonnen Erkennt-nisse in eine gezielte Ablaufsteuerung ein-fließen. Dieses Vorgehen wird im allgemei-nen Simulation genannt und dient zur mo-dellhaften Darstellung oder Nachbildung be-stimmter Aspekte eines vorhandenen oder eines noch zu entwickelnden Systems. Sie erlaubt die Untersuchung von Systemen, an denen die probeweise Durchführung zu ge-fährlich, zu teuer oder sogar unmöglich ist. Grundlegend für jede Simulation ist die Ver-fügbarkeit eines entsprechenden Prozess-modells, die wesentlichen Prozesseigen-schaften beschreibt. So lassen sich im Rück-schluss gezielte Veränderungen am Aus-gangsprozess selber durchführen. [Nethe 2002]

Gibt es eine Reihe von Prozessen, die inein-ander greifen, so werden diese normalerwei-se einzeln beschrieben und dann verkettet. Wird die Telemedizin als solch eine Kette an-gesehen, so haben wir hier drei einzelne Sys-teme vorliegen. Den Menschen mit der not-wendigen Sensorik, um die biomedizinischen Daten zu erfassen, den Übertragungsweg mit der Übertragungstechnik und dann den Arzt mit der Auswertung der Daten. Die Schwie-rigkeit hierbei ist, dass diese einzelnen Pro-zesse ineinandergreifen, sogar miteinander verschränkt sind oder sich überlagern kön-nen. Damit bei der Beschreibung solch kom-

plexer Prozesse keine systematischen Fehler unterlaufen, ist eine klar strukturierte Vorge-hensweise bei der Erstellung des Prozess-modells zu beachten. Fachleute, die ihren Bereich kennen, sind oft versucht hier mit Fachwissen und Kompetenz wesentliche Schritte zu überspringen, dies gelingt oft, ist aber in interdisziplinären Bereichen nicht von Erfolg gekrönt, da die Randbedingungen der Fachdisziplinen verwischen.

Ansatz zur Prozessmodellbildung

Um den Vorgang der Prozessmodellbildung zu analysieren, wird der Unterschied zwi-schen einem allgemeinen und einem einge-schränkten Prozessmodell betrachtet.

Das allgemeine Prozessmodell erlaubt es dem Beobachter, ihn interessierende Fragen zu beantworten. Es ist ein Abbild der zeitli-chen Aufeinanderfolge von Zuständen und Zustandsübergängen. Ein allgemeines Pro-zessmodell ist ein Mittel zur möglichst voll-ständigen Beschreibung der erfahrenen Rea-lität.

Ein eingeschränktes Prozessmodell ist ein Modell mit geringem Detaillierungsgrad, das nur innerhalb der Grenzen (Schranken) der Prozessparameter die für einen bestimmten Anwendungszweck wichtigen Eigenschaften hinreichend genau wiedergibt. Es beschreibt einen Prozess in seinem interessierenden Bereich so einfach wie möglich und so genau wie nötig.

Die vorrangige Aufgabenstellung für den Ein-satz beider Varianten ist zum einen die Er-

SR98 Prozessmodellierung in der Medizin

5

langung eines grundlegenden Verständnisses des statischen und dynamischen Verhaltens eines Systems, zum anderen die Vorausbe-stimmung seines Verhaltens unter definierten Bedingungen. Dies lässt eine Vorhersage zu, wie sich das System unter normalen Bedin-gungen verhält bzw. steuern lässt. Ferner sind Prognosen möglich, wie sich das System unter extremen oder fehlerhaften Bedingun-gen verhält. (vergleiche auch [Profos 1977])

Das eingeschränkte Prozessmodell ist in der Auswertung schneller und besser handhab-bar als das allgemeine Prozessmodell, dabei sind seine Ergebnisse im Rahmen der Pro-zessparameter genauso verlässlich wie bei dem aufwendiger zu erstellenden allgemei-nen Prozessmodell. Davon abgeleitet ist ein eingeschränktes Prozessmodell ein Abbild der Natur unter Hervorhebung der für wesent-

lich erachteten Eigenschaften und dem Au-ßerachtlassen der als nebensächlich ange-sehenen Aspekte. Es ist ein Mittel zur Be-schreibung der erfahrenen Realität. Kurz gefasst, Modelle werden in dem interessie-renden Bereich der technischen und nicht-technischen Prozesse durch abstrakte Zu-sammenhänge beschrieben, unter einem Modell lässt sich allgemein folgendes verste-hen [Minsky 1965]:

"A model (M) for a system (S) and an ex-periment (E) is anything to which E can ap-plied in order to answer questions about S."

Allerdings stehen Prozessmodelle nicht selbstverständlich zur Verfügung, sondern müssen über einen Modellbildungsprozess erst erstellt werden.

In Abbildung 1 ist dargestellt, wie der Beob-

Abbildung 1: Wahrnehmung eines Prozesses über die sichtbaren Parameter und dessen Abbildung als

Prozessmodell.

Arnim Nethe SR98

6

achter von seinem Blickpunkt aus die sichtba-ren Parameter des Prozesses sieht. Dieser sichtbare Bereich hängt von vielen Faktoren ab, von einem anderen Blickpunkt aus sind dementsprechend andere Parameter sicht-bar, aber es bleibt normalerweise ein Bereich nicht beobachtbar. Diese unterschiedliche Wahrnehmung findet sich dann bei der Er-stellung des Prozessmodells wieder, so dass hier auch unterschiedliche Ergebnisse mög-lich werden.

Bei der abstrakten Prozessmodellbildung müssen zwei grundsätzlich verschiedene Verfahren betrachtet werden. Die deduktive Modellbildung ist dadurch gekennzeichnet, dass mit Hilfe der Grundgesetze der Natur-

wissenschaften eine mathematische Formu-

lierung der Vorgänge abgeleitet wird, um von einer qualitativen Vorstellung eine quantitati-ve Beschreibung zu finden. Bei der induktiven Modellbildung werden zunächst über eine Messung die zugänglichen Ein- und Aus-gangsgrößen des Prozesses beobachtet. Mit-tels einer statistischen Analyse sind diese Beobachtungen mit einem vorgegebenen ma-thematischen Modell zu korrelieren, um einen Zusammenhang zwischen den wesentlichen Ein- und Ausgangsgrößen herzustellen und ein empirisches Modell zu erhalten. Dies be-deutet, dass ein induktives Prozessmodell durch die Identifikation der Prozessparameter und -größen (Parameteridentifikation) gebil-det wird (Prozessidentifikation), es lässt aber

keinerlei Aussagen über die Funktion (den

Abbildung 2: Korrelation von Aufwand und Güte (auch [Profos 1977])

SR98 Prozessmodellierung in der Medizin

7

Funktionalzusammenhang) des Prozesses zu.

Diese Auswertung des beschriebenen funkti-onalen Zusammenhanges ist dann die Auf-gabe einer Simulation, Ziel sind Erkenntnisse über geplant oder auch schon laufende Pro-zesse zu gewinnen. Bei der Simulation wer-den oftmals sehr genaue mathematische Be-schreibungen eines Prozesses eingesetzt, die auch außerhalb der Bereiche der Pro-zessparameter gute Simulationsergebnisse liefern. Dieser erhöhte Rechenaufwand wird mit längeren Rechenzeiten oder leistungsfä-higerer Hardware bezahlt. Beides treibt die Kosten (Kosten ist an dieser Stelle auch ein Synonym für Zeitaufwand) für die Simulation in die Höhe. Nur in einem kleinen Bereich ist die Korrelation zwischen Kosten und Genau-igkeit für brauchbare Prozessmodelle gege-ben. Setzt man hier mit einem Konzept an, in dem die geforderte Genauigkeit nur im Be-reich der Prozessparameter erfüllt werden soll, so sinken die Kosten und man gelangt in den gewünschten Bereich der brauchbaren Prozessmodelle (siehe Abbildung 2), die Fol-ge sind eingeschränkte Prozessmodelle.

Vom allgemeinen zum eingeschränkten Prozessmodell

Während bei der Bildung allgemeiner Pro-zessmodelle die möglichst vollständige Er-fassung und Bewertung des Wissens über einen bestimmten Prozess im Vordergrund steht, so sind es bei einem eingeschränkten Prozessmodell die Grenzen der Prozesspa-rameter. Dieses Prozessmodell muss nur in-nerhalb dieser Parameter so genau wie nötig sein, während außerhalb des Gültigkeitsbe-reiches dieser Prozessparameter die Genau-igkeit von untergeordnetem Interesse ist. Dies bedeutet, dass der Detaillierungsgrad so

klein wie möglich gehalten werden sollte und das Prozessmodell absichtlich nur die für den bestimmten Anwendungszweck wichtigen Ei-genschaften hinreichend genau wiedergibt, so dass der Modellierungszweck gerade er-reicht wird. Dieses hat erhebliche Konse-quenzen, weil sie die Prozessmodellbildung erleichtert und einer Strukturierung zugäng-lich macht. (siehe auch [Schuler 1996])

Diese Strukturierung und die Zerlegung des Systems (siehe Abbildung 3) finden sich in der Auswahl der wesentlichen Elemente wie-der. Dazu muss man Gesetzmäßigkeiten, Koordinaten sowie Ortsabhängigkeiten ken-nen, Randbedingungen und Parameter bestimmen und einer strukturierte Entkopp-lung zugänglich machen. Die hier aufgeführ-ten Elemente beziehen sich auf die später dargestellten Beispiele und können entspre-chend ergänzt werden. Die strukturierte Ent-kopplung zur Reduktion der Komplexität er-gibt sich durch die Annahme, dass die Para-meter an den Bereichsgrenzen festgelegt werden und bekannte Eingangs- sowie An-fangsgrößen darstellen [VDI/VDE 1992].

Alle oben genannten Punkte innerhalb der Modellstruktur erfordern bei der dann zu er-folgenden Umsetzung zum eingeschränkten Prozessmodell Intuition und Erfahrung. Die genannten Punkte sind von entscheidender Bedeutung für Komplexität und Güte solcher Prozessmodelle, beruhen aber trotzdem nur auf geschickter Anwendung der physikali-schen bzw. naturwissenschaftlichen Grund-gesetze. Selbstverständlich kann man ein eingeschränktes Prozessmodell auch mit ei-nem vorhandenen allgemeinen (aufwendi-gen) Prozessmodell überprüfen. Letzten En-des wird die Genauigkeit eines Prozessmo-dells am praktischen Versuch gemessen. Mithin ist das oberste Gebot eines Prozess-modells die unbedingte Narrensicherheit in

Arnim Nethe SR98

8

Bezug auf die Ergebnisse. Die wissenschaft-liche Vollkommenheit bleibt der Forschung vorbehalten.

Es soll noch an dieser Stelle der Unterschied zwischen einem eingeschränkten Prozess-modell und einer Näherung im herkömmli-chen Sinne behandelt werden. Eine mathe-matische Näherung geht von mehr oder we-niger komplizierten funktionalen analytischen oder numerischen Zusammenhängen aus und stellt sie mittels einfacher, wiederum funktionaler Zusammenhänge z.B. Splines dar, d.h. rein mathematisches Wissen und

reine Systematik bilden den Hintergrund die-ser Vorgehensweise. Ein eingeschränktes Prozessmodell hingegen nimmt Rücksicht auf die Funktionalität der Parameter und baut somit auf dem physikalischen Hintergrund auf.

Für die Erstellung eines Prozessmodells ist die Zerlegung des Systems in seine Elemen-te notwendig. An dieser Stelle besteht die Möglichkeit, das gewählte Problem als Gan-zes zu betrachten oder in Teilprobleme auf-zugliedern. Für die jeweils ein Prozessmodell erstellt werden soll, und die dann später zu-

Abbildung 3: Ablaufplan der Prozessmodellbildung

SR98 Prozessmodellierung in der Medizin

9

sammengefasst werden müssen. Dabei gerät man aber leicht in Gefahr, durch Diversifizie-rung das eigentliche Ziel aus den Augen zu verlieren. Entscheidet man sich für die erste Variante, so ist eine gründliche Zerlegung er-forderlich. Ein reines Sammeln von Informati-onen sollte dies aber nicht sein, denn eine ungegliederte Anhäufung von Informationen vermehrt die Unübersichtlichkeit und ist keine Entscheidungshilfe. Im zweiten Schritt sind die Anteile auszuwählen, die für die mathe-matische Beschreibung wesentlich sind. Da-bei helfen die im vorherigen Abschnitt ge-nannten Strukturierungspunkte. Eventuell auftretende Fehler sind in einem weiteren Ite-rationsschritt zu beheben.

In der sich nun anschließenden Prozessana-lyse werden die einzelnen Elemente des Sys-tems betrachtet. Ihr Einfluss auf die Prozess-größen bzw. umgekehrt, der Einfluss der Prozessparameter auf die einzelnen Elemen-te muss analysiert werden. Ziel in diesem Abschnitt der Prozessmodellbildung ist die Bewertung und Gewichtung der Einflussgrö-ßen auf das gesamte Prozessmodell. Bei der Synthese werden die Einflussgrößen unter Berücksichtigung der Bereiche der Parameter zusammengefasst. Nachdem man das Pro-zessmodell bis hierher erstellt hat, ist die Be-stimmung der Parameter notwendig (Parame-teridentifikation), um im Anschluss dieses zu überprüfen. Diese Validierung ist der Schlussstein bei der Prozessmodellbildung. Sie führt bei Nichterfüllung der gestellten Kri-terien zu einer der Vorstufen zurück. Bei Er-füllung kann man sagen, dass das Prozess-modell erstellt ist und nun dem Einsatz in der Simulation nichts mehr im Wege steht. Der Biokybernetiker Ludwig von Bertalanffy drückt dies verallgemeinert folgendermaßen aus [Bertalanffy 1968]:

“Oversimplifications, progressively corrected in subsequent development are the most po-tent or indeed the only means toward concep-tual mastery of nature”.

Der Übergang von einem allgemeinen zu ei-nem eingeschränkten Prozessmodell soll man Hand eines praktischen und ganz aktu-ellen Beispiels verdeutlicht werden: „In der Notaufnahme eines Krankenhauses im US-Bundesstaat Michigan, in die häufig Men-schen mit starken Brustschmerzen eingelie-fert wurden. Die Ärzte mussten sich jeweils entscheiden: Sollten sie dem Kranken ein gewöhnliches Bett zuteilen – oder ihn lieber in die Station für Patienten mit Herzinfarkt einweisen? Neunzig Prozent von ihnen ka-men auf die Spezialstation – doch in Wahr-heit wäre das nur für jene 25 Prozent der Pa-tienten nötig gewesen, deren Schmerzen tat-sächlich von einem Herzinfarkt verursacht wurden. Um die Rate der Fehlalarme zu sen-ken, entwickelten Forscher am University of Michigan Hospital eine Entscheidungshilfe: eine Checkliste (allgemeines Prozessmodell) mit 50 verschiedenen Punkten. Die Ärzte in der Notaufnahme gingen Frage für Frage durch, tippten Zwischenergebnisse in einen Taschenrechner und errechneten die Wahr-scheinlichkeit eines Herzinfarkts. Die Mühe lohnte sich: Ihre Trefferquote stieg beträcht-lich. Allerdings wurde den Notärzten die Rechnerei schon bald lästig, und sie hörten auf, die 50-Punkte-Liste zu benutzen. Ihre Entscheidungen jedoch blieben verbessert – warum nur? Die Forscher fanden die Antwort: Der vorübergehende Gebrauch der 50-Punkte-Liste hatte das Denken der Ärzte ver-ändert. Sie hatten einige Aspekte der Liste verinnerlicht – und somit eine durchaus hilf-reiche Abkürzung im Denken genommen. Die Forscher in Michigan entwickelten daraufhin eine neue Entscheidungshilfe, diesmal jedoch

Arnim Nethe SR98

10

eine ganz simple, mit nur wenigen Ja- und Nein- Antworten (eingeschränktes Prozess-modell). Das war die Lösung: Diese verein-fachte Entscheidungshilfe war nicht nur taug-lich für den klinischen Alltag, sondern sie führte auch zu noch mehr korrekten Diagno-sen als die ursprünglich 50-Punkte-Liste. Be-wusster Verzicht auf Informationen kann eine Diagnose also präziser machen.“ [Blech 2011].

Überprüfung von Prozessmodellen

Bei der Überprüfung von Prozessmodellen ist von der inneren bzw. äußeren Korrektheit zu betrachten (siehe Abbildung 4). Verifikation ist der formale Nachweis der Korrektheit des Prozessmodells im Hinblick auf die in der Systemspezifikation vorgeschriebenen Ei-

genschaften. Sie weist die innere bzw. in sich geschlossene Gültigkeit des Modells nach. Die Validierung ergibt die Gültigkeit des Pro-zessmodells aufgrund der Übereinstimmung der Modelltestergebnisse mit den am realen System gewonnenen Testwerten. Somit sind zur Überprüfung zwei unabhängige Datenba-sen notwendig. Während der Erstellung eines Prozessmodells ist für jede einzelne Phase eine Verifikation erforderlich. Nur dadurch lässt sich das benötigte Vertrauen in das Prozessmodell herstellen und Dritten gegen-über die Richtigkeit nachweisen.

Zu Beginn ist bei der Konzeption des Pro-zessmodells, welche auf der Erfahrung von Experten beruht, für die dabei getroffenen Annahmen und Festlegungen eine kritische Überprüfung und Bewertung durchzuführen.

Abbildung 4: Verifikation und Validierung von Prozessmodellen

SR98 Prozessmodellierung in der Medizin

11

Auch die erforderlichen Parameter müssen unter Berücksichtigung ihrer Verfügbarkeit und ihrer Qualität bewertet werden. Bei der Validierung von Prozessmodellen ist grund-sätzlich zu unterscheiden zwischen Modellen von real existierenden Systemen und sol-chen, die projektiert sind oder sich noch im Aufbau befinden. Bei existierenden Systemen ist die Validierung anhand von experimentel-len Daten möglich, d.h. durch den Vergleich von Simulationsergebnissen mit Werten, die durch Messungen am realen System vorge-nommen wurden. Wichtig ist, bei diesen Un-tersuchungen den Bereich festzustellen, in dem das Prozessmodell seine Gültigkeit be-sitzt. Dies ist eine der schwierigsten Aufga-ben, da das Prozessmodell vom Ansatz her Ergebnisse liefert, die von der Realität abwei-chen. Hierbei ist die bei der Konzepterstel-lung festgelegte Fehlertoleranz der Ergebnis-se zu überprüfen.

Drei Beispiele aus unserer Forschung

Für die erfolgreiche Arbeit mit Prozessmodel-len ist der erste Schritt, die Zerlegung des Systems in seine Komponenten von wesent-licher Bedeutung. Fehler die hier gemacht werden, müssen in mühsamen Iterations-schritten korrigiert werden. Anhand von drei ganz unterschiedlichen Beispielen soll für die Punkte • Gesetzmäßigkeiten, • Koordinaten, • Ortsabhängigkeiten, • Randbedingungen, • Parameter und • strukturierte Entkopplung dargestellt werden, wie mannigfach die Um-setzung sein kann. Als Beispiele dienen • als technisches Medizinproduktes ein

Herzunterstützungssystem, • eine telemedizinische Anwendung, die

mobile Datenkommunikation in der präkli-nischen Notfallversorgung,

• ein Gerät aus dem Hilfsmittelbereich, ein elektronisches Vergrößerungssystem für Sehbehinderte.

