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Prävention im digitalen Zeitalter – Gesund arbeiten, gesund leben Zeitschrift für innovative Arbeitsgestaltung und Prävention 12,50 Euro | ISSN 2190-0485 Nr. 1 | 2016

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Prävention im digitalen Zeitalter –Gesund arbeiten, gesund leben

Zeitschrift für innovative Arbeitsgestaltung und Prävention 12,50 Euro | ISSN 2190-0485 Nr. 1 | 2016

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Prävention im digitalen Zeitalter –Gesund arbeiten, gesund leben

inhalt

æ Pflege-Prävention 4.0 – Neue Modelle für diePräven tion in der Altenpflege vor dem Hinter grundvon Berufsbiografieorientierung, Dienstleistungs-vielfalt und High-Tech (FKZ 01FA15096, 097, 099,100, 171)

æ MeGA – Maßnahmen und Empfehlungen für die gesunde Arbeit von morgen (FKZ 01FA15001)

werden im Förderschwerpunkt „Präventive Maßnah-men für die sichere und gesunde Arbeit von morgen“gefördert vom Bundesministerium für Bildung undForschung. Die Projekte werden vom Projektträger im Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt e.V.„Arbeitsgestaltung und Dienstleistungen“ betreut.

Bildnachweis: Porträts: DLR, S.5 (Zettel); UniversitätHeidelberg, S.7 (Sonntag, Sattler); Andrea Seifert, S. 9,S.23 (Schubert ); christoph meinschäfer FOTOGRAFIE,S. 9, S.15 (Rudolf); Joe Kramer | Photodesign, S. 9, S. 11(Beerheide); Dagmar Siebecke, S. 9, S.19 (Ciesinger);Hamid Noorani, Fotostudio Basso, Essen, S. 11, S. 13(Goedicke); XING, S. 13 (Heptner); Christian Baakes, S. 25 (Polzer-Baakes); Fotoatelier Clemens Gütersloh,S. 27 (Schlüpmann); Hanna Bergs, S. 29 (Schimweg);Felix Gemein Photography, S. 31 (Siebecke); PicturePeople, S. 35 (Schollas).

Einige Artikel dieser Ausgabe der præview basieren auf den Ergebnissen öffent lich geförderter Vorhaben.

Die Projekte

æ BalanceGuard – Entwicklung und Erprobung eines Assistenzsystems für ganzheitliches Beanspruchungsmonitoring und gesunde Arbeit (FKZ 01FA15101, 102, 103, 172, 173)

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Gesund in die Zukunft – Der Förderschwerpunkt „Präventive Maßnahmen für die sichere und gesunde Arbeit von morgen“

Claudio Zettel

Ein Förderschwerpunkt ist mehr als die Summe seiner VorhabenDas wissenschaftliche Begleitvorhaben MEgA

Karlheinz Sonntag, Christine Sattler

Gesunde Arbeit durch Beanspruchungsmonitoring – das Verbundprojekt BalanceGuardEmanuel Beerheide, Kurt-Georg Ciesinger, Rainer Rudolf, Andreas Schubert, Anja Schweickert

Smartwatch, Fitnesstracker & Co. – wo bleibt der Arbeitsschutz? Herausforderungen und Gestaltungschancen

Emanuel Beerheide, Anne Goedicke

Fehlbelastungen und Ressourcen in der Längsschnittbetrachtung Chancen für ein besseres Verständnis von gesundheitlichen Auswirkungen der Arbeitssituation

Jella Heptner, Anne Goedicke

Individuelles Monitoring durch BalanceGuard als Ergänzung arbeitsmedizinischer Vorsorgesysteme

Rainer Rudolf

BalanceGuard als Spiegel: Grundlagen der Erstellung technischer Konzepte zur Unterstützung

der Beschäftigten bei der SelbstbeobachtungAlbrecht Wanders

Technische Intelligenz plus menschliche Erfahrung Unterstützung von Betrieben und Beschäftigten bei der Gestaltung gesunder Arbeitsbedingungen

Kurt-Georg Ciesinger

Gesundheitsmanagement in der ZeitarbeitAnja Schweickert

„Belastung erkennen und handeln“ Einführung eines Belastungsmonitorings im Caritasverband Hannover e.V.

Andreas Schubert

Hier besteht Handlungsbedarf: Zeitdruck und Multitasking am Arbeitsplatz belasten zwei von drei Beschäftigten in NRW

Christin Polzer-Baakes

Jede Hilfe beginnt mit der Problemanalyse Individuelles Belastungsmonitoring als Startpunkt von Employee Assistance Programmes

Jörg Schlüpmann

Prävention 4.0 in der AltenpflegeInnovative Ansätze für gesunde Arbeitsgestaltung in Pflegeberufen

Paul Fuchs-Frohnhofen, Ralf Schimweg

Krankheit ist selten rein arbeitsbedingtLangzeit- und chronische Erkrankungen als wachsende betriebliche Herausforderung

Dagmar Siebecke

GIP – Gesundheit in der Polizei NiedersachsenMichael Greve

Spielend einfach, oder doch nicht? Chancen und Grenzen von Gamification-Ansätzen

Sabine Schollas

Art Directors’ Comment

Schöne prädigitale Welt – Industrie 1.0

Mit exklusiv für diese Zeitschrift entstandenen Fotografien laden wir die Leserinnen und Leser zu einer Reise in die Zeit der großen technischen Innovationen, der (ersten) industriellen Revolution ein.

Gewaltige, alle Sinne ansprechende, dampfgetriebene Maschinen, mechanische Steuerungen, Transmissionsriemen und Zahnradgetriebe waren „state of the art“.

In unserer digital geprägten, oft nüchtern anmutenden (Arbeits-)Welt beeindrucken diese – vielfach noch voll funktionsfähigen – hochkomplexentechnischen Apparate, zeugen von Schaffenskraft und Erfindungsreichtumjener Epoche.

Lassen Sie sich von dieser Ausgabe der præview mitnehmen in die Zeit, „in der alles begann“.

Renate Lintfert und Hans Waerder, Q3 design

impressum

præview – Zeitschrift für innovative Arbeits-gestaltung und Prävention7. Jahrgang 2016 – ISSN 2190-0485Erscheinungsort Bielefeld

Herausgeber: Jörg SchlüpmannVerlag: Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Assistenz OWL e.V.(a3 OWL e.V.)v.i.S.d.P.: Frank-Peter OltmannLektorat: Sabine SchollasDruck: print24.deLayout: Q3 design GbR, Dortmund

Bezugsadresse /Kontakt:Zeitschrift præview c/o a3 OWL e.V.Herforder Straße 74, 33602 Bielefeld http://a3-owl.info, [email protected]

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Die Gestaltung des Prozesses aktiv aufzugreifen,ist ein gesellschaftliches und politisches Gebot.Das Bundesministerium für Bildung und For-schung (BMBF) hat mit dem Forschungspro-gramm „Innovationen für die Produktion,Dienstleistung und Arbeit von morgen“ sowieder vom Europäischen Sozialfond kofinanzier -ten Programmlinie „Zukunft der Arbeit“ dafüreine ausgezeichnete Basis geschaffen. Insbe-sondere die Ergebnisse der Programmlinie„Zukunf t der Arbeit“ sollen Gestaltungsmög-lichkeiten liefern, die für die Arbeit der Zukunftzum Standard werden können.

Die Arbeit der Zukunft mit ihrer verstärkten Di-gitalisierung und Dynamisierung der Arbeits-welt, wie sie gegenwärtig unter dem Stichwort„Industrie 4.0“ diskutiert wird, wird an die Mehr-heit der Beschäftigten deutlich erhöhte Kom-plexitäts-, Abstraktions- und Problemlösungs-anforderungen stellen. Vielen Beschäftigtenwird ein sehr hohes Maß an selbstgesteuertemHandeln, kommunikativen Kompetenzen undFähigkeiten zur Selbstorganisation abverlangt.

Die subjektiven Fähigkeiten und Potenziale derBeschäftigten werden noch stärker gefordertsein. Das bietet Chancen für qualitative Anrei-cherung, interessante Arbeitszusammenhänge,zunehmende Eigenverantwortung und Selbst-entfaltung, mit dem Risiko der Selbstgefähr-dung durch Überforderung. Daneben wird esaber auch zukünftig in vielen Branchen wei-terhin einfache Tätigkeiten geben, in denen dieGestaltungsspielräume wesentlich geringer sind.

jekte mit insgesamt 156 Partnern für eine För-derung durch das BMBF ausgewählt. Alle Pro-jekte starteten für eine Laufzeit von jeweils dreiJahren zwischen 2015 und 2016.

Thematisch lassen sich die eingereichten undausgewählten Projekte in fünf Bereichen zu-sammenfassen. Für diese Bereiche wurden fol-gende fünf „Fokusgruppen“ mit dem Ziel ein-gerichtet, den Austausch auch unmittelbarunter den Projekten zu erhöhen:

1. Präventionsorientierte Personalentwicklungund innovative Führung

2. Neue Ansätze des Arbeits- und Gesundheits-schutzes in der Pflege und dienstleistungs-intensiven Branchen

3. Präventiver Arbeits- und Gesundheitsschutzdurch Präventionsallianzen

4. Personenindividualisierte und präventive Ar-beitsgestaltung

5. Neue Arbeitsformen und innovative Assistenz -systeme für die gesunde Arbeit von morgen

Hervorzuheben sind insbesondere die insgesamt67 unmittelbar in die Verbundprojekte einge-bundenen Unternehmen (darunter 42 kleineund mittelständische Unternehmen), die damitdie größte Gruppe der Teilvorhaben in demFörder schwerpunkt stellen. Insgesamt sicherndiese Praxispartner wie auch die darüber hinausin den Verbünden eingebundenen Sozialpart -ner und Verbände eine anwendungsorientierteund praxisnahe Erprobung der entstandenenkreativen Konzepte.

Angesiedelt an der Ruprecht-Karls-UniversitätHeidelberg (Fakultät für Verhaltens- und Empi-rische Kulturwissenschaften, PsychologischesInstitut, Arbeitseinheit Arbeits- und Organisati -onspsychologie) ist außerdem ein wissenschaft-liches Begleitvorhaben, welche s sich zum Zielgesetzt hat, auf einer Metaebene übergreifendeMaßnahmen und Empfehlungen für die gesun -de Arbeit von morgen zu entwickeln (Projekt„MEgA“).

Der DLR Projektträger begleitet den Förder-schwerpunkt und unterstützt die Forschung zurInnovation in der Arbeitswelt, um neue Kon-zepte der Arbeitsgestaltung und -organisationin und mit Akteuren der Wirtschaft zu entwi-ckeln und die Ergebnisse aus der Forschungüber pilothafte Umsetzungen breit in die be-triebliche Praxis zu überführen.

Dem Forschungsprogramm „Zukunft der Arbeit“und diesem Förderschwerpunkt gilt ein hohesgesellschaftspolitisches Augenmerk: Gemeinsammit den beteiligten Forschungspartnern werdenaus diesem Förderschwerpunkt im Ergebnis neueKonzepte der Arbeitsgestaltung zur Verfügungstehen, aus denen ein gesellschaftlicher Mehr-wert und ein Innovationsschub für die Arbeits-forschung zu erwarten sind. Der Dank an dasgroße Engagement aller beteiligten Forschungs-und Praxispartner verbindet sich daher mit demWunsch, dass die entstandenen Konzepte undAnsätze ihre Wirkung auf breiter Ebene entfal-ten werden.

Der AutorDr. Claudio Zettel ist Leiter der Arbeitseinheit„Arbeitsgestaltung und Dienstleistungen“ undKoordinator Arbeitsgestaltung beim Projekt -träger im Deutschen Zentrum für Luft- undRaumfahrt e.V., Bonn. Der DLR Projektträgerbeglei tete bis September 2016 den BMBF-Förder-schwerpunkt „Präven tive Maßnahmen für diesiche re und gesunde Arbeit von morgen“. Claudio Zettel

Gesund in die Zukunft – Der Förderschwer-punkt „Präventive Maßnahmen für die sichereund gesunde Arbeit von morgen“Claudio Zettel

Deutschland hat die Herausforderungen der Globalisierung und

Technikentwicklung bisher dank der ausgewiesenen Innovationskraft

im produzierenden Gewerbe und im Dienstleistungssektor wie auch

seiner exzellenten Forschungskapazität gemeistert. Doch Arbeitswelt

und Unternehmen befinden sich in einem stetigen Wandel, der

durch verschiedene Megatrends wie Demografie, Digi talisierung und

veränderte Bedürfnisse der Menschen getrieben ist. Das gemeinsam

verantwortete Zusammenspiel von Menschen, Unternehmen, Orga-

nisation und Technik in der Arbeitswelt ist deshalb ein wesent licher

Erfolgs faktor, auch in Zukunft. Dies ist ein gestaltbarer Prozess.

Viele Beschäftigte werden auch mit einem Ver-lust an Handlungskompetenz konfrontiert wer-den. Diese Entwicklungen werden durch dendemografischen Wandel da beschleunigt, wokeine kontinuierliche Kompetenzentwicklungstattfindet. Der präventive Arbeits- und Ge-sundheitsschutz muss sämtliche Tätigkeitsfelderadressieren, um das für die Innovationsfähigkeitwesentliche Arbeitskraftpotenzial zu erhalten.

Die BMBF-Bekanntmachung „Präventive Maß-nahmen für die sichere und gesunde Arbeit vonmorgen“ geht gezielt auf diese Herausforde-rungen und Chancen ein. Die Bekanntmachungadressiert auf zwei Ebenen die Stärkung der In-novationsfähigkeit: erstens durch neu zu ent-wickelnde Ansätze der präventionsorientiertenPersonal- und Kompetenzentwicklung für einenwirksamen betrieblichen Arbeits- und Gesund-heitsschutz und zweitens durch personenindi-viduelle, präventive Arbeitsgestaltung für eineverbesserte Gesundheit und Arbeitsqualität vonBeschäftigten.

Um diese beiden Felder zu erforschen, wurdenmit der Veröffentlichung der BekanntmachungPräventionsallianzen aus Vertretern der Wirt-schaft, Wissenschaft, Intermediären und Sozial -partnern aufgerufen, Ideen und anwendungs-orientierte Ansätze einzureichen. Sie solltenskizzieren, wie die aus Digitalisierung und De-mografie resultierenden Chancen aufgegriffenund Wege zu einem konstruktiven Umgang um-gesetzt werden können. Aus der Vielzahl dereingereichten Skizzen wurden 30 Verbundpro-

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Die Autorin, der AutorProf. Dr. Karlheinz Sonntag ist Leiter der Abtei lung Arbeits-und Organisations psychologie am Psychologischen Institutder Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Die Schwer-punkte seiner Forschung liegen in der Bewältigung vonVerän derungsprozessen, der Personalentwicklung sowie imKompetenz- und Gesundheitsmanagement.

Dr. Christine Sattler ist Nachwuchsgruppenleiterin in derArbeits- und Organisations psychologie am PsychologischenInstitut und Senatsbeauftragte für Qualitätsentwicklung(SBQE) an der Ruprecht-Karls-Universität Heidel berg.

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Um die Arbeit von morgen sicher und gesundzu gestalten, ist die Kenntnis möglicher psychi -scher Belastungsfaktoren unerlässlich. HäufigeArbeitsunterbrechungen und Multitasking, ge-stiegene kognitive und sozialkommunikativeAnforderungen, ständige digitale Erreichbarkeit– das alles kann zu negativen Beanspruchungs-folgen bei den Beschäftigten führen. Um gesund -heitsgefährdenden Faktoren entgegenzuwirken,ist vor allem das Personal- und Gesundheits-management gefragt. Denn eine Arbeitsorga-nisation, die Beschäftigte weder über- noch un-terfordert, sie ausreichend qualifiziert undmotiviert sowie eine gesunde Work-Life-Balanceermöglicht, sollte eine grundlegende unterneh-merische Strategie sein. Vor allem bei KMUherrscht Verunsicherung, welche personalpoli-tischen Maßnahmen in einer zunehmend digi-talisierten Arbeitswelt erforderlich und prakti-kabel sind.

Das wissenschaftliche Begleitvorhaben „Maß-nahmen und Empfehlungen für die gesundeArbeit von morgen“ (MEgA) will daher insbe-sondere KMU praktikable Werkzeuge für einepräventive und demografiesensible Arbeitsge-staltung bereitstellen. Als Innovationsmotor derdeutschen Wirtschaft beschäftigen sie zwarmehr als 60 % der Arbeitnehmer/-innen inDeutschland. Für eine nachhaltige betrieblicheGesundheitsförderung fehlen allerdings oftmalspersonelle und finanzielle Ressourcen oder esmangelt schlichtweg an Know-how im Arbeits-und Gesundheitsschutz. Insofern ist es ein be-sonderes Anliegen von MEgA, den Unternehmenbedarfsgerechte Gestaltungs- und Handlungs-empfehlungen zur Verfügung zu stellen. Dafürhat eine qualitative Befragung unter mehr als60 Geschäftsführern und Personalleitern aus

KMU zunächst die Anforderungen und Bedarfeeines modernen HR- und Gesundheitsmanage-ments ermittelt. Zur weiteren Bedarfsanalysewerden mit einer repräsentativen Erhebung beiKMU auch mögliche Hemmnisse und Treiber inder Umsetzung identifiziert.

Die Interviews mit den KMU-Vertretern machendeutlich, dass keine Pauschallösungen, sondernvielmehr differenzierte und auf die jeweiligenpersonellen und organisatorischen Begebenhei-ten angepasste Ansätze notwendig sind. Beson -ders der demografische Wandel wird als Heraus -forderung für das HR-Management betrachtet:Die Befragten gehen mehrheitlich davon aus,dass sich der Fachkräftemangel in naher Zu-kunft spürbar auf ihr Unternehmen auswirkenwird. Umso wichtiger ist es, Beschäftigte durchpräventive Maßnahmen langfristig gesund undkompetent zu halten. Nahezu alle Unternehmenwünschen sich Lösungen für einen demografie -sensiblen Umgang mit älteren Mitarbeitenden.

Einig sind sich die Befragten, dass durch digitaleTechnologien die Komplexität der Arbeit unddamit die Anforderungen an Beschäftigte stei-gen, weshalb Qualifizierung und Kompetenz-management gefordert werden. Während dieAutomatisierung in vielen der befragten Un-ternehmen in unterschiedlichen Ausprägungenbereits vorhanden ist, wird Industrie 4.0, alsodie vernetzte Produktion, bislang eher zurückhal -tend umgesetzt – durchaus aber als Zukunfts -thema und damit auch wichtiges Personalthemawahrgenommen. Einig sind sich die Befragten,dass durch die Informatisierung der Arbeitsweltzunehmend eine Vermischung von Arbeit undPrivatleben stattfindet, weshalb Konzepte zurArbeitszeitgestaltung gefragt sind.

Karlheinz Sonntag, Christine Sattler

physischen Faktoren aus der Arbeitsumgebungwie Lärm oder Klima zählen dazu nun auch psy-chische Belastungen wie Arbeitsintensität,Handlungsspielraum und Konzentrationserfor-dernisse – also genau die Faktoren, die ange-sichts von Digitalisierung und Dynamisierungeine Rolle spielen.

Etliche Großunternehmen setzen bei der Erfas-sung der psychischen Belastungen bereits dasvon Heidelberger Arbeitspsychologen entwickel -te und standardisierte Verfahren „Gefährdungs-beurteilung Psychische Belastung“ (GPB) ein.Durch geschulte Analyse-Teams, zusammenge-setzt aus Fachkräften für Arbeitssicherheit, Vor-gesetzen, Betriebsräten und Arbeitsmedizinern,werden im Rahmen von Arbeitsplatzbegehun-gen nicht Einzelpersonen, sondern Tätigkeitenbeurteilt. Ein wichtiges Ziel von MEgA ist es,das Konzept der GPB an die spezifischen Be-dürfnisse von KMU anzupassen. Schon die Pilot -phase dieses Jahres hat gezeigt, dass sich durchein modifiziertes und verschlanktes Verfahrender Aufwand für KMU erheblich reduzieren undder Durchführungsprozess vereinfachen lässt.

