Psychologie der Massen - Alex Brunner

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Gustave Le Bon Psychologie der Massen Kröner

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Gustave Le BonPsychologieder Massen

Kroumlner

KROumlNERS TASCHENAUSGABE BAND 99

GUSTAVE LE BON

PSYCHOLOGIE DER MASSEN

Mit einer Einfuumlhrung von

Prof Dr PETER R HOFSTAumlTTER

ALFRED KROumlNER VERLAG STUTTGART

Titel der franzoumlsischen Originalausgabe PSYCHOLOGIE DES FOULES

Autorisierte Uumlbersetzung von Rudolf Eisler Bearbeitet von Rudolf Marx

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek

Le Bon Psychologie der Massen ndash 5 Aufl ndash Stuttgart Kroumlner 982 (Kroumlners Taschenausgabe Bd 99) ISBN 3 520 0995 2

copy 9 by Alfred Kroumlner Verlag in StuttgartAlle Rechte vorbehalten Printed in Germany

Druck Omnitypie Stuttgart

INHALTSVERZEICHNIS

Einfuumlhrung von Prof Dr Peter R Hofstaumltter XIII

Literatur XXXVII

Vorwort zur Auflage XXXIX

Einleitung Das Zeitalter der Massen Entwicklung des gegenwaumlrtigen Zeitalters middot Die groszligen Kulturwenden sind die Folge von Wandlungen im Denken der Voumllker middot Der Glaube der Neuzeit an die Macht der Massen middot Er veraumlndert die hergebrachte Politik der Staaten middot Wie sich das Emporkommen der Volksklassen vollzieht und wie sie ihre Macht ausuumlben middot Die Syndikate middot Notwendige Folgen der Macht der Massen middot Sie koumlnnen nur eine zerstoumlrerische Rolle spielen middot Durch sie vollendet sich die Aufloumlsung der zu alt gewordenen Kulturen middot Allgemeine Unkenntnis der Psychologie der Massen middot Wichtigkeit des Studiums der Massen fuumlr Gesetzge- ber und Staatsmaumlnner

Erstes Buch DIE MASSENSEELE

Kapitel Allgemeine Kennzeichen der Massen middot Das psy- chologische Gesetz von ihrer seelischen Einheit 0

Was kennzeichnet eine Masse vom psychologischen Gesichtspunkt middot Eine zahlenmaumlszligige Menge von Einzelnen bildet noch keine Masse middot Besondere Eigentuumlmlichkeiten der psychologischen Massen middot Unveraumlnderliche Richtung der Gedanken und Gefuumlhle der einzelnen die sie bilden und Ausloumlschung ihrer Persoumlnlichkeit middot Die Masse wird stets vom Unbewuszligten beherrscht middot Zuruumlcktreten des Gehirnlebens und Vorherrschen des Ruumlckenmarklebens middot Verminderung des Verstandes und voumlllige Umwandlung der Gefuumlhle middot Die veraumlnderten Gefuumlhle koumlnnen besser oder schlechter sein als die der einzelnen aus denen die Menge besteht middot