Abbildung 5: Antriebs eines Herzunterstützungssystems

Arnim Nethe SR98

12

Antriebs eines Herzunterstützungssys-tems

Beim Beispiel des Antriebs eines Herzunter-stützungssystems sind es die Gesetze der Elektro- und Fluiddynamik, mit denen das Prozessmodell beschrieben werden kann, dementsprechend sind dann die Koordina-

tensysteme im R3 als Funktion der Zeit – mit denen die Abläufe beschrieben werden kön-nen – zu wählen.

Bei den Ortabhängigkeiten verlässt muss man jetzt das rein technische Gebilde und muss den menschlichen Körper in die Be-trachtung mit einbeziehen, da das Herzunter-stützungssystem nahe beim Herzen implan-tiert werden muss. Die Größe des Systems aber auch der Energieversorgung spielen für die erfolgreiche Entwicklung zum Produkt ei-ne wesentliche Rolle. Hiermit gelangt man zu

den Randbedingungen für die Implantierbar-keit Größe und Gewicht, sowie der Parameter Energiedichte und Wirkungsgrad des Antrie-bes. Somit besitzt das System von sich aus zwei ganz unterschiedliche Aspekte, die ge-trennt betrachtet werden können, aber für die Gesamtbetrachtung von wesentlicher Bedeu-

tung sind. Diese strukturierte Entkopplung führt dann zum einen auf die Blutpumpe mit ihrer physiologischen Anforderungen und den elektrischen Antrieb mit seinen Betriebspa-rametern. (Nethe et.al. 2008)

Mobile Datenkommunikation in der präklinischen Notfallversorgung

Beginnt man bei der Betrachtung dieses Pro-zesses mit der Suche nach Gesetzmäßigkei-ten, so könnten man die verschiedenen elekt-

Abbildung 6: Mobile Datenkommunikation in der präklinischen Notfallversorgung, Datenrate und Ret-tungsweg (oben), Prozessmodell (unten).

SR98 Prozessmodellierung in der Medizin

13

rischen Aspekte der Informationsübermittlung betrachten, dies würde aber für den zu be-trachtenden Prozess keine hinreichenden In-formationen liefern. Was aber ist die oberste Priorität bei solch einem Prozess, es ist die Integrität der Daten, kurz die sichere Übertra-gung von Daten. Dementsprechend lassen sich als Koordinaten für dieses System Da-tenstrukturen für Transport und Speicherung definieren. Die Ortsabhängigkeiten sind dem-nach Infrastruktur der Verkehrswege und der Funkversorgung. Hier sind die zu betrachten-den Randbedingungen die für die Übertra-gung notwendigen Vitaldaten aber auch die durch die Infrastruktur vorgegebene mögliche Datenmenge. Als Parameter findet sich die Fahrstrecke vom Unfallort zum Krankenhaus, die variieren kann aber auch als Parameter zur Verfügung steht.

Somit sind es wieder zwei ganz unterschied-liche Aspekte, die bei der Betrachtung eine Rolle spielen, zum einen die medizinisch notwendige Patientenversorgung und zum anderen das Datenmanagement. Auch hier zeigt die strukturierte Entkopplung das beide Aspekte getrennt analysiert werden können und sollten, aber beide zum Prozess unab-dingbar zusammen gehören. (Opitz et.al. 2011)

Elektronisches Vergrößerungssystem für Sehbehinderte

Ein wichtiges Grundhilfsmittel für Sehbehin-derte mit sehr starker Sehschwäche sind so genannte Bildschirmlesegeräte. Das sind Kamerasysteme für den Fern- und Nahbe-reich. Die Kamera ist in ein Gehäuse einge-lassen und auf eine Platte ausgerichtet. Auf diese wird die zu lesende Vorlage (Text, Gra-fik etc.) gelegt. Die Platte ist sowohl in hori-zontaler als auch in vertikaler Richtung auf Schienen bewegbar. So können der zu le-sende Text oder die zu betrachtende Grafik sehr präzise unter der Kamera bewegt wer-den. Des Weiteren gibt es auch mobile Bild-schirmlesegeräte für Schule, Studium und Beruf, um Objekte im Nah- und Fernbereich in Verbindung mit einem Laptop zu vergrö-ßern. Das Problem hierbei ist, dass selbst die Geräte für den mobilen Einsatz eher sperrig und kabelgebunden sind. Die hier vorgestellte Idee soll die vorhandenen Produkte nicht zwangsläufig ersetzen, sondern eine wesent-lich leichter mitzunehmende, kabelungebun-dene, sowie kostengünstige Alternative bie-ten.

Besonders im Bereich der Hilfsmittel für Seh-behinderte besteht ein akuter Mangel an

Abbildung 7: Elektronisches Vergrößerungssystem für Sehbehinderte

Arnim Nethe SR98

14

preiswerten, innovativen, zeitgemäßen und komfortablen Produkten. Nur wenige Firmen ziehen neuere Techniken in Betracht um in-novativere Produkte zu entwickeln. Viele Hersteller verkaufen nicht mehr zeitgemäße Produkte, ohne dabei bestehende Konzepte zu hinterfragen und zu überdenken. An dieser Stelle kommen die Methoden der Prozess-modellbildung wieder ins Spiel.

Bei gleicher Vorgehensweise bei der Zerle-gung des Systems steht als erstes an, wel-ches sind die zu betrachtenden Gesetzmä-ßigkeiten, hier sind es die Naturgesetze der Optik und die der physiologischen Wahrneh-mung, also die Verarbeitung der Lichtreize im

Auge und im Gehirn. Als Koordinaten könnte man jetzt wieder den R3 sehen, aber dies würde dem zu beschreibenden Prozess nicht gerecht werden. Es ist nämlich der Aktions-raum des Nutzers, der über die Funktionalität des Produktes entscheidet, somit sind die Ortsabhängigkeiten, die des Einsatzes im persönlichen Umfeld. As Randbedingungen finden sich die mobile Einsetzbarkeit, aber auch ein günstiger Preis, der über die Ver-marktbarkeit solch eines Produktes mitent-scheidet. Die Parameter zur Verbesserung der Wahrnehmung finden sich eine Falsch-farbdarstellung, die die physiologische Wahr-nehmung verbessern kann, aber auch eine

Abbildung 8: Konzeptidee macroslide. [Stroh2010]

Abbildung 9: macroslide app.

SR98 Prozessmodellierung in der Medizin

15

Sprachausgabe, die einen anderen Sinn des Menschen anspricht. Auf dem Weg zum Pro-dukt zeigt sich, dass eine getrennte Betrach-tung von Standardkomponenten und Sonder-bauteilen einer strukturierten Entkopplung zugänglich macht.

Ein weiterer Meilenstein war hierbei die Ein-führung von VoiceOver, einer Vorlesesoft-ware (Screen Reader) für das Apple iPhone Mitte 2009. Das besondere hierbei ist, dass es sich nicht um ein spezielles, preisintensi-ves Hilfsmittel handelt, sondern um ein fast schon alltägliches Kommunikationsgerät, welches durch eine eingebaute Software di-rekt von Blinden und Sehbehinderten genutzt werden kann. Dies bot eine Grundlage zur Entwicklung eines digitalen Vergrößerungs-systems als Ergänzung zu den bisher verfüg-baren Hilfsmitteln unter dem Namen macros-lide. [Stroh et.al. 2011]

macroslide ist ein digitales Vergrößerungs-system für zu Hause und unterwegs. Hand-lich, leicht, netzunabhängig und überall ein-setzbar. Text und Bild erscheinen vergrößert im Display des iPhones oder via WLAN auf einem Monitor. macroslide funktioniert in je-der Position, ob vertikal, horizontal oder schräg. Der Abstand zum Leseobjekt ist ständig gewährleistet. macroslide bietet dar-über hinaus die Möglichkeit, den Kontrast zu verstärken. Das ist z.B. bei Texten auf Um-welt bzw. Zeitungspapier manchmal unab-dingbar. Ferner können neben einer Echtfar-bendarstellung bestimmte Vorder- und Hin-tergrundfarben eingestellt werden. Hierdurch wird, vor allem bei Sehbehinderten mit einer bestimmten Farbschwäche, die Qualität der Vorlage erhöht. Zusätzlich kann ein Augen-arzt oder Spezialoptiker ein für die jeweilige Augenerkrankung passendes Farbprofil für den Nutzer erstellen und dieses über eine Schnittstelle direkt in die Software integrieren.

macroslide ist sowohl ein Bildschirmlesegerät für Nutzer mit eingeschränktem Sehvermö-gen als auch eine elektronische Lupe für je-den, der ab und zu ganz genau hinsehen möchte. Das System besteht aus einem Lu-penvorsatz und einer iPhone-App.

Ausblick

Die systematische Erstellung von Prozess-modellen ist in technischen, produktionsorien-tierten Bereichen heutzutage Standard. In in-terdisziplinären Bereichen allerdings noch nicht weit verbreitet, da die Abgrenzung bzw. die Abstimmung an den Schnittstellen un-scharf ist. [Nethe et.al. 1997] Durch eine sys-tematische Prozessmodellbildung können nicht nur die einzelnen Prozessschritte klarer beschrieben werden, sondern die Abstim-mung an den Schnittstellen leichter durchge-führt werden. Gerade in der Medizin ist es der Faktor Mensch, der durch seine individuellen Bedürfnisse, den Vorgang der Modellierung selbst zu einem Prozess macht, der immer wieder überprüft werden muss.

Bei den drei Beispielen ist exemplarisch dar-gestellt, wie eine Prozessmodellbildung im Ansatz vorstatten gehen könnte. Dabei han-delt es sich aber nicht um die einzige Lösung, sondern um einen Ansatz, der aus Sicht des Nutzer bzw. Erstellers gefunden wurde. Selbst bei gleicher Aufgabenstellung kann bei einem anderen Vorwissen oder auch anders bewerteten Randbedingungen ein ganz ande-res Prozessmodell entstehen.

Arnim Nethe SR98

16

Literatur

L. v. Bertalanffy (1968): General System Theory. New York: Braziller, 1968

J. Blech (2011): Der Spiegel Nr.7/14.2.11 S.128

M. Kirsche, M. Dreissig, R. Kopsch, J. Gaeb-ler, R. Klauck, M. Pink, F. Liu, H. Koenig (2011): uBeeMe – Eine Plattform zur Unter-stützung mobiler kollaborativer Anwendun-gen, in PIK - Praxis der Informationsverarbei-tung und Kommunikation. Band 34, Issue 1, January - March 2011.

M. Minsky (1965): Matter, mind and models. In: W. A. Kalenich (Hrsg.): Information Proc-essing 1965. Proc. IFIP Congress, New York City, May 1965, 1 (1965) S. 45-49. Washing-ton: Spartan Books, 1965

A. Nethe (2002), Prozessmodellbildung - Theorie und Anwendung, Berlin, Verlag Dr. Köster, 2002

A. Nethe, E. Nolle, H.-D. Stahlmann, A. Dre-her, J. Friedrich, S. Plotnikova (2008): Elekt-roantrieb für ein Linksherz-Unterstützungs-system. FHTE Spektrum, 28 (2008) 21, S. 40-42.

A. Nethe; H.-D. Stahlmann (1997): Einsatz von Prozeßmodellen in der Produktionsvor-bereitung. In: Industrie Management, 13 (1997) 2, S. 56-58

St. Opitz, A. Nethe (2011): Prozessoptimie-rung durch Unterstützung der mobilen Daten-kommunikation in der präklinischen Notfall-versorgung. MedPro 2011, Brandenburg.

P. Profos (1977): Modellbildung und ihre Be-deutung in der Regelungstechnik. In: VDI-Berichte Nr. 276. Düsseldorf: VDI, 1977

Philipp Stroh (2010): Halterung für mobile Kommunikationsgeräte und Verfahren zur Vi-sualisierung von Objekten sowie ein entspre-chendes Computerprogramm und ein ent-sprechendes computerlesbares Speicherme-dium. P08021DE, Geschützte Patentan-meldung.

Ph. Stroh, A. Nethe (2011): Prozessmodelle als Werkzeug zur Gestaltung eines Hilfsmit-tels. MedPro 2011, Brandenburg.

VDI/VDE-Gesellschaft Mess- und Automati-sierungstechnik (1992): Modellbildung für die Regelung und Simulation. Düsseldorf: VDI, 1992

H. Schuler (Hrsg.) (1996): Prozeßsimulation. Weinheim: VCH, 1995. [8]M. Spitzer: Geist im Netz - Modelle für Lernen, Denken und Han-deln. Heidelberg: Spektrum Akademischer Verlag, 1996

Arnim Nethe, Gerätetechnik, BTU Cottbus

17

Prozessoptimierung durch Unterstützung der mobilen Datenkommunikation in der präklinischen Notfallversorgung Stefanie Judith Opitz, Arnim Nethe

Einleitung

Die präklinische Notfallversorgung hat als in-tegraler Bestandteil des Rettungsdienstes die Aufgabe, flächendeckend und bedarfsgerecht die notfallmedizinische Versorgung der Be-völkerung sicher zu stellen [1]. Dabei ist auch die Notfallmedizin mit den vielfältigen Prob-lemen des deutschen Gesundheitssystems konfrontiert. Infolge des demographischen Wandels werden altersassoziierte Erkran-kungen und Multimorbidität gleichermaßen zunehmen. Schon heute sind die Auswirkun-gen dieser Entwicklung deutlich sichtbar. Gemäß der sich verändernden Altersstruktur verschiebt sich der notfallmedizinische Fokus mit einem deutlichen Trend hin zu geriatri-schen Patienten und internistischen Krank-heitsbildern. Gleichzeitig steigt die Zahl der Notarzteinsätze kontinuierlich an [2]. Verbun-den mit dem drohenden Fachkräftemangel, der zunehmenden Spezialisierung der Kran-kenhäuser und dem Wegfall von Notarzt-standorten ist damit zu rechnen, dass schon in naher Zukunft signifikante Defizite bei der notfallmedizinischen Versorgung auftreten [14]. Drohende Finanzierungsschwächen im Rettungswesen erzwingen ein Umdenken sowie schnelles Handeln unter Berücksichti-gung wirtschaftlicher Aspekte [3].

Der gezielte Einsatz moderner Informations- und Kommunikationstechnologien in Form von telemedizinischen Anwendungen stellt einen wichtigen Ansatz zur Sicherung einer

flächendeckenden und qualitativ hochwerti-gen notfallmedizinischen Versorgung dar. Es wird das Ziel verfolgt, Fachwissen schnell und ortsunabhängig verfügbar zu machen sowie alle an der notfallmedizinischen Ver-sorgung beteiligten Akteure miteinander zu vernetzen. Als interdisziplinäres Fach ist die Notfallmedizin auf eine gute Kommunikation und Kooperation angewiesen [4]. Zahlreiche telemedizinische Referenzprojekte (Med-on-@ix, Stroke Angel, NOAH u.a.) haben ihren Nutzen für die notfallmedizinische Versor-gung nachgewiesen und deren Wirtschaft-lichkeit ist unbestritten [7, 8, 9]. Im Vergleich zu anderen medizinischen Bereichen ist die präklinische Notfallmedizin auf uneinge-schränkte Mobilität angewiesen. Mobile Netz-zugangstechnologien stehen deshalb im Mit-telpunkt des Interesses [5]. Die Datenüber-tragungsraten für mobile Internetzugriffe sind seit Jahren kontinuierlich angestiegen, dem gegenüber steht jedoch eine sehr heterogene Netzabdeckung im gesamten bundesdeut-schen Gebiet [10, 11, 12, 13]. Daraus resul-tieren Versorgungslücken vor allem in den ländlichen, strukturschwachen Gebieten. Es bedarf demnach geeigneter Konzepte zur Realisierung einer zuverlässigen und siche-ren mobilen Datenkommunikation für die präklinische Notfallversorgung.

Stefanie Judith Opitz, Arnim Nethe SR98

18

Prozessorientierte Analyse der präklini-schen Notfallversorgung

Das Organisationsprinzip im Rettungswesen folgt dem klassischen Modell der Rettungs-kette nach F.W. Ahnefeld (Abbildung 1). Initi-iert durch ein Notfallereignis wird ein struktu-rierter Versorgungsprozess in Form zeitlich nacheinander und aufeinander aufbauender Subprozesse ausgelöst. Sowohl die präklini-sche, als auch die klinische Notfallversorgung sind Bestandteile dieser Prozesskette.

Betrachtet man losgelöst von dem Modell der Rettungskette ausschließlich den Bereich der interpersonellen Kommunikation im Ret-tungswesen, ergibt sich ein Netzwerk mit ver-schiedenen Akteuren (Abbildung 2). Die Ko-ordination des Versorgungsprozesses und fast der gesamte Informationsfluss erfolgen direkt über eine zentrale Institution - die Leit-stelle. Dies birgt die Gefahr von Informations-verlusten sowie -verfälschungen („Stille-Post-Problem“) [9].

Abbildung 2: Rettungskette nach F.W. Ahnefeld

Abbildung 1: Kommunikationspartner der präklinischen Notfallversorgung

SR98 Prozessoptimierung und mobile Datenkommunikation

19

Grundlage für eine Optimierung, sprich die Steigerung von Effektivität und Effizienz des notfallmedizinischen Versorgungsprozesses, ist eine zuverlässige und sichere mobile Da-tenkommunikation. Trotz der rasanten Ent-wicklung moderner Informations- und Kom-munikationstechnologien werden im Bereich des Rettungswesens vorwiegend längst überholte analoge Funktechnologien für die Kommunikation genutzt – in dieser Hinsicht scheint die Zeit seit circa 40 Jahren stehen geblieben zu sein. Eine mobile Datenkom-munikation ist bisher nur rudimentär verwirk-licht und das Hauptaugenmerk liegt weiterhin auf der Übertragung einsatztaktischer Infor-mationen. In Anbetracht der sich verändern-den Bedingungen für die Notfallmedizin, wie zum Beispiel der Wegfall von Notarztstandor-ten, wird die mobile Übertragung medizini-scher Daten drastisch an Relevanz gewinnen [14]. Die Unterstützung mobiler kollaborativer Anwendungen, wie beispielsweise Telekon-sultationen, stellt ein probates Mittel dar, me-

dizinische Expertise schnell an jedem Notfal-lort verfügbar zu machen. Dünn besiedelte Gebiete und strukturschwache Regionen können von dem Einsatz telemedizinischer Anwendung für die Notfallversorgung stark profitieren. Dafür sind mobile Geräte und eine drahtlose Kommunikation unabdingbar. Eine große Herausforderung liegt hier in der Si-cherung einer zuverlässigen Datenkommuni-kation auch bei hohem Datenvolumen und stark schwankenden Übertragungsraten. Bis-herige Konzepte bieten selten Lösungsvor-schläge, die über eine zuverlässige Zwi-schenspeicherung von Daten hinausgehen.

Technische Lösungsansätze

Die uBeeMe Plattform, welche am Lehrstuhl Rechnernetze und Kommunikationssysteme der BTU Cottbus im Rahmen des BMBF-ForMaT-Programms entwickelt wurde, stellt wiederverwendbare Basiskomponenten für Anwendungsentwicklungen in mobilen Sze-narien bereit. Dabei liegt der Fokus auf Mobi-

Abbildung 3: uBeeMe Plattform Architektur [6]

Stefanie Judith Opitz, Arnim Nethe SR98

20

lität und Kollaboration in heterogenen Syste-men und Netzumgebungen. Folgende Kon-zepte werden durch die Plattform realisiert: Mobilitätsunterstützung, Gruppenkommunika-tion, flexible Lokalisierung und Sicherheit. Uneingeschränkte Mobilität, die für das Ret-tungswesen essentiell ist, erfordert zur Ver-meidung von häufigen Datenverbindungsab-brüchen effiziente Mechanismen für einen au-tomatischen Netzwechsel zwischen hetero-genen Netzen (Vertikaler Handover). Diese Mechanismen sind Teil des Mobilitätsmana-gement und ermöglichen dadurch eine konti-nuierliche Nutzbarkeit von medizinischen Anwendungen trotz Orts- oder Netzwechsels. Das Konzept der Gruppenkommunikation er-möglicht die Realisierung von geschlossenen Gruppensitzungen zwischen mobilen und sta-tionären Teilnehmern, zum Beispiel für Tele-konsultationen am Notfallort. Gleichfalls stellt die uBeeMe Plattform Sicherheitsfunktionali-täten bereit, welche die Schutzziele Vertrau-lichkeit, Authentizität und Autorisierung im mobilen Umfeld sicher stellen [6].