Deutlich wird: Eine vorausschauende Personal-politik ist in Zeiten von Digitalisierung und de-mografischem Wandel unverzichtbar! Dennauch die zukünftige Arbeitswelt ist humanzen-triert. Das Anliegen des gesamten Förderschwer-punktes ist es, zukunftsfähige Ansätze für einepräventive Arbeitsgestaltung zu entwickeln –auch das wissenschaftliche BegleitvorhabenMEgA will seinen Beitrag leisten. Mit der Platt-form www.gesundearbeit-mega.de wird derumfassende und kontinuierliche Wissensaus-tausch rund um gesunde Führung, präventiveArbeitsgestaltung und den Einsatz von Assis-tenzsystemen, Robotern und smarten Techno-logien garantiert. Neben Informationen zumFörderschwerpunkt und den 30 beteiligten Ver-bundprojekten werden hier die in MEgA erar-beiteten Empfehlungen und praxiserprobtenHR-Werkzeuge, Trainings und Leitfäden bereit-gestellt. Damit werden insbesondere KMU un-terstützt, Belastungsfaktoren zu reduzieren, Ge-sundheitsressourcen aufzubauen und langfristigdie Leistungsfähigkeit, Vitalität und Motivationihrer Beschäftigten zu stärken.

Digitalisierung, Industrie 4.0 und demografischer Wandel: Die Arbeitswelt ändert sich rapide – und stellt

Unter nehmen und Beschäftigte gleichermaßen vor große Herausforderungen. Ob Kollege Roboter einzelne

Berufszweige überflüssig macht oder im Zuge digitaler Omnipräsenz die Entgrenzung von Arbeit und Privat-

leben droht, wird in Wissenschaft und Politik derzeit kontrovers diskutiert. Einigkeit besteht darin, dass sich

in Zukunft Tätigkeiten verändern, neue entstehen und Anforderungen an Fach- und Führungskräfte steigen

werden. Angesichts der sich wandelnden Bedingungen sind Unternehmen gefordert, für Gesundheit und

Kompetenz ihrer Beschäftigten zu sorgen.

Ein Förderschwerpunkt ist mehrals die Summe seiner VorhabenDas wissenschaftliche Begleitvorhaben MEgAKarlheinz Sonntag, Christine Sattler

Vor allem eine unausgewogene Work-Life-Ba-lance und ständige digitale Omnipräsenz kön-nen zu negativen Beanspruchungsfolgen beiden Beschäftigten führen. Speziell Führungs-kräfte haben den Eindruck, für ihren Job zuneh -mend außerhalb der Arbeitszeiten verfügbarsein zu müssen, wie bereits ein früheres For-schungsprojekt der Heidelberger Arbeitspsy -chologen, das in Kooperation mit Großunter-nehmen und öffentlichen Verwaltungendurchgeführt wurde, gezeigt hat. Präventions-strategien müssen daher die Harmonisierungvon Arbeit und Privatleben aufgreifen. Gelingtes den Unternehmen, den Arbeitsrhythmus inder digitalisierten Arbeitswelt mit den Bedürf-nissen ihrer Fach- und Führungskräfte in Ein-klang zu bringen, können Arbeitszufriedenheitsowie Zufriedenheit mit der Work-Life-Balancegesteigert werden – ganz abgesehen von derArbeitgeberattraktivität. Aus diesem Grund wirdmit MEgA ein modulares, webbasiertes Trainingzur Work-Life-Balance entwickelt, das Beschäf-tigte darin unterstützt, ihren Umgang mit di-gitalen Technologien zu verbessern und einegesunde Balance zwischen Arbeit und Freizeitzu finden.

Erhebliches Potenzial, um Belastungsfaktorenfür Beschäftigte zu reduzieren und ihr Wohlbe -finden zu fördern, liegt in der Gefährdungsbe-urteilung psychischer Belastungen als integrier-tem Teil der klassischen Gefährdungsbeurteilung.Dies hat auch bereits Eingang in die Gemein-same Deutsche Arbeitsschutzstrategie (GDA)und in das Arbeitschutzgesetz (§ 5, Ziffer 6) ge-funden. Hierbei werden relevante Gefährdungenund potenzielle Stressoren, denen Beschäftigtedurch ihre berufliche Tätigkeit ausgesetzt sind,systematisch ermittelt und bewertet. Neben

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Veränderte Belastungssituationen in der Arbeitswelt Erwerbsarbeit wandelt sich und mit ihr die Be-lastungen und Beanspruchungen, die Beschäf-tigte in der Arbeit erfahren. Arbeitsforschungund Prävention müssen genutzte Erhebungs-verfahren, Modelle und Handlungsempfehlun-gen für gesundes Arbeiten daher immer wiederan neue Realitäten in der Arbeitswelt anpassen. Ein Ausgangspunkt für das Verbundprojekt Ba-lanceGuard („Entwicklung und Erprobung einesAssistenzsystems für ganzheitliches Beanspru-chungsmonitoring und gesunde Arbeit“) ist, dasssich die arbeitsbedingten Belastungen, denenErwerbstätige ausgesetzt sind, immer schwererunmittelbar an einem Arbeitsplatz beobachtenlassen.

Die Gründe dafür sind vielfältig und beinhalteninsbesondere die Zunahme geistiger und koor-dinierender Tätigkeiten, die gestiegene Bedeu-tung selbstorganisierten Arbeitens, die Verbrei-tung von Mobilarbeit und die Tatsache, dassparallele Mehrfachbeschäftigungen bei Arbeit -nehmerinnen und Arbeitnehmern zunehmen.Bei vielen Erwerbstätigen treten neben Fehlbe-lastungen in der Erwerbsarbeit zudem Fehlbe-lastungen im Privatleben und bei der Vereinba-rung beider Lebenssphären auf, zum Beispieldurch körperliche Arbeit in Pflege oder Ehren-amt, durch Zeitdruck und fehlende Zeitauto-nomie oder durch Erwartungen der Erreichbar-keit für berufliche Belange in der Freizeit.Belastungssituationen von Beschäftigten wer-den also individueller und dynamischer, und sielassen sich häufig nur in der Zusammenschauvon Erwerbsarbeit und anderen Lebensbereichenangemessen bewerten.

Im Vergleich zu vielen anderen Gestaltungs -projekten von Erwerbsarbeit wechselt Balance -Guard grundlegend die Perspektive, indem

æ Personen als Expertinnen und Experten ihrerArbeits- und Lebenssituation ins Zentrum ge -stellt und mit ihren individuellen Beanspru-chungen in den Blick genommen werden,

æ Fehlbelastungen, Ressourcen und Beanspru-chungen ganzheitlich als Zusammenspiel vonEinflüssen aus der Erwerbsarbeit und solchenaus privaten Lebenszusammenhängen kon-zipiert werden,

æ Fehlbelastungen, Ressourcen und Beanspru-chungen in ihrer Dauer und zeitlichen Dyna -mik erfasst werden,

æ sowohl die individuellen Anwenderinnen undAnwender als auch Unternehmen gestärktwerden, sich im Sinne verhältnisbezogenerPrävention für eine Verbesserung von Ar-beitsbedingungen einzusetzen. Dabei sollenbereits bestehende Strukturen des betrieb -lichen Gesundheitsmanagements und desArbeitsschutzes genutzt sowie Vorgesetzte,Arbeitsteams und betriebliche Interessen -vertretungen einbezogen werden.

Ziele des Verbundprojekts BalanceGuard Entwickelt und erprobt wird in BalanceGuardein technisches Assistenzsystem, das Beschäf-tigten eine kontinuierliche Selbstaufschreibungihrer Fehlbelastungen, Ressourcen und Bean-spruchungen ermöglicht. Es handelt sich umeine Web-Anwendung, über die Beschäftigtebestimmte – zum Teil selbst ausgewählte –Werte regelmäßig erfassen und auswerten kön-nen. Sie bekommen Verläufe der eingegebenenParameter ihrer Arbeits- und Lebenssituationhandlungsleitend zurückgemeldet, können –durchaus auch spielerisch – nach Ursache-Wir-kungs-Beziehungen für Beanspruchungen su-chen und werden so in ihrem individuellenPräven tionshandeln unterstützt. Hilfen zur ge-

Emanuel Beerheide, Kurt-Georg Ciesinger, Rainer Rudolf, Andreas Schubert, Anja Schweickert

sunden Arbeitsgestaltung, eingebundene Infor-mationsmaterialien sowie Verweise auf Bera-tungen und ansprechbare Akteure im Betriebsorgen dafür, dass die Suche nach Ursachenhoher Beanspruchungen und möglichen Gege -nmaßnahmen für die Nutzerinnen und Nutzernicht zum Alleingang wird.

Mit Zustimmung und unter Einbeziehung derBeschäftigten sowie ihrer Interessenvertretun-gen kann der Einsatz von BalanceGuard auchim direkten Zusammenhang mit betrieblichenInitiativen der Organisations- und Personalent-wicklung erfolgen. Dafür werden im Interesseguter Arbeitsgestaltung für größere Beschäf-tigtengruppen anlassbezogene Auswertungenanonymisierter Teildatensätze vereinbart. SolcheAnalysen sind hilfreich, um Handlungsanforde-rungen in den Unternehmen zu präzisieren undMaßnahmen für gesundes Arbeiten an die tat-sächlichen Bedarfe, Interessen und Ressourcenvon Beschäftigten anzupassen. Zudem könnenin wissenschaftlichen Auswertungen anonymi-sierter Daten Erkenntnisse zu den Ursachen undzeitlichen Verläufen von Beanspruchungen ge-wonnen werden.

Die im Verbundprojekt BalanceGuard technischentwickelte sowie mit Befragungsinstrumenten,Auswertungsroutinen und Handlungsempfeh-lungen ausgestattete Web-Anwendung wirdüber die gesamte Laufzeit des Verbundvorha-bens hinweg zusätzlich in „nicht-virtuelle“ In-formations- und Beratungsangebote einge -bettet. Diese Angebote richten sich sowohl anBetriebe und betriebliche Akteure als auch anindividuelle Beschäftigte und beinhalten Ent-scheidungshilfen zum Einsatz und Anleitungenzum Umgang mit dem Assistenzsystem, Ver-fahren zur Gewährleistung des Datenschutzes,Hilfen zur Interpretation von Ergebnissen sowieBeratungen für Präventionsstrategien.

Das Projektteam Im Team des Verbundprojekts BalanceGuardbündeln sich die für das Vorhaben notwendigenKompetenzen in hervorragender Weise. DasLandesinstitut für Arbeitsgestaltung des LandesNRW ist neben der Gesamtkoordination desVerbundes für die Entwicklung des Fragebogensund der Handlungsempfehlungen zuständig,verantwortet wissenschaftliche Auswertungenvon Erprobungsdaten und begleitet die Einbin-dung der Anwendung in den betrieblichen Ar-beitsschutz. Mit der Stock Informatik GmbH &Co. KG wird eines der führenden Systemhäuserfür Softwareentwicklung in den Bereichen Ar-beits- und Präventionsmedizin, BetrieblichesGesundheitsmanagement und Arbeitssicherheitdas Assistenzsystem BalanceGuard entwickelnund in Unternehmen testen. Die gaus gmbh –medien bildung politikberatung, ein arbeitswis-senschaftliches Forschungs- und Beratungsin-stitut mit den Schwerpunkten Personal- undOrganisationsentwicklung, Qualifizierung undBildung, erarbeitet die begleitenden Beratungs-angebote und Services. Sie koordiniert zudemdie Zusammenarbeit der Entwicklungs- undPraxispartner im Erprobungsprozess.

Mit dem Caritasverband Hannover e.V. und derManpower GmbH & Co. KG Personaldienstleis-tungen arbeiten zwei Praxispartner im Verbund,die von Beginn an die inhaltliche und technischeEntwicklung des Assistenzsystems begleiten undauf seine Passung zu betrieblichen Abläufen,zu den Interessen von Beschäftigten und zureigenen Unternehmenskultur achten. Währendfür den Caritasverband die gesundheitsgerechteGestaltung der Arbeitssituation von Erzieherin-nen im Vordergrund steht, wird bei Manpower

Die Autorin, die AutorenEmanuel Beerheide (LIA.nrw), Kurt-GeorgCiesin ger (gaus), Rainer Rudolf (Stock Infor-matik), Dr. Andreas Schubert (CaritasverbandHannover) und Anja Schweickert (Manpower)sind die Leiter der Teilvorhaben des Verbund-projektes BalanceGuard.

Gesunde Arbeit durch Beanspruchungsmonitoring –das Verbundprojekt BalanceGuardEmanuel Beerheide, Kurt-Georg Ciesinger, Rainer Rudolf, Andreas Schubert, Anja Schweickert

Personaldienstleistungen insbesondere die Ein-setzbarkeit des Tools für unterschiedliche Be-schäftigtengruppen getestet. Alle beteiligtenPartner verfügen über langjährige Expertise beider Durchführung von Arbeitsgestaltungspro-jekten sowie im Datenschutz.

AusblickDas im Verbundprojekt BalanceGuard entwi-ckelte und erprobte Assistenzsystem stellt sichalso durch ein ganzheitliches Beanspruchungs-monitoring der Komplexität der Belastungen,denen Beschäftigte ausgesetzt sind, und ergänztdamit in innovativer Weise andere Verfahrender Belastungs- bzw. Beanspruchungsmessung.Die Rückmeldungen innerhalb des Systems unddie begleitenden Maßnahmen dienen der Akti-vierung von Beschäftigten für ihre eigene Ar-beitsgestaltung und die Pflege ihrer gesund-heitsrelevanten Ressourcen. Sie stoßen zudemkollektive Verbesserungsprozesse der Arbeits-gestaltung und Personalentwicklung in den Un-ternehmen an, sodass Synergien individuellerund betrieblicher Präventionsstrategien unter-stützt werden. Wenn erste Prototypen des As-sistenzsystems getestet sind, wird sich das Pro-jektteam auch damit befassen, unter welchenVoraussetzungen das System erfolgverspre-chend im kleinbetrieblichen Umfeld eingesetztwerden kann.

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Emanuel Beerheide, Anne Goedicke

Smartwatch, Fitnesstracker & Co.– wo bleibt der Arbeitsschutz? Herausforderungen und Gestaltungschancen Emanuel Beerheide, Anne Goedicke

Neue Technologien zum gesundheits-bezogenen Monitoring Noch nie war es für Beschäftigte so leicht wieheute, ihren Gesundheitszustand und ihre kör-perliche Aktivität zu kontrollieren, sich im Hin-blick auf Sport, Ernährung und Lebensführungberaten zu lassen und medizinische Ratschlägeeinzuholen. Seit einigen Jahren gibt es eine ra-sante Expansion des Marktes für gesundheitsre -levante Web-Anwendungen und für Wearables– also am Körper getragene Computersystemewie Smartwatches, Tracker, Fitnessarmbänder,Datenbrillen oder intelligente Kleidung. In denApp Stores von Apple und Google konkurrierenzehntausende Anwendungen in den Kategorien„Gesundheit und Fitness“ und „Medizin“ um dieGunst der Kundschaft. Die Technologien er-möglichen, körperliche Funktionen und Aktivi-täten zu überwachen, die Daten zu sammelnsowie Körperwerte und Gesundheitsinforma-tionen mit anderen zu teilen.

Flexible Arbeitsgesellschaft – flexiblePräventionsangeboteAuf den ersten Blick erscheinen digitale Ge-sundheitshelfer als perfekte Begleiter in einerArbeitswelt, die sich rasch verändert: Subjekti-viertes, selbstorganisiertes Arbeiten verlagertdie Verantwortung für den Erhalt der Beschäf-tigungsfähigkeit immer mehr auf die Erwerbs-tätigen selbst. Örtlich und zeitlich flexibilisierteArbeitsformen, die Zunahme atypischer Be-

schäftigung, anhaltende Reorganisationspro-zesse und die damit einhergehende Auflösunggewohnter betrieblicher Settings sprechen fürdie Nutzung jederzeit und an jedem Ort ver-fügbarer Angebote. Gleichzeitig sind die Frei-heitsgrade neuer Arbeitsformen mit Risiken derSelbstüberforderung und Gesundheitsgefähr-dung verknüpft, erst recht, wenn Beschäftigteauch noch Tag für Tag ihre Erwerbsarbeit mitprivaten Verpflichtungen abstimmen müssen. Wie schwer es für viele unter den aktuellenRahmenbedingungen ist, gesund zu arbeitenund zu leben, zeigen die vielfach belegten ho-hen Werte für psychische Belastungen. Sieschlagen sich inzwischen auch vermehrt in län-gerfristigen Stressfolgen nieder (Lohmann-Hais-lah, 2012). Es ist daher nicht überraschend, dassErwerbstätige, die inzwischen über alle Alters-gruppen hinweg mit digitalen Technologien ver-traut sind, Web-Anwendungen und Wearablesnutzen, um mehr oder weniger systematischetwas für Gesundheit und Fitness zu tun. GuteZeiten für betriebliche Prävention also?

Zu wenige Impulse für Arbeitsschutzund -gestaltungDie Nutzung gesundheitsbezogener Apps undWearables löst bei den meisten Beschäftigtenzunächst kein verstärktes Engagement für Ar-beitsgestaltung und betrieblichen Arbeitsschutzaus. Dies hat vor allem zwei Gründe:

1. Die Angebote sind derzeit kaum auf arbeits-bezogene Belastungen und Beanspruchun-gen orientiert. Sie befassen sich in der Regelmit dem Freizeitbereich, d.h. mit Sport, Er-nährung und privater Lebensführung oderbeschränken sich auf die Messung von Vital-oder Bewegungsdaten.

2. Die Apps und Wearables richten sich fastausschließlich auf die Verbesserung der in-dividuellen Gesundheitskompetenzen unddes individuellen Gesundheitsverhaltens,statt Arbeits- und Lebensbedingungen zuthematisieren.

Für Arbeitsschutz und Arbeitsgestaltung ist diezunehmende Verbreitung der digitalen Technikund der sie begleitenden Apps daher eine zwie-spältige Entwicklung: Im besseren Fall fördernsie Verhaltensprävention, ohne die Verände-rungsimpulse auch adäquat in die Erwerbssphärezu lenken. Dass es für die Gesundheit vieler An-wenderinnen und Anwender zielführender wäre,die eigenen Arbeitsbedingungen statt des abend-lichen Trainingsplans zu verändern und dass esin den Unternehmen Akteure und Strukturengibt, die dabei Hilfestellungen leisten können,gerät systematisch aus dem Blick. Im schlech-teren Fall tragen Apps und Wear ables Maximendes Wettbewerbs, der Leistungssteigerung undSelbstökonomisierung noch stärker in die Frei-zeit, in der aus gesundheitlicher Sicht der Fokus

auf Erholung und Rege neration liegen sollte.Digitale Selbstoptimierung von Beschäftigtenist aber kein Ersatz für funktionierende Struk-turen des Arbeitsschutzes und des betrieblichenGesundheitsmanagements.

Chancen für den Arbeitsschutz und das Anliegen des VerbundvorhabensBalanceGuard Angesichts erheblicher Fehlbelastungen, mit de-nen viele Beschäftigte konfrontiert sind, bleibtdie Frage, wie Apps und Wearables wirksam fürdie Gestaltung und den Schutz gesunder Arbeiteingesetzt werden können. Schließlich eröffnensie für den Arbeitsschutz durchaus Möglichkei-ten. Bestehende Verfahren der Belastungs- undBeanspruchungsmessung könnten gerade dortgut ergänzt werden, wo Arbeitsbedingungenindividueller werden, selbstorganisiertes Ar -beiten dominiert oder vermehrt Vereinbarkeits-probleme mit anderen Lebensbereichen auf -treten. Je unterschiedlicher, komplexer unddynamischer die Belastungs- und Beanspru-chungssituationen von Erwerbstätigen sind,desto erfolgversprechender ist es, dass sich prä-ventiver Arbeits- und Gesundheitsschutz nebengruppenbezogenen auch auf personenzentrierteInstrumente einlässt, am besten solche mitwieder holten Erhebungen.

Sehr bedeutsam sind auch die Lerngelegenhei-ten, Handlungsanreize und Gestaltungsmög-

Die Autorin, der AutorEmanuel Beerheide leitet die Fachgruppe „Gesundheitsmanagement, psychosoziale Faktoren“ am Landesinstitut für Arbeitsge -staltung des Landes Nordrhein-Westfalen.

Dr. Anne Goedicke ist wissenschaftliche Mit-arbeiterin am Landesinstitut für Arbeitsge-staltung des Landes Nordrhein-Westfalen.

lichkeiten, die mit einem betrieblich gut unter-stützten und konsensgetragenen Einsatz vonApps und Wearables durch Beschäftigte im Er-werbskontext einhergehen. Zum einen werdendiese dabei unterstützt, ihre Arbeitsbedingungenund deren Folgen zu reflektieren. Zum anderenerhalten sie belastbare Informationen, mit de-nen sie Prozesse der Arbeitsgestaltung beein-flussen können. Damit Apps oder Wearables imBeschäftigteninteresse wirksam für den Arbeits-schutz genutzt werden können, sind allerdingsmehrere Voraus setzungen zu erfüllen:

æ Es sind nutzerfreundliche, intelligente undrobuste technische Anwendungen zu entwi-ckeln und mit fachwissenschaftlich abgesi-cherten Inhalten zu kombinieren.

æ Es sind Verknüpfungen zu bestehendenStrukturen und Akteuren des betrieblichenArbeitsschutzes und des betrieblichen Ge-sundheitsmanagements herzustellen. Diesemüssen sich wiederum auf neue Beratungs-und Handlungsbedarfe einstellen.

æ Außer- und überbetriebliche Akteure und In-stitutionen sind angemessen und problem-bezogen einzubeziehen.

æ Die Voraussetzungen für eine beteiligungs-orientierte Einführung der Systeme im Betriebsind zu klären, und es ist unter allen Um-

ständen für Datensicherheit und Datenschutzzu sorgen. Beschäftigte müssen insbesonderedie Kontrolle über aufgezeichnete Gesund-heits- und Bewegungsdaten behalten, undes ist genau zu klären, ob und wie diese Da-ten innerhalb oder außerhalb der Unterneh-men geteilt werden.

Im Verbundvorhaben BalanceGuard wird einesolche Verknüpfung eines technischen, inhalt-lichen und institutionellen Bausteins für Prä-vention erprobt. Entwickelt und getestet wirdein Assistenzsystem für Beschäftigte zur Längs-schnittbeobachtung ihrer Fehlbelastungen, Res-sourcen und Beanspruchungen in Form einerWeb-Anwendung. Sowohl mit den Rückmel-dungen und Handlungshilfen innerhalb desAssis tenzsystems als auch durch die parallelentwickelten Beratungs- und Trainingsangebotein der „nicht-virtuellen“ Welt wird die Web-An-wendung offensiv in bestehende betrieblicheArbeitsschutzsysteme und Verfahren der Ver-hältnisprävention eingebettet. So bietet dasdreijährige Forschungs- und Transfervorhabendie Gelegenheit, Möglichkeiten eines neuartigenZusammenwirkens von individuellem Präven-tionshandeln mit betrieblichen Strategien,Strukturen und Angeboten zu erproben.

Literatur Lohmann-Haislah, A. (2012). Stressreport Deutschland 2012:

Psychische Anforderungen, Ressourcen und Befinden. Dort-mund, Berlin, Dresden: BAuA.

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13præview Nr. 1 | 201612

Komplexe Belastungskonstellationenund moderierte Wirkungszusammen-hänge als Herausforderung für dieArbeits psychologieBeschäftigte haben tagtäglich verschiedene Ar-beitsanforderungen zu bewältigen. PsychischeBelastungsfaktoren spielen dabei eine großeRolle, laut Repräsentativbefragungen z.B. häufighoher Zeitdruck und eine hohe Arbeitsmenge(Lohmann-Haislah, 2012; Polzer et al., 2014).Auch im Privatleben treten Belastungen auf,u.a. durch familiäre Verpflichtungen, Ehrenäm-ter oder andere Freizeitbeschäftigungen. Be-schäftigte sind daher bei der Selbstorganisationihres arbeitsbezogenen und privaten Lebens ge-fordert – und zunehmend auch bei der Koordi-nation der beiden Lebensbereiche. Diese ist an-spruchsvoller geworden, weil Entgrenzungenzwischen Arbeit und Privatleben stattfinden. Sogibt es beispielsweise immer flexiblere Rege-lungen von Zeiten und Orten der Arbeit, Über-schneidungen von sozialen Beziehungen undTendenzen der Deregulierung von Arbeit undBeschäftigung mit rechtlichen Auswirkungenauf den Arbeitsschutz (Gottschall & Voß, 2003).

Die arbeitspsychologische Forschung hat viel-fältige Belege für die Wirkung von Belastungenin der Arbeitswelt geliefert und gut erprobteSkalen zu einzelnen Parametern von Belas-tungssituationen in der Arbeitswelt erarbeitet.Nachgewiesen ist z.B., dass Fehlbelastungen inder Erwerbsarbeit negative gesundheitliche Fol-gen haben (Polzer et al., 2014; Lohmann-Hais-lah, 2012). Wesentlich schwieriger ist hingegen,ein robustes und anerkanntes Wirkungsmodellüber Ursachen von Beanspruchungen und be-lastungsbedingten Erkrankungen zu formulie-ren, das den veränderten Gegebenheiten ge-recht wird. Zum einen thematisieren vorliegendeModelle in der Regel nur Parameter der Er-werbsarbeit selbst. Bekannt ist aber beispiels-weise, dass Beschäftigte, die zusätzlich privateBelastungen haben, arbeitsbedingte Belastun-

gen stärker wahrnehmen und eher unter nega -tiven gesundheitlichen Auswirkungen leiden(Polzer et al., 2014). Zum anderen werden dieBeziehungen zwischen Belastungen und Bean-spruchungen erheblich durch weitere Prozessemoderiert, vor allem die Verfügbarkeit von Res-sourcen wie sozialer Unterstützung durch Kol-legen oder Leistungsrückmeldungen von Vor-gesetzten (Bakker, Demerouti & Euwema, 2005).Wie sich diese Ressourcen in modernen Arbeits-formen verändern, bleibt zum Teil noch zu er-forschen. Gerade weil Arbeitssituationen viel-fach komplexer geworden sind und getrennteBetrachtungen von Einflüssen aus Erwerbsarbeitund Privatleben in Frage gestellt werden, bleibtdie Suche nach den Ursachen der Beanspru-chungen von Beschäftigten schwierig.

Datenerhebung im Verbundvorhaben BalanceGuardIm Projekt BalanceGuard wird eine webbasierteAnwendung entwickelt, mit der Beschäftigteregelmäßig ihre Fehlbelastungen, Ressourcenund Beanspruchung erheben. Ihnen werden ne-ben den Verläufen ausgewählter Parameter ein-fache Zusammenhangsauswertungen sowiepassgenaue Handlungsempfehlungen für Ar-beitsgestaltung und Erholung zurückgemeldet.Im Regelbetrieb werden diese Daten ausschließ-lich auf individueller Ebene erhoben, gespeichertund ausgewertet. Unter strenger Einhaltung desDatenschutzes ist es – wenn die Nutzerinnenbzw. Nutzer zustimmen – möglich, anonymi-sierte Teildatensätze aus dem individuellenLängsschnittmonitoring zusammenzuführenund auszuwerten. Dies kann für Organisations-und Personalentwicklungsprozesse auf der be-trieblichen Ebene oder der Ebene von Abteilun-gen im Betrieb erfolgen. Zudem lassen sich auchfür wissenschaftliche Analysen anonymisierteDaten auf überbetrieblicher Ebene aggregieren.Mit solchen Daten – z.B. aus den Erprobungendes Assistenzsystems – sind vielfältige Auswer-tungsmöglichkeiten verbunden.

Jella Heptner, Anne Goedicke

Besonderheiten des zu erwartendenForschungsdatensatzesDas Längsschnittdesign von BalanceGuard istein großer Vorteil, da es in höherem Maße alsQuerschnittsuntersuchungen Kausalschlüsse er-laubt (vgl. Binnewies & Sonnentag, 2006) unddas Erkennen von Wirkungszusammenhängenerst ermöglicht. Mit dem längsschnittlichen Vor-gehen unterscheidet sich BalanceGuard positivvon den meisten anderen Studien zu Zusam-menhängen von Belastungen und Beanspru-chungen (vgl. Binnewies & Sonnentag, 2006).BalanceGuard beschäftigt sich gezielt mit demZusammenwirken von Fehlbelastungen undRessourcen. Während Fehlbelastungen in derRegel negative Folgen für die Beanspruchunghaben, wirken Ressourcen gegenläufig. Dahergilt es, neben der Ermittlung relevanter Fehl-belastungen auch Ressourcen zu identifizieren,die ihre schädliche Wirkung abpuffern. Dass dieerhobenen Daten zudem Belastungen aus ver-schiedenen Lebensbereichen beinhalten, ermög-licht, Interaktionen von Parametern aus Privat-leben und Erwerbsarbeit einzubeziehen.

Im Vordergrund der Daten stehen das subjektiveErleben von Belastungen und die Beanspru-chung von Beschäftigten. Damit werden anderePerspektiven, z.B. des klassischen Arbeitsschut-zes, der den Fokus auf sicherheitstechnischeAspekte wie die Wirkung von Lärm legt und ob-jektive Beurteilungen von Belastungen überverschie dene Arbeitsplätze hinweg vornimmt,produktiv ergänzt. Wichtig ist die subjektbezo-gene Betrachtung, u.a. weil die individuelleHandlungsbereitschaft für Prävention stark mitder Beanspruchung zusammenhängt.

Das Längsschnittdesign erlaubt neben der Vali-dierung von komplexen Wirkzusammenhängenauch die Untersuchung von Verlaufsdynamikender Beanspruchung. Obwohl bereits gezeigtwurde, dass dauerhafte Fehlbelastung negativegesundheitliche Folgen und Leistungseinbußen

nach sich ziehen kann (Sonnentag & Frese,2003), ist noch nicht klar, ob über lineare Zu-sammenhänge hinaus weitere Prozesse von-statten gehen. Es ist beispielsweise denkbar,dass Anpassungsprozesse im Individuum statt-finden, sodass die Beschäftigten auf Dauer diean sie gestellten Anforderungen besser bewäl-tigen können und somit weniger beanspruchtwerden. Auf der anderen Seite könnten auchKumulationsprozesse auftreten, wenn sich Be-lastungen langfristig immer stärker auf die Be-anspruchung auswirken.

Alles in allem versprechen wissenschaftlicheAnalysedaten aus Erprobungen des Assistenz-systems BalanceGuard interessante Auswer-tungsmöglichkeiten: eine bessere Erfassung derKomplexität der Arbeitswelt, ein weitergehendesVerständnis der vielfältigen Belastungssituatio-nen und ihrer Auswirkungen auf die Beanspru-chung sowie die Chance, passgenaue Hand-lungsempfehlungen abzuleiten. Ziel ist es,präventiv den Abbau von Fehlbelastungen undden Aufbau persönlicher und betrieblicher Res-sourcen zu stärken und somit einen Beitrag fürdie Gestaltung guter Arbeitsbedingungen undden Arbeitsschutz zu leisten.

LiteraturBakker, A. B., Demerouti, E. & Euwema, M. C. (2005). Job resources

buffer the impact of job demands on burnout. Journal ofoccu pational health psychology, 10 (2), 170-180.

Binnewies, C. & Sonnentag, S. (2006). Arbeitsbedingungen, Ge-sundheit und Arbeitsleistung. In: S. Leidig et al. (Hrsg.), Arbeits -bedingungen und psychische Stressreaktionen: Betrieblicheund Klinische Schnittstellen, S. 39-58. Lengerich: Pabst.

Gottschall, K. & Voß, G. G. (2003). Entgrenzung von Arbeit undLeben, Einleitung. In: K. Gottschall & G. G. Voß (Hrsg.), Ent-grenzung von Arbeit und Leben, S. 11-33. München/Mering:Hampp.

Lohmann-Haislah, A. (2012). Stressreport Deutschland 2012:Psychische Anforderungen, Ressourcen und Befinden. Dort-mund: BAuA.

Polzer, C. et al. (2014). Gesunde Arbeit NRW 2014. Belastung –Auswirkung – Gestaltung – Bewältigung. Ergebnisse einer Re-präsentativbefragung in NRW. Düsseldorf: LIA.nrw.

Sonnentag, S. & Frese, M. (2003). Stress in organizations. In: W.C. Borman et al. (Hrsg.), Handbook of psychology: Industrialand organizational psychology, Bd. 12, S. 453-491. Hoboken,NJ: Wiley.

Die AutorinnenJella Heptner und Dr. Anne Goedickesind Wissens chaftliche Mitarbeiterinnenam Landes institut für Arbeitsgestaltungdes Landes Nordrhein-Westfalen.Fehlbelastungen und Ressourcen

in der Längsschnittbetrachtung Chancen für ein besseres Verständnis von gesundheitlichen Auswirkungen der ArbeitssituationJella Heptner, Anne Goedicke

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15præview Nr. 1 | 201614

Die Arbeitsmedizin spielt einen wichtigen Partim deutschen Arbeits- und Gesundheitsschutz.Wie das Eingangszitat verdeutlicht, geht es nichtmehr nur darum, Unfälle zu verhüten und ar-beitsbedingte Erkrankungen zu vermeiden. Zielarbeitsmedizinischer Vorsorge ist es vielmehr,Gesundheit in einem umfassenden Sinn in denBetrieben zu fördern, um so die Beschäftigungs-fähigkeit der Belegschaften im Interesse der Un-ternehmen wie auch der arbeitenden Menschenselbst zu erhalten. Arbeitsmedizin hat damitden Auftrag der Prävention arbeitsbedingterBelastungen und Gesundheitsgefahren, derFrüherkennung von gesundheitlichen Schädenund der Unterstützung der Wiedereingliederungnach krankheitsbedingten Ausfallzeiten.

Unternehmen sind verpflichtet, arbeitsmedizi-nische Vorsorge im Betrieb anzubieten und ent-sprechende Fachleute mit der Vorsorge zu be-auftragen. Diese Betriebsärztinnen und -ärztehaben die Aufgabe, den Arbeitgeber beim Ar-beitsschutz, bei der Unfallverhütung und in allenFragen des Gesundheitsschutzes zu unterstüt-zen. Eingesetzt werden können Fachärztinnenund -ärzte für Arbeitsmedizin oder Ärzte mitder Zusatzausbildung in Betriebsmedizin, d.h.nur Expertinnen und Experten, deren Fachgebietdie Wechselwirkung zwischen Arbeit und Ge-sundheit ist. Sie untersuchen die Beschäftigten,beurteilen den Zusammenhang zwischen Ar-beitsbelastung und Gesundheitssituation, klärendie Beschäftigten auf und beraten diese in allenFragen von Gesundheit bei der Arbeit.

Die grundsätzliche Vorgehensweise der Arbeits-medizin besteht in der Prozessfolge: Ist-Analyse,Definition von Gesundheitszielen, Ableitung undAnwendung von Maßnahmen zum Arbeits- und

Gesundheitsschutz, Controlling, qualitätssi-chernde Maßnahmen und Evaluation (VDBW,2003). Konkrete Leistungen der Arbeitsmedizi-ner/-innen sind in der Praxis

æ die Erstellung von Vorsorgeplänen mit demArbeitgeber,

æ das Angebot regelmäßiger Vorsorgeunter -suchungen und Gesundheits-Checks zurFrüherkennung von Krankheiten wie auchbesonderen beruflichen Belastungen und Ge-sundheitsrisiken,

æ die Beratung der Beschäftigten zum Umgangmit Stress und der Unternehmen zur Präven -tion von arbeitsbedingten Gesundheitsrisiken,

æ die Durchführung von gesundheitlichen Eig-nungstests bzw. Berufstauglichkeitsunter -suchungen für bestimmte Berufsgruppen,

æ die Planung von Rehabilitationsmaßnahmenund die Begleitung bei der beruflichen Wie-dereingliederung.

Wie alle Funktionen in Industrie und Verwaltungwerden arbeitsmedizinische Leistungen auchdurch spezifische Softwarelösungen unterstützt.Diese Lösungen automatisieren und systemati-sieren die arbeitsmedizinischen und betriebs-ärztlichen Prozesse ebenso wie die korrespondie -renden Prozesse auf Seiten des Unternehmens.Arbeitsmedizinische Softwarelösungen bietenz.B. folgende Funktionen an:

Für die Arbeitsmediziner/-innen und Betriebsärzte/-ärztinnen:æ Führung einer vollständigen digitalen

Probandenakte,æ direkte Kommunikation mit medizinischen

Ge räten zur Übernahme diagnostischer Daten,

æ Darstellung von Kumulativbefunden undzusammenfassenden Berichten,

Rainer Rudolf

æ Unfallmanagement und Meldewesen,æ Gefährdungsanalyse und Maßnahmen-

management.

Für die Unternehmen und Führungskräfte:æ Untersuchungsplanungen, Meldelisten für

Vorsorge-Checkups,æ Zeitplanung und Terminverwaltung,æ Betriebliches Eingliederungs- und Case-

Management,æ Planung und Strukturierung des BGM-

Prozesses,æ Scores, Auswertungen, Statistiken.

Die Beschäftigten selbst sind, wie die obige Listezeigt, in diesem arbeitsmedizinischen Systemnoch nicht eigenständig repräsentiert – außervielleicht bei der Vereinbarung von Untersu-chungsterminen. Dies hat seinen Grund darin,dass die Beschäftigten im gesamten Prozess derarbeitsmedizinischen Vorsorge der Gegenstand,die Probanden, sind.

Das System BalanceGuard ändert dies entschei-dend: Die Probanden der arbeitsmedizinischenBetrachtung werden zu eigenständigen undselbstverantwortlichen Akteurinnen und Akteu-ren. Dies verändert aber durchaus das gesamteSystem der arbeitsmedizinischen Vorsorge unddamit auch die softwaretechnische Repräsenta -tion der Prozesse. Die Kernakteure von Balance -Guard sind die Teilnehmenden selbst, was dieVerantwortlichkeiten im System vollkommenneu definiert:

1. Die Teilnehmenden von BalanceGuard be-stimmen weitgehend selbst die Parameter,die im Zuge der Analyse der Arbeits- undGesundheitssituation zur Anwendung kom-men sollen. Im klassischen arbeitsmedizini-schen Setting hingegen legen Betriebsärztein Zusammenarbeit mit dem Unternehmenfest, welche Untersuchungen in welchen Ab-ständen bei welchen Mitarbeitergruppendurchgeführt werden sollen.

2. Die Teilnehmenden von BalanceGuard neh-men die „Messung“ selbst vor, indem sie dieFragen selbstgesteuert beantworten. Betriebs -ärzte und Unternehmen sind dabei nicht be-teiligt.

3. Auch die Auswertung wird – mindestens ineinem ersten Schritt – von den Teilnehmen-den von BalanceGuard selbst durchgeführt.Sie werden dabei kompetent durch die Soft-ware angeleitet und haben jederzeit die Mög-lichkeit, das Expertenwissen des Coaches hin-zuzuziehen. Aber im Prinzip sind hier Arbeits-medizin und Betrieb nicht involviert.