Zusammenfassung

Die Notfallmedizin muss sich den gleichen Herausforderungen stellen, vor denen auch alle anderen Bereiche des deutschen Ge-sundheitswesens stehen. Finanzierungs-schwächen, der drohende Fachkräftemangel und die demographische Entwicklung mit den einhergehenden Konsequenzen erzwingen Reformen. Die gezielte Ausschöpfung der Potentiale moderner Informations- und Kom-munikationstechnologien in Form telemedizi-nischer Anwendungen stellt einen wichtigen Ansatz zur Sicherung einer flächendecken-den und qualitativ hochwertigen notfallmedi-zinischen Versorgung dar. Besonderes Au-genmerk liegt auf der Optimierung von Infor-

mationsflüssen durch Erweiterung der mobilen Datenkommunikation mithilfe mobiler Netzzugangstechnologien (UMTS, GPRS, etc.). Grundlage für die Entwicklung geeigne-ter Konzepte zur Realisierung einer zuverläs-sigen und sicheren Übertragung medizini-scher Daten ist eine detaillierte Analyse be-stehender Strukturen und Prozesse im Ret-tungswesen. Technische Lösungsansätze für die Realisierung einer mobilen präklinischen Datenkommunikation sind vorhanden, müs-sen jedoch hinsichtlich der erhöhten Anforde-rungen an die Übertragung medizinischer Da-ten noch adaptiert werden.

Quellen

[1] Gesetz über den Rettungsdienst im Land Brandenburg (Brandenburgisches Ret-tungsdienstgesetz - BbgRettG) vom 14. Juli 2008 (GVBl.I/08, Nr. 10, S.186), http://www.bravors.brandenburg.de/sixcms/detail.php?gsid=land_bb_bravors_01.c.47078.de, zitiert am 11.05.2011.

[2] Behrendt, H.; Runggaldier, K.: „Ein Prob-lemaufriss über den demographischen Wandel in der Bundesrepublik – Auswir-kungen auf die präklinische Notfallmedi-zin“, Notfall & Rettungsmedizin. Volume 12, Number 1, http://www.springerlink.com/content/v8x1140603631431/fulltext.pdf, zitiert am 10.05.2011.

[3] Altemeyer, K.H.; Schlechtriemen, T.; Reeb, R.: „Rettungsdienst in Deutsch-land: Bestandsaufnahmen und Perspek-tiven“, Notfall & Rettungsmedizin. Volu-me 6, Number 2, http://www.springerlink.com/content/efw1bdhw94k9fp9w/fulltext.pdf, zitiert am 11.05.2011.

SR98 Prozessoptimierung und mobile Datenkommunikation

21

[4] Koch, B.; Wendt, M.; Lackner, C.K.; Ah-nefeld, F.-W.: „Herausforderungen an die Notfallversorgung der Zukunft: „Regional Health Care“ (RHC)“, Notfall & Ret-tungsmedizin. Volume 11, Number 7, http://www.springerlink.com/content/ar202h6x0u152645/fulltext.pdf, zitiert am 10.05.2011.

[5] Kyriacou, E.; Pattichis, M.S.; Pattichis, C.S.; Panayides, A.; Pitsillides, A.: “m-Health e-Emergency Systems: Current Status and Future Directions”, IEEE An-tennas and Propagation Magazine, Vol-ume 49, Issue 1, 2007.

[6] Kirsche, M.; Dreissig, M.; Kopsch, R.; Gaebler, J.; Klauck, R.; Pink, M.; Liu, F.; Koenig, H.: „uBeeMe – Eine Plattform zur Unterstuetzung mobiler kollaborativer Anwendungen“, PIK - Praxis der Informa-tionsverarbeitung und Kommunikation. Band 34, Issue 1, January - March 2011.

[7] Naß, E.; Renno, C.; Rörtgen, D.; Skor-ning, M.: „Forschungsprojekt Med-on@ix: Telemedizin im Rettungswesen“, Deutsches Ärzteblatt 2010. 107 (14), http://www.aerzteblatt.de/v4/archiv/artikel.asp?src=heft&id=73268, zitiert am 10.05.2011.

[8] Ziegler, V.; Rashid, A.; Müller-Gorchs, M.; Kippnich, U.; Hiermann, E.; Kögerl, C.; Holtmann, C.; Siebler, M.; Griewing, B.: „Einsatz mobiler Computing-Systeme in der präklinischen Schlaganfallversor-gung“, Der Anaesthesist. Volume 57, Number 7, http://www.springerlink.com/content/7lr2332n1r030574/fulltext.html, zitiert am 10.05.2011.

[9] Schächinger, U.; Röckelein, W.; Neu-mann, C.; Nerlich, M.: „NOAH (Notfall-, Organisations- und Arbeitshilfe) - Tele-matik in der präklinischen Notfallmedi-zin“, http://www.noah-regensburg.de/-pub/pub03.htm, zitiert am 11.05.2011.

[10] Telekom Deutschland GmbH, http://www.t-mobile.de/funkversorgung/-inland/0,12418,15400-_,00.html, zitiert am 18.05.2011.

[11] Vodafone D2 GmbH, http://www.vodafone-flatrate-ange-bote.de/vodafone-netzabdeckung.htm?-gclid=CPmyq4388KgCFQK-zAodhB1qCg, zitiert am 18.05.2011.

[12] Telefónica Germany GmbH & Co. OHG, http://portal.o2online.de/nw/support/mobilfunk/netz/netzabdeckung.html?partnerId=ppzap&zanpid=1505838522274665472, zitiert am 18.05.2011.

[13] E-Plus Service GmbH & Co.KG, http://eis03sn1.eplus-online.de/-geo/portal/umts, zitiert am 18.05.2011.

[14] Reimann, B.; Maier, B.C.; Lott, R.; Kon-rad, F.: „Gefährdung der Notarztversor-gung im ländlichen Gebiet“, Notfall & Rettungsmedizin. Volume 7, Number 3, http://www.springerlink.com/content/ha13d7t1u8kh9bhd/fulltext.pdf, zitiert am 17.05.2011.

Stefanie Judith Opitz, Lehrstuhl Rechner-netze und Kommunikationssysteme, BTU Cottbus, und Arnim Nethe, Medizinische Ge-rätetechnik, BTU Cottbus

22

Prozessintelligenz im Gesundheitswesen – Modellierung und Analyse von klinischen Pfaden Rüdiger Molle, Stefan Krumnow

Einleitung

In dem durch das Bundesministerium für Bil-dung und Forschung im Rahmen des Pro-gramms KMU Innovativ geförderten Projekt „Prozessintelligenz im Gesundheitswesen“ erforscht die Signavio GmbH zusammen mit dem Hasso-Plattner-Institut für Softwaresys-temtechnik und dem Universitätsklinikum Je-na neue Techniken zur Untersuchung von klinischen Pfaden. Hierbei wollen wir Techni-ken der Business Intelligence auf als Pro-zessmodelle erfassten Pfaden anwenden, um deren Ausführung zu unterstützen und Rück-schlüsse über ihre Ausführungsleistung und damit auf mögliche Verbesserungen vorneh-men zu können.

Es ist unser Ziel, Daten in vorhandenen IT-Systemen einer Klinik zu identifizieren, die Aufschluss über das Fortschreiten der Be-handlung von Patienten auf einem klinischen Pfad geben. Sowohl während als auch nach Abschluss der Behandlung bergen diese Da-ten wertvolles Potential zur Beantwortung verschiedener Fragestellungen. So können aus betriebswirtschaftlicher oder medizini-scher Sicht auf Pfad- oder Abteilungsebene Fragen nach der Behandlungseffizienz und dem Kosten-Nutzen-Verhältnis gestellt wer-den. Liegt ein schlechtes Verhältnis vor, ist zu klären, an welchen Stellen im Pfad hohe Kos-ten oder lange Wartezeiten entstehen. Hierfür sollen sowohl klassische BI-Ansichten ver-wandt werden als auch eine integrierte Visua-lisierung von Zeiten und Kosten in Modellen klinischer Pfade erfolgen.

Aus medizinischer und organisatorischer Sicht ist die Bestimmung von erforderlichen Ressourcen und möglichen Engpässen in der Belegung interessant. Auch kann der klini-sche Alltag von Ärzten und Pflegekräften durch eine Analyse laufender Behandlungen bestimmter Patienten unterstützt werden. Durch eine integrierte Visualisierung eines oder mehrerer laufender Behandlungsfälle mit dem betreffenden Pfadmodell kann zum einen der Fortschritt und weitere Verlauf der Behandlung einfacher erfasst und zum ande-ren die Konformität der Pfadausausführung durch das Personal erhöht werden.

Sind Engpässe erkannt, gilt es sie durch eine Verbesserung des Pfades oder seiner Rah-menbedingungen zu beseitigen. Hierfür bie-ten sich Simulationen neuer Soll-Zustände an. Um optimal auf den extrahierten und un-tersuchten Ausführungsdaten aufbauen zu können ist eine Synchronisation zwischen andernfalls nur als Schätzwerten existieren-den Simulationskennzahlen und Ergebnissen einer Ausführungsanalyse wünschenswert.

Abbildung 1 zeigt dies an Hand eines ideali-sierten Prozesslebenszyklus, in dem Prozes-se durch Modelle beschrieben werden. Die Modelle bilden den täglichen Betrieb entwe-der ab oder werden aktiv zu dessen Steue-rung verwandt. Während des Betriebs fallen eine Menge von Ausführungsdaten an, die in einer Analyse dazu benutzt werden können, Schwachstellen zu erkennen und durch An-passung der Modelle zu beheben, was den Zyklus schließt.

SR98 Prozessintelligenz im Gesundheitswesen

23

Als Voraussetzung solcher Untersuchungen im Rahmen müssen klinische Pfade zunächst als Prozess modelliert werden. Anschließend kann das Modell an Ausführungsdaten ge-koppelt werden, die so prozessorientiert ana-lysierbar werden.

Der folgende Abschnitt stellt die Modellierung klinischer Pfade vor bevor der anschließende Abschnitt verschiedene Analyseanwendun-gen beschreibt. Abschnitt 4 erklärt anschlie-ßend die zentralen Fragestellungen bei der Kopplung zwischen Modellen und Ausfüh-rungsdaten, die wir im Rahmen des Projektes beantworten werden.

Die Modellierung von klinischen Pfaden

Die Modellierung medizinischer Prozesse mit Hilfe von BPMN setzt voraus, dass für den jeweiligen Klinischen Pfad zunächst eine Prozessanalyse durchgeführt wird. Der als klinischer Pfad bezeichnete Prozess be-schreibt den Ablauf einer Behandlung für eine Gruppe von Patienten mit einer bestimmten Erkrankung. Der Pfad wird durch ein Pro-zessmodell in BPMN dargestellt, wobei alle alternativen Wege innerhalb des Modells zum

Pfad gehören. Diese Wege stellen aus Sicht der Qualitätssicherung Pfadkonfigurationen dar, aus Sicht des Prozesses handelt es sich um die patientenindividuellen, konkreten Ab-läufe in den Prozessinstanzen.

Zur Durchführung der Analyse schließen wir uns der in der Medizin gängigen Forderung an, dass ein Pfad der im Behandlungsteam selbst gefundene berufsgruppen- und institu-tionenübergreifende Konsens bezüglich der Durchführung der Krankenhausgesamtbe-handlung sei [1]: wir wenden die teamorien-tierte Analysemethodik t.BPM [2] an, die am Hasso-Plattner-Institut der Universität Pots-dam (HPI) entwickelt wurde. t.BPM führt di-rekt zu einer hierarchisch angelegten Menge von BPMN-Diagrammen (BPDs), die den ge-samten Pfad – korrekter formuliert, seinen Ist-Zustand – in einer zu wählenden Granularität darstellt und modelliert.

t.BPM arbeitet mit Plexiglasbausteinen, die wichtigen BPMN-Symbolen entsprechen. Die Bausteine werden mit Filzstiften beschriftet und vom Team diskutierend auf einem mit Papier bespannten großen Tisch zum Pro-zess zusammengefügt. Erfahrungsgemäß lassen sich die oberste und erste Ebene ei-nes Pfads recht schnell analysieren, zur Ver-feinerung können dann auch Interviews ge-führt werden. Die jeweiligen Ergebnisse der Analysearbeit werden fotografiert, vom Mode-rator grafisch editiert und dem Team zur Überarbeitung vorgelegt. Nach vier oder fünf Tagen greifen die Teammitglieder von allein zum Rechner und beginnen mit der Modellie-rung. Hinzugefügt sei, dass letztere eine in-haltliche, also durch Mediziner und nicht durch die IT durchzuführende Aufgabe ist, und dass für jedes Modell ein Konsens im Team erforderlich ist.

Abbildung 4: Prozesslebenszyklus aus Modellie-

rung, Betrieb und Analyse

Rüdiger Molle, Stefan Krumnow SR98

24

Zur Vorgehensweise bei der Analyse seien folgende Hinweise gegeben: zum einen hat es sich als zweckmäßig herausgestellt, mit dem Skizzieren von Szenarios zu beginnen. Darunter verstehen wir eine Situationsskizze, die im Verlauf von Diagnose und / oder The-rapie für einen repräsentativen Patienten Gül-tigkeit hat und beschreibt, welche Aktionen unter welchen Bedingungen ausgeführt wer-den. Der nächste wichtige Schritt ist, die aus diesen Szenarien resultierenden Prozess-fragmente zu strukturieren, um so zu einem Gesamtprozess zu kommen, der dann an-hand von Subprozessen tiefer untergliedert wird.

Bei der Prozessanalyse kommt es darauf an, gemeinsam eine standfeste Struktur für das zu entwickelnde Modell zu finden, den medi-zinischen Teammitgliedern die Scheu vor den anzuwendenden BPMN-Symbolen zu neh-men und sie für die Fortsetzung der Model-lier-Arbeit einzunehmen. Da letztere in einem PDCA-Zyklus verläuft (plan – do – check – act) und das Modellierergebnis grundsätzlich einen Lebenszyklus aufweist, verläuft die wei-tere Arbeit so, dass beispielsweise Dokumen-te in einem Pfad später hinzugefügt werden können, dass Beteiligte und Pflegeabläufe hinzugefügt werden können und dass die Granularität des Pfads bei Bedarf verfeinert werden kann. Wichtig ist für solche, der grundlegenden Pfadarbeit folgende Entwick-lungsaktivitäten, dass die damit verbundenen Ziele und ihre Begründungen transparent gemacht werden. Unterstützt wird dies durch ein ebenfalls in BPMN formuliertes Vorge-hensmodell, das als Blaupause für den Pro-jektmanager dienen kann. Technisch schwie-rige Modellieraufgaben oder der „letzte Schliff“ des Modells können auch einem Pro-zessfachmann übertragen werden.

Erfahrungsgemäß bedürfen die Arbeiten zur Prozessanalyse in einem Klinikum der exter-nen Unterstützung insofern, als BPMN-Wissen und Projektmanagement oft nicht in ausreichendem Maß zur Verfügung stehen und ein externer Moderator bei der Arbeit willkommen ist. Allerdings wird dessen Arbeit i.d.R. durch ein knappes Budget begrenzt, so dass der intensiven und bei kontinuierlicher Anwesenheit aller Teammitglieder durchzu-führenden Projektarbeit von zwei oder drei Arbeitswochen eine Arbeitsphase folgen kann, in der nur noch externes coaching er-forderlich ist. Dies setzt Zielkontrolle ebenso voraus wie ein jederzeit verfügbares Model-liersystem, in dem kollaborativ gearbeitet werden kann. Der Signavio Process Editor stellt hierbei das geeignete Werkzeug dar, da es vollständig Web-basierten Zugriff auf ei-nen gemeinsamen Arbeitsbereich an Model-len erlaubt [3].

Ehe man in nachfolgenden Arbeitsschritten im Pfadmodell zur Untersuchung klinischer Leistungsfähigkeiten und zur darauf aufbau-enden Konzeption und Analyse gewünschter Soll-Varianten des Pfads übergeht, sollte un-bedingt das Ergebnis der bisherigen Model-lierung verifiziert werden; dies geschieht in zwei Schritten:

Die Überprüfung der Pfadlogik kann am Schreibtisch durch eine Person erfolgen, die nicht Mitglied des Entwicklungsteams ist. Zweckmäßig zur Prüfung sind eigene Szena-rios, die die überprüfende Person allerdings i.d.R. ganz intuitiv anwendet. Unterstützt wird diese logische Prüfung durch eine schrittwei-se Simulation auf Grundlage der den Gate-way-Ausgängen zugeordneten Wahrschein-lichkeiten. Hierbei wird grafisch im Modell an-gezeigt, welchen Verlauf der Prozess bei wiederholter Betätigung der Return-Taste nimmt. Der Durchgang kann mit dem Team

SR98 Prozessintelligenz im Gesundheitswesen

25

gemeinsam erfolgen und sollte die bestehen-den und in den Ablauf integrierten Dokumen-te einbeziehen.

Die Gesamtheit dieser Prüfschritte der Pfad-logik stellt einen Teil der Modellverifikation dar, der restliche Teil der Verifikation ist quantitativ, erfolgt mit Hilfe der Gesamtsimu-lation und soll zeigen, dass das Pfadmodell auch quantitativ bezüglich einer festzulegen-den Zielfunktion die Ergebnisse der Realität, d.h. des bekannten oder geschätzten Ist-Zustands des realen Prozesses wiedergibt.

Im Rahmen der Analyse, Modellierung und Verifikation sind am Universitätsklinikum Jena zwei komplexe klinische Pfade in 20 bezie-hungsweise 36 Diagramme erfasst worden. Durch eine hierarischen Organisation der Modelle in drei Ebenen sind die medizini-schen Vorgänge zum einen auf unterschiedli-chen Abstraktionsstufen erfasst. Zum ande-ren wird durch die Organisation eine intuitive Navigation durch die entstandene Modell-landschaft möglich.

Aufbauend auf den Modellen klinischer Pfade können Kliniken deren Ausführungsleistung untersuchen und gegebenenfalls optimieren. Der folgende Abschnitt stellt die im Rahmen des bisherigen Projektverlaufes evaluierten Anwendungen von Monitoring und Analyse-Systemen vor.

Monitoring- und Analyseanwendungen

Geschäftsprozessmanagementsoftware kann der Planung, Ausführung und Analyse von klinischen Pfaden dienlich sein. Der vorherige Abschnitt hat gezeigt wie die Planung in Form einer Modellierung stattfinden kann. Zur an-schließenden Unterstützung der Ausführung und zur Erkennung und Behebung von

Schwachstellen sind weitere technische Mittel erforderlich:

Durch einen klinischen Prozessmonitor soll das Personal bei der Behandlung eines Pati-enten unterstützt werden. Ein solcher Monitor zeigt das Modell des klinischen Pfades zum aktuellen Behandlungsfall an und visualisiert in dem Modell, an welcher Stelle des Prozes-ses der Fall steht. Ausgehend von der obers-ten Prozessmodellebene kann der Nutzer per Maus in die Subprozesse navigieren und auch hier die letzten gemesseneren ausge-führten Aktivitätsinstanzen visualisiert sehen.

Für die einzelnen Aktivitäten lassen sich im Monitor Durchführungszeitpunkte betrachten, die helfen, den zeitlichen Verlauf der Behand-lung nachzuvollziehen. Bei der Verletzung (oder der zu erwartenden Verletzung) defi-nierter zeitlicher Fristen im Ablauf der konkre-ten Behandlung zeigt der Monitor Warnung an den betreffenden Punkten im Modell an. Darüber hinaus können die in den Modellen erfassten Dokumente an Daten zum konkre-ten Behandlungsfall gekoppelt werden, so dass der Arzt (oder die Pflegekraft) diese di-rekt aus dem Monitor öffnen kann.

Auf diese Weise gewinnt das Modell des kli-nischen Pfades an Gewicht, da es direkt mit den Behandlungsdaten präsentiert wird an-statt ausschließlich als Artefakt im Modellie-rungssystem archiviert zu sein. Dies ver-schafft dem Modell eine zentrale Position in der Durchführung der Behandlung und unter-stützt so deren Qualität.

Neben dieser Unterstützung des täglichen Betriebs ist auch eine Möglichkeit der Analy-se von Ausführungsdaten erforderlich, um den Prozesszyklus wie in Abbildung 1 gezeigt zu schließen. Mit einem System zur Analyse sollen neben Ärzten auch das medizinische Controlling arbeiten um sowohl qualitative als

Rüdiger Molle, Stefan Krumnow SR98

26

auch wirtschaftliche Aspekte der klinischen Pfade untersuchen und optimieren zu kön-nen.

Das Analysesystem besteht aus verschiede-nen Sichten auf eine Menge von Behand-lungsfällen, die entweder bereits abgeschlos-sen sind oder noch laufen. Ausführungskenn-zahlen dieser Fälle (wie Zeiten, Kosten, Rei-henfolgen, etc.) werden auf verschiedenen Stufen aggregiert präsentiert. Durch Filter ist es dem Anwender möglich, die Menge der betrachteten Behandlungen auf Basis von pa-tienten- oder behandlungsspezifischen Fra-gen zu beschränken und gleichzeitig die prä-sentierten Ergebnisse zu beeinflussen. Hier-bei ist ein System notwendig, das nach Set-zen eines Filters innerhalb weniger Sekunden alle Diagramme und Visualisierungen auf die neu selektierte Menge anpasst, was eine explorative Benutzung ermöglicht.

Bei der prozessorientierten Analyse findet die Untersuchung von Ausführungszeiten und -kosten, aber auch die Untersuchung von Wahrscheinlichkeiten bezüglich der Errei-chung bestimmter Punkte im Prozessfluss oder die Verletzung der modellierten Logik di-rekt in den Modellen statt. Hierdurch können Zusammenhänge zwischen den gemessenen Werten und der Prozessstruktur einfach voll-zogen werden, was eine Optimierung der Prozesse im Sinne des Geschäftsprozess-managements ermöglicht und unterstützt.

Im nächsten Abschnitt wird gezeigt, welche Herausforderungen bei der Bereitstellung von Prozessmonitoring und -analyse Systemen im klinischen Umfeld bestehen und wie sich diese lösen lassen.

Kopplung zwischen Ausführungsdaten und Modellen

Die zentrale Herausforderung im Rahmen des Projektes besteht in der Korrelation von Prozessmodellen mit den vorliegenden medi-zinischen Ausführungsdaten. Da die klini-schen Prozesse nicht zentral orchestriert werden, werden diese Daten derzeit in ver-schiedenen IT-Systemen an unterschiedli-chen Stellen fall- aber nicht prozessorientiert vorgehalten und müssen an die modellierten Pfade gekoppelt werden. Abbildung 2 skiz-ziert diese Problemstellung.

Um die Anwendungen aus Abschnitt 3 unter-stützen zu können ist sowohl der Zugriff auf Zeitstempel, die einen Fortschritt im Behand-lungsfall kennzeichnen, als auch auf struktu-rierte Patienten- und Behandlungsdaten not-wendig.

Zeitstempel lassen sich in verschiedenen Systemen und aus verschiedenen Gründen finden: Im zentralen Krankenhausinformati-onssystem (KIS) finden sie sich in Form von Patientenbewegungsdaten, Konzilanforde-rungen und strukturierten Protokollen genau-so wie in Form von Dokumentmetadaten. So wird zum Beispiel bei Erstellung des Doku-ments, das den Anamnesebericht eines Be-handlungsfalls im KIS speichert, ein Zeit-stempel hinterlegt, der Rückschluss auf Durchführung der im Prozessmodell erfass-ten Aktivität der Anamnese gibt.

Da hierbei jedoch nicht Zeitstempel für jeden Ausführungsschritt innerhalb der Prozessmo-delle in den Systemen einer Klinik existieren, planen wir an ausgewählten Stellen zusätzli-che Zeitstempel mit Hilfe von Barcodescan-nern oder anderen Erfassungssystemen auf-zuzeichnen.

SR98 Prozessintelligenz im Gesundheitswesen

27

Es bleibt zu untersuchen, wie umfangreich eine solche Kopplung sein kann. Es sind Szenarien denkbar, in denen Ein- und Austritt jeder Aktivität an die in IT Systemen erfass-ten Ereignisse gebunden werden kann. Alter-nativ können manuell Messpunkte im Modell des klinischen Pfades gesetzt und mit sol-chen Ereignissen in Beziehung gesetzt wer-den, wie es auch in Abbildung 2 gezeigt ist. In beiden Fällen werden wir untersuchen, wie eine Kopplung zwischen Ausführungsdaten und Modellelementen aus Sicht der Modellie-rungsumgebung zu unterstützen ist und ob gegebenenfalls Erweiterungen im Modellie-rungsstandard erforderlich werden. Außer-dem soll erforscht werden, wie im zweiten Fall mit nur stellenweise vorliegenden Aus-führungsdaten während einer Prozessausfüh-rungsanalyse umzugehen ist.

Im Bereich der modellierten Dokumente ist zunächst ein Zugriff auf Fall- und Patienten-stammdaten nötig, um verschiedene Fälle

voneinander unterscheiden und gruppieren zu können. Darüber hinaus ist ein Zugriff auf diverse medizinische Dokumente wie Anam-neseberichte, Artbriefe, Befunde, Bilder und Behandlungsanweisungen nötig, um entwe-der eine Anzeige der Dokumente im Pro-zessmonitor oder eine Auswertung der Daten in Filtern und Diagrammen zu erlauben. Für letzte Anwendung werden wir in Freitext for-mulierte Dokumente mittels einer Schlagwort-basierten Deskribierung in strukturierte Daten überführen.

Zur Entlastung der transaktionalen IT-Sy-steme der Klinik werden die für Monitor und Analyse relevanten Daten in ein eigenes Wa-rehouse geladen und dort repliziert vorgehal-ten. Für die Anwendung des Monitors ist hierbei neben dem periodischen Laden der Daten (zum Beispiel in der Nacht) auch eine Aktualisierung bei Aufruf des Systems erfor-derlich. Da die Daten für eine solche Aktuali-sierung aber maximal in einige Stunden ent-

Abbildung 5: Problemstellung der Kopplung von Ausführungsdaten und Modellen

Rüdiger Molle, Stefan Krumnow SR98

28

standen sind, können die Anfragen mit Hilfe temporaler Selektionen ohne nennenswerte Mehrbelastung des produktiven Systems er-folgen.

Im Projekt werden wir untersuchen, welche Arten von Schnittstellen in den beteiligten IT-Systemen genutzt werden können und wie groß der Aufwand zum Erstellen einer neuen Schnittstelle, etwa zum Abgreifen eines bis-her nicht betrachteten Datenfelds, ist. Auch wenn wir anstreben, den Aufwand pro neuer Schnittstelle über das Projekt hinweg dras-tisch zu reduzieren, gehen wir nicht davon aus, eine aus Sicht des Modellierers vollstän-dig generische Lösung zur Kopplung von Da-ten und Modellen erreichen zu können.

In den nächsten Monaten werden wir mit der Schaffung von Schnittstellen zum Zugriff auf als relevant identifizierte Zeitstempel und Do-kumente beginnen. Darüber hinaus starten wir die Erforschung erster modellierungsseiti-ger Kopplungstechniken und betrachten Fra-gestellungen im Bereich der Visualisierung von Ausführungsdaten direkt in den Pfadmo-dellen.

Fazit

Im Rahmen des Projekts „Prozessintelligenz im Gesundheitswesen“ erforschen die Signa-vio GmbH zusammen mit dem Hasso-Plattner-Institut für Softwaresystemtechnik und dem Universitätsklinikum Jena neue Techniken zur technischen Untersuchung und Unterstützung von klinischen Pfaden. In diesem Paper haben wir beschrieben, wie wir durch das Monitoring und die Analyse von klinischen Pfaden mit Hilfe von Techniken des Geschäftsprozessmanagements und der Workflowausführung nutzen im klinischen All-tag anwenden wollen.

Hierfür ist zunächst die Modellierung klini-scher Pfade in Prozessmodellen erforderlich, zu der wir den Signavio Process Editor und die kollaborative Modellierungsmethode t.BPM verwendet haben. Als Resultat sind Modelle komplexer klinischer Behandlungs-abläufe entstanden, die wir nun sowohl zur Unterstützung klinischer Arbeitsschritte ver-wenden als auch in Analysen verbessern wol-len.

Die zentrale Herausforderung liegt hierbei in der Korrelation aus Prozessmodellen und Ausführungsdaten, die in den verschiedenen IT-Systemen eines Krankenhauses verstreut liegen. Hierbei sind eine Auswahl von rele-vanten Messpunkten und die Integration zu-sätzlicher Erfassungssysteme genauso not-wendig wie die Deskribierung unstrukturierter Daten. Auch bestehen Fragestellungen im Bereich der Visualisierung von Behandlungs-fällen, die das Prozessmodell verletzen oder die gegebenenfalls Deadlines verletzen.

Referenzen

[1] T. Küttner und J. Hülsemann. Klinische Behandlungspfade in der Inneren Medizin. Deutscher Ärzte-Verlag 2007

[2] J. Edelman, A. Grosskopf, M. Weske. Tangible Business Process Modeling: A New Approach. Proceedings of the 17th Interna-tional Conference on Engineering Design (ICED), 2009

[3] G. Decker. Prozessmodellierung mit BPMN 2.0 und Signavio. Tagungsband zur MedPro 2011

Rüdiger Molle (ITAB) und Stefan Krumnow (Signavio GmbH)

29

Prozessmodellierung mit BPMN 2.0 und Signavio Gero Decker

Einleitung

Prozessmodelle haben sich in den letzten 20 Jahren als geeignetes Mittel für die Abbildung von Arbeitsschritten (Aktivitäten) und deren Beziehungen untereinander etabliert. Die Modelle bieten dabei einen Überblick von Prozessanfang bis -ende und zeigen alle Verantwortlichkeiten und Prozessvarianten.

Im Gesundheitswesen sind die Anwendungs-gebiete vielfältig: In Krankenhäusern können beispielsweise Behandlungspfade für einzel-ne Krankheitsbilder (klinische Pfade) einheit-lich dargestellt werden. Auf Versicherungs-seite stehen dagegen eher administrative Prozesse im Vordergrund.

Die Business Process Modeling Notation (BPMN) ist der internationale Standard für die Prozessmodellierung. BPMN wird branchen-übergreifend eingesetzt, sowohl auf rein or-ganisatorisch/fachlicher Ebene als auch in der Diskussion zwischen Fachbereichen und IT.

Der Signavio Process Editor ist ein modernes Modellierungs- und Analysewerkzeug für Ge-schäftsprozesse. Im Gesundheitswesen wird es bereits erfolgreich von Krankenhäusern (z.B. Uniklinik Jena und Charité), Kranken-kassen (z.B. diverse AOKen, BKK VBU) und kassenärztlichen Vereinigungen eingesetzt. Der Signavio Process Editor setzt die BPMN in der neuesten Version 2.0 vollständig um. Das Werkzeug ermöglicht eine einfache Ein-bindung aller an der Prozessgestaltung Betei-ligten sowie eine Veröffentlichung der Pro-zesse im Intranet und Internet.

Dieser Beitrag gibt einen kurzen Überblick über die grafische Modellierung von Ge-schäftsprozessen mittels BPMN 2.0. An-schließend wird das Modellierungswerkzeug Signavio Process Editor vorgestellt.

Grafische Modellierung von Prozessen mit BPMN 2.0

Prozesse als Perspektive auf eine Organisa-tion folgen direkt aus der Idee von Speziali-sierung und Arbeitsteilung. Menschen errei-chen dank Spezialisierung eine höhere Effi-zienz und eine höhere Qualität in ihrer Arbeit. Dies heißt jedoch auf der anderen Seite, dass Aufgaben, die inhaltlich zusammen ge-hören, z.B. weil sie den gleichen Patienten betreffen, nun auf mehrere Personen aufge-teilt werden müssen [1]. Manche Aufgaben werden sogar von mehreren Menschen zu-sammen durchgeführt. Beispielsweise sind bei einer Operation mehrere Personen betei-ligt, um dem Patienten gemeinsam zu helfen.

Diese Aufteilung von Arbeit auf der einen Sei-te und die Zusammenarbeit bei bestimmten Tätigkeiten auf der anderen Seite erzeugen einen entsprechenden Bedarf an Abstim-mung. Der eine Beteiligte muss wissen, was er von den anderen Beteiligten zu welchem Zeitpunkt und in welcher Qualität erwarten kann. Nur so werden Reibungsverluste und Missverständnisse reduziert und nur so wer-den unnötige Doppelarbeiten vermieden (vergleiche auch Knuppertz [2]).

Um Prozesse sichtbar und damit diskutierbar und kommunizierbar zu machen, müssen Sie dokumentiert werden. Dabei gäbe es eine

Gero Decker SR98

30

Vielzahl von möglichen Formen einer Pro-zessdokumentation. Man könnte die einzel-nen Schritte per Video festhalten oder die Mitschriften aller vergangenen Prozessaus-führungen sammeln. Alternativ könnte ein Prozess auch in Form einer Comic-Zeich-nung festgehalten werden.

Grafische Prozessmodelle in flowchart-ähnlichen Notationen haben sich in den ver-gangenen Jahren als geeignete Form der Prozessdokumentation erwiesen. Zum einen ermöglichen sie, z.B. im Gegensatz zu einer Dokumentation in Form von Videos, eine Ab-straktion auf die wichtigsten Aspekte des Prozesses. Auch handelt es sich um eine we-sentlich kompaktere Darstellung verglichen mit einer Sammlung aller Mitschriften der vergangenen Prozessausführungen. Gegen-über einer textuellen Darstellung von Prozes-sen konnten sich grafische Prozessmodelle durchsetzen, da sie das Erfassen der wichtigsten Aspekte eines Prozesses „auf einen Blick“ ermöglichen und es erlauben, mit dem Finger einen Prozess von Anfang bis Ende nachzuvollziehen. Die Vorteile gegen-über einer Comic-artigen Darstellung liegen übrigens auch auf der Hand: für eine flowchart-ähnliche Modellierung braucht man keinerlei künstlerisches Talent. Eine detail-lierte Betrachtung verschiedener Spielarten von Prozessdokumentation findet sich bei Recker et al [3].

In den 90er Jahren wurde das Thema Model-lierung gerade in Deutschland populär. In dieser Zeit entstanden zahlreiche Modellie-rungswerkzeuge, z.B. das ARIS Toolset (heute Software AG). Auch zahlreiche Bera-tungsunternehmen spezialisierten sich auf die Prozessmodellierung. Aufgrund fehlender Standards in diesem Bereich entwickelten die

Werkzeughersteller und Beratungshäuser ih-re eigenen Methoden und Notationen für die Prozessmodellierung. Es gab zwar einige Pa-rallelen zwischen den Modellierungsspra-chen, jedoch waren zwei Diagramme, die un-terschiedlichen Notationen folgten, selbst für geübte Modellierer oft nur schwer vergleich-bar.

Daher setzte sich ab dem Jahr 2000 eine größere Konsolidierungswelle im Bereich der Prozessmodellierung in Bewegung. Zunächst getrieben von der IBM (zu nennen ist hier vor allem Stephen White als Hauptautor), mau-serte sich die Business Process Modeling Notation (BPMN) schnell zu einer beliebten Sprache. In Anlehnung an UML Aktivitätsdia-gramme, Ereignisgesteuerte Prozessketten, Flowcharts und andere zuvor existierenden Sprachen wurden zahlreiche bekannte Kon-zepte in die BPMN übernommen.

Nach der Übergabe an die Object Manage-ment Group (OMG) sammelten sich zahlrei-che Unterstützer und Sponsoren für diese neue Sprache. Hierzu zählen große Unter-nehmen wie beispielsweise IBM, Oracle und SAP, aber auch zahlreiche kleine und mittel-ständische Unternehmen. Anfang 2011 wur-de schließlich die Version 2.0 des Standards verabschiedet. Neu sind vor allem das genau spezifizierte Metamodell sowie das dazu passende XML-Austauschformat. Außerdem wurden einige wenige neue Modellierungs-konstrukte in die Sprache aufgenommen und zwei neue Diagrammtypen definiert – Cho-reographiediagramme und Konversationsdia-gramme. Die aktuelle Version des Standards ist öffentlich verfügbar auf der Webseite http://bpmn.org. Neben der Abbildung von Aktivitäten deckt BPMN auch weitere Aspek-te von Geschäftsprozessen ab.

SR98 Prozessmodellierung mit BPMN 2.0 und Signavio

31

Verantwortlichkeitszuordnung. Sogenann-te Pools und Lanes (englisch für Schwimm-becken und Schwimmbahnen) ermöglichen die Zuordnung von Aktivitäten zu den jeweili-gen Durchführungsverantwortlichen. Die Schwimmbahnendarstellung ermöglicht, sehr schnell zu erkennen, welche Aktivitäten von der gleichen Person, Rolle oder Organisati-onseinheit durchgeführt werden.

Da die BPMN jedoch verlangt, dass eine Ak-tivität genau einer Lane zugeordnet wird (Ak-tivitäten, die mehrere Lanes überspannen,

sind nicht erlaubt), können manche Szena-rien nicht elegant dargestellt werden. Dies betrifft beispielsweise die Darstellung einer medizinischen Operation, an der sowohl Anästhesist als auch Chirurg beteiligt sind. Um hier Abhilfe zu schaffen, nutzen Werk-zeuge wie der Signavio Process Editor die Erweiterbarkeitsmechanismen von BPMN und führen das Modellierungskonstrukt „zu-sätzlicher Prozessbeteiligter“ ein. Dies ist im BPMN-Beispiel in Abbildung 1 zu sehen.