Auch inhaltlich bedeutet BalanceGuard einedeutliche Erweiterung des traditionellen ar-beitsmedizinischen Ansatzes. Denn erstmaligfinden Belastungen und Ressourcen außerhalbdes Handlungsfeldes Betrieb Einzug in die Ana-lyse. Die häufig gestellte Forderung „Arbeits-und Gesundheitsschutz darf nicht an denWerkstoren enden“ wird in BalanceGuard um-gesetzt. Die Teilnehmenden werden zu selbst-verantwortlichen Akteuren und können so –unterstützt durch Analysetools innerhalb desSystems – das Betrachtungsfeld von der Ar-beitssituation auch auf das gesetzlich ge-schützte Privatleben ausweiten. BalanceGuardist damit ein sehr weitgehender Ansatz, der dieGrenzen des traditionellen Arbeits- und Ge-sundheitsschutzes im Betrieb überwindet. Fürdie Integration des BalanceGuard-Ansatzes indie etablierten und standardisierten arbeitsme-dizinischen Prozesse müssen aber Wege definiertwerden, wie die Erkenntnisse von BalanceGuardder arbeitsmedizinischen Analyse nutzbar ge-macht werden können.

Der AutorRainer Rudolf ist Diplom-Informatiker und arbeitet seit rund 20 Jahren in der Leitungvon Softwareunternehmen. Er ist Geschäfts-führer der Stock Informatik GmbH & Co. KG,dem führenden Hersteller arbeitsmedizini-scher Software im deutschsprachigen Raum.

Individuelles Monitoring durch BalanceGuard als Ergänzung arbeitsmedizinischer VorsorgesystemeRainer Rudolf

„Arbeitsmedizinische Vorsorge ist ein in der Arbeitsschutzrahmenricht -

linie der Europäischen Union festgeschriebenes Recht der Beschäftigten.

In Deutschland hat sie eine lange Tradition. (...) Ziel ist, arbeitsbedingte

Erkrankungen frühzeitig zu erkennen und im besten Fall zu verhüten.

Darüber hinaus leistet arbeitsmedizinische Vorsorge einen Beitrag zum

Erhalt der Beschäftigungsfähigkeit und zur Fortentwicklung des betrieb -

lichen Gesundheitsschutzes“ (BMAS, 2014).

Für die Daten auf der betrieblichen Ebene er-scheint dies wenig problematisch. Sie könnendem betrieblichen Prozess des Arbeits- und Ge-sundheitsschutzes anonymisiert und aggregiertübergeben werden, und ihre Auswertung kanndurch Betriebsvereinbarungen geregelt und ge-schützt werden. Entsprechende Verfahren sindaus der Durchführung von Mitarbeiterbefragun -gen bekannt und erprobt.

Anders stellt sich die Übergabe individueller Da-ten an die Betriebsärzte dar. Dies ist sicherlichkein vollkommen neues Problem, da Daten- undPersönlichkeitsschutz durch die Schweigepflichtder Betriebsärzte geregelt sind. Dennoch wirdfestzulegen sein, wie genau und unter welchenBedingungen die BalanceGuard-Teilnehmendenihre Daten an die Betriebsärzte übergeben undwie diese wiederum die BalanceGuard-Ergeb-nisse mit den vorhandenen Gesundheitsdatenkombinieren dürfen.

Sind diese Fragestellungen aber gelöst, so er-geben sich durch die Koppelung von Balance-Guard und der klassischen arbeitsmedizinischenVorsorge enorme Chancen für die Gestaltungeines modernen, hocheffektiven Gesundheits-managements im Unternehmen.

LiteraturBundesministerium für Arbeit und Soziales (2014). Arbeitsschutz.

Verordnung zur arbeitsmedizinischen Vorsorge (ArbMedVV).Bonn: BMAS.

Verband Deutscher Betriebs- und Werksärzte e. V., Berufsverbanddeutscher Arbeitsmediziner (2003). Leitbild Arbeitsmedizin.Karlsruhe: VDBW.

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17præview Nr. 1 | 201616

Um sich der Aufgabenstellung bei einem derartkomplexen Thema anzunähern, ist es hilfreich,nach softwarefremden Analogien aus dem täg-lichen Leben zu suchen. Besonders im sog. „agi-len“ Entwickeln von Software kommt den An-forderungen der Endanwender/-innen, seinenErfahrungen und seinen Erwartungen einegroße Bedeutung zu. Erfreulicherweise gehörtdie Selbstbeobachtung (die ja mit BalanceGuardtechnisch unterstützt werden soll) zu unserentäglichen Gewohnheiten. Dies kann durch eineForm der Innenansicht erfolgen, z.B. „Warumbin ich so, wie ich bin?“, oder auch durch be-wusste Wahrnehmung der eigenen Aktivitäten,z.B. „Ich werde heute versuchen, meine Antwor-ten klar und deutlich zu formulieren!“ Oft wirdfür die Selbstbeobachtung aber auch ein Hilfs-mittel genutzt, ein Gegenstand, den wir alle,höchstwahrscheinlich sogar in mehrfacher Aus-führung, unser Eigen nennen – der Spiegel. Unddie Anforderungen an unseren Spiegel sollendie Grundlage für die Konzeption der techni-schen Umsetzung von BalanceGuard darstellen.

Wie soll ein derart alltäglicher Gegenstand, deruns immerhin seit vielen tausend Jahren be-gleitet und aus dem Leben nicht wegzudenkenist, gestaltet sein?

Zweckdienlich: Das Bild, das wir sehen, mussuns möglichst so genau wiedergeben, wie esunserem Zweck der Nutzung entspricht. Sollnur der Lidstrich nachgezogen werden, genügtein Taschenspiegel. Macht man sich zu einembesonderen Anlass schick, ist die Erwartung eingenügend großer Spiegel, der das Gesamtbildwiedergibt. Verfügbar: Die Verfügbarkeit von Ressourcenfür die Selbstbeobachtung, sei es ein Taschen-spiegel oder das dreiflügelige Monstrum imSchlafzimmer, ist eine Grundvoraussetzung fürdie Nutzung. Während vor langer Zeit ein Spie-gel auch immer ein Ausdruck von Wohlstandwar, genügt heute ein Besuch beim Drogerie-markt um die Ecke oder beim schwedischenEinrichtungshaus.Einfach: Wenn wir uns selbst beobachten wol-len, sollte es schnell gehen. Umständliches Öff-nen von Schranktüren, Wegziehen von Vorhän-gen oder aufwändiges Aufklappen hindert uns,unsere Selbstbeobachtung schnell und einfachdurchzuführen.Realistisch: Das uns präsentierte Spiegelbildmuss, auch wenn es vielleicht schwerfällt, derRealität entsprechen. Nur wenn uns bei derSelbstbeobachtung z.B. das „Hüftgold“ auffällt,können wir geeignete Maßnahmen ergreifen,um Abhilfe zu schaffen.

Albrecht Wanders

Sicher: Nicht nur aufgrund des sprichwörtli-chen Unglücks möchten wir, dass unser Spiegelnicht zerbricht. Wir erwarten aber auch, dasssich unser Hilfsmittel zur Selbstbeobachtungnicht so geschwätzig verhält wie das Pendantim Märchen von Schneewittchen. Der mitSchrecken festgestellte Rettungsring soll einGeheimnis bleiben.

Schon diese kurze Betrachtung zeigt, dass selbstso profane Dinge wie die Nutzung eines Spiegelseinen erheblichen Output an Anforderungenerzeugen. Was bedeutet das nun für die techni -schen Konzepte bei der Umsetzung von Balance -Guard? Ein Blick auf die adaptierten Anforde-rungen, die in der Softwareentwicklung selbstberücksichtigt werden müssen, zeigt dies an-schaulich.

Zweckdienlich: In Zeiten von Smartphone, Ta -blet und Co. ist die Usability von Applikationenunabhängig von der genutzten Hardware einegrundsätzliche Forderung. Inhalte müssen sichdem zur Verfügung stehenden Bildschirm undBedienelemente der jeweiligen Plattform dy-namisch anpassen.Verfügbar: Verfügbarkeit bedeutet u.a., dass esfür die Nutzung so wenige Restriktionen wiemöglich geben darf. Wenn Marke und Betriebs-system des Smartphones, Tablets oder auch desklassischen Desktop-PCs nicht relevant sein dür-fen, bleibt als technische Lösung nur der Zugriffüber einen Web-Browser. Damit ist eine weitest -gehende Unabhängigkeit gesichert. Zudem er-übrigt sich der nicht unerhebliche Aufwand,Apps für verschiedene Stores entwickeln zumüssen.

Einfach: Schnelllebige Zeiten erfordern schnell-lebige Software. User erwarten heute vor allemauf Tablet und Smartphone Software, die intu -itiv bedienbar ist und keine Wartezeiten kennt.Eingaben sollen sofort verarbeitet werden.Realistisch: Die Erfassung von Beanspruchun-gen von Beschäftigten muss so viele Parameterwie nötig und so wenig Eingaben wie möglichunter einen Hut bringen. Wir wundern uns oftgenug, wie wissbegierig Vergleichsportale, Well-ness-Apps oder Registrierungsformulare imInter net sein können. Gerade aufgrund der be-sonderen Qualität der verwalteten Daten vonBalanceGuard, immerhin geht es um die sub-jektive Befindlichkeitseinschätzung der User,darf kein Sammeln von Daten nur um des Sam-melns willen erfolgen. Sicher: Bei der Verwaltung von personenbezo-genen Daten können Anwender/-innen mitRecht ein Höchstmaß an Sicherheit verlangen.Verschlüsselung der Transportwege, hochsi-chere, kryptografische Verfahren in der zugrun-deliegenden Datenbank und Einhaltung desBundesdatenschutzgesetzes sind nur einige derAnforderungen, die bei der technischen Um-setzung bedacht und realisiert werden müssen.

Ergänzend sollen noch zwei weitere Anforde-rungen angesprochen werden, die seitens derAnwender/-innen sogar mehr oder wenigerunbe wusst vorausgesetzt werden und für denErfolg von BalanceGuard von herausragenderBedeutung sind:Spaß haben: Die Nutzung von Software vomSpaßfaktor zu trennen, ist schon fast grob fahr-lässig und Garant für eine Entwicklung, die anden Usern vorbeizielt. Nur wenn der Nutzer beider Dateneingabe und -auswertung eine emo-tionale Belohnung erfährt, wenn die Applikationnicht „trocken“ zu bedienen ist, sondern spaß-hafte Elemente Eingang finden, ist mit einerregelmäßigen Nutzung von BalanceGuard zurechnen.

Der AutorAlbrecht Wanders ist langjähriger Projektleiterund Produktmanager bei der Stock InformatikGmbH & Co. KG. Im Projekt BalanceGuard ver-antwortet er die technische Umsetzung desPrototypen und die Organisation der Modell-versuche in Anwenderunternehmen.

BalanceGuard als Spiegel: Grundlagen der Erstellung technischer Konzepte zur Unter stützung der Beschäftigten bei der Selbstbeobachtung Albrecht Wanders

Die Rolle der Stock Informatik im Projekt BalanceGuard ist die

konzeptionelle und technische Umsetzung des Softwaresystems,

das aufgrund des Innovationsgrades auch für ein erfahrenes

Systemhaus eine Herausforderung darstellt.

Ergebnisorientiert: Die Nutzung von Softwareist im privaten Bereich sehr stark an Erlebnisseund spürbare Erfolge gebunden. Eine Fitness-App, die nur Schritte zählt und Aktivitätszeit-räume verwaltet, wird wenige Male benutztwerden, um dann von einem Produkt abgelöstzu werden, das das Erleben in den Mittelpunktstellt und z.B. positives Feedback zu durchge-führten Aktivitäten gibt und einen Zusammen-hang mit den Zielen der User stiftet.

Offensichtlich ist, dass Softwareentwicklungohne Fokussierung auf die Anwender/-innenund deren Erlebniserwartung nicht funktionie-ren kann. Klar ist auch, dass die technische Um-setzung sich immer an den Usern selbst orien-tieren muss. Dies äußert sich auch in aktuellenTendenzen des Software-Engineerings, die Funk-tion dem Layout unterzuordnen. Mit anderenWorten, die technische Umsetzung ist der Wegzum Ziel und darf keine führende Rolle in Ge-staltungsprojekten für Software übernehmen.Letztendlich ist es den BalanceGuard-Nutzer/-innen gleichgültig, welche Architek tur für dasApplikations-Engineering gewählt wurde.

Genauso, wie die Anwender/-innen an validenErgebnissen interessiert sind, die ihnen Zusam-menhänge zwischen Parametern verdeutlichen,die vielleicht auf den ersten Blick nicht offen-sichtlich sind, besteht eine hohe wissenschaft-liche Begierde nach Längsschnittdaten, die denStatus quo der Arbeits- und Erlebenswelt vonKollektiven beschreiben und durch das massen-hafte Auftreten von Daten (Big Data) sogar prä-diktive Aussagen über eine zukünftig zu gestal-tende Arbeitswelt ermöglichen.

Bei der technischen Umsetzung ist bedingtdurch die mögliche Verwaltung von zahlreichen,durchaus auch in der Quantität interessantenParametern der Effekt zu beobachten, dass nichtdie Entwicklung selbst das komplexeste Gliedin der Kette bis zum fertigen Produkt ist, son-dern die Erarbeitung und Ausformulierung derZusammenhänge. Je mehr aber sowohl in diewissenschaftlichen Grundlagen als auch in dieFeingranularität von Beziehungen der Parameteruntereinander investiert wird, desto größer istwiederum der produktive und kreative Outputfür den Nutzer. Und damit schließt die Betrach-tung der Grundlagen von Konzepten zur tech-nischen Umsetzung von BalanceGuard mit denÜberlegungen, die am Anfang ausformuliertwurden: bei Anwenderin und Anwender als trei-bendem Faktor für eine bedarfsgerechte undindividualzentrierte Softwareentwicklung.

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19præview Nr. 1 | 201618

Das Softwaresystem ermöglicht im Kern diekontinuierliche Erfassung der Belastungen undder Befindlichkeit der Beschäftigten durchSelbstaufschreibung. Auf der Basis dieser indi-viduellen Längsschnitterhebungen können Zu-sammenhänge zwischen Belastungen, Leis-tungseinschränkungen und Befindlichkeitsstö-rungen auch auf individueller Ebene festgestelltwerden. Und dies lange bevor die Gesundheitgefährdet wird, d.h. mit genügend Vorlauf zumpräventiven Handeln.

Die Teilnehmenden werden dabei innerhalb derSoftware exzellent angeleitet, welche Parametersie für die Selbstaufschreibung wählen sollten,um einen maximalen Informationsgewinn hin-sichtlich ihrer Belastung und Gesundheit zu er-zielen. Die Ergebnisse werden wöchentlich aus-gewertet und in Form eines anschaulichen undgut strukturierten Reports dargeboten. Undselbst kompliziertere Auswertungen wie z.B.Korrelationen zwischen den Belastungs- undGesundheitsparametern werden in einer intuiti -ven und leicht verständlichen Form vermittelt.

Und dennoch: Ganz ohne den Menschen – Trai-ner, Coaches oder Fachberater – kann und willdas System BalanceGuard nicht auskommen.Ungeachtet aller Intelligenz des technischen An-satzes will das System menschliche Intelligenzund Beratungserfahrung nicht ersetzen. Denn esgilt nicht nur, Erkenntnisse aus dem System zuziehen, sondern vor allem Handlungs strategienzu entwickeln und konkrete Maßnahmen ein-zuleiten, um Ergebnisse in Handeln umzusetzen.

Von daher wird das technische System Balance -Guard um ein Bildungs-, Beratungs- und Coa-chingsystem erweitert. Hierdurch sollen dieTeilneh menden unterstützt werden, ihre indi-viduellen Ergebnisse detailliert zu interpretierenund zu verstehen, um so mehr über sich und ihrGesundheitsverhalten zu lernen. Sie sollen kon-krete Handlungspläne zur Gestaltung von Arbeitund Privatleben mit Expertenunterstützung ent-wickeln und umsetzen können. Und vor allemsollen die Nutzerinnen und Nutzer jederzeit dieMöglichkeit haben, sich an einen persönlichenCoach zu wenden – sei es mit inhaltlichen oderInterpretationsfragen oder mit persönlichen Pro-blemen, die selbstverständlich nicht technischautomatisiert gelöst werden können.

Services für TeilnehmendeDie Unterstützung der User findet prinzipiellauf allen Anwendungsebenen des Software -systems statt, denn es gibt an jeder Stelle desSystems die Möglichkeit, den Coach per Mailoder Telefon zu kontaktieren. Das bedeutet, dassdie User den Coach bereits bei der Auswahl undsinnvollen Kombination von Parametern hin-zuziehen können. Bei der wöchentlichen Aus-wertung kann der Coach Ergebnisse erläuternoder Hilfestellungen bei der Interpretation derErgebnisse anbieten. Er kann Tipps dazu geben,welche Parameter in Zukunft weggelassen wer-den können, weil sie im speziellen Fall keinenInformationswert bieten, und welche hinzuge-nommen werden sollten, um bestimmte, sichabzeichnende Problemstellungen zu beobach-ten. Er kann zu Rate gezogen werden, wenn

Kurt-Georg Ciesinger

sich Veränderungen in der Arbeits- oder Ge-sundheitssituation ergeben, die Analyse- oderHandlungsbedarf erzeugen.

Wichtig ist die Einschaltung des Coaches in Si-tuationen, in denen sich Verschlechterungendes Gesundheitszustandes abzeichnen oder sichnegative Arbeitsaspekte zu verfestigen drohen.Das Auswertungsmodul der Software weist dieTeilnehmenden dann explizit auf die Möglichkeitder Beratung durch den Coach hin. In diesenFällen wird der Coach entscheiden, ob eine On-line-Beratung ausreicht oder ob er eine per-sönliche Hilfe, z.B. durch einen Arzt oder The-rapeuten, vermitteln sollte.

In der Regel aber wird es die vordringliche Auf-gabe des Coaches sein, zusammen mit denUsern individuelle Handlungspläne auf der Basisder Auswertungsergebnisse zu entwickeln. DieseHandlungspläne können sich auf das eigenePräventionsverhalten beziehen, wie z.B. Sportund Ernährung oder den Besuch von Stress-,Zeitmanagement- oder Resilienztrainings. Eskönnen aber auch Maßnahmen sein, die sichauf die gezielte Veränderung der Arbeitssitua-tion selbst richten, wie z.B. aktive Arbeitsplatz-gestaltung, Vorschläge für Organisationsmaß-nahmen oder Konfliktgespräche im Team. DerCoach hat dabei die Aufgabe, nicht nur Emp-fehlungen auszusprechen, welche Aktivitätender Teilnehmer oder die Teilnehmerin angehensollte, sondern diese auch auf diese evtl. schwie-rigen Situationen (z.B. ein Gespräch mit Vorge-setzten) vorzubereiten. Der Coach übernimmt

damit Aufgaben, die weit über die Interpretati-onshilfe hinausgehen, die aber gerade dazu bei-tragen, dass aus Erkenntnis Aktion wird.

Services für UnternehmenBalanceGuard ist aber auch besonders geeignet,in betrieblichen Settings eingesetzt zu werden.Es kann besonders effektiv die bereits in Wirt-schaft und Verwaltung breit angewendetenMitar beiterbefragungen ergänzen, indem dieumfangreichen Querschnittsdaten einer Mitar-beiterbefragung mit der Längsschnitterhebungdurch BalanceGuard kombiniert werden.

Hierzu schließt das Unternehmen einen Rah-menvertrag und bietet den Beschäftigten einenZugang zum System mit allen internen und denoben beschriebenen externen Dienstleistungen.Dabei wird das System unternehmensspezifischvorkonfiguriert, z.B. durch die Vorauswahl rele-vanter Parameter. Eine in einem transparentenVerfahren geschlossene Betriebsvereinbarungregelt dann, welche Daten dem Unternehmenwie zur Verfügung gestellt werden. Ziel ist esdabei – je nach Intention des Unternehmens –z.B. Belastungsschwerpunkte zu identifizieren,Gesundheitsmaßnahmen zu evaluieren oderauch Ansatzpunkte für betriebliche Unterstüt-zungsmaßnahmen zu definieren.