Abbildung 6 BPMN-Konstrukte

Gero Decker SR98

32

Abbildung 8 Screenshot der Editoroberfläche

Abbildung 8 Themenfelder des Signavio Process Editors

SR98 Prozessmodellierung mit BPMN 2.0 und Signavio

33

Kontrollfluss. BPMN ermöglicht die Definiti-on von Ausführungsabhängigkeiten zwischen Aktivitäten. Beispielsweise kann definiert wer-den, dass eine bestimmte Aktivität abge-schlossen sein muss, bevor eine andere Ak-tivität starten kann (dargestellt über Sequenz-flusskanten). Auch Nebenläufigkeit von Akti-vitäten, die keinerlei Abhängigkeiten vonein-ander haben, kann über Konstrukte wie Parallele Gateways abgebildet werden. Ent-scheidungspunkte werden über Exklusive Gateways modelliert. Startereignisse und Endereignisse repräsentieren die möglichen Ein-tritts- und Austrittspunkte eines Prozes-ses. Datenfluss: Mittels Datenobjekten und entsprechenden Verknüpfungen mit Aktivitä-ten per Assoziationskante kann dargestellt werden, an welcher Stelle in einem Prozess Informationen aufgezeichnet oder Dokumen-te erstellt werden und an welcher Stelle diese Informationen oder Dokumente für den weite-ren Prozessverlauf heran gezogen werden.

IT-Systemzuordnung: Neben der Zuord-nung zu zusätzlichen Prozessbeteiligten nut-zen Werkzeughersteller den BPMN-Erweiter-barkeitsmechanismus auch für die Zuord-nung von IT-Systemen. So kann dargestellt werden, durch welches IT-System ein Pro-zessbeteiligter in einer Aktivität unterstützt wird.

Interaktion zwischen verschiedenen Or-ganisationen: BPMN erlaubt, mehrere Pools in einem Diagramm zu platzieren. Dies wird genutzt, um Organisationsgrenzen explizit im Diagramm darzustellen. Während Sequenz-fluss genutzt wird, Abhängigkeiten zwischen Aktivitäten innerhalb eines Pools abzubilden, werden Nachrichtenflusskanten verwendet, um Abhängigkeiten über Organisationsgren-zen hinweg darzustellen. Pools können dabei mit Inhalt, d.h. Aktivitäten, gefüllt sein. Alter-nativ können Pools aber auch einfach zuge-

klappt sein und somit die Prozessdetails die-ser Organisation verbergen.

Abbildung 1 beinhaltet einige der oben auf-gezählten Konstrukte und zeigt diese im Zu-sammenspiel.

Der Fokus von BPMN liegt zunächst auf ein-zelnen voneinander getrennten Diagrammen. Subprozesse ermöglichen darüber hinaus, hierarchische Beziehungen zwischen Pro-zessen und Teilprozessen zu beschreiben.

Modellierung mit dem Signavio Process Editor

Der Signavio Process Editor ist ein Modellie-rungswerkzeug für BPMN 2.0. Daneben wer-den aber auch andere Modellierungsspra-chen, wie z.B. Ereignisgesteuerte Prozess-ketten (EPK), Prozesslandkarten/Wert-schöp-fungsketten sowie Organigramme unterstützt.

Die technische Besonderheit des Werkzeugs liegt darin, dass es komplett webbasiert ar-beitet. Das heißt, dass ein Modellierungsnut-zer die Anwendung über den Webbrowser bedient und keinerlei Software bei sich auf dem Computer installieren muss. Daher eig-net sich das Werkzeug auch für eine Nutzung im Software as a Service (SaaS)-Modus so-wie über neuartige Endgeräte, z.B. moderne Tablets wie das iPad.

Die Modellierung von BPMN-Diagrammen wird durch verschiedene Funktionen aktiv un-terstützt: Das kontextabhängige Vorschlags-system erzeugt durch einen einzigen Maus-klick nachfolgende Elemente, wählt automa-tisch den passenden Kantentyp aus und an-ordnet die Elemente entsprechend an. Dank Überprüfungsfunktionen kann der Nutzer darüber hinaus mögliche Fehler, beispiels-weise Verklemmungen (Deadlocks) oder feh-

Gero Decker SR98

34

lende Synchronisation (Multi-Merge) schnell beheben.

Abbildung 2 zeigt einen Screenshot der Mo-dellierungsoberfläche des Signavio Process Editors. Auf der linken Seite sieht man die Elementauswahl, in der Mitte die Zeichenflä-che und auf der rechten Seite die Übersicht über alle Attribute.

Die grafische Erstellung von Prozessdia-grammen steht beim Signavio Process Editor im Vordergrund. Allerdings helfen zahlreiche weitere Funktionen dabei, eine fachliche Ab-stimmung und anschließende Kommunikation von Geschäftsprozessen durchzuführen.

Abbildung 3 zeigt die Themen, die das Werk-zeug abdeckt. Diese werden im Folgenden erläutert.

Kommentierung und fachliche Abstim-mung: Da Prozesse, wie bereits oben be-schrieben, zumeist die Zusammenarbeit zwi-schen verschiedenen Beteiligten sichtbar machen, müssen auch alle Wissensträger ak-tiv in die Prozessgestaltung einbezogen wer-den. Dies wird im Signavio Process Editor über die Kommentierungsfunktion unterstützt.

Sobald die erste Version eines Prozessmo-dells erstellt wurde, beginnt die iterative Überarbeitung des Modells. Hier geht es dar-um, Missverständnisse oder Unklarheiten schnell zu beseitigen. Über die Einladungs-funktion können Kollegen hinzugezogen wer-den. Diese erhalten eine Leseansicht auf das Modell und können dort direkt an den einzel-nen Modellelementen ihre fachlichen Kom-mentare unterbringen. Diese Kommentare werden den zuständigen Modellierern mitge-teilt, damit sie entsprechend in den Dia-grammen eingearbeitet werden können.

Dieser Vorgang wird wiederholt, bis es keine weiteren Änderungswünsche am Prozess-diagramm mehr gibt. Wurden alle relevanten Betroffenen eingebunden, ist der Prozess damit fachlich abgestimmt.

Prozessveröffentlichung: Prozesse schaf-fen Transparenz. Daher ist es besonders wichtig, allen Mitarbeitern die Prozessdoku-mentation zur Verfügung zu stellen. So kann jeder Mitarbeiter selbst nachschauen, in wel-chen Schritten er beteiligt ist. Auch weiterfüh-rende Dokumente zu dem Prozess können auf diese Weise zugreifbar gemacht werden.

Im Signavio Process Editor wird dies über das integrierte Prozessportal realisiert. An-ders als in anderen Werkzeugen, wo ein HTML-Export eine separate Leseansicht auf die Prozesslandschaft umsetzt, werden die Prozessmodelle im Signavio-Prozessportal direkt aus dem integrierten Modellrepository heraus bereit gestellt. Eine bestimmte Versi-on aus der Versionshistorie eines Diagramms wird dabei ausgewählt für die Veröffentli-chung im Portal. So wird gewährleistet, dass an den Diagrammen weiter gearbeitet wer-den kann, während der Stand im Prozesspor-tal zunächst einmal stabil bleibt.

Reporting und Analyse: Die mit dem Signa-vio Process Editor erstellten Diagramme sind mehr als nur reine Zeichnungen. Vielmehr wird eine echte Modellstruktur hinterlegt, die Konzepte wie Aktivitäten, Rollen, Dokumente, etc. unterscheidet. Damit können die Informa-tionen, die ja in den Diagrammen vorliegen in weiter führenden Reports auch leicht ausge-wertet werden. Dies ermöglicht beispielswei-se die automatische Erzeugung von Verant-wortungszuordnungsmatrizen oder auch voll-wertigen Prozesshandbüchern für Zertifizie-rungszwecke.

SR98 Prozessmodellierung mit BPMN 2.0 und Signavio

35

Eine weitere nützliche Funktion ist die integ-rierte Kosten- und Ressourcenbedarfsbe-rechnung. Sofern an den Aktivitäten Aufwän-de oder Kosten hinterlegt sind und Häufig-keitsverteilungen und Wahrscheinlichkeiten von Varianten vorliegen, ergibt sich ein Zah-lenwerk für die entsprechenden Prozesse und Prozessgruppen. Diese können sowohl für qualitative Optimierung von Prozessen genutzt werden aber auch für Controlling-zwecke.

Prozessautomatisierung: Dieses Thema wird nicht direkt vom Signavio Process Editor bedient. Über das BPMN 2.0-Austausch-format können die erstellten Prozessmodelle jedoch direkt für eine Prozessausführung weiter verwendet werden. Im Regelfall wird dabei die XML-Datei in das entsprechende System importiert und dort mit weiteren tech-nischen Konfigurationen angereichert, bevor der Prozess schließlich zur Ausführung ge-bracht wird.

Für eine Reihe von Prozessengines gibt es zusätzlich eine umfangreichere Unterstüt-zung im Signavio Process Editor: Wizards und erweiterte Validierungsregeln helfen da-bei, ausführbare Prozessmodelle zu erstel-len.

Zusammenfassung

BPMN 2.0 ist ein international weit verbreite-ter Modellierungsstandard, der inzwischen auch im deutschen Gesundheitswesen für die Modellierung von klinischen Pfaden und Ad-ministrationsprozessen verwendet wird.

Der Signavio Process Editor ist ein leichtge-wichtiges und gleichzeitig professionelles Werkzeug, mit dem Prozesse in der BPMN 2.0-Notation abgebildet werden können. Dar-über hinaus bieten bietet das Werkzeug Un-terstützung für die fachliche Abstimmung von Prozessen, für die Veröffentlichung der Pro-zesse in einem Prozessportal sowie für ein weiter führendes Reporting.

Referenzen

[1] M. Weske. Business Process Manage-ment: Concepts, Languages, Architectures. Springer Verlag, 2007.

[2] T. Knuppertz. Prozessmanagement für Dummies. Wiley-VCH Verlag, 2009.

[3] J. Recker, N. Safrudin, M. Rosemann. How Novices Model Business Processes. Proceedings 8th International Conference on Business Process Management (BPM), Ho-boken, NJ, USA, 2010. Springer Verlag

Dr. Gero Decker, Signavio GmbH

36

Qualitätssicherung bei Gesundheitsinformationen aus dem Internet – Vorstellung eines alternativen Datenbankprojektes Alexander Riegler

Kurzfassung

Eine aktuelle Analyse zeigt, dass die vorhan-denen Möglichkeiten noch immer nicht aus-reichend sind, um der gesamten Bevölkerung auf einfache Weise einen uneingeschränkten Zugang zu hochwertigen Informationen bie-ten zu können. Die Schaffung eines aner-kannten Standards könnte dazu führen, dass sich so wie auch jetzt bereits, einige der In-formationsbereitsteller freiwillig zur Einhal-tung verpflichten. Für die Informationssu-chenden wird es dadurch leichter, verlässli-che Informationen im Internet zu finden. Eine Sammlung standardisierter Datensätze könn-te in kurzer Zeit zum Aufbau einer umfangrei-chen Datenbank mit hochwertigen Informati-onen führen, das hätte zur Folge, dass immer mehr gesicherte Informationen an einem zentralen Ort verfügbar wären. Durch die ständige Aktualisierung der einzelnen Daten-sätze könnte auch die Datenbank indirekt immer aktuell gehalten werden und der dazu notwendige Aufwand wäre gering.

Das Gesamtprojekt versteht sich nicht als Konkurrenz zu bestehenden oder geplanten Datenbanken, sondern eher als ein innovati-ver Ansatz, der das Ziel verfolgt, eine nach-haltige Verbesserung der individuellen Ge-sundheitskompetenzen zu erreichen.

Einleitung

Heute sind Computer und Internet ein unver-zichtbarer Bestandteil unseres täglichen Le-bens, sie erleichtern unsere Arbeit und be-schleunigen gleichzeitig unsere gesamten Abläufe. Im Gesundheitsbereich hat das In-ternet den Bürgern den nahezu uneinge-schränkten Zugang zu Gesundheitsinformati-onen ermöglicht. Sie haben dadurch die Mög-lichkeit erhalten, sich selbständiger mit dem wichtigen Thema Gesundheit auseinander-zusetzen, denn sie sind nicht länger auf das Wissen von Experten angewiesen. Sowohl für die Bürger als auch die Experten ist es wichtig zu wissen, wie und wo effizient ge-sucht und welchen der gefundenen Informa-tionen vertraut werden kann.

Ausgehend von der schnell zunehmenden Anzahl von gesundheitsbezogenen Websites in der Europäischen Union und dem wach-senden Interesse der Bürger an derartigen Informationen hat auch das Thema eHealth an zunehmender Bedeutung auf EU-Ebene gewonnen, daraus resultierenden in Folge die beiden Aktionsplänen eEurope 2002 und eEurope 2005.1,2

1 Kommission der Europäischen Union (2000). eEurope

2002. http://ec.europa.eu/information_society/eeurope/i2010/docs/2002/action_plan/actionplan_de.pdf [05.04.2011].

2 Kommission der Europäischen Union (2010). eEurope 2005.

SR98 Qualitätssicherung bei Gesundheitsinformationen

37

Auf internationaler Ebene haben sich im Lau-fe der letzten 20 Jahre verschiedene Initiati-ven zur Qualitätssicherung etabliert. Diese setzen beispielsweise auf die Kennzeichnung von Informationen mittels Gütesiegel (z.B.: HON3, afgis4) oder stellen den Bürgern Werk-zeuge zur Verfügung, die eine eigenständige Beurteilung des Angebotes (z.B.: DISCERN5) ermöglichen. Andere wiederum setzen auf die Bereitstellung von vertrauenswürdigen In-formationen in Datenbanken (z.B.: Omni6), Experten kontrollieren, aktualisieren und klas-sifizieren hier im Vorfeld die Informationen.

Das Ziel dieses Beitrages ist es, vorhandene Schwierigkeiten in den jetzigen Ansätzen aufzuzeigen und einen Lösungsvorschlag in Form einer alternativen Datenbank auf Basis eines einheitlichen Standards vorzustellen. Dieses Projekt betrifft den Bereich „Medizini-sche Prozessmodellierung“ insofern, da es zu einem späteren Zeitpunkt der Planung not-wendig sein wird, genauer über die einzelnen Prozesse im Hintergrund zu sprechen. Im Rahmen einer Diskussion kann somit bereits früh abgeklärt werden, ob das Projekt in sei-ner jetzigen Konzeption durchführbar ist und wo mit erheblichen Schwierigkeiten zu rech-nen zu sein wird.

http://europa.eu/legislation_summaries/information_society/l24226_de.htm [05.04.2011].

3 HON (2011). Health on Net. http://www.hon.ch/ [05.04.2011].

4 afgis (2011). Aktionsforum Gesundheitsinformations-systeme. http://www.afgis.de/ [05.04.2011].

5 Discern (2011). Discern Online - Qualitätskriterien für Patienteninformationen. http://www.discern.de/ [05.04.2011].

6 OMNI (2011). OMNI. http://www.intute.ac.uk/medicine/ [05.04.2011].

Methodik

Um einen Überblick über die gängigen Quali-tätssicherungsmaßnahmen bei Gesundheits-informationen aus dem Internet zu bekom-men, wurde an den Beginn dieser Arbeit eine Literaturrecherche gestellt. Berücksichtigt wurden dabei Publikationen in den Daten-banken PubMed und OVID, Publikationen in Form von Masterarbeiten und Fachartikel. Weiters wurde eine unspezifische Suche im Web und mittels Google Scholar durchge-führt.

Für die Suche wurden folgende Schlüssel-wörter verwendet: health information, internet sourced-information, quality criteria, internet, certificate, trustmark, Gesundheitsinformati-on, internet-basierte Informationen, Quali-tätskriterien, Gütesiegel, Zertifikate.

Berücksichtigt wurden deutsch- und eng-lischsprachige Texte ab dem Jahr 2000. Ein besonderer Schwerpunkt wurde bei der Sich-tung der aktuellen Literatur vor allem auf vor-handene Reviews gelegt. Jene Arbeiten, die vom Titel oder Abstract her als wenig rele-vant eingestuft wurden, fanden keine Berück-sichtigung. Um die Relevanz der Treffer zu erhöhen, wurde weiters eine kombinierte Su-che mit den Begriffen „health information“ und „internet“ gestartet.

Alexander Riegler SR98

38

Ergebnisse

Ausgehend von der Literaturrecherche konn-ten folgende Initiativen zur Qualitätssicherung gefunden werden7:

• Einfache Verhaltenskodizes (z.B.: eHealth Code of Ethics)

• Selbst angewandter Verhaltenskodex oder Qualitätssiegel (z.B.: HON)

• Anleitungs-Tools für Anwender (Leitfäden wie DISCERN oder NETSCORING)

• Filter-Tools (z.B.: OMNI)

• Qualitäts- und Zulassungssiegel von Dritt-anbietern

Laut Aktionsplan eEurope 2002 gehörte die Schaffung eines EU-Gütesiegels dezidiert nicht zudessen Kernaufgabenbereich. Defi-niert wurden in einer gemeinsamen Konsulta-tion Kriterien (Transparenz und Ehrlichkeit, Urheberschaft, Geheimhaltung, Aktualisie-rung der Informationen, Verantwortlichkeit und die Zugreifbarkeit), die zusätzlich zum geltenden Recht angewandt werden.1 Das dieses Thema noch immer aktuell ist, zeigt das EU-Strategie Papier „European countries on their journey towards national eHealth infrastructures“, in diesem werden Ergebnis-se und Empfehlungen genannt, wie die Imp-lementierung von eHealth-Lösungen voran-getrieben werden kann.8

7 Riegler, A. (2010). Steigerung der Partizipation und

des Empowerments von Bürgerinnen und Bürgern durch hochwertige Gesundheitsinformationen aus dem Internet. Medizinische Universität Graz.

8 Stroetmann K.A., Artmann J., Stroetmann V.N. et al. (2011). European countries on their journey towards national eHealth infrastructures. http://www.ehealth-strate-gies.eu/report/eHStrategies_Final_Report_29032011.pdf [05.04.2011].

Die OECD und WHO definierten vor kurzem bei einem Treffen das Thema „Gesundheits-informationen“ als solide Grundlage für eine weitere Zusammenarbeit.9

Erste Ansätze zu einem EU-Gütesiegel gab es bereits 2001, damals förderte die EU ein Projekt im Rahmen des „Aktionsplanes für si-chere Benutzung des Internets“ unter dem Namen MedCERTAIN (Certification and Ra-ting of Trustworthy and Assessed Health In-formation on the Net). Später wurde daraus MedCIRCLE (Collaboration for Internet Ra-ting, Certification, Labeling and Evaluation of Health Information). Sowohl MedCERTAIN als auch MedCIRCLE sind Projekte des „Se-mantischen Webs“, sie verfolgen das Ziel, ein „Web of Trust“ entstehen zu lassen. Trotz al-ler Ambitionen wurden beide Projekte 2005 eingestellt.

Bei QMIC (Quality of Medical Information, Communication and Transactions) handelt es sich um ein Qualitäts- bzw. Zulassungssiegel eines Drittanbieters, das auf einem komple-xen Normensatz ähnlich der ISO 9000:2000 passiert.7 Auch diese Art der Zertifizierung ist mittlerweile eingestellt worden und nun ein Teil eines neuen Zertifizierungsprozesses mit dem Namen Zegelgezond (Pilotstudie in den Niederlanden).10

Viele europäische Länder betreiben autono-me Gesundheitsdatenbanken (z.B.: NHS in England), wobei aber die Aktualisierung und der ständige Ausbau wartungs- und kostenin-tensiv sind. Da die Kosten zumeist von einer

9 WHO (2010). Partner in der Europäischen Union.

http://www.euro.who.int/de/who-we-are/partners/partners-in-the-european-region/meeting-with-oecd-building-on-the-health-information-bedrock [05.04.2011].

10 Zegelgezond (2011). http://www.zegelgezond.nl/ [05.04.2011].

SR98 Qualitätssicherung bei Gesundheitsinformationen

39

Einrichtung übernommen werden, ist der Zu-griff auf die Daten vielfach nur einem be-stimmten Personenkreis erlaubt (z.B.: Bei-tragszahler einer Versicherung). Überle-genswert wäre es daher, die Ressourcen zu bündeln und zentrale Datenbanken für einen großen Interessentenkreis zugänglich zu ma-chen.

Bestehende Datenbanken und Portale

Unter den vielen bereits bestehenden Daten-banken wie beispielsweise OMNI (Organizing Medical Networked Information), Healthfin-der, HealthInside sollen zwei Ansätze beson-ders hervorgehoben werden. Hierbei handelt es sich das Gesundheitsportal der EU und WebMD.

EU-Gesundheitsportal

Die EU selbst bietet ein Gesundheitsportal mit vielen Serviceleistungen und in 22 Spra-chen an. Bei den Angeboten wird man aber vielfach an andere Informationsanbieter ver-wiesen, somit findet der eigentliche Informa-tionssuchende vermutlich auf dieser Seite wenig Antworten auf seine offenen Fragen.

WebMD

Das börsennotierte Unternehmen ist mit über 86 Millionen Besuchern führend bei Gesund-heitsinformationen in Amerika.11 Angeboten werden Informationen zu Gesundheit und Pflege, ein Platz zur Speicherung von medi-zinischen Daten, Medikamenteninformatio- 11 WebMD (2011). WebMD Announces Fourth Quarter

Financial Results. http://investor.shareholder.com/wbmd/releasedetail.cfm?ReleaseID=552196&CompanyID=WBMD [05.04.2011].

nen und Blogs von Spezialisten. Finanziert wird dieses Service durch Werbung, Sponso-ren und Drittmittel. Die Kontrolle der angebo-tenen Informationen erfolgt durch die Utiliza-tion Review Accreditation Commission (URAC).

Geplante Datenbanken

In diesem Abschnitt sollen zwei im Aufbau befindliche Datenbankvorhaben kurz vorge-stellt werden und ein alternativer Datenbank-ansatz, der auf einem einheitlichen Informati-onsstandard beruht.

KHRESMOI

Ein neuerer Ansatz ist das EU-Projekt KHRESMOI (Knowledge Helper for Medical and Other Information Users). Das Ziel die Entwicklung eines mehrsprachigen, multimo-dalen Such- und Zugriffsystems für biomedi-zinische Informationen und Dokumente. Ba-sierend auf den Funktionalitäten wie effekti-ver automatischer Informationsextraktion aus biomedizinischen Dokumenten, automati-scher Analyse und Indizierung medizinischer Bilder, Unterstützung crosslingualer Suche, Koppelung extrahierter Informationen aus biomedizinischen Texten und anpassungsfä-higen User-Interfaces. Damit sollen sowohl medizinische Laien als auch Ärzte bei der Suche nach hochwertigen und aktuellen In-formationen Unterstützung finden.12

12 Khresmoi (2011). KHRESMOI – Medical Information

Analysis & Retrieval. http://www.khresmoi.eu [05.04.2011].

Alexander Riegler SR98

40

FET

Ein noch wesentlich größeres Projekt befin-det sich gerade in der Einreichungsphase und soll an dieser Stelle zumindest namentli-che Erwähnung finden. Es ist ein Projekt des

FET Flagship Programmes und eine erste Funktionsübersicht über das geplante Infor-mationssystem ist in der nachfolgenden Ab-bildung ersichtlich.

Abbildung 1: Schematischer Aufbau von KHRESMOI (Quelle: http://www.khresmoi.eu

SR98 Qualitätssicherung bei Gesundheitsinformationen

41

Alternativer Datenbankansatz

Anders als die beiden anderen Ansätze baut die alternative Datenbank (aDb) ihr Funda-ment auf einen erst zu erstellenden Informa-tionsstandard sowie auf Verständnis und Humanressourcen.

Was bedeutet in diesem Zusammenhang Verständnis? Gemeint ist damit, dass es klar nachvollziehbare Kriterien gibt, wie Informati-onen in Zukunft gestaltet werden müssen, um in die Datenbank aufgenommen zu werden. Das wird möglich, indem erstmals ein über die Ländergrenzen hinaus geltender „Quali-tätsstandard bei Gesundheitsinformationen“ erstellt wird. Bisher gab es keine einheitliche

Norm, Organisationen definierten daher ei-genständig Vorgaben, an die sich Anbieter von Informationen halten konnten, im Gegen-zug waren diese dann berechtigt, eine Quali-tätsauszeichnung zu führen. Um das Güte-siegel der Health on Net Foundation zu erhal-ten, ist es notwendig, acht Prinzipien einzu-halten, für eine Auszeichnung durch die Utilization Review Accreditation Commission – URAC ist die Einhaltung von 53 Kriterien notwendig.13

13 Hörbst, A. & Ammenwerth, E. (2007). Qualitätskrite-

rien für Gesundheitsportale. Institut für Informations-systeme des Gesundheitswesens. http://iig.umit.ag [05.04.2011].

Abbildung 2: Schematischer Aufbau des FET Flagship Programmes (Quelle:

http://cordis.europa.eu/fp7/ict/fet-proactive/docs/ie-sept10-19-lemke-brookes_en.pdf

Alexander Riegler SR98

42

Unter der Einbindung von Humanressourcen versteht man, dass eine automatisierte Zu-sammenstellung des jeweiligen Datenpake-tes zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht möglich ist.

Der Vorteil der Standardisierung ist, dass die Vielfalt der Qualitätsauszeichnungen ab-nimmt und es den Anbietern von Informatio-nen möglich wird, mit klaren Vorgaben zu ar-beiten. Der Konsument profitiert insofern, als das er leichter qualitativ hochwertige Informa-tionen im Internet finden kann.

In den nachfolgenden Abschnitten sollen die einzelnen Komponenten sowie weitere Fak-ten der aDb näher vorgestellt werden.

Die Idee

Um Informationen zu finden, die helfen, das individuelle Wohlbefinden autonomer zu steuern, sucht der interessierte Bürger nach einer adäquaten Informationsquelle im Inter-net. Die jetzige Situation ist dahingehend un-befriedigend, da es kaum bekannte und frei zugängliche zentrale Anlaufstellen für ge-sundheitsrelevante Suchanfragen mit ver-trauenswürdiger Qualität gibt. Internationale Initiativen, wie beispielsweise Health on Net, bemühen sich, mithilfe der Vergabe von Qua-litätssiegeln jene Anbieter auszuzeichnen, die aktiv Maßnahmen zur Verbesserung der In-formationsqualität setzen.3 Hierbei ist aber zu beachten, dass der Anbieter einzig und al-leine an formale Kriterien gebunden ist, der eigentliche Inhalt bleibt ohne externe Kontrol-le. Somit darf trotz eines vorhandenen Güte-siegels dem Informationsangebot nicht blind vertraut werden. In diesem Zusammenhang ist es weiters als problematisch anzusehen, dass Qualitätsauszeichnungen von den Sei-tenbesuchern kaum als solche wahrgenom-

men werden. Problematisch ist auch die Su-che mittels medizinischer Suchmaschinen, beispielsweise mit MedHunt. Am Ende des Suchprozesses wird eine Vielzahl von mögli-chen Internetseiten angezeigt, der User muss somit individuell entscheiden, welchen Treffer er auswählt. Filter-Tools bzw. vorhandene Datenbanken, wie beispielsweise NHSData-base in England oder auch die Datenbank für wissenschaftliche Artikel PubMed, werden von Experten betreut und liefern somit gute Ergebnisse. Der uneingeschränkte Zugriff auf das gespeicherte Wissen ist aber nur einem bestimmten Personenkreis erlaubt. Hinzu kommt, dass der Aufbau und die Wartung sehr kostenintensiv sind. Es zeigt sich, dass die vorhandenen Möglichkeiten noch immer nicht ausreichend sind, um der gesamten Bevölkerung einen einfachen und freien Zu-gang zu hochwertigen Informationen bieten zu können.

Das vorhandene Angebot ist dabei nicht das Problem, denn eine unspezifische Anfrage bei Google liefert für den frei gewählten Suchbegriff „Schweinegrippe“ innerhalb von 0,12 sec 1,94 Millionen Treffer14. Das Prob-lem ist, jenen Treffer heraus zu filtern, der vertrauenswürdige und relevante Informatio-nen zu diesem Thema bereitstellt.

Ein möglicher Ansatz für die Lösung dieses Problems kann die Schaffung eines zentralen Speicherortes sein, an dem hochwertige Ge-sundheitsinformationen in verständlicher Form und kostenlos zugänglich gebündelt werden. Um diesen Ort, die aDb zu schaffen, ist es nach Ansicht des Autors sinnvoll, sich im Vorfeld auf die Rahmenbedingungen wie beispielsweise das Informationsformat zu ei-nigen. Empfohlen wird zu diesem Zweck die

14 Google (2011). Google. www.google.at [05.04.2011]

SR98 Qualitätssicherung bei Gesundheitsinformationen

43

Schaffung eines zumindest europaweit aner-kannten Standards, der der breiten Öffent-lichkeit auch als solcher vorgestellt wird.

Aufbau und Finanzierung

Ausgehend von der Annahme, dass es ge-lingt einen gemeinsamen anerkannten Stan-dard zu etablieren, ist es auch notwendig, die Datenbank mit entsprechenden Informatio-nen zu versorgen. Einer ersten Idee folgend war es angedacht, eine automatisierte Da-tengenerierung aus vorhandenen Informati-onsquellen wie anderen Datenbanken oder Büchern heranzuziehen. Das hätte aber dazu geführt, dass sich die aDb kaum von anderen unterschieden hätte und somit eher als ein Konkurrenzprodukt präsentiert hatte anstatt einer Alternative bzw. Ergänzung.

Für die Generierung der notwendigen Daten bieten sich drei Lösungswege an:

Eigenproduktion und Ankauf von Daten

Bereits am Markt aktive Anbieter, hier sind sowohl die Kommerziellen als auch Öffentli-chen gemeint, sollten grundsätzlich daran in-teressiert sein, Informationen mit hoher Qua-lität anzubieten. Wird nun ein Standard aus-gerufen, so werden mit großer Wahrschein-lichkeit vor allem die öffentlichen Einrich-tungen bestrebt sein, die Voraussetzungen dafür zu erfüllen. Wird der Standard noch da-zu beworben, das heißt, die Bevölkerung wird darüber informiert und aufgeklärt, dass es diesen gibt und wie dieser erkannt werden kann, so werden auch kommerzielle Anbieter in gewisser Weise nachziehen müssen, um keinen Wettbewerbsnachteil zu erleiden. Da-durch werden laufend Datensätze im Internet erzeugt, die in Bezug auf die Informations-

qualität einer für den Konsumenten sinnvol-len Norm folgen.

Der Datenbank muss nun zum Zwecke des rascheren Aufbaus von Datenbeständen die Möglichkeit gegeben werden, mit den am Markt aktiven Datenproduzenten in Kontakt zu treten, um die Rechte für die Verwendung zu erwerben. Der Aufwandsersatz ist zum jet-zigen Zeitpunkt nicht abschätzbar. Sollte der Produzent einer Weiterverwendung zustim-men, so können diese Daten nach vorherge-gangener Kontrolle übernommen werden. Um den Produzenten eine Weiterverwendung schmackhaft zu machen, kann sich der Ver-käufer zusätzlich zu seiner Auszeichnung als Anbieter der standardisierten Informationen noch als Unterstützer der aDb bezeichnen. Dies wäre in geeigneter Form darzustellen zum Beispiel in Form eines Siegels.

Mit dem Prinzip des Datenankaufes kann auch das Problem der Mehrsprachigkeit in Ansätzen behoben werden, denn wird dieser Standard europaweit eingesetzt und die staatlichen Einrichtungen passen ihre Infor-mationsangebote an, so ziehen wiederum an-dere (kommerzielle/private) Anbieter in unter-schiedlichem Tempo nach. Nachdem davon ausgegangen werden kann, dass das in un-terschiedlichen Ländern passiert, können un-terschiedliche Sprachen in die Datenbank aufgenommen werden. Datensätze, die nicht am Markt erworben werden können oder zu teuer sind, können durch eigenes Personal generiert werden.

Sollte ein EU-weiter Standard zustande kom-men, so wäre es vorstellbar, die aDb zu ei-nem EU-Projekt zu machen. Einigen sich beispielsweise deutschsprachige Länder (Deutschland, Schweiz und Österreich) auf einen einheitlichen Standard, so könnte sich daraus eine Gruppe bilden, die die Leitung

Alexander Riegler SR98

44

und Finanzierung übernimmt. Die Ressour-cen für den Betreib von den in den Ländern betriebenen Datenbanken wären somit frei und könnten in das Gemeinschaftsprojekt fließen. Es ist auch davon auszugehen, dass die bestehenden Datenbanken über qualitativ hochwertige Datenbestände verfügt, somit sollte der Aufwand der Vereinheitlichung bzw. Anpassung an den Standard nicht sehr hoch sein. Aufgrund des geltenden EU-Rechtes wird es vermutlich nicht möglich sein, Dritt-anbieter, die in diesen Ländern tätig sind, Vorschriften in Bezug auf die angebotene In-formationsqualität zu machen. Das muss nicht unbedingt ein Nachteil sein, denn auf diese Weise kann sich diese Datenbank klar von den anderen Mitbewerbern abgrenzen.

Nachdem die Versorgung der Menschen mit Information nicht auf Europa beschränkt ist,

können auch außereuropäische Länder in Form von Datenbankkooperationen einge-bunden werden. Hier ist vor allem zu beach-ten, dass qualitativ hochwertige Informatio-nen schon vorhanden sind, diese könnten nach entsprechender Anpassung eingebracht und somit die Kosten wesentlich reduziert werden.

Der Sonderfall: Die kommerzielle Variante

Hier werden die Produzenten der Informatio-nen finanziell am Gewinn der Datenbank be-teiligt. Informationserzeuger erhalten im Vor-feld einen Anforderungskatalog in Bezug auf die zu erstellende Datenqualität, der in die-sem Fall nicht zwangsweise ein offiziell aner-kannter Standard sein muss. Die Daten wer-den nach der Übermittlung über ein passen-

Abbildung 3: Schematische Darstellung der kombinierten Datenerstellung

SR98 Qualitätssicherung bei Gesundheitsinformationen

45

des Userinterface angeboten, fehlende An-gebote könnten zu einer Verlinkungen auf Partnerseiten führen und somit das Abwan-dern des Lesers verhindern. Finanziert kann diese Datenbank nach Vorbild von WebMD über Zusatzangebote wie den Verkauf von Versicherungsleistungen, Sponsoren, Wer-bung oder zahlende Mitglieder werden. Passt die Qualität und der Preis, so könnte diese Variante durchaus auch für den öffentlichen Sektor interessant werden, denn auf diese Weise stehen qualitativ hochwertige Informa-tionen bei einem Anbieter auf Abfrage zu günstigen Konditionen zur Verfügung. Der Käufer erspart sich daher den Betrieb einer eigenen Datenbank, die damit verbundene Wartung und Aktualisierung.

Ein Teil der Erträge wird für den Erhalt und den weiteren Ausbau der Datenbank ver-wendet, die Datenbankverantwortlichen brin-

gen ihrerseits Know-How in den laufenden Betrieb ein.

Die zentrale Datenbankvariante

Angelehnt an einen hochwertigen Standard könnten Datenbestände aus allen zur Verfü-gung stehenden und qualitativ geeigneten Datenquellen erstellt werden. Diese Form der Datenbank versteht sich mehr als Sammlung von aktuellem Wissen (Archiv) und sollte in ihrer Form maschinenlesbare Datensätze an-bieten. Diese zentrale Stelle ermöglicht es wiederum anderen (regionalen) Anbietern, hochwertige Informationen ohne großen ei-genen Rechercheaufwand zu beziehen. Die Datenbankverantwortlichen achten vorrangig auf die Aktualität der Daten und den Umfang des Leistungsangebotes, die eigentliche Dar-stellung (Layout) der Ergebnisse ist von un-tergeordneter Wichtigkeit. Das ergibt sich,

Abbildung 4: Schematische Darstellung der kommerziellen Datenbankvariante

Alexander Riegler SR98

46

weil die Informationen nicht unbedingt für den Endverbraucher bestimmt sind, sondern für einen Zwischenanbieter. Dieser übernimmt bei Bedarf die Übersetzung in die landesei-gene Sprache, die Erweiterung des Angebo-tes sowie das endgültige Layout.

Diese Variante ist beispielsweise dazu ge-eignet, das gesamte gesundheitsrelevante Wissen in angemessener Form zu speichern und für alle Interessierten zu öffnen. Bei-spielsweise eine EU-Datenbank für Gesund-heitsinformationen, die allen Mitgliedsstaaten zur Verfügung steht. Die Finanzierung zur Sammlung der Daten würde die Gemein-schaft übernehmen und den Mitgliedern steht eine ständig aktuelle Quelle für hochwertige Informationen zur Verfügung.

Die Kontrolle der Datenbestände

Die Einhaltung des Standards muß auch je-den Fall gewährleistet werden, daher müssen entsprechende interne und externe Kontroll-instanzen installiert werden. An bereits gut funktionierenden Systemen kann man sich orientieren, um herauszufinden, welche wei-teren Schritte zur Qualitätssicherung notwen-dig sind.

Der Leistungsumfang

Bei der folgenden Beschreibung wird von Da-tenbankvariante a (Eigenproduktion und An-kauf von Daten) ausgegangen, natürlich kön-nen diese Leistungen aber auch in Variante b und bedingt in c angeboten werden.

Nachdem die aDb als Hauptanlaufpunkt bei gesundheitsrelevanten Fragestellungen an-

Abbildung 5: Schematische Darstellung eines zentralen Archives

SR98 Qualitätssicherung bei Gesundheitsinformationen

47

gedacht ist, müssen zur Abrundung des um-fassenden Angebotes auch weitere Services selbstverständlich sein.

Für das Gesamtpaket kommen vorrangig in Frage:

• Definitionen (z.B.: Pschyrembel-Texte)

• Glossare, samt gleichzeitiger Verlinkung von Fachausdrücken aus den angebote-nen Textabschnitten

• Synonymerkennung

• Symptome (Klinik, Labor, …)

• Therapievorschläge samt Alternativen und Hinweis auf Folgen

• Umfangreiche Informationen zu passen-den Medikamenten (Wirkungen/Neben-wirkung)

• Statistische Zahlen (Betroffene bzw. Ver-breitung, Heilungschancen, …)

• Links zu aktuellen wissenschaftlichen Arti-keln über das jeweilige Themengebiet (z.B. PubMed-Artikel), neueste For-schungsaktivitäten

• Informationen über anerkannte Spezial-zentren und Spezialisten

• Empfohlene Selbsthilfegruppen oder Fo-ren zur Vernetzung

• …

Als weitere Extras wären denkbar:

• Wikipedia-Beiträge zu diesem Thema (in-formeller Charakter)

• Darstellungen in Form von Videosequen-zen

• Quiz (spielendes Erwerben von Kompe-tenzen)

• Newsletter (RSS)

• Emails bei Updates und Erinnerungen

• …

Nicht angedacht ist:

• Speicherung von individuellen Gesund-heitsdaten

Nachdem es vorkommen kann, dass nicht zu jeder Suchabfrage ein Eintrag gefunden wer-den kann, könnte als Ausweichmöglichkeit auf anderweitig zertifizierte Daten verwiesen werden. Beispielsweise auf frei zugängliche Datensätze des österreichischen Gesund-heitsportals (www.gesundheit.gv.at) oder Da-ten, die durch das Aktionsforum Gesund-heitsinformationssystem (afgis) kontrolliert wurden. Eine derartige Anzeige müsste dann aber mit einem entsprechenden Hinweis ver-sehen werden.