Die Beratung im Rahmen des BalanceGuard-Angebots für Unternehmen liegt schwerpunkt-mäßig in folgenden Bereichen:

æ innerbetriebliche Organisation der Einführung,

æ datenschutzkonforme Bereitstellung aggregierter Datensätze,

æ spezifische Auswertungen für Gesamt -betrieb, Abteilungen, Standorte,

æ Detailanalysen zu Handlungsfeldern (z.B. Führung, Arbeitsplatzgestaltung,Gesund heitsverhalten),

æ Evaluation von Gestaltungsmaßnahmenoder Gesundheitsangeboten,

Der AutorKurt-Georg Ciesinger ist Geschäftsführer dergaus gmbh – medien bildung politikberatungin Dortmund und Projektleiter bei Balance -Guard. Er ist verantwortlich für die Entwicklungder softwarebegleitenden Unterstützungs -dienstleistungen.

Technische Intelligenz plus menschliche ErfahrungUnterstützung von Betrieben und Beschäftigten bei der Gestaltung gesunder ArbeitsbedingungenKurt-Georg Ciesinger

Die größten Gesundheitsrisiken in der Arbeitswelt ergeben

sich heute aus kumulativen Belastungen, denen ein Individuum

in seiner gesamten Lebens situation und in einer Längsschnitt -

betrachtung ausgesetzt ist – nicht mehr aus einer messbaren

punktuellen Belastung an einem definierten Arbeitsplatz.

Diese „kumulativen Risiken“ können nur noch bezogen auf

den einzelnen Menschen in seiner individuellen Arbeits- und

Lebenssituation beurteilt werden. Daher wird im Projekt

BalanceGuard ein System entwickelt, mit dem Beschäftigte

ihre Belastungen und ihren Gesundheitszustand selbst über -

wachen können.

æ Entwicklung von Handlungsplänen fürArbeits gestaltung und Gesundheits -management,

æ Aufbereitung der Daten als Basis für dieErstel lung einer Gefährdungsanalyse.

Parallel zur Software wird also ein Beratungs-system für Beschäftigte und Betriebe ange -boten, das am ehesten mit einem EmployeeAssis tance Program vergleichbar ist und denTeilnehmenden bei jeder denkbaren Frage imZusammenhang mit Arbeit und Gesundheit zurVerfügung steht. Gleichzeitig werden die Un-ternehmen dabei unterstützt, sich auf der Basisder Längsschnitterhebungen hinsichtlich Ar-beitsgestaltung und Gesundheitsmanagementweiterzuentwickeln.

Die Unterstützungsleistungen setzen dabei aberauf einem hohen Informationsniveau auf: DerCoach kann die Teilnehmenden auf der Basisihrer individuellen Daten und Ergebnisse bera -ten und verfügt damit über eine hervorragendeGrundlage. So kann er gezielt tiefergehendeindi viduelle Analysen vornehmen. Der Betrieberhält im Rahmen der Organisationsberatungempirisch fundierte Handlungsempfehlungen,ohne dafür eigene Datenerhebungen initiierenzu müssen, da die Daten bereits durch die An-wendung der Teilnehmenden vorliegen.

Das System BalanceGuard kombiniert so tech-nische und menschliche Intelligenz und bieteteine thematisch umfassende, wissenschaftlichfundierte und integrierte Beratung für Beschäf-tigte und Unternehmen an.

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21præview Nr. 1 | 201620

Während des Projekts wurden Empfehlungenzur Einführung eines Gesundheitsmanagementssowie eine Entscheidungshilfe entwickelt, abervor allem das Gesundheitsgespräch für Mitar-beiter/-innen im Kundeneinsatz (Zeitarbeitneh-mer). Seit 2009 wird das Gesundheitsgesprächdazu genutzt, Informationen zur Arbeit im Ein-satzunternehmen zu erhalten, die nach Aussageder Mitarbeiter/-innen einen belastenden Ein-fluss auf ihre Gesundheit haben, um im An-schluss gemeinsam Lösungen für alle Beteiligtenzu finden. Das hat den positiven Effekt, dassdie Mitarbeiter/-innen für ihre eigene Gesund-heit sensibilisiert werden, aber auch merken,dass sie selbst die Dinge mit manchmal einfa-chen Mitteln ändern können. Dies wiederumführt zu geringeren Belastungen im Einsatzun-ternehmen, zu einer engeren Bindung zwischenMitarbeiter/-in und Arbeitgeber und auch zwi-schen Kundenunternehmen und Arbeitgeber.

BalanceGuard stellt für Manpower eine indirekteFortsetzung des Projekts „Gesunde Zeitarbeit“dar und wird uns bei der Betreuung sowohl un-serer Beschäftigten im Kundeneinsatz als auchim Stamm in der gesamten ManpowerGroupdabei helfen, die individuellen Belastungen undBeanspruchungen jedes Einzelnen sichtbar zumachen.

Mit den Kolleginnen und Kollegen des Stamm-personals wird im zweijährigen Turnus eine Mit-arbeiterbefragung zum Betrieblichen Gesund-heitsmanagement durchgeführt. Die Befragungwird durch einen externen Dienstleister orga-nisiert und ausgewertet. Dadurch bekommenwir als Arbeitgeber ein fachliches Feedback zuden eventuell bestehenden Belastungen undBeanspruchungen mit statistisch aufbereiteterAuswertung. Die Teilnehmer/-innen erhalten al-lerdings keine individuelle Auswertung der Be-fragung. Daher fehlt ihnen die Auflistung derBereiche (eventuell mit einer Bewertung), indenen sie tätig werden sollten.

Bei dem Gesundheitsgespräch mit Beschäftigtenim Kundeneinsatz ist es ähnlich. Hier werdendie belastenden Themen besprochen und imIdealfall können die Belastungen gemildert odergar beseitigt werden. Was zu Beginn fehlt, istdie Anamnese (Analyse) zum Befinden als Statusquo und den daraus abgeleiteten Belastungs-bereichen. Idealerweise muss eine tägliche oderwöchentliche Abfrage über einen längeren Zeit-raum stattfinden, um die jeweilige Belastunglangfristig und dauerhaft abzustellen.

Aus den Ergebnissen der Mitarbeiterbefragungleiten wir sinnvolle und vor allem zielführendeMaßnahmen für unser Betriebliches Gesund-heitsmanagement ab. So wurde nach der erstenBefragung 2012 ein Workshop mit dem Schwer-punkt „Gesundes Führen“ für die Führungskräfteder ManpowerGroup in Deutschland eingeführt.Nach einer weiteren Befragung 2014 rücktendie Themen Stressbewältigung und Entspan-nung sowie die Arbeitszeitgestaltung in Bezugauf die psychische Gesundheit in den Vorder-grund. Ein Workshop „Resilienz als Erfolgsfaktor“mit unserem externen Partner wurde konzipiertund ab 2015 aktiv angeboten.

Der Workshop „Resilienz als Erfolgsfaktor“ wirdseitens des Stammpersonals allerdings noch zuzögerlich gebucht, obwohl in der Mitarbeiter-befragung „Nach der Arbeit nicht abschaltenkönnen“ und „Termin und Leistungsdruck“ unterden Top 3-Nennungen für Belastungsfaktorenam Arbeitsplatz waren.

Das Missverhältnis zwischen den Befragungs-ergebnissen und dem Verhalten der Betroffenenmuss verbessert werden. Das Projekt Balance-Guard soll u.a. auch dazu dienen, die Notwen-digkeit genau solcher Angebote (Workshop Re-silienz) zu verdeutlichen, um Stressfaktorenfrüher zu erkennen. Es muss also gelingen, dasPräventionsverhalten aller Kolleginnen und Kol-legen zu verbessern. Die Anwender von Balance -Guard sollen mit Hilfe des direkten Feedbacksüber eine App ihre eigenen Belastungen undRessourcen und demzufolge die Wirkungszu-sammenhänge erkennen, die eventuell einennegativen Einfluss auf die Gesundheit haben.Die Anwender müssen letztlich zu dem Schlusskommen, dass gesundheitsfördernde Maß -nahmen unabdingbar sind und entsprechendeÄnderungen am Verhalten mit sich ziehen. Imbesten Fall kommen sie zu der Erkenntnis, dieangebotenen Maßnahmen – sei es über interneKanäle oder auch mit Hilfe von externen Part-nern – zu nutzen.

Wie wird das bei Manpower im Rahmen diesesProjekts aussehen? Im ersten Schritt werdenunsere Niederlassungen in Nordrhein-Westfalenan der Erprobung von BalanceGuard teilneh-men. Dabei handelt es sich um rund 500 externeund ca. 20 interne Kolleginnen und Kollegen,die wir zur Teilnahme einladen werden. Begleitetwird dies durch die Expertise des LIA NRW undder gaus gmbh, die uns als Anbieter von Coa-chings sowie Beratungs- und Qualifizierungs-angeboten zur Seite stehen.

Im zweiten Schritt ermöglicht BalanceGuard unsals Arbeitgeber einen zusätzlichen Einblick indie konkreten Belastungen und Ressourcen derMitarbeiterinnen und Mitarbeiter, sofern sie derWeiterleitung dieser Daten zugestimmt haben.Somit haben wir neben der Mitarbeiter befragungund der Arbeitsunfähigkeitsdatenanalyse einweiteres Instrument, um noch spezifischere Un-terstützung in Form von Trainings oder Work-shops bzw. externer Beratung anbieten zu kön-nen. Daran anschließend wird BalanceGuard mitHilfe von Auswertungen und Gesprächen weiterfeinjustiert, um letztlich ein vollwertiges Instru-ment für gesunde Arbeit zu sein.

Somit stärkt BalanceGuard zum einen das Be-triebliche Gesundheitsmanagement. Die An-wender sehen, welche Verhaltensweisen undexternen Einwirkungen eventuell negative Ein-flüsse auf ihren Gesundheitszustand haben. Diesbetrifft insbesondere die psychische Gesundheit.Durch BalanceGuard werden sie frühzeitig ge-warnt, können rechtzeitig agieren und die An-gebote ihres Arbeitgebers oder die Handlungs-hilfen von BalanceGuard nutzen. Sie könnenweiterhin den positiven Einfluss ihrer Aktivitätenauf die eigene Gesundheit beobachten unddiese in ihren Alltag einbauen.

Weiterhin ist BalanceGuard ein zusätzliches In-strument für den Arbeitsschutz, denn betrieb-liche und individuelle Präventionsstrategienwerden hier verknüpft, sodass dies auch einenEinfluss auf die Achtsamkeit in der täglichenArbeit haben wird. Die Mitarbeiterinnen undMitarbeiter werden für ihre Arbeitsumgebungund die sie beeinflussenden Faktoren sensibi -lisiert und lernen, rechtzeitig und präventiv zuagieren, bevor die belastenden Faktoren einennegativen Effekt auf ihre Gesundheit haben.

Wichtig ist uns als Arbeitgeber, dass wir auf-grund der erfassten Daten Hinweise erhalten,die wissenschaftlich ausgewertet und ohneRückschluss auf das Individuum zur Entwicklunghandlungsleitender Empfehlungen zur Arbeits-gestaltung und effektiver Präventionsstrategienfür die Beschäftigten genutzt werden können.

Darüber hinaus ist nicht zu vergessen, dass mansich bei der Auswertung und Nutzung nicht nurauf die Verhaltensebene konzentriert, sondernauch auf die Verhältnisebene, also auf die Ent-wicklung gesundheitsförderlicher Strukturen inder Organisation und die Festigung einer ge-sunden Lebenswelt. Dies ist ein erklärtes Zieldes Gesundheitsmanagements in der Manpo-werGroup, das durch die Ergebnisse von Balan-ceGuard unterstützt werden soll.

Die AutorinAnja Schweickert ist Business ManagerArbeits marktprojekte bei der ManpowerGroup.Sie entwickelt Einsatzszenarien von BalanceGuard im Bereich kaufmännischerund gewerb licher Berufe.

Gesundheitsmanagementin der ZeitarbeitAnja Schweickert

Die ManpowerGroup gehört mit rund

27.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbei-

tern zu den größten Personaldienstleis-

tern Deutschlands. Inner halb der Unter-

nehmensgruppe ist Manpower seit über

50 Jahren auf Arbeitnehmerüberlassung,

Personalvermittlung sowie weitere

HR-Lösungen spezialisiert. Im Rahmen

des vom Bundesministerium für Arbeit

und Soziales geförderten Modellpro-

gramms „Gesunde Zeitarbeit“ war

Manpower von 2008 bis 2011 bei der

Entwicklung und Erprobung eines

integrierten Gesundheitsmanagement-

systems für die gesamte Zeitarbeitsbran-

che als Praxispartner involviert.

Anja Schweickert

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23præview Nr. 1 | 201622

Soziale Arbeit entfaltet ihre Wirkung überwie-gend durch die persönliche Zuwendung undprofessionelle Interaktion der Mitarbeitendenmit den hilfeersuchenden Menschen. Der Cari-tasverband beschäftigt ca. 500 Mitarbeitendeim Hauptamt, die auf der Grundlage der Arbeits-vertragsrichtlinien der Caritas (AVR) beschäftigtsind. Innerhalb der Beschäftigten beschreibt dieBerufsgruppe der Erzieherinnen und Erzieherund der Sozialarbeit den größten Anteil. DasWesen der Caritas wird durch die individuelleArbeitsleistung der Mitarbeitenden geprägt, dieLeistungsfähigkeit und die innere Haltung derMitarbeitenden ist für den Auftrag der Caritasder wichtigste Faktor.

Organisationen wie die Wohlfahrtspflege sindin besonderem Maße auf die Leistungsfähigkeitihrer Mitarbeitenden angewiesen. Es liegt in derNatur der Aufgabe, dass diese ihre Kompetenzunter größtem Zeitdruck und stets wechselndenAnforderungsprofilen, die sich durch die Bedürf -nisse der anvertrauten Menschen ergeben, rou-tiniert wahrnehmen müssen. In wertegebunden(z.B. kirchennahen) Organisationen kommt die

Dimension der spirituellen Identifikation deseinzelnen Mitarbeitenden noch als zusätzlicheKomponente hinzu. In christlichen Nonprofit-Organisationen gilt das Gleichnis vom barm-herzigen Samariter als das Leitmotiv für deneigenen Auftrag. Die Wohlfahrtspflege hat sichvon der altruistischen Handlungsweise einesbarmherzigen Samariters aber weit entfernt.Die Leistungserstellung ist in ein komplexes Sys-tem von gesetzlichen Regelungen und Finan-zierungsstrukturen eingebettet.

Seit Mitte der 1990er Jahre hat sich daher in-nerhalb der Nonprofit-Organisationen (NPO)die Erkenntnis durchgesetzt, dass der eigeneAuftrag auch vor dem Hintergrund der betriebs-wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit reflektiertwerden muss, um die Überlebensfähigkeit derNPO sicherstellen zu können. Nonprofit-Orga-nisationen sind den Marktgesetzen ebenso un-terworfen wie Unternehmen aus den klassi-schen volkswirtschaftlichen Bereichen (z.B.Produktion, Handel, Dienstleistung). Wenn Leis-tungen der Wohlfahrtspflege durch die öffent-liche Hand vergeben werden, erfolgt dies häufigauf der Grundlage des europäischen Ausschrei-bungs- und Vergaberechts, wobei die Anforde-rung der Wirtschaftlichkeit häufig auf das Merk-mal Preis reduziert wird, und weitere Qualitäts-und Wirkungsindikatoren nur eine untergeord-nete Bedeutung einnehmen.

In der Vergangenheit dominierten so überwie-gend Fragestellungen der betriebswirtschaftli-chen Führung und Sicherstellung der eigenenWettbewerbsfähigkeit den Managementalltaginnerhalb von NPO wie der Caritas. In den letz-ten Jahren haben sich aber – zunächst kaum,nun aber zunehmend stärker wahrnehmbar –die Fragestellungen der Mitarbeiterführung undder „Gesunderhaltung“ der Mitarbeitenden inden Vordergrund gestellt. Mitarbeitende der ers-ten Stunde werden im Beruf „alt“ und bereitensich auf den Ruhestand vor. Jüngere Mitarbei-tende müssen die Herausforderung meistern,

Andreas Schubert

sich in einem wandelnden Berufsbild zurecht-zufinden. Die Herausforderungen im privatenUmfeld wandeln sich zudem stetig.

Im eigenen Verband kann beobachtet werden,dass die Ausfallzeiten der jüngeren Mitarbei-tenden weit über den Ausfallzeiten der älterenMitarbeitenden liegen. Wenn ältere Mitarbei-tende arbeitsunfähig sind, liegen i.d.R. zumeistschwerwiegende Erkrankungen vor, die lang-fristige Ausfallzeiten nach sich ziehen. Der Stel-lenplan kompensiert diese Ausfallzeiten in derRegel durch Mehrarbeit, denn Ersatzeinstellun-gen scheitern oft an den fehlenden Fachkräften.Es entsteht eine Belastungsspirale.

Die Belastungs- und Beanspruchungssituatio-nen von Mitarbeitenden in den sozial- und ge-sundheitswirtschaftlichen Organisationen wer-den dabei auch zunehmend komplexer undvielfältiger. Die Arbeitgeber sind daher aufge-rufen, hier geeignete Maßnahmen zu imple-mentieren, da die Organisationen durch die ab-nehmende Arbeitsfähigkeit der Mitarbeitendenweiterführenden existenziellen Risiken ausge-setzt sind, abgesehen davon, dass NPO wie dieCaritas dem Angebot fairer und gesundheits-gerechter Arbeit aus grundlegenden ethischenGründen verpflichtet sind.

Der Fokus von BalanceGuard soll auf die Belas-tung des einzelnen Mitarbeiters gerichtet sein.Zielsetzung ist, die grundsätzliche Arbeitsfähig-keit von Mitarbeitenden zu verbessern. Die Ar-beitsfähigkeit resultiert dabei nicht nur aus denberuflichen Belastungen, denn neben diesenwerden durch die Mitarbeitenden auch zuneh-mend Belastungsfaktoren genannt, die sich ausprivaten Verpflichtungen und Lebensereignissen(Konflikt Familie und Beruf, Situation in derPartnerschaft, persönliche Gesundheit, finan-zielle Situation usw.) ergeben. Ein Belastungs-monitoring, wie wir es bei der Caritas benötigen,muss daher unbedingt auch diese Faktoren ein-beziehen.

Im Alltag unserer Arbeit ist zu beobachten, dasseine zunehmende Anzahl von MitarbeitendenSmartwatches und App-Anwendungen als Un-terstützungsangebote in den Bereichen Gesund-heit, Lifestyle und Fitness nutzt und bemühtist, die Empfehlungen, die von diesen Systemenausgehen, auch in den Arbeitsalltag zu inte-grieren. Diese Anwendungen werden aber bis-lang abgekoppelt von den durch uns als Arbeit-geber bereits implementierten Systemen desArbeitsschutzes und des betrieblichen Gesund-heitsmanagements genutzt. Hier werden nichtnur Chancen verschenkt, sondern es bestehtdurchaus auch die Gefahr, dass individuelle undbetriebliche Prävention sich im Einzelfall be-hindern.

Im Rahmen unserer Gesundheitsstrategie fürdie Beschäftigten sollen daher betriebliche undindividuelle Ressourcen identifiziert werden, dieein gesundes Arbeiten fördern können. Auf derBasis des webbasierten Belastungsmonitoringsim Projekt BalanceGuard sollen den Beschäftig -ten im Rahmen einer regelmäßigen Selbstauf-schreibung ihre Belastungen, Beanspruchungenund positiven Ressourcen dargestellt werden.Auf diesem Wege werden Verläufe und Zusam-menhänge gesundheitsrelevanter Merkmale dereigenen Arbeitssituation visualisiert, und einindividuelles Feedback wird generiert. DiesesFeedback soll dabei nicht nur individuelle Prä-ventionsempfehlungen wie Erholungstipps, son-dern auch konkrete Handlungsempfehlungenzur Arbeitsgestaltung beinhalten und so Verhal -tens- und Verhältnisprävention verbinden. Wei-terhin werden mögliche (interne oder externe)

Der AutorDr. Andreas Schubert ist Vorstand desCaritasverbandes Hannover. Im ProjektBalanceGuard ist er verantwortlich fürdie Erprobung des Systems im Bereichsozialer Dienstleistungen.

„Belastung erkennen und handeln“Einführung eines Belastungsmonitorings im Caritasverband Hannover e.V.Andreas Schubert

Der Caritasverband Hannover ist eine wertegebundene Nonprofit-

Orga nisation der katholischen Kirche und handelt nach dem Leitmotiv

„Not sehen und handeln“. Entsprechend wollen wir im Rahmen des

Projektes BalanceGuard unser Gesundheitsmanagement neu justieren:

„Belastung erkennen und handeln“.

Ansprechpartner genannt, die ggf. konkrete wei-terführende Hilfestellungen geben können.

Daten- und Vertrauensschutz sind dabei unbe-dingt zu gewährleisten. Für den betrieblichenAlltag ist es zudem wichtig, dass die Mitarbei-tenden die Möglichkeiten von BalanceGuard ineinem geschützten Raum entdecken können. DieEinbindung der Betriebsmedizin, der Fachkraftfür Arbeitsschutz und Sicherheit, der Fachbera -tung sowie der Mitarbeitervertretung in diesenDialogprozess sind als Bestandteil vorgesehen.Auch hier ist der Vertrauensschutz gegenüberden Mitarbeitenden die Voraussetzung, damitdie Hilfsangebote angenommen werden können.

Im Schwerpunkt des Projektes soll in unsererOrganisation die Fragestellung untersucht wer-den, ob das Instrument BalanceGuard einenBeitrag dazu leisten kann, dass sich die Beschäf-tigten proaktiv mit ihren individuellen Belas-tungsfaktoren auseinandersetzen. Im weiterenProzess sollen Mitarbeitende und Leitungen indie Lage versetzt werden, präventive Strategienzu entwickeln, die im alltäglichen Dienstbetriebeinen Beitrag leisten sollen, die negativen Aus-wirkungen von persönlichen und beruflichenBelastungen zu reduzieren. Aktuell sind Gesprä-che zwischen den Mitarbeitenden und Leitun-gen noch dadurch geprägt, dass beide Seitennicht sprachfähig sind und eine ausschließlicheFokussierung auf die betrieblichen Gefahren er-folgt. Mit dem Einsatz von BalanceGuard erhof -fen wir uns daher eine Fundierung, Objektivie-rung und Öffnung der betrieblichen Diskussionum Gesundheit.

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25præview Nr. 1 | 201624

Das Landesinstitut für Arbeitsgestaltung Nord-rhein-Westfalen erfasst seit 1994 regelmäßigdie Situation von etwa 2.000 abhängig Beschäf-tigten im Alter ab 16 Jahren aus NRW. In tele-fonischen Interviews beantworten die Beschäf-tigten verschiedene Fragen zur Situation anihrem Arbeitsplatz. Dabei wurden in der Befra-gung, die im Oktober und November 2015durchgeführt wurde, die arbeitsbedingten Be-lastungen und die Arbeitsfähigkeit der Beschäf-tigten genauso angesprochen wie die allgemei-nen Rahmenbedingungen bei der Arbeit, alsoz.B. die betriebliche Arbeitsschutzbetreuung undMaßnahmen der Gesundheitsförderung.

Psychische Belastungen weiterhin obenSeit 1994 stehen die Belastungen, die die Be-schäftigten bei der Arbeit erleben, im Zentrum

der Befragung. Für die Befragung 2015 wurdedie Liste der belastenden Arbeitsbedingungenaktualisiert und an einen bestehenden Gefähr-dungs- und Belastungskatalog der DeutschenGesetzlichen Unfallversicherung (2009) ange-passt. Zu insgesamt 36 Faktoren sollten die Be-schäftigten dann eine Einschätzung abgeben,inwiefern sie sich dadurch gar nicht, etwas,ziemlich oder stark belastet fühlten.

Nach wie vor ist die Belastung durch arbeitsbe -dingte psychische Faktoren hoch (vgl. Abb.). Diesäußert sich in großem Zeitdruck, Multitasking,hoher Verantwortung und einem insgesamt alsProblem wahrgenommenen Organisationsgradder Arbeit. Im Vergleich der erfassten Einzelfak -toren werden Belastungen durch die Arbeitsum -gebung wie z.B. durch Lärm oder durch körper-

Christin Polzer-Baakes

liche Belastungen, weil Bewegungsabläufe ein-seitig sind und wiederholt werden, „erst“ an 12.bzw. 14. Stelle genannt. „Nur“ ein Drittel oderweniger berichtet Belastungen, die vorrangigmit veränderten Organisationsformen und tech-nologischen Veränderungen in Verbindung ge-bracht werden: 33% sind belastet durch eineErreichbarkeit nach Feierabend oder am Wo-chenende, 31% durch Probleme im Umgangmit Computern und Telekommunikationsmit-teln, 26% durch Angst vor Kontrollverlust auf-grund digitalisierter, komplexer und intranspa-renter Arbeitsabläufe.

Die Daten verdeutlichen, dass ein Großteil derBeschäftigten deutlich mehr psychische als kör-perliche Belastungen wahrnimmt. Darüber hi-naus befindet sich das Ausmaß des arbeitsbe-dingten subjektiven, psychischen Belastungsni-veaus schon seit längerer Zeit auf einem relativhohen Niveau. Im Vergleich zu den Ergebnissender letzten Beschäftigtenbefragungen (Novem-ber 2008, November 2013) ist der Trend aller-dings rückläufig und es werden positive Ver -änderungen sichtbar. Seit der Befragung 2008hat der Anteil der Arbeitnehmerinnen undArbeit nehmer, die angegeben haben, etwas,ziemlich oder stark belastet zu sein, deutlichabgenommen: „Arbeit unter hohem Zeitdruck“minus 11%, „hohe Verantwortung“ minus 17%,„Überforderung durch die Arbeitsaufgaben und-menge“ minus 14%.

Über die Ursachen für die hohe Zahl an Betrof-fenen durch arbeitsbedingten Stress kann andieser Stelle und auf Basis der berichteten Datenallerdings nur spekuliert werden. Die Symptomekönnen beispielsweise durch den Wandel derArbeit selbst – weil durch die Digitalisierungund Globalisierung vieles in kürzerer Zeit mög-lich ist – oder durch die Aufmerksamkeit fürdas Thema „Stress“, die durch die mediale Be-richterstattung der letzten Jahre hervorgerufenwird, ausgelöst werden (vgl. Ahlers, 2015).

und nicht etwa nur von neutralen Einwirkungen sondern vontatsächlichen negativen Symptomen und Folgen der Arbeitsbe-dingungen berichten. Das bedeutet, dass Handlungsbedarf inden Bereichen besteht, von denen sich die meisten Beschäftigtenbelastet fühlen. Durch negativ belastende Arbeitsbedingungenkann nämlich das Risiko z.B. für eine Muskel-Skelett-, Herz-Kreis-lauf- oder psychische Erkrankung um bis zu 20% erhöht sein(vgl. Seiler & Jansing, 2014).

Arbeit neu organisieren und Stress reduzierenDie Selbsteinschätzungen der Beschäftigten sind Indikatoren da-für, dass die Arbeitsbedingungen insbesondere im Bereich derArbeitsorganisation nach wie vor unzureichend gestaltet sind.Hier sollten organisationale Maßnahmen zur Gestaltung der Ar-beitsbedingungen ansetzen, um die Beschäftigten zukünftig mitdem Ziel zu entlasten, ihre Gesundheit und Beschäftigungsfä-higkeit langfristig zu sichern und zu fördern und so eine möglichstlange Teilhabe am Erwerbsleben zu ermöglichen (vgl. z.B. Ahlers,2015). Dazu sollten insbesondere das Arbeitsvolumen angepasstund die individuellen Fähig keiten jedes und jeder Beschäftigtenberücksichtigt werden. Lernförderliche Arbeitsumgebungen unddie Möglichkeit zu weiteren Qualifizierungen sollten zusätzlichdazu genutzt werden, um eine individuelle Passung mit der Ar-beitsaufgabe zu gewährleisten.

Darüber hinaus beeinflussen Maßnahmen der betrieblichen Ge-sundheitsförderung (z.B. durch Arbeitszeit- und Pausengestaltungoder individuelles Entspannungstraining) die betrieblichen Rah-menbedingungen und das Verhalten der Beschäftigten. Nicht zu-letzt ermöglichen Instrumente des betrieblichen Arbeitsschutzes(z.B. die Durchführung der sogenannten Gefährdungsbeurteilung),die Arbeitsbedingungen vor Ort zu ermitteln und festzustellen,wo der Schuh drückt, und ob eingeleitete Maßnahmen zu Verbes -serungen geführt haben. So kann langfristig positiv auf die Ar-beitsbedingungen und das Krankheitsrisiko eingewirkt werden.

LiteraturAhlers, E. (2015). Leistungsdruck, Arbeitsverdichtung und die (ungenutzte) Rolle von

Gefährdungsbeurteilungen. WSI Mitteilungen, 3/2015, S. 194-201.DGUV – Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (2009). Gefährdungs- und Belastungs-

Katalog. Beurteilung von Gefährdungen und Belastungen am Arbeitsplatz. Bochum:Verlag Technik & Information.

Seiler, K. & Jansing, P.-J. (2014). Erkrankungsrisiken durch arbeitsbedingte psychischeBelastung. transfer 4. Düsseldorf: Landesinstitut für Arbeitsgestaltung NRW.

Die AutorinDr. Christin Polzer-Baakes koordiniertim Landes institut für ArbeitsgestaltungNordrhein-Westfalen (LIA.nrw) dieArbeitswelt berichterstattung NRW.

Hier besteht Handlungsbedarf:Zeitdruck und Multitasking am Arbeitsplatz belasten zwei von drei Beschäftigten in NRWChristin Polzer-Baakes

In der repräsentativen Beschäftigtenbefragung NRW 2015 berichten zwei

von drei Beschäftigten, dass sie durch die Arbeitsorganisation, insbeson-

dere Zeitdruck und Multitasking, belastet sind. Davon ist eine Person sogar

ziemlich oder stark belastet. Da arbeitsbedingter psychischer Stress das

Krankheitsrisiko z.B. für Herz-Kreislauf-, Muskel-Skelett- oder psychische

Erkrankungen um bis zu 20% erhöhen kann, sollte hier zukünftig ange-

setzt und eine menschengerechte, gesunde Gestaltung der Arbeitsbedin-

gungen umgesetzt werden. Dann kann die Gesundheit der Beschäftigten

auch am Arbeitsplatz langfristig gesichert und gefördert werden.

Top 15 arbeitsbedingter Belastungen in der Beschäftigtenbefragung NRW 2015, LIAnrw(Anteil belasteter Beschäftigter, N = 2.010)

Arbeiten unter hohem Zeitdruck

Verschiedene Aufgaben gleichzeitig erledigen müssen

Hohe Verantwortung

Umstrukturierungs- bzw. Neuorganisationsmaßnahmen

Wenig durchdachte Arbeitsabläufe

Überforderung durch die Arbeitsaufgaben und -menge

Ungünstiges Führungsverhalten

Konflikte mit Kunden und Patienten

Vorschriften, Kontrolle, mangelnde Handlungsspielräume

Konflikte mit Vorgesetzten

Fehlende Entwicklungsmöglichkeiten

Lärm

Konflikte mit Kollegen

Einseitige, wiederholte Bewegungsabläufe

Unvorhersehbarkeit der Arbeitseinsätze

67%

65%

57%

52%

52%

52%

51%

49%

48%

46%

45%

44%

41%

42%

42%

Handlungsbedarf wird aufgezeigtIn der Wissenschaft besteht eine klare Trennung zwischen demneutralen Belastungsbegriff (ein Reiz, der von außen auf einenOrganismus einwirkt) und den positiven bzw. negativen Bean-spruchungsfolgen (die Reaktion des Organismus auf einen ein-wirkenden Reiz). Langfristig können sich Belastungen wie z.B.die Arbeitsaufgabe, die Arbeitsumgebung oder die sozialen Be-ziehungen am Arbeitsplatz positiv oder negativ auswirken. DurchErfolgserlebnisse können beispielsweise die Motivation und Iden-tifikation mit der Tätigkeit gesteigert werden. Misserfolge oderandauernde Konflikte können dagegen zu Unzufriedenheit, Fluk-tuation oder Krankheit führen (vgl. Seiler & Jansing, 2014). ImAlltag ist der Begriff „Belastung“ in der Umgangssprache nega-tiver besetzt und ist eher mit negativen Beanspruchungsfolgenvergleichbar. Wird demzufolge bei einer Telefonumfrage danachgefragt, wie belastet die Beschäftigten sind, kann vermutet wer-den, dass sie bereits unter den Arbeitsbedingungen leiden – ins-besondere wenn sie sich ziemlich oder stark belastet fühlen –

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27præview Nr. 1 | 201626

EAP-Dienstleister beraten dabei aber nicht aus-schließlich die Beschäftigten (und ggf. derenengste Angehörigen), wie sie mit den individu-ellen Problemlagen umgehen können, sondernauch die Unternehmen: Auf der Basis der ano-nymisierten Analyse der berichteten Problemekönnen Employee Assistance Programmes Hin-weise geben, an welchen Stellen im Betrieb sichbeispielsweise die Probleme häufen. Ein guterEAP-Dienstleister ist dabei in der Lage, darausarbeitswissenschaftliche Schlüsse zu ziehen undKonzepte zur Verbesserung von Arbeitsplätzenund Arbeitssystemen zu generieren.

EAPs als externe, kommerzielle Dienstleistungsind so die „Nachfolger“ der Systeme betriebli-cher Sozialarbeit und kümmerten sich dement-sprechend bis vor wenigen Jahren schwerpunkt-mäßig um Fragen der Sucht- und Schuldner-beratung, Konflikte und Beziehungsproblemeoder z.B. Mobbing. Gerade in den letzten Jahrenhat sich die Bedarfslage seitens der Beschäf-tigten aber deutlich verlagert: Neben den o.g.klassischen „Individualthemen“ werden immerhäufiger Beratungen zu den Themen Stress,Work-Life-Balance, zu pflegende Angehörigeund weitere psychische Belastungen nachge-fragt, wie unsere eigenen Erfahrungen in dera3 OWL – Arbeitgeber Arbeitnehmer AssistenzAgentur Ostwestfalen-Lippe zeigen.

Wir stellen in unserer Arbeit dort zunehmendfest, dass Beschäftigte wie auch Betriebe immerstärker über die Auswirkungen von Belastungs-situationen klagen. Klassischerweise belegenBeschäftigte wie auch Management dies mitdem unspezifischen Begriff „Stress“. Ebensounspe zifisch wie die Ursache Stress sind auchdie von den Klienten berichteten Beeinträchti-gungen und Beschwerden. Oftmals wird überRücken- oder Kopfschmerzen und Schlafstörun -

gen berichtet, wobei wir den starken Verdachthaben, dass dies nur sozial akzeptierte Be-schwerdemuster sind, die deshalb angeführtwerden, weil die Beschäftigten nicht besser inder Lage sind, ihre psychische Situation zu be-schreiben. Denn hier liegt in der modernen Ar-beitswelt das eigentliche Risiko: Rücken- undKopfschmerz sind genau wie Schlafstörungendie klassischen Beschwerdemuster mit hohenpsychosomatischen Anteilen in der Pathogene -se, die häufig auch lang andauernde Zeiten vonArbeitsunfähigkeit nach sich ziehen.

Will man als EAP-Dienstleister hier einen gutenJob machen, sind daher im Einzelfall relativlange, Vertrauen benötigende und aufwendigeAnamnesegespräche mit den einzelnen Be-schäftigten notwendig, die sich beziehen auf

æ die Beschreibung der Belastungssituation(sozusagen die Konkretisierung des Begriffs„Stress“) sowie

æ die Hinterfragung der Beschwerdesituation(welche psychophysischen Muster verbergensich ggfs. hinter den Rücken- und Kopf-schmerzen?).

Erst dadurch werden Employee Assistance Pro-grammes handlungsfähig und können Unter-stützungsleistungen auswählen und zielgerich-tet anbieten.

Wir plädieren daher schon seit langer Zeit dafür,regelmäßige Mitarbeiterbefragungen als Aus-gangspunkt der Veränderungs- und EAP-Pro-zesse einzusetzen. Dadurch erhalten wir An-haltspunkte für Problemkonzentrationen inAbteilungen, an Standorten oder z.B. in Tätig-keitsgruppen. Wir bekommen Hinweise darauf,ob sich Gesundheitsgefährdungen aus dem Füh-rungsverhalten, der Arbeitsorganisation oder

Jörg Schlüpmann

beispielsweise der Arbeitsplatzgestaltung erge-ben. So können wir in unserer Arbeit einen Fokusauf diese Problemschwerpunkte legen und auchHochrisikogruppen „im Auge behalten“.

Was wir aber auch beim Einsatz von Mitarbei-terbefragungen nach wie vor nicht haben, sindgute Beschreibungen der Belastungs- und Ge-sundheitssituation auf individueller Ebene –geschwei ge denn Verlaufsprofile, die Verände-rungen von Belastungen, Ressourcen und Be-einträchtigungen anzeigen können. Diese wärenaber eine höchst praxistaugliche Arbeitsgrund-lage für EAP-Dienstleister – und so sind wir alsa3 OWL sehr an den Entwicklungen im ProjektBalanceGuard interessiert.

Hätten wir das BalanceGuard-System bereitsim Einsatz, so würde sich der Workflow der in-dividuellen Unterstützung massiv verändernund drastisch beschleunigen und die Diagnosekönnte sich qualitativ verbessern. Wir könntenauf der Basis von kontinuierlichen Aufschrei-bungen der Belastungen, Ressourcen und Be-einträchtigungen der Klienten unmittelbarHypo thesen über Wirkungszusammenhängeformulieren und gemeinsam mit dem Klientenbesprechen. Das heißt, die erste Frage, die wirstellen würden, wenn ein Klient unsere Hilfesucht, wäre: „Könnten Sie uns einmal Ihr Ba-lanceGuard-Profil zeigen“?

Wir könnten Klienten bitten, bestimmte Aspekte(der Arbeitssituation, der privaten Situation oderdes Erlebens) näher zu verfolgen, d.h. neue Pa-rameter in seine Selbstbeobachtung aufzuneh-men, und somit unsere Hypothesen über dieUrsachen von Beeinträchtigungen überprüfen.Auf dieser im Vergleich zu den heutigen Ver-fahren sehr gesicherten Basis könnten wir Dia -gnosen treffen und Verbesserungsvorschlägemachen, die sich auf das individuelle Verhalten,die Problemlösungsstrategien, die Wahrneh-mung, aber auch auf die Veränderung der Ar-beitsbedingungen und den gesamten betrieb -lichen Kontext richten. Als EAP-Dienstleisterarbeiten wir ja nicht nur genau an der Schnitt-stelle zwischen Verhaltens- und Verhältnisprä-vention – wir haben sogar ein offizielles Mandatbeider Seiten.

Und wir hätten – last but certainly not least – die Möglichkeit,auch den Erfolg der von uns vorgeschlagenen Strategien mit derganz einfa chen, aber durch ein System wie BalanceGuard erstmalsbeantwortbaren Frage zu überprüfen: Hat sich die (Erlebens- bzw.Gesundheits-)Situ ation des individuellen Beschäftigten verbessertoder nicht? Diese Evaluierung ist in den meisten betrieblichen Set-tings überhaupt nicht möglich, da man in der Regel nur Querschnitts -daten und Gruppenmittelwerte heranziehen kann.

Wenn wir nun aber in der Lage sind, die Belastungs- und Erlebens-situation des Beschäftigten zu verfolgen und damit unsere eigeneArbeit auf der Ebene des individuellen Klienten nachvollziehbar zuevaluieren, dann

æ wird der Wert von Unterstützungs- und Präventionsansätzenauf der betrieblichen Ebene deutlicher,

æ können wir selbst als Dienstleister systematisch lernen und wer-den damit immer besser und treffsicherer,

æ können auch die Beschäftigten und Betriebe verfolgen, welcheStrategien wertvoll waren und welche vielleicht auch nicht.