Dískussion

Die aDb versteht sich nicht als Konkurrenz zu bestehenden Datenbanken und sollte auch keinen kommerziellen Charakter haben. Sie soll dazu dienen, der Bevölkerung eine Platt-form zu bieten, auf der umfangreiche und vor allem hochwertige Informationen zum Thema Gesundheit angeboten werden. Die Generie-rung der Informationen folgt dabei einem erst näher zu definierenden Qualitätsstandard. Da eine Einigung auf europäischer Ebene ein langwieriger Prozess sein kann, sollte bereits im Vorfeld eine renommierte Einrichtung, bei-spielsweise das Institut für Qualität und Wirt-schaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWIG), einen ersten Vorschlag erarbeiten.

48

Der Vorteil eines anerkannten Standards ist, dass auch andere Anbieter und vor allem die Konsumenten davon profitieren. Auf ergän-zende Artikel / weiterführende Literatur au-ßerhalb der Datenbank (Verlinkung) sollte nur dann hingewiesen werden, wenn diese zum Vorteil für den Leser ist.

Eine wesentliche Limitierung des aDb-An-satzes ist, dass von einem bis dato fiktiven und anerkannten Standard ausgegangen wird. Da aber vertrauenswürdige Informatio-nen gerade in der Zeit, in der Health Literacy immer mehr an Bedeutung gewinnt, immer wichtiger werden, ist es notwendig, eine si-chere Anlaufstelle für die Fragen der Bevöl-kerung zu schaffen. Nach Ansicht des Autors kann ein erster Schritt durch die Etablierung des besagten Standards vollzogen werden. Auf diesen aufbauend kann eine Datenbank

entstehen, die allen frei zugänglich gemacht wird. In diesem Papier werden drei verschie-dene Varianten angesprochen, jede von ih-nen hat sowohl Vor- als auch Nachteile. Viel-leicht findet sich aber der eine oder andere brauchbare Ansatz darin, um zu einer Ver-besserung der jetzigen Situation beizutragen. Denn alle Möglichkeiten, die helfen das Wis-sen über gesundheitsrelevante Themen zu verbessern, sollten im Vorhinein nicht verur-teilt, sondern offen diskutiert werden.

Es geht schließlich um die Gesundheit und das Wohlbefinden von uns allen.

Alexander Riegler, MPH, Klinisches Institut für Medizinische & Chemische Labordiagnos-tik, Medizinische Universität Graz

49

Prozessmodellierung zur Qualitätssicherung in den Bereichen Medizin, Rehabilitation und Ausbildung – Konzepte, Erfahrungen und Maxime Dietmar Wikarski

Historische Entwicklung von Prozessmo-dellierungskonzepten – Erfahrungen des Autors

Ausgangspunkt der Prozessmodellierung durch den Autor war die Modellierung und Analyse stochastischer Prozesse, insbeson-dere Markowscher Prozesse mit stetiger Zeit und diskretem Zustandsraum. Diese kausa-len Modelle eigenen sich – die Kenntnis we-sentlicher mathematischer Eigenschaften (z.B. Stationarität und Ergodizität) sowie Pa-rameter (Wahrscheinlichkeitsverteilungen, Mittelwerte, Varianzen etc.) der betrachteten Prozesse vorausgesetzt, zur Verhaltensvor-hersage und Optimierung dieser Prozesse.

Erfolgreiche Anwendungen derartiger Be-rechnungen und Simulationen gibt es seit An-fang des 20. Jahrhunderts insbesondere im Bereich der Telekommunikation, wo das Vor-handensein einer Vielzahl von Kunden („An-rufern“ bzw. allgemeiner „TK-Teilnehmer“) mit jeweils ähnlichem Verhalten erstaunlich gute Verhaltens-Vorhersagen ermöglichte, die z.B. zur optimalen Dimensionierung von Vermitt-lungseinrichtungen genutzt wurden.

Weitere erfolgreiche Anwendungen dieser Klasse von Prozessen erfolgten später in den Bereichen Verkehr und Logistik (verbunden mit der Entstehung des Operations Research in den vierziger Jahren) und in der Sicher-heits- und Zuverlässigkeitstheorie (z.B. durch

eine Uminterpretation von Ankunftsereignis-sen und Bedienungszeiten von Kunden in Fehlerereignisse und Reparaturzeiten bei An-lagen).

Ziel dieser Modellierungen und Analysen wa-ren in erster Linie die Vorhersage des wahr-scheinlichen Verhaltens von Systemen. Die Beschreibung der Systeme erfolgte durch mathematische Gleichungen und einige er-klärende Skizzen, stand aber nicht im Fokus der Betrachtung.

Seit ca. Mitte der 80ger Jahre, insbesondere mit der Entwicklung des Software Enginee-ring und der Qualitätssicherung, begann eine explizite, leicht verständliche und i.a. auch vi-suelle Darstellung von Prozessen eine immer größere Rolle zu spielen. Als sehr gut geeig-net zu diesem Zweck erwiesen sich die gra-phisch sehr einfach darstellbaren Petrinetze, die auch die Analyse wesentlicher qualitativer Phänomene von Prozessen wie Konflikte zwischen möglichen Ereignissen (verbunden mit Entscheidungen) und Verklemmungen von Prozessabläufen ermöglichten, zunächst aber (bewusst!) auf die Betrachtung quantita-tiver Parameter wie Zeit und Zufall verzichte-ten . Seit den späten 80ger Jahren wurden diese Parameter dann doch (unter Verlust der Möglichkeiten einer allgemeinen Analyse nebenläufigen Verhaltens) eingeführt, so dass man nun mit stochastischen Petrinetze

Dietmar Wikarski SR98

50

formalisierbare graphische Beschreibungen hatte, die zwecks quantitativer Analyse auf Markowsche Prozesse zurück geführt werden konnten.1

Prozessmodellierung zur Qualitätssiche-rung und zum Workflow Management

Obwohl bei Mathematikern und Systemanaly-tikern nach wie vor die Verhaltensanalyse und –Vorhersage im Fokus stand, sahen Technologen und Qualitätssicherer bereits das Potenzial der graphischen Darstellung zur verständlichen und dennoch formal kor-rekten Repräsentation von sich wiederholen-den wohl definierten Prozessen. Zunächst im Bereich des Software Engineering, zuneh-mend aber auch bei der Visualisierung des Verhaltens von Mensch-Maschine-Systemen spielten formale graphische Prozessbeschrei-bungen in den folgenden Jahren eine immer größere Rolle. Die Möglichkeiten einer quan-titativen Analyse blieben dabei i.A. sogar er-halten.

Mit dem Aufkommen des Business Process Reengineering und des Workflow Manage-ment Mitte der 90ger Jahre war der Durch-bruch erreicht. Meist als Erweiterungen von Petrinetzen, die mit den beiden einzigen Grundelementen „Zustand“ (Stelle, Platz,…) und „Veränderung“ (Ereignis, Transition, ...) auskommen - wurden Modellwelten und ent-sprechende Werkzeuge zur Geschäftspro-zessmodellierung geschaffen, die heute noch den Mainstream des Prozessmanagements bestimmen. In Deutschland waren das mit dem Fokus der „Geschäftsprozessmodellie- 1 Es sei hier nicht unerwähnt, dass die ursprüngliche

Reichhaltigkeit der Analyse des möglichen Verhaltens von Prozessen mit Petrinetzen durch die Einführung einer globalen Zeitachse und der Muss-Schaltregel eingeschränkt wurde.

rung“ zunächst die beiden Tools ARIS und Bonapart, in denen die (Prozess-) Modellwel-ten „EPK“ (Ereignisgesteuerte Prozesskette) „KSA“ (KommunikationsStrukturAnalyse) im-plementiert waren. Neben verschiedenen Er-weiterungen der „originalen“ Petrinetze und Prozessbeschreibungssichten der UML (Uni-fied Modeling Language) wie Zustandsüber-gangs- und Aktivitäts-Diagrammen wurden diese formalen Beschreibungen mit zuneh-mendem Erfolg dazu eingesetzt, die durch die ISO 9000-Normenfamilie geforderten Pro-zessbeschreibungen nicht nur mehr verbal, sondern auch graphisch und gleichzeitig for-mal abzubilden.

Ohne hier auf die Vielzahl der möglichen und genutzten Prozessbeschreibungsmöglichkei-ten näher einzugehen, waren die im Quali-tätsmanagement eingesetzten Prozessbe-schreibungen in den vergangenen Jahren nach den Erfahrungen des Autors mehrheit-lich nicht formal und oft nicht einmal gra-phisch dargestellt. Seit einigen Jahren gibt es hier jedoch ein Umdenken, sowohl im medi-zinischen wie auch in den anderen Anwen-dungsbereichen. Die meist verwendete Me-thode sind dabei Flussdiagramme mit den Elementen Aktivität, Verzweigung und Do-kument. Eine geringere Rolle spielten bisher aber sowohl die Berücksichtigung paralleler sowie „schwacher-und“-Verzweigungen als auch die Zuordnung von Bearbeitern zu den Aktivitäten, obwohl zu Letzterem zunehmend Swimlane-Darstellungen genutzt werden (Beispiel: BPMN). Ein weiterer Aspekt, der zu hoher Modellkonsistenz, effizienter Modellie-rung und der Bereitstellungsmöglichkeit von Prozesswissen im Semantischen Web führt, ist eine konsequente objektorientierte Model-lierung, die viele Analogien zur Objektorien-tierten Programmierung aufweist: Informati-onsobjekte sind mit den ihnen zugeordneten

SR98 Prozessmodellierungen zur Qualitätssicherung

51

Attributen, Methoden und Zuständen in Klas-sen organisiert, wie z.B. in dem Visio-basierten Modellierungstool SemTalk. Weite-re wichtige Features dieses Tools sind die freie Konfigurierbarkeit von Metamodellen (und damit Multimethodenfähigkeit) sowie die Speicherung der Prozessstrukturinformation (ohne graphische Informationen) in einer dem Modell zugeordneten XML-Datei.

Erfahrungen aus der Lehre und aus An-wendungsprojekten

Der Autor lehrt seit 1998 an FH Brandenburg Systemanalyse, Prozessmodellierung und Computergestützte Kooperation, vorwiegend in den Studiengängen der Wirtschaftsinfor-matik (WI), aber auch bei Studierenden, bei denen diese Fächer eher als Nebenfächer gelten wie in den Studiengängen Betriebs-wirtschaftslehre (BWL), Technologie- und In-novationsmanagement (TIM) sowie im Fach-bereich Informatik und Medien.

Während des Grund- bzw. Bachelorstudiums der WI wurden dabei regelmäßig Studieren-den-Projekte in der Hochschulverwaltung, in der Kommunalverwaltung, in kleineren Un-ternehmen und in den letzten Jahren auch im Gesundheitsbereich realisiert. Dabei wurden die Prozesse sowohl durch Interviews als auch durch das Studium von Richtlinien und Verordnungen erfasst. Die in diesen Projek-ten gemachten Erfahrungen lassen sich wie folgt zusammenfassen:

1. Obwohl die verwendeten Tools und Me-thoden durchaus dazu geeignet sind, quantitative Analysen durchzuführen und mögliche Prozessverbesserungen zu fin-den, wurde von den Auftraggebern meist nur die Erfassung und Modellierung der aktuellen Prozesse erwartet. Hauptziel der Modellierung war die Erreichung von

Prozesstransparenz, sowohl für interne Prozessbeteiligte, als auch für „Kunden“ wie Studierende oder Patienten.

2. Weiter gehende Analysen über das ak-tuelle und das mögliche Zeitverhalten (Performance) hätten sicher weiteres Op-timierungspotenzial offenbart. Meist war die Ermittlung der dazu notwendigen quantitativen Parameter (Zeiten und Wahrscheinlichkeitsverteilungen) jedoch nicht mit vertretbarem Aufwand und aus-reichender Genauigkeit leisten.

3. Die bisher im Gesundheitsbereich (z.B. im Städtischen Klinikum Brandenburg und im Oberlinhaus Potsdam) durchgeführten Projekte wurden alle durch die Anforde-rungen von Qualitätsmanagement-Maß-nahmen ausgelöst, wozu es einen weiter steigenden Bedarf gibt. Da es in manchen Fällen bereits erfasste und modellierte Prozesse gab, boten sich hier Vergleiche mit den existierenden Beschreibungen und in einigen Fällen auch die Erweiterungen der Funktionalität der Werkzeuge bzw. der Beschreibungsverfahren an. Im Falle des Städtischen Klinikums Brandenburg wurde nach erfolgter Modellierung mit der oben beschriebenen objektorientierten Methode durch den Qualitätsmanager eine Benut-zerumfrage durchgeführt, in deren Ergeb-nis festgestellt wurde: • Die Musterprozesse waren als „ver-

ständlicher“ und „übersichtlicher“ als die bisherigen graphischen Darstellungen.

• Die Zuständigkeiten (Zuordnung von Bearbeitern zu Aktivitäten) sind besser erkennbar.

4. Eine weitere wesentliche Funktionalität, die über die Eigenschaft besserer Trans-parenz hinaus geht, ist die Verknüpfung der visualisierten Prozesse mit benötig-ten bzw. verwendeten Dokumenten, oh-

Dietmar Wikarski SR98

52

ne dabei bereits ein Workflow-Manage-ment-System zu installieren (bei dem die Aufgaben den Bearbeitern automatisch zugeordnet werden). Die Benutzer der Prozessmodelle bleiben wie vorher „Her-ren“ ihrer eigenen Handlungen und wer-den durch die Prozessmodelle lediglich unterstützt. Neben der Kenntnis der Rei-henfolge der Aktivitäten (Prozessschritte) bekommen sie aber schnell und ohne Su-chen (per Mausklick) die für die Durchfüh-rung eines Prozessschritts benötigten Do-kumente. Dies können Verordnungen, Templates, aber auch Checklisten sein, die somit als Verfeinerung von Prozess-schritten angesehen werden können. In diesem Zusammenhang sollte die Umset-

zung sog. SOPs (Standard Operating Pro-cedures), die als Arbeitsanweisungen vor allem im medizinischen Bereich bereits üblich sind, nach Möglichkeit ohne künstli-che Aufblähung der Prozessbeschreibun-gen, erfolgen.

Das verwendete Modellierungstool gestattete es, die Prozessmodelle nach HTML zu expor-tieren, so dass sie für die Prozessbeteiligten im Intranet (bei Bedarf auch im Internet) sicht- und nutzbar sind. Auf dieser Grundlage wurden entsprechende (dedizierte) Websei-ten geschaffen, die eine differenzierte Aktua-lisierung der einzelnen Prozesse (unter Er-haltung der älteren Versionen) ermöglichen, eine Suchfunktion sowie netzbasierte Pro-

 

Stud

ente

n

Ges

ells

chaf

t, M

inis

terie

n un

d W

irtsc

haft

Abso

lven

ten

Ges

ells

chaf

t, M

inis

terie

n un

d W

irtsc

haft

Abbildung: Prozesslandkarte der FH Brandenburg

SR98 Prozessmodellierungen zur Qualitätssicherung

53

zesslandkarten als Einstiegspunkte zum Wiederfinden von Prozesse enthalten. Die an der FH Brandenburg verwendete Prozess-landkarte des Autors hat den typischen (und inzwischen sehr verbreiteten) Aufbau eines SADT-Diagramms (siehe Abbildung). Gra-phisch interpretiert bedeutet das:

Von links kommt der (System-)Input - künfti-ge Studierende und Anforderungen der Ge-sellschaft bzw. des Marktes - herein,

rechts geht der Output - Absolventen und angewandte Forschungsergebnisse - heraus,

von unten werden unterstützende Ressour-cen (i.a. die der Hochschule) genutzt und

von oben wirken verschiedene Steuerungs-funktionen (Hochschulleitung, Evaluierungs-systeme) auf die die anderen Systemkompo-nenten ein.

Eine solche Struktur kann durch die Zuord-nung der einzelnen Prozesse zu entspre-chend angeordneten Prozess-Gruppen da-bei helfen, einen bestimmten Prozess zu fin-den, um ihn dann auf der Weboberfläche zu öffnen und wie oben beschrieben zu nutzen.

Neben den erwähnten Studien- und administ-rativen Prozessen der FH Brandenburg und den Prozessen des Städtischen Klinikum Brandenburg sowie verschiedener Einrich-tungen des Oberlinhauses Potsdam wurden in den vergangenen Jahren die Gemeinde-haushaltsverordnung (GemHVO), Prozesse im Bauamt und im Ordnungsamt der Stadt-verwaltung Brandenburg, sowie in kleinen und mittleren Unternehmen, jeweils unter Verwendung des objektorientierten Modellie-rungstools SemTalk, modelliert.

Künftige Herausforderungen und Fazit

Nach den soeben beschriebenen Aktivitäten der Modellierung, Optimierung und der Prä-sentation der Prozesse im Intranet kommt es nun darauf an, diese auch zu „leben“, d.h. sie täglichen Leben anzuwenden, immer wieder zu überprüfen und im Bedarfsfall auch weiter zu verbessern. Ein bekannter Begriff hierfür, der aber im wieder eine neue Herausforde-rung darstellt, heißt „Kontinuierliche Prozess-verbesserung“ (KVP).

Weitere Herausforderungen sind

• die Integration der Prozesse mit bzw. in die bestehenden Informationssysteme (an Hochschulen häufig: HIS)

• der Austausch und die kooperative Wei-terentwicklung der Prozesse mit anderen vergleichbaren Einrichtungen (in unserem Fall: Hochschulen), was sowohl zur Ar-beitsersparnis als auch zu „Referenzpro-zessen“ führen kann.

• die Ad-hoc-Modellierung von Prozessen auf kurzfristige Anforderungen hin

• eine mittelfristige Ergänzung des Botton-Up-Herangehens durch ein Top-Down-Vorgehen („Strategisches prozessorien-tiertes Qualitätsmanagement“)

• eine qualifizierte Nutzung web-basierender Dokumentenmanagement- und Kooperati-onstools wie MS Sharepoint oder BSCW zur effizienten Verwaltung der Modelle

Als Fazit lässt sich feststellen, dass es eine langsame, aber nachhaltige Bewegung der Adressaten von Prozessmodellen weg von den „Spezialisten“ hin zu einer breiten Masse von Anwendern zu geben scheint. Die Visua-lisierung der Prozesse und deren einfache, präzise Darstellung spielen dabei eine immer größere Rolle. Die Ausstattung der visuali-

Dietmar Wikarski SR98

54

sierbaren Modelle mit formaler Semantik er-möglicht ihren Einsatz als Mensch-Maschine-Schnittstellen.

Und: Die Einbeziehung von Studierenden in QM- und PM-Projekte ist möglich und sinn-voll, erfordert aber gleichwohl einen langen Atem und viel Koordinierungsaufwand.

Prof. Dr. Dietmar Wikarski, FH Branden-burg, Fachbereich Wirtschaft

55

Modellierung medizinischer Prozesse mit der Business Process Modeling Notation (BPMN) Eberhard Beck, Beatrice Streit, Tina Meissner, Johannes Scheer, Marian Krüger, Sascha Berliner, Thomas Schrader

Einleitung

Die wirtschaftliche Situation unseres Ge-sundheitswesens ist insb. im stationären Ver-sorgungsbereich gekennzeichnet durch ei-nerseits steigende Patientenzahlen sowie andererseits durch steigende Kosten als Fol-ge eines rasanten medizinischen Fortschritts. Verkürzte Liegedauern und der damit einher-gehende Bettenabbau als Folge eines pau-schalierten Abrechnungssystems, führen zu einer zunehmenden Arbeitsverdichtung, die noch zusätzlich durch einen bereits spürba-ren Mangel an ärztlichem und pflegerischem Personal verstärkt wird.