Und nicht zuletzt tragen wir in der gemeinsamen Zusammenarbeitzwischen Betrieb, EAP-Dienstleister und Beschäftigten dazu bei,dass Arbeit auch unter den immer dynamischeren und komplexerenBedingungen der modernen Arbeitsge sellschaft möglichst schädi-gungsfrei bleibt und vielleicht sogar ein bisschen „gesünder“ wird.

Der AutorJörg Schlüpmann ist stellvertretender Zweig-stellenleiter der Deutschen Angestellten-Akade mie GmbH DAA Ostwestfalen-Lippe,Abtei lungsleiter der Abteilung Entwicklungund Marketing des ZweistellenverbundesWestfalen und Geschäftsführer der Arbeit -geber Arbeitnehmer Assistenz Ostwestfalen-Lippe (a3-OWL) e.V.

Jede Hilfe beginnt mit der ProblemanalyseIndividuelles Belastungsmonitoring als Startpunkt von Employee Assistance Programmes Jörg Schlüpmann

Employee Assistance Programmes (EAPs) sind eine externe Form der

Unter stützung von Beschäftigten, um diesen in verschiedensten Belas-

tungssituationen zu helfen. Die Kosten trägt in der Regel der Betrieb,

der so seiner Fürsorgepflicht den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern

gegenüber in einer professionellen und kompetenten Form nachkommt,

ohne eigene Ressourcen dafür aufbauen zu müssen.

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29præview Nr. 1 | 201628

Die AutorenDr.-Ing. Paul Fuchs-Frohnhofen und Dr.-Ing. Ralf Schimweg sind Geschäftsführerder MA&T Sell & Partner GmbH, Aachen. Ihre Tätigkeitsschwerpunkte liegen in der Forschung, Beratung und Qualifizierung zurPersonal- und Organisationsentwicklung inIndustrie- und Dienstleistungsunternehmen.

Prävention 4.0 in der AltenpflegeInnovative Ansätze für gesunde Arbeitsgestaltung in PflegeberufenPaul Fuchs-Frohnhofen, Ralf Schimweg

æ mit innovativen Beschäftigten in einem sichwandelnden Kunden-Markt (ambulant vorstationär, quartiersvernetzte Angebote stattisolierter Heimversorgung, individuelle Unter -stützungsangebote statt Pflege nach Schema,Nutzung technischer Unterstützungsmöglich -keiten für selbstbestimmtes Leben im Alteretc.) wettbewerbsfähig zu bleiben (vgl. Ciesin -ger, Cohnen & Klatt, 2011) und

æ angesichts des demografischen Wandels ihreChancen im Wettbewerb um das sinkendeArbeitskräfteangebot zu wahren und dieWertschätzung der Pflegekräfte erlebbar zumachen (Fuchs-Frohnhofen et al., 2012).

Unter den Faktoren, die die Arbeitsfähigkeit inder stationären Altenpflege beeinflussen, ragen„psychische Belastungen“ heraus, denn Pflegeist im Kern eine Interaktions- und Kommuni-kationsarbeit und es sind nicht so sehr die –auch vorhandenen – körperlichen Belastungen,die die Arbeitsfähigkeit der Pflegekräfte ein-schränken, sondern primär die psychischen Be-lastungen.

Forschungsprogrammatisch führt das BMBFhierzu aus (BMBF, 2014, S. 2):

„Betriebliche Prävention umfasst eine den Men-schen fördernde und schützende Arbeits- undOrganisationsgestaltung sowie gesundheits-und präventionsbezogene Personal- und Kom-petenzentwicklung. Sie schließt Arbeits- undLebensräume des Menschen mit ein und zieltauf die Erhaltung der Vitalität, Kreativität undArbeitsfähigkeit der Menschen in einer Arbeits-welt, die durch dynamische, vernetzte Arbeits-formen im demografischen Wandel geprägtund auf diese angewiesen ist.“

In der Altenpflege sind einerseits die subjektivenFähigkeiten und Potenziale der Beschäftigtengefordert, individuelle Verhaltensprävention miteiner guten Erfüllung der Arbeitsanforderungenzu verbinden, andererseits stehen die Organisa -tionen der Altenpflege vor der Herausforderung,„gute Arbeit“ und präventiven Arbeits- und Ge-sundheitsschutz als „Verhältnisprävention“ aus-zubauen, um

Unter diesen Rahmenbedingungen hat das Pro-jekt Pflege-Prävention 4.0 Thesen erarbeitet,die hier auszugsweise und angepasst auf denRahmen dieser Veröffentlichung zur Diskussiongestellt werden sollen. Diese Thesen sollen diefür Forschung und Praxis wesentlichen Heraus-forderungen einer Prävention 4.0 in der Alten-pflege in Deutschland beschreiben.

T1: „Prävention 4.0“ für Beschäftigte in der sta-tionären Altenpflege umfasst Verhaltens- undVerhältnisprävention.

Verhältnisprävention bedeutet eine den Men-schen fördernde und schützende Arbeits- undOrganisationsgestaltung sowie gesundheits-und präventionsbezogene Personal- und Kom-petenzentwicklung. Es geht darum, Gesund-heitsressourcen in der Arbeitswelt aufzubauenund zu erhalten, die auch bei einer längerenLebensarbeitszeit die Arbeits- und Innovations-fähigkeit von Beschäftigten und Unternehmenlangfristig stärken.

Verhaltensprävention impliziert die Notwendig-keit, dass die einzelnen Beschäftigten in derprofessionellen Altenpflege sich in den verschie-denen berufsbiografischen Phasen von der Aus-bildung bis zum Berufsende (Renteneintritt) mitder eigenen Gesundheit und Arbeitsfähigkeitauseinandersetzen und Gesundheitspräventionals Chance für bessere Arbeit und bessere

Selbstverwirklichung erkennen und eigenaktivangehen.

T2: Zentrale Elemente der Verhaltenspräventionsind dabei gesunde Ernährung, ausreichendeBewegung, Entspannung, Entwicklung der inne -ren Abgrenzungsfähigkeit bei Erhalt der Empa-thie und die dialogische Reflexion des Arbeits -erlebens.

T3: Prävention 4.0 muss Lösungen erarbeiten,um den drei wichtigsten Erkrankungsbildernentgegenwirken zu können, nämlich den „Er-krankungen des Muskel- und Skelettapparates“,den „Erkrankungen der Atmungsorgane“ undden „psychischen Erkrankungen“.

T4: Bezüglich der psychischen Erkrankungengibt es viele immanente Faktoren im Pflegebe-ruf: die Auseinandersetzung mit Krankheit undTod, den Zeitdruck in der Arbeit, herausfordern-des Verhalten von Pflegebedürftigen und z.T.Angehörigen, Team- und Führungsprobleme, dasBild der Pflege in der Gesellschaft, die arbeits-zeitbedingten Probleme auch in der Vereinba-rung von Familie und Beruf und vielfältige Situ-ationen von privater und beruflicher Doppel-belastung gerade bei den beschäftigten Frauen.Prävention 4.0 muss bei den psychischen He-rausforderungen des Pflegeberufs in einem Mixvon Verhaltens- und Verhältnisprävention an-setzen.

T5: Prävention 4.0 muss die Innovationsfähig-keit von Organisationen und Beschäftigten be-inhalten, um in einem sich wandelnden Marktwettbewerbsfähig zu bleiben. Dabei geht esauch darum, dass Einrichtungen lernen, unterBeteiligung der Beschäftigten differenzierte Be-schäftigungs-, Karriere- und Rotationsmodelleanzubieten, die Belastungsreduktion durch Be-lastungswechsel und Mischarbeit ermöglichen.

T6: Prävention für Beschäftigte in der stationä -ren Altenpflege in Deutschland 2016 kann dieIT-technische Unterstützung von Pflegearbeitnicht in den Mittelpunkt stellen, sondern nurals einen Faktor einer mitarbeiterorientiertenArbeitsgestaltung und Gesundheitspräventionberücksichtigen. Vorhandene Ergebnisse wis-senschaftlicher Forschungsvorhaben (AAL) sind(noch) nicht marktgängig und (noch) nicht ge-eignet, den Arbeitsalltag der Pflegekräfte in derPraxis auf breiter Ebene präventionsförderlichzu unterstützen.

T7: Es gilt, einerseits die Kompetenz der Alten-pflegefachkräfte zu erhöhen, um digitalisierteUnterstützungstechnologien nicht nur bedie-nen, sondern kompetent nutzen zu können undandererseits gemeinsam mit den Altenpflege-fachkräften zu erörtern, wie aus einer Technik-kompetenz der Beschäftigten neue Arbeitsin-halte und neue Dienstleistungsangebote derAltenpflege entwickelt werden können.

T8: Prävention 4.0 ist angesichts des demogra-fischen Wandels für alle Pflegeeinrichtungenessenziell, um im Sinne von „Employer-Bran-ding“ im Wettbewerb um das sinkende Arbeits-kräfteangebot bestehen zu können.

Diese und weitere Thesen stellen wir auf unsererWebsite (www.praevention-fuer-pflegende.de)zur Diskussion und laden alle interessierten Le-serinnen und Leser aus Wissenschaft und Praxisdazu ein, in einen gemeinsamen Diskurs zu tre-ten, um die Strukturen einer Pflege-Prävention4.0 zukunftsfähig und interessenausgeglichenzu realisieren.

LiteraturBMBF (2014): Bekanntmachung des Bundesministeriums für Bil-

dung und Forschung von Richtlinien zur Förderung und Ent-wicklung auf dem Gebiet „Präventive Maßnahmen für die si-chere und gesunde Arbeit von morgen“; Bonn, Berlin, 12 S.

Ciesinger, K., Cohnen, H. & Klatt, R. (2011). Entwicklung neuerDienstleistungen und Karrierepfade in der Altenpflege. In: K.-G. Ciesinger u.a. (Hrsg.), Berufe im Schatten. Wertschätzungvon Dienstleistungsberufen – Entwicklung neuer Modelle undKonzepte einer praxisorientierten Unterstützung, S. 201-215.Münster: LIT.

Fuchs-Frohnhofen, P., Isfort, M., Wappenschmidt-Krommus, E.,Duisberg, M., von der Malsburg, A., Rottländer, R., Brauckmann,A. & Bessin, C. (Hrsg., 2012). PflegeWert – Wertschätzung er-kennen, fördern, erleben. Köln: KDA-Verlag.

Fuchs-Frohnhofen P., Isfort, M. & Ciesinger, K.-G. (2016). Inno-vationsbedarfe bezüglich der mitarbeiterbezogenen Gesund-heitsprävention in der Altenpflege – Ausgangsüberlegungenzum Forschungsprojekt Pflege-Prävention 4.0. Fortschrittsbe-richt Nr.1 im Verbundprojekt Pflege-Prävention 4.0. Würselen:MA&T GmbH.

Paul Fuchs-Frohnhofen, Ralf SchimwegWenn in Deutschland der Bedarf einer „Pflege-Prävention 4.0“ thema -

tisiert wird, dann muss dieses Konzept auf den sich verändernden Arbeits -

alltag von Pflegekräften bezogen sein, die mit ihrer individuellen Kom -

petenz ihre Arbeit gestalten und die über die Organisation, in der sie

arbeiten, vernetzt sind (Fuchs-Frohnhofen et al., 2016). Das Kürzel 4.0

steht dann für Modernität, Aktualität und Zukunftsorientierung in der

Pflegearbeit, bei der die Bedeutung der informationstechnisch unter -

stützten Arbeitsaspekte zwar zunehmen, aber nicht die zentrale Rolle

einnehmen wird wie in der industriellen Arbeitsveränderung.

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31præview Nr. 1 | 201630

Mit zunehmendem Alter steigt die Wahrschein-lichkeit, von einer chronischen Krankheit be-troffen zu sein. Diabetes, Stoffwechselerkran-kungen, koronare Herzerkrankungen, Arthroseund Krebs sind typische Beispiele für Erkran-kungen, deren Auftretenswahrscheinlichkeit imLaufe des Lebens kontinuierlich zunimmt. Auchfür depressive Störungen steigt die Prävalenzbis zum 65. Lebensjahr.

Durch den demografischen Wandel und das hö-here Renteneintrittsalter werden diese Erkran-kungen mehr und mehr zum betrieblichenThema. So wächst die Zahl langzeiterkrankterBeschäftigter in den letzten Jahren deutlich.Die Zunahme chronischer, leistungsverändern-der und/oder lebensbedrohlicher Erkrankungenbedingt verschiedene Probleme wie

æ direkte und indirekte Kosten der Arbeitsun-fähigkeit und Wiedereingliederung,

æ organisatorische Probleme durch Personal-ausfall,

æ verringerte Leistungsfähigkeit durch dieKrankheit an sich, aber auch durch nicht ab-geschlossene oder inadäquate Krankheitsbe-wältigung,

æ Folgeerkrankungen, insbesondere psychischeStörungen,

æ Unsicherheit bei Vorgesetzten und Kollegenim Umgang mit den Betroffenen.

Vor diesem Hintergrund wächst die Bedeutungdes betrieblichen Gesundheitsmanagementsmehr denn je. Klassische Themen wie gesundeErnährung, ausreichende ausgleichende Bewe-gung, Verzicht auf Zigaretten und sonstige Dro-

Dagmar Siebecke

Je stärker die Einschnitte in die normale Lebens-führung und je höher die Risiken einer Erkran-kung sind, umso schwerer fällt die Krankheits-bewältigung. Häufig drehen sich nach derDiagnose alle Gedanken um die Krankheit undihre Folgen. Die gesamte Kraft ist auf das Ge-sundheitsproblem gerichtet. Durch ein adäqua-tes Coping gelingt es mit der Zeit mehr undmehr, die Energie wieder auf die Aufgaben dernormalen Lebensführung und Arbeit zu richten.Sozialberatung und psychologisches Coachingkönnen die Betroffenen darin unterstützen, dierichtige Coping-Strategie zu finden und damitschneller wieder in ein „normales Leben“ zurückzu finden. Vor dem Hintergrund des Psycho-therapeutenmangels kann durch entsprechendebetrieblich unterstützte Angebote zu einerschnelleren Krankheitsbewältigung und damiteiner schnelleren Wiederherstellung der Ar beits -fähigkeit beigetragen und psychische Folgestö-rungen verhindert werden. In großen Unter -nehmen kann die Krankheitsbewältigung durchden Austausch mit anderen Betroffenen – quasiin Form von betrieblichen Selbsthilfegruppen –unterstützt werden.

Betriebliches Wiedereingliederungs-managementAufgrund der gesetzlichen Bestimmungen sindGespräche zur Wiedereingliederung inzwischenin den meisten Unternehmen zur bewährtenPraxis geworden (auch wenn noch nicht in allenBetrieben von einem wirklichen Eingliederungs-management gesprochen werden kann). Um einentsprechendes Verständnis für die krankheits-bezogenen Rahmenbedingungen und deren

Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit undGestal tungsoptionen der Wiedereingliederungsicherzustellen, kann es sinnvoll sein, Arbeits-mediziner, Psychologen oder auch betrieblichePsychoonkologen in den Prozess mit einzube-ziehen.

Neben diesen BEM-Gesprächen, zu denen nachmehr als sechswöchiger Fehlzeit eingeladenwerden muss, können aber Begrüßungsgesprä-che durch die direkten Vorgesetzten chronischKranke auch nach kürzeren Fehlzeiten einerseitsin ihrer Krankheitsbewältigung und Arbeitsfä-higkeit stärken und andererseits das Verständ -nis der Führungskraft für die Krankheit und diemöglichen Folgen für die Arbeit erhöhen.Schulun gen können die Vorgesetzten auf dieGesprächsführung vorbereiten. Zudem muss imUnternehmen ein einheitliches Verständnis ge-geben sein, dass es bei diesen Gesprächen umUnterstützung und Verständnis und nicht umKontrolle und Misstrauen geht.

Betriebliche Normalität mit chronischerErkrankungGerade bei Erkrankungen, die entweder einenchronischen Verlauf oder ein hohes Rückfallri-siko haben oder deutliche Lebensveränderungenmit sich bringen, ist nach der Wiedereingliede-rung noch lange nicht „alles wieder gut“. DieKrankheit und/oder die Angst bleiben. Die Be-troffenen müssen Achtsamkeit im Umgang mitder körperlichen Situation entwickeln, umKrankheitsrückfälle oder Verschlechterungenrechtzeitig zu erkennen, aber auch nützlicheRessourcen zu identifizieren.

Die AutorinDipl.-Psych. Dipl.-Arb.wiss. Dr. Dagmar Siebeckeist Wissenschaftliche Mitarbeiterin der gausgmbh und Inhaberin der Burnon-ZentrumsDüsseldorf, in dem sie entsprechende unter-stützende Dienstleistungen für Unternehmenanbietet.

Krankheit ist selten rein arbeitsbedingtLangzeit- und chronische Erkrankungen als wachsende betriebliche HerausforderungDagmar Siebecke

Die Optimierung arbeitsbedingter Belastung und die Verhütung von entsprechenden

Erkrankungen stehen im Zentrum arbeitswissenschaftlicher Gestaltung und Prävention.

Umgekehrt jedoch stellt jede Erkrankung von Beschäftigten, sei sie arbeitsbedingt oder

nicht, Betriebe vor große Herausforderungen. Betriebliches Gesundheitsmanagement

muss sich daher auch dem Problem nicht arbeitsbedingter, vor allem chronischer und

schwerer Erkrankungen stellen und hier Lösungsansätze und Hilfestellungen für die

erkrank ten Beschäftigten wie auch deren Kollegen und Vorgesetzte bieten.

Aber auch Vorgesetzte und Kollegen sollten imUmgang mit den Betroffenen sensibilisiert wer-den. Ein offenes, vertrauensvolles Klima, beidem besondere Belastungen selbstverständlichangesprochen werden können, andererseits Be-troffene aber nicht automatisch ungefragt „inWatte gepackt“ werden, sind Basis für eine be-triebliche Normalität mit chronisch erkranktenKollegen. Workshops zur offenen Klärung even-tuell notwendiger Veränderungen in der Team-arbeit und den Rollen der beteiligten Kollegenund Führungskräfte sind ein hilfreiches Instru-ment (sofern die Betroffenen damit einverstan-den sind). Für viele Betroffene stellt die chroni-sche oder lebensverändernde Erkrankung einengravierenden Stressor dar. Betriebliche Stress-management-Angebote für chronisch Erkrankte,bei denen der Fokus neben klassischen Themenwie Umgang mit externen, arbeitsbezogenenStressauslösern, Relativierung eigener überhöh-ter Ansprüche sowie Ausgleich und Regenera-tion auch auf den Umgang mit der Erkrankungals Stressor gelegt wird, helfen beim Belastungs-management und tragen dazu bei, Überforde-rungen und daraus resultierende Folgeerkran-kungen zu verhindern.

Durch eine betriebliche Unterstützung der Be-schäftigten, angefangen von der Präventionüber die Krankheitsbegleitung bis hin zur Wie-dereingliederung und der Herstellung der neuenarbeitsbezogenen Normalität, können Unter-nehmen die Herausforderung der zunehmendenLangzeit- und chronischen Erkrankungen an-nehmen und bewältigen.

gen, Stressmanagement etc. spielen bei nahezuallen chronischen und/oder lebensbedrohlichenErkrankungen eine zentrale präventive Rolle.Auch die Stärkung der Resilienz durch Work-shops oder Coachings ist eine sinnvolle Präven-tionsmaßnahme, durch die ein gesundes Copingvorbereitet wird. Neben der Prävention ergebensich aber auch mit der Krankheitsbegleitungund Wiedereingliederung zentrale Handlungs-felder, durch die Betriebe den gegebenen He-rausforderungen begegnen können.

KrankheitsbegleitungHäufig sind Kollegen und Vorgesetzte verunsi-chert, wie sie mit erkrankten Kollegen umgehensollen – insbesondere wenn es sich um schwere,lebensverändernde oder -bedrohliche Erkran-kungen oder psychische Störungen handelt.Nicht selten wird daher der Kontakt auf dasNötigste beschränkt. Die Krankheit wird zumTabuthema, die Interaktionssituationen werdenverkrampft. Entsprechend kommen für viele Be-troffene neben der eigentlichen ErkrankungenIsolation und Einsamkeit als Folge hinzu. Gutgemeinte Ratschläge wie „Hör jetzt endlich aufzu rauchen!“ oder „Du musst positiv denken!“führen dazu, dass sich erkrankte Personen un-verstanden oder bevormundet fühlen.

Mit Aufklärung und Schulungen zum Umgangmit Erkrankten – was hilft und was eher Distanzschafft, wie Gesundheitsgespräche zu führensind etc. – kann diesen Unsicherheiten und Pro-blemen begegnet werden. KrankheitsbezogeneSozial- und Kommunikationskompetenzen hel-fen Kollegen und Vorgesetzten dabei, Betroffenein ihrer Krankheit zu begleiten.

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33præview Nr. 1 | 201632

Der Beruf der Polizeivollzugsbeamtin bzw. desPolizeivollzugsbeamten ist aus vielerlei Gründeneine besondere und anspruchsvolle Tätigkeit,die oft auch mit hohen physischen und psy-chischen Belastungen verbunden ist. Polizei-vollzugsbeamtinnen und -beamte versehen u.a.(Wechsel-)Schichtdienst, nehmen Sonderrechteim Straßenverkehr in Anspruch, sind Waffen-träger und werden häufiger als andere Berufs-gruppen mit menschlichen Ausnahmesituatio-nen konfrontiert. In zunehmenden Maße sindsie auch Ziel von Aggressionen und selbst Opfervon Gewalt.

Vor dem Hintergrund der gestiegenen Anfor-derungen an die polizeiliche Arbeit und des de-mografischen Wandels widmet sich die PolizeiNiedersachsen bereits seit dem Jahr 2008 ver-stärkt dem Thema Gesundheit. Das Konzept zurUmsetzung eines ganzheitlichen Gesundheits-managements in der niedersächsischen Polizeiwurde im Zeitraum von 2008 bis 2012 durcheine Projektgruppe in Kooperation mit dem In -s titut für interdisziplinäre Arbeitswissenschaftder Leibniz Universität Hannover in insgesamt17 Pilotdienststellen entwickelt und erprobt.

Das Konzept beinhaltet das strategische Ziel,die Einsatzfähigkeit der Polizei durch gesundeund leistungsfähige Beschäftigte zu verbessern.Dabei werden sowohl das individuelle Verhaltenals auch die arbeitsorganisatorischen Verhält-nisse betrachtet. Unterschiedliche Organisati-onsstrukturen und -kulturen sowie Arbeitsab-läufe finden Berücksichtigung. Die Dienststellenmüssen für notwendige Veränderungen offensein und erhalten die Möglichkeit, eigene Ver-fahrensweisen zu erproben. Die ProjektgruppeGIP entwickelte und erprobte beteiligungsori-entierte Instrumente und Verfahren. Diese set-zen insbesondere an den Arbeitsbedingungenan, beziehen die Mitarbeiterinnen und Mitar-beiter als „Experten in eigener Sache“ ein und

haben in ihrer Wirkung einen positiven Einflussauf die alltägliche Arbeit der Beschäftigten.

Zentraler Kern des Konzeptes sind die soge-nannten Prozessketten, die es den Dienststellenermöglichen, durch die Beteiligung der Mitar-beiterinnen und Mitarbeiter und deren Füh-rungskräfte gesundheitsförderliche Arbeitsbe-dingungen zu entwickeln. Die Prozesskettenbeinhalten Instrumente zur Bestandsaufnahmevon Belastungen und Ressourcen der Beschäf-tigten durch Diagnoseworkshops (bzw. Mitar-beiterinnen- und Mitarbeiterbefragungen), zurvertiefenden Analyse und Entwicklung vonVerbes serungsvorschlägen durch Gesundheits-zirkel, zur Dokumentation der Umsetzung vonMaßnahmen (Umsetzungsrate) und zur Ermitt-lung der Verbesserung der Arbeitsbedingungen(Effektmessung). Die Prozessketten eignen sichzur Erfassung und Bearbeitung des gesamtenSpektrums von Belastungen und Ressourceninnerhalb der Polizei.

Seit Beginn der Projektphase wurden die inter-nen personellen Ressourcen der Polizei Nieder-sachsen, die zur Umsetzung des Gesundheits-managements erforderlich sind, entwickelt undausgebaut. In den Behörden und Dienststellenwurden Koordinatorinnen und Koordinatorenund Prozessbegleiterinnen und Prozessbegleiterausgebildet, die u.a. Diagnoseworkshops undGesundheitszirkel moderieren sowie den Kern-prozess begleiten. Die Vorgehensweisen, Instru-mente und Ergebnisse der Pilotdienststellenwurden wissenschaftlich evaluiert. Dabei zeig-ten sich als Erfolgsfaktoren

æ die aktive und positive Unterstützung durchdie Leitungen der jeweiligen Organisationenbei der Umsetzung des Gesundheitsmana-gements,

æ eine gemeinsame Reflexion des eigenen Vor-gehens durch die Führungs- und die Arbeits-ebene,

Michael Greve

æ ein solides Projektmanagement der Koordi-natorinnen und Koordinatoren vor Ort sowie

æ die Einhaltung der von der ProjektgruppeGIP entwickelten beteiligungsorientiertenStandards.

Erfolgskritisch waren weiterhin eine hohe Mit-arbeiterorientierung sowie ausreichend Zeit füreine Reflexion und einen Austausch der Per-spektiven zwischen Leitungs- und Arbeitsebene.Hierfür war es erforderlich, ein gemeinsamesGremium einzurichten, das dem erforderlichenLernprozess genügend Raum zur Verfügungstellte. Dort, wo Führungskräfte sowie Mitar-beiterinnen und Mitarbeiter (wieder) in eine of-fene Kommunikation getreten sind und jeweilsVerantwortung für den Prozess übernommenhaben, konnten nachhaltige Verbesserungen er-zielt werden.

Die Akteure des Gesundheitsmanagements, Ko-ordinatorinnen und Koordinatoren sowie Pro-zessbegleiterinnen und Prozessbegleiter werdenin regelmäßigen Netzwerktreffen begleitet undfortgebildet. Gemeinsam mit ihnen werden dieStandards des GIP-Konzeptes weiterentwickelt.Auf der Grundlage der in der Pilotierungsphasegewonnenen Erkenntnisse wird das Gesund-heitsmanagement seit Abschluss der Projekt-phase im Jahr 2012 in die Polizei Niedersachsenimplementiert.

Zum Konzept des ganzheitlichen Gesundheits-managements der Polizei Niedersachsen gehörenweiterhin vielfältige Angebote der Gesundheits-förderung, wie z.B. Gesundheitspräventions -seminare, Gesundheitstage, Präventionssport,Rückenschule, Ernährungsberatung sowie psy-chosoziale Beratungsangebote, die Vereinbarkeitvon Beruf und Familie, ein betriebliches Wieder -eingliederungsmanagement, die Arbeitssicher-heit und die Arbeitsmedizin.

Das eingeführte, partizipative Verfahren zur Auf -deckung und Entwicklung von Optimierungs-maßnahmen hat, nach teilweise bestehenderanfänglicher Skepsis, sehr viel Zustimmung derBeschäftigten erfahren. Unter Einhaltung derStandards führt das Instrument GIP zu einermessbaren, signifikanten Steigerung der Arbeits -

Der AutorMinisterialrat Michael Greve ist Facharzt für Allgemeinmedizin und als Teilreferatsleiter mitden Arbeitsschwerpunkten Medizinischer Dienst,Arbeitsmedizin, Arbeitsschutz und Arbeitssicher-heit, Gesundheitsmanagement in der Abteilung2 – Landespolizeipräsidium – im Referat 25(Perso nal) des Niedersächsischen Ministeriumsfür Inneres und Sport tätig. Er hat als Leiter derProjektgruppe „Gesundheit in der Polizei Nieder-sachsen“ (GIP) das Konzept zur Umsetzung einesganzheitlichen Gesundheitsmanagements in derPolizei Niedersachsen mitentwickelt.

Die Polizei des Landes Niedersachsen orientiert sich am Prinzip einer

bürger nahen Verwaltung. Etwa 18.500 Polizeivollzugsbeamtinnen und

-beamte sowie rund 4.500 Polizeiverwaltungsbeamtinnen und -beamte

sowie Beschäftige sorgen für die Sicherheit von knapp 8 Millionen

Menschen auf einer Fläche von 47.634,90 km².

GIP – Gesundheit in der Polizei NiedersachsenMichael Greve

zufriedenheit der Beschäftigten und unterstütztdamit den gesetzlichen Auftrag an den Arbeit-geber und seine Führungskräfte, gesundheits-förderliche Arbeitsbedingungen für die Beschäf-tigten zu schaffen. Die Ergebnisse einer in derzweiten Jahreshälfte 2015 landesweit durch-geführten periodischen Mitarbeiterinnen- undMitarbeiterbefragung werden derzeit ausgewer -tet und fließen in das Konzept ein. Darüber hi-naus hat die Polizei Niedersachsen im Jahr 2015am Corporate Health Award teilgenommen, umdas landesweit implementierte GIP-Konzept indiesem Kontext auditieren zu lassen.

Das Corporate Health Audit richtet sich an Un-ternehmen bzw. Organisationen, die bereits einvorbildliches betriebliches Gesundheitsmana-gement etabliert haben und dieses überprüfenund zertifizieren lassen wollen. Im Rahmen einererfolgreich absolvierten Auditierung werdenGütesiegel an besonders engagierte Unterneh-men bzw. Organisationen vergeben. Im Verfah-ren analysieren unabhängige Gutachterinnenund Gutachter detailliert die Qualität und Effek -tivität des Betrieblichen Gesundheitsmanage-ments des jeweiligen Unternehmens im Bran-chenvergleich.

Am 19.11.2015 wurde die Polizei Niedersachsendurch das Marktforschungsinstitut EuPD Re-search Sustainable Management, die Handels-blatt GmbH, die TÜV SÜD Akademie und dieias-Gruppe im Rahmen des Corporate HealthAward 2015 in Bonn mit dem „Exzellenz-Siegel“ausgezeichnet. Im Ergebnis wurde der PolizeiNiedersachsen, als Finalist in der Kategorie „Öf-fentliche Verwaltung/Einrichtungen“, beschei-nigt, ein „(…) herausragendes betriebliches Ge-sundheitsmanagement etabliert zu haben, daszu den besten deutschlandweit zählt (…)“.

Die Polizei Niedersachsen wird sich auf dieserhervorragenden Auszeichnung jedoch nichtausruhen. Erklärtes Ziel bleibt es, die Implemen-tierung von GIP in die Polizei Niedersachen wei-ter zu forcieren und das Gesundheitsmanage-ment kontinuierlich weiterzuentwickeln, umhierdurch die Belastungen für die Mitarbeite-rinnen und Mitarbeiter zu reduzieren und dievorhandenen Ressourcen zu stärken.

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35præview Nr. 1 | 201634

Fragen, die damals gestellt wurden, gewinnenheute neue Brisanz, denn eine Entwicklung ver-spricht, uns alle spielend zu besseren Menschen,wenn nicht gleich die Welt zu einer besserenzu machen (vgl. McGonigal, 2011): die Gamifi-cation. Gemeint ist der Einsatz spielerischer Ele-mente in nicht-spielerischen Kontexten (vgl.Deterding, 2011), und die Umsetzung ist sicherschon jedem von uns begegnet: die Payback-Karte beim Einkaufen, gesammelte Flugmeilen,die eine Komfort-Behandlung bei den nächstenReisen versprechen, Orden in der Jogging-App,der Fortschrittsbalken beim Online-Lernen einerneuen Sprache und vieles mehr. Die Bandbreiteund Kombinationsmöglichkeiten verschiedenerSpiel-Elemente sind ebenso vielfältig wie dieEinsatzzwecke und -orte.

Der Weg ist das Ziel. Mit Auszeichnung.Gerade Apps zur Selbstoptimierung und damitzur Verhaltensänderung, vornehmlich im sport-lichen Bereich, zeigen, wie Therapieansätze undGamification verbunden werden, um die Userauf ihrer „Mission“ zu unterstützen1. BesondereMerkmale dieser Apps sind, dass

æ sie gut in den Alltag integrierbar sind,æ User die Ziele selbst setzen bzw. mitbestim-

men können, æ Ergebnisse aufgezeichnet, ausgewertet und

veranschaulicht werden, æ Anwender Bestärkung von ihrem sozialen

Umfeld und/oder einem Trainer (auch einemrein virtuellen) erfahren,

æ zeitnahes, positives Feedback gegeben wird,æ Spielelemente wie Abzeichen, Missionen,

(Punkte-)Ranglisten nicht nur visuelle Gim-micks in der Ergebnisvisualisierung darstellen,sondern sie im besten Fall in die Gesamtnar-ration2 und User-Konstellationen eingebun-den sind.

Das ist nun gar nicht mehr so zweckfrei, wie esdie älteren Kulturwissenschaftler gefordert hat-ten, doch kann es pädagogische/therapeutischeZielsetzungen unterstützen: Der User ist ansProgramm gebunden, das nicht als „Störfaktor“im Alltag auf sich aufmerksam macht, sondernvielmehr als willkommene, wenn nicht sogarSpaß bringende, leichte – eben nicht-ernste –Unterstützung gesehen wird. Er „bleibt dran“,möchte seine Fortschritte sehen und trägt dieseBegeisterung in sein soziales Umfeld.

Karotte am StockGleichwohl müssen alle Anpreisungen der Ga-mification als Allheilmittel für unsere Problemein der Arbeitswelt, den Schulen, der Wirtschaftetc. sicher auch mit Vorsicht genossen werden.Gamification ist ein Marketing-Buzzword, dasin der Auslegung vieler Verfechter, gerade auf-seiten vieler PR-Berater, eine eher simple „Ka-rotte-am-Stock“-Logik verfolgt. Dieses kleineGemüse mag zwar in den ersten Tagen leckererscheinen, sodass man ihm hinterherläuft.Nach einiger Zeit jedoch möchte kein Teilneh -mer mehr der Esel sein: Zu viel extrinsische Mo-tivation bewirkt ihr Gegenteil. Sie demotiviert.

Aber auch Übermotivation kann ein Gamifica-tion-System gefährden: Wenn es einzelnenUsern nur noch um Rang 1 in der Ranglisteoder das Gewinnen zusätzlicher Punkte geht,wird schnell jede Schwachstelle des Systemsgesucht, gefunden und gnadenlos ausgenutzt.Die Anwendung wird damit unattraktiv fürMitspie ler und Anbieter. Ein großes Mineralöl-Unternehmen und ein Pudding-Hersteller ver-fluchen wohl heute noch pfiffige Kunden, dieSchwachstellen fanden und direkt im Internetposteten.3

Sabine SchollasBalanceGuard: Balance auf allen EbenenGroß angelegte Systeme, die (materielle) Preiseversprechen, sind sicher anfälliger für die ebenbeschriebenen Gefahren, aber auch bei kleinerenAnwendungen mit einem arbeitswissenschaft-lichen Hintergrund wie BalanceGuard muss derEinsatz gamifizierender Elemente wohldurch-dacht sein. Folgende Fragen wären beispielswei -se Anhaltspunkte:

æ Soll es eine gewisse Einführungsnarrationgeben, mit der sich der User identifizierenkann?

æ Wie wird der User repräsentiert (sein echterName, ein Alias, ein Foto, ein Symbol, festge -legte, ggf. zur Narration passende Avatare…)?

æ Soll der Fortschritt anhand eines Balkensvisu alisiert werden? Wenn ja, sollen bei lan-gen Abschnitten Zwischenziele aufgezeigtund angekündigt werden?

æ An welchen Stellen erfährt der Anwenderdirek tes Feedback?

æ Werden kompetitive Elemente durch eineVernetzung der User/Austauschmöglichkei -ten zwischen ihnen implementiert?

æ Werden Login-Erinnerungen und konstanteLogins miteinander verbunden und entspre-chend visualisiert? Eine Erinnerung könntez.B. lauten: „Super, Sie haben einen 5-Tage-Lauf. Jetzt heißt es weitermachen!“, ggf. ge-folgt von einem „Ihre Mitstreiter wartenschon auf Sie!“, das von einem aufmuntern-den Avatarbild begleitet wird.

æ Gibt es Aspekte des Sammelns (Abzeichen,Orden etc.) und einer entsprechenden Reprä -sentation der erspielten Trophäen?

Bevor hier Antworten gegeben werden, solltezunächst die Zielgruppe möglichst genau defi-niert und charakterisiert werden. Wie bekanntund zugänglich sind die einzelnen Spiel-Ele -men te? Welche Gruppe, z.B. welchen Alters, wirddurch welche Elemente ausgeschlossen, welchekann besser erreicht werden? Weitere Einschrän -kungen ergeben sich häufig auch aus dem Bud-get oder der technischen Umsetzbarkeit.

Die Kunst wird es also sein, ein Gleichgewichtzwischen dem ernsthaften Unterstützungsan-gebot von BalanceGuard und dem Einsatz spie-lerischer Elemente zu finden, das die Anwen-derinnen und Anwender motiviert, aber keines-wegs ein schnelles „Game over“ bedeutet.

LiteraturDeterding, S. (2011). „From Game Design Elements to Gameful-

ness: Defining ‚Gamification’”. Proceedings of the 15th Inter-national Academic MindTrek Conference: Envisioning FutureMedia Environments (MindTrek ’11). New York, S. 9-15.

McGonigal, J. (2011). Reality is Broken. Why Games Make UsBetter and How They Can Change the World. New York: Pen-guin.

1 Uneigennützig sind diese Unterstützungsangebote jedochnicht zu sehen. Vielmehr steht eine Datenerfassung zu Mar-ketingzwecken und zur Kundenbindung dahinter, die den Vor-teil bringt, dass Unternehmen die Daten nicht sammeln müs-sen, sondern sie vom User geliefert bekommen.

2 Wenn hier und im Folgenden von „Narration“ die Rede ist, istdie zum Spiel/zur Anwendung gehörige Geschichte gemeint,in die Elemente der Gamification eingebunden sind. Der Usersammelt so nicht nur Abzeichen, Punkte etc., sondern tauchtstärker in die App ein, ist ihr stärker verbunden.

3 Der Mineralölkonzern Shell verkalkulierte sich mit den Punkt-werten gekaufter Produkte, sodass pfiffige Kunden einen nam-haften E-Book-Reader für umgerechnet etwa 15 € erhaltenhätten und diese Information fleißig im Netz streuten. Shellindes hatte weder eine IT-Infrastruktur für den entstehendenAnsturm noch die Geräte, dafür aber einen gewaltigen Shit -storm. Auch der Puddinghersteller Healthy Choice hatte nichtmit einem rechnenden Kunden kalkuliert, der nun mit seinerFamilie bis an sein Lebensende mit durch den Kauf von Joghurt -bechern „erspielten“ Bonusmeilen rund um die Welt fliegt.

Die AutorinSabine Schollas, M.A., arbeitet als Bereichs -leitung Marketing/PR bei Stepke KiTas. Sie promoviert zum Thema Kindheit und Marketing an der Ruhr-Universität Bochum,wo sie Lehrbeauftragte für Gamification und, damit verbunden, Fitness- und Tracking -apps gewesen ist. Kontakt: [email protected]

Spielend einfach, oder doch nicht? Chancen und Grenzen von Gamification-AnsätzenSabine Schollas

„Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt“, hat Friedrich Schiller

in seinen Schriften zur ästhetischen Erziehung des Menschen festgehalten.

Und Johan Huizinga sprach Mitte des 20. Jahrhunderts direkt vom „Homo

ludens“, dem spielenden Menschen, wobei er das Spielen als Grundlage

jeglicher Kultur ansah. Doch wo ist die Grenze zwischen Spiel und Nicht-

Spiel? Und gilt es noch als Spiel, wenn mit ihm eine bestimmte Zielset-

zung, ein bestimmter Zweck verfolgt wird?

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