Ein möglicher Ausweg aus dieser Situation wird daher in der Betrachtung medizinischen

Handels aus einer prozessualen Sicht gese-hen. Neben dem Schaffen von Transparenz gelten eine optimale Auslastung der mensch-lichen und apparativen Ressourcen, sowie eine exakte kaufmännische Kostenkalkulation als mögliche Ziele.

Business Process Modeling Notation:

BPMN ist eine standardisierte, graphische Prozessnotation, die ab der Version 2.0 auch für die Prozessautomation verwendet werden kann.

Durch die von der BPMN zur Verfügung ge-stellten Symbole und (Kern-) Elemente, kön-nen medizinische Prozesse und die daran

Abb. 1: Modellierungsebenen von Geschäftsprozessen

Beck E, Streit B, Meissner T, Scheer J, Krüger M, Berliner S, Schrader T SR98

56

beteiligten Handlungspartner (Akteure), be-ginnend vom Symptom bis hin zum Ab-schluss der Behandlung modelliert werden. Die dabei von uns angewandte Vorgehens-weise soll am Beispiel einer “vaginalen Blu-tung” dargestellt werden.

Vom “Happy Path” zum Prozess-Modell :

Dem grundlegenden Prinzip der Prozessmo-

dellierung “Keep it as simple as possible” fol-gend, wird zunächst ein “Happy Path” erstellt, der in seiner ersten Version weder syntakti-schen noch semantischen Anforderungen vollumfänglich gerecht werden muss (Abb. 2). Ziel ist es dabei zunächst einen allgemei-nen und verständlichen Überblick über den zu modellierenden Behandlungsprozess zu erlangen. Ausnahmen und Abweichungen vom als „ideal“ angenommen Behandlungs-

Abb. 2: “Happy Path” zum Behandlungspfad “Vaginale Blutung”

Abb. 3: Subprozess Terminmanagement

SR98 Modellierung medizinischer Prozesse

57

pfad werden nicht berücksichtigt. So liegt z. B. in Abb.2 der „Start-Event“ außerhalb des zu modellierenden ambulant- bzw. stationär-operativen Bereichs.

Der eigentliche Prozess beginnt formal mit einem “Message-Event” im Subprozess “Terminmanagement”: Die Patientin wird durch den behandelnden Arzt angemeldet ( Terminanfrage, Abb. 3).

Als nächstes erfolgt über (automatisierte) Nachrichtenflüsse die Abfrage vordefinierter Befunde, bzw. die erforderlichen Untersu-chungen werden beauftragt. Schließlich wird ein Termin vorgeschlagen, bestätigt, und der Subprozess mit dem Ausdruck eines patien-ten-individuellen Info-Flyers abgeschlossen.

Abb. 4a: Subprozess „Ambulante Operation“

Abb. 4b: Subprozess „OP durchführen“

Abb. 4c: Subprozess „OP dokumentieren“

Beck E, Streit B, Meissner T, Scheer J, Krüger M, Berliner S, Schrader T SR98

58

Durch “Annotations” ist es dabei möglich die „Aktivitäten“, „Sequenz-“ und „Nachrichten-flüsse“ näher zu beschreiben.

Darüber hinaus können über das Artefakt „Datenobjekte“ (siehe Abb. 4a) Dokumente, die im Prozess verwendet oder erzeugt wer-den, in das Prozessdiagramm eingebunden werden.

Durch das Prinzip der „eingebetteten Sub-prozesse“ (siehe Abb. 4b & 4c) ist es möglich die Granularität eines Prozessmodells in na-hezu beliebiger Weise zu erhöhen. Die je-weils modellierte Prozesstiefe ist dabei von der Zielstellung, die mit dem Prozessmodell erreicht werden soll, abhängig.

Darüber hinaus können “eingebettete Sub-prozesse“ in weiteren Prozessmodellen ver-wandt werden, müssen also nicht für jeden Prozess neu modelliert, sondern müssen al-lenfalls an veränderte Gegebenheiten ange-passt werden.

Ausblick

Mit der BPMN steht eine graphische Notation zur Verfügung, die es nicht nur erlaubt medi-zinische Prozesse transparent darzustellen, sondern künftig auch die Möglichkeit bietet, Prozesse (teil-) automatisiert zu unterstützen. Durch die Weiterentwicklung der bereits vor-handenen Simulations-Tools wird es darüber hinaus möglich sein die modellierten Behand-lungspfade mit Sach- und Personalkosten zu hinterlegen. Damit wird es möglich medizini-sche Prozesse nicht nur zu steuern und zu überwachen, sondern auch einer kaufmän-nisch exakten Kalkulation zu unterziehen.

Prof. Dr. med. Eberhard Beck, Beatrice Streit, Tina Meissner, Johannes Scheer, Marian Krüger, Sascha Berliner, Prof. Dr. med. Thomas Schrader, Fachhochschule Brandenburg

59

Von der digitalen zur kollaborativen Pathologie - Prozessmodellierung für die Mammapathologie Thomas Schrader

Zusammenfassung

Die Pathologie befindet sich im Umbruch: die Digitalisierung von Glasobjektträgern und die Verwendung von sog. virtuellen Schnitten (auch Whole Slide Image (WSI) genannt) er-öffnet neue Möglichkeiten. Im ersten Schritt ergeben sich neue Potentiale der Zusam-menarbeit, sowohl im diagnostischen Pro-zess als auch in der Forschung. Dies ist auch der Motor für die Aktivitäten der Standardisie-rung: die Verbesserung des Austausches von Daten und Bildern, die Integration der Virtuel-len Mikroskopie in den Routineablauf in den Pathologie-Instituten. Die IHE (Integrating the Healthcare Enterprises) als eine Organisati-on, die sich als Bindeglied zwischen den Standardisierungsorganisationen HL7 (Health Level 7) und DICOM (Digial Image and Communication in Medicine) versteht, hat diesen Standardisierungsprozess vorange-trieben. Sie hat ein sog. Technical Frame-work erarbeitet, welches die notwendigen Kommunikationsprozess beschreibt und wie diese mittels der genannten Standards um-gesetzt werden können. Das Europäische Projekt COST Action IC0604 EuroTelepath hat sich u.a. darauf konzentriert, den dia-gnostischen Prozess in der Pathologie zu modellieren und nach Möglichkeiten zu su-chen, wie die Virtuelle Mikroskopie in den Routineprozess integriert werden kann.

Zusammen mit den Aktivitäten am Fachbe-reich Informatik&Medien unter Leitung von Prof. Beck, wo die Prozesse in der Versor-gung von Patientinnen mit Mammakarzinoms

modelliert wurden, sind die Prozesse von der Diagnostik bis zur Nachsorge beschrieben worden.

1 Hintergrund

1.1 Digitalisierung

In der Pathologie können gefärbte Objektträ-ger, wie sie für die Diagnostik verwendet werden, vollständig, hochauflösend digitali-siert werden. Dazu stehen Scanner (z.B. der Hamamatsu-Scanner Abbildung 1) zur Verfü-gung, die mit einem 20x oder 40x Objektiv und bis zu einer Auflösung von 0,16 _m je Pixel den Glasobjektträger abscannen und dabei unkomprimierte Bilddaten von 10 bis 20 GB erzeugen. Die Bilder werden zum Speichern komprimiert, so dass pro Bild - in Abhängigkeit der gescannten Fläche - 1 bis 2 GB Speicherplatz benötigt werden.

Abbildung 1: Digitalisierung von Glasobjektträgern

--> WSI Quelle: http://sales.hamamatsu.com/-en/products/system-division/virtual-microscopy/produc ts/-nanozoomer_2.0-rs.php

Thomas Schrader SR98

60

Diese Bilder werden zum Betrachten in einer Bilddatenbank gespeichert. Das Betrachten des Bildes erfolgt über einen speziellen Vie-wer (Abbildung 2). Dabei wird das Bild von der Datenbank nicht vollständig auf den Rechner (Client) des Betrachters geladen, so wie das mit Bildern im JPG-oder PNG-Format im Internet passiert, sondern es findet ein sog. Streaming statt: nur die tatsächlich dar-stellbare, benötigte Bildinformation wird an den Viewer übertragen. Wird das Bild teilwei-se verschoben, werden die neuen Bildanteile nachgeladen. Damit wird ein nahezu verzö-gerungsfreies Arbeiten am Monitor realisiert.

Der Viewer erlaubt neben dem Betrachten noch weitere Funktionen: es lassen sich sehr einfach Annotationen am Bild anbringen und es können Messungen durchgeführt werden. Er ist ebenfalls die Schnittstelle, um Bildana-lysen durchführen zu können.

Nach Auswahl eines Bereiches (Regio of In-terest ROI) kann dieser automatisch analy-siert werden. Die PathologIn erhält damit wertvolle zusätzliche Informationen über morphologische Eigenschaften z.B. eines Tumors oder einfach eines Gewebeberei-ches.

Abbildung 2: Betrachten, Markieren, Vermessen, Analysieren (Quelle: http://www.vmscope.de)

SR 98 Von der digitalen zur kollaborativen Pathologie

61

1.2 Geschäftsprozessmodellierung

Das Vorliegen der digitalisierten Schnitte (WSI) stellt ein wesentlicher Motor für die Entwicklungen im Bereich der Standardisie-rung und Prozessmodellierung dar. Endlich kann der gesamte diagnostische Prozess vollständig digital abgebildet und gesteuert werden. Der Aufgabe der Modellierung der Geschäftsprozesse stellte sich die Arbeits-gruppe Business Modelling in Pathology im EU-Projekt COST Action IC0604. Ziel war es, die ablaufenden Prozesse in den unter-schiedlichen Einrichtungen zu untersuchen, Gemeinsamkeiten und Unterschiede heraus-zuarbeiten, mögliche Integrationspunkte für die Virtuelle Mikroskopie zu identifizieren und

die Anforderungen für eine digitale Patholo-gie zu definieren.

Begonnen wurde zunächst damit, die eigent-lichen Aufgaben in einem Institut für Patholo-gie abzugrenzen (Abbildung 3). Natürlich steht der diagnostische Prozess im Vorder-grund. Aber selbst dieser Prozess lässt sich weiter unterteilen, weil vor allem verschiede-ne Ergebnisse am Ende der jeweiligen Pro-zesse entstehen (Abbildung 4).Weiterhin hat ein Institut für Pathologie wesentliche Aufga-ben in der Lehre und in der Forschung, wobei gerade die Rolle in der Forschung wächst. Die digitalisierten Daten allein sind schon wichtiges Material für verschiedene For-schungsansätze.

Abbildung 3: Neben der Diagnostik weitere Aufgaben

Thomas Schrader SR98

62

Der diagnostische Prozess in der Pathologie (Abbildung 5) beginnt mit der Entgegennah-me des Untersuchungsmaterials. Der Fall wird im Pathologie-Labor-Informationssystem eingegeben und die Gefäße dem jeweiligen Patienten/Fall zugeordnet. Dann erfolgt die makroskopische Untersuchung durch die Pa-thologIn, die das Untersuchungsmaterial be-schreibt und für die Diagnostik relevanten Gewebeabschnitte zur weiteren Untersu-chung entnimmt. Dabei können Bilder zur Do-kumentation angefertigt werden. Das Gewe-be hat eine dann eine Größe von max. 2 x 3 0,4 cm und in eine Kapsel gebracht. Diese Kapsel durchläuft im Labor einen mehrstufi-gen Prozess bis das Gewebe in Paraffin ein-gebettet werden kann. Dann werden von dem

Paraffinblock dünne Scheibchen abgehobelt, die eine Dicke von max. 5 _m aufweisen.

Diese Gewebescheibchen werden auf Glas-objektträger aufgebracht, entparaffiniert und gefärbt. Nach dem Aufbringen eines Deck-gläschen ist der Laborprozess abgeschlos-sen.

Es beginnt der eigentliche diagnostische Pro-zess, in dem der Fall einer ÄrztIn zugewiesen wird und diese dann diesen Fall mikrosko-piert. Der Befund wird dadurch erstellt, dass die ÄrztIn eine Beschreibung des Präparates und eine Diagnose diktiert und dann im Sek-retariat geschrieben werden. Nach Kontrolle erfolgt die Unterschrift durch den Chef/-arzt. Damit ist formal der Fall abgeschlossen. Die Glasobjektträger werden archiviert. Der Be-

Abbildung 4: Überblick über die wichtigsten diagnostischen Prozesse

SR 98 Von der digitalen zur kollaborativen Pathologie

63

fundbericht geht an die jeweilige anfordernde Klinik.

2 Neue Wege in der Pathologie

2.1 Standardisierung & Integration

Standardisierung in der Medizin ist Gegens-tand heftiger Diskussionen. Dabei muss un-terschieden werden, ob es sich um eine Standardisierung von Inhalten (z.B. der Inhalt eines Befundeberichtes), von technischen Abläufen (z.B. Färbevorgängen), von medizi-nischen Abläufen (z.B. festgelegte Abläufe der Präparation des Präparates), von 4 Aus-tauschformaten (z.B. HL7) handelt.

Die Digitalisierung und damit der mögliche Austausch von Daten und Bildern ermöglicht, dass Ort der Bildentstehung und Ort der Bild-/Fallauswertung dissoziieren können. Das bedeutet aber, dass sicher gestellt werden muss, dass alle Prozesse bis zur Digitalisie-rung vereinheitlicht werden müssen. Nur so ist gewährleistet, dass das resultierende Bild wirklich ein der Realität eines Mikroskops entsprechendes Abbild darstellt. Das ist ins-besondere wichtig, wenn sich automatische Bildanalyse anschließen. Hier ist eine weit-

gehende Konstanz der Bildbedingungen er-forderlich, um zu richtigenErgebnissen zu ge-langen.

Der Digitalisierungsvorgang ist im Gesamt-prozess zwischen Labor und Fallzuweisung lokalisiert (Abbildung 6) und gehört aber zum eigentlichen Laborprozess.

Eine Reihe von Möglichkeiten ergeben sich daraus:

• Elektronische Laboranforderung (Order entry)

• Durchgängiges Schnittmanagement mit-tels Barcode

• Steuerung von Geräten und Arbeitsplät-zen via Arbeitslisten

• Elektronische Abrechnung & Leistungser-fassung

• Ressourcenmanagement

Nach der Digitalisierung eröffnen sich neue Möglichkeiten: eine explorative Bildanalyse erschließt die wesentliche Bildinformation. Damit aber eine grobe Fokussierung möglich ist, müssen Informationen zum Fall bzw. zu den einzelnen Schnitten bekannt sein: z.B.

Abbildung 5: Gesamtdarstellung des Pathologie-Prozesses

Thomas Schrader SR98

64

Abbildung 6: Schlüsselstellen für Integration

Abbildung 7: Digitalisierung und Kopplung mit Explorativer Bildanalyse

SR 98 Von der digitalen zur kollaborativen Pathologie

65

welche Schnitte sind Lymphknoten in einem Tumorfall, welche Schnitte sind Tumoran-schnitt, welche Randschnitte?

Die explorative Bildanalyse stellt für die Pa-thologIn Regios of Interest zusammen, die das Mikroskopieren vereinfachen sollen. Ba-sierend auf diesen Information und den Er-gebnissen des diagnostischen Prozesses schließt sich eine spezielle Bildanalyse an (Abbildung 7), die konkrete Fragestellungen bearbeitet z.B. Färbungsgrad der immun-histochemischen Reaktion, Formfaktor von Tumorzellen.

Die Funktionalität ist insbesondere für die Diagnostik von Brustkrebs wichtig. Im Rah-men der sog. Prädiktiven Pathologie werden Untersuchungen durchgeführt, die direkt den Einsatz von Chemotherapeutika beeinflus-sen.

2.2 Kollaboration

Mit der Digitalisierung erschließen sich auch bessere Möglichkeiten der Zweitbefundung

und der Supervision, der Qualitätskontrolle und des Fallreviews im Rahmen von Tumor-konferenzen. Im diagnostischen Prozess bei der PathologIn selber kann die Notwendigkeit entstehen, sich eine zweite Meinung eines externen ExpertIn einzuholen. In diesem Fall genügt das Versenden eines Links zum WSI und die ExpertIn

kann synchron oder asynchron sich den Fall anschauen. Auch für die Ausbildung von

Pathologen spielt die Konsultation eine we-sentliche Rolle. Assistenzärzte müssen ihre Fälle einem Facharzt vorstellen und diskutie-ren (Supervision). Dieser Vorgang kann nun elektronisch abgebildet werden (Abbildung 8).

3 Zusammenfassung

Die Möglichkeiten, die sich aus der Digitali-sierung von Glasobjektträgern in der Patho-logie ergeben sind sehr vielseitig und werden den Arbeitsprozess in einem Institut für Pa-thologie stark verändern. Inzwischen sind

Abbildung 8: Integration & Services für die PathologIn

Thomas Schrader SR98

66

auch schon neue Begriffe gewählt worden: es wird nicht mehr allein von Digitaler Pathologie sondern schon Kollaborativer Pathologie ge-sprochen.

Im Fachbereich Informatik und Medien der Fachhochschule Brandenburg wurde unter Leitung von Prof. Beck der gesamte Prozess der Versorgung von Patientinnen mit Brust-krebs modelliert und in Zusammenhang mit den Prozessen der Pathologie gebracht. Da-bei konnten wesentliche Anforderungen für die Zusammenarbeit und den Datenaus-tausch identifiziert werden. Die Möglichkeiten

der digitalen, kollaborativen Pathologie spie-geln sich auch in den Behandlungspfad zu-rück. In Tumorkonferenzen können nun so-wohl Fallinformationen als auch histologische Schnitte vorgelegt und diskutiert werden. Problemlos lassen sich dabei auch noch ex-terne ExpertInnen einbinden.

Prof. Dr. med. Thomas Schrader, Fach-hochschule Brandenburg, Fachbereich In-formatik und Medien

Kontakt

Alcatel-Lucent Stiftung Lorenzstraße 10, 70435 Stuttgart

Telefon 0711-821-45002 Telefax 0711-821-42253

E-Mail [email protected] URL: http://www.stiftungaktuell.de

Alcatel-Lucent Stiftung

Die Alcatel-Lucent Stiftung für Kommunikationsforschung ist eine gemeinnützige Förderstiftung für Wissenschaft insbesondere auf allen Themengebieten einer „Informationsgesellschaft“, neben allen Aspekten der neuen breitbandigen Medien speziell der Mensch-Technik-Interaktion, des E-Government, dem Medien- und Informationsrecht, dem Datenschutz, der Datensicherheit, der Sicherheits-kommunikation sowie der Mobilitätskommunikation. Alle mitwirkenden Disziplinen sind angesprochen, von Naturwissenschaft und Technik über die Ökonomie bis hin zur Technikphilosophie. Die Stiftung vergibt jährlich den interdisziplinären „Forschungspreis Technische Kommunikation“, Dissertationsauszeichnungen für WirtschaftswissenschaftlerInnen sowie Sonderauszeichnungen für herausragende wissenschaftliche Leistungen. Die 1979 eingerichtete gemeinnützige Stiftung unterstützt mit Veranstaltungen, Publikationen und Expertisen ein eng mit der Praxis verbundenes pluridisziplinäres wissenschaftliches Netzwerk, in dem wichtige Fragestellungen der Informations- und Wissensgesellschaft frühzeitig aufgenommen und behandelt werden. www.stiftungaktuell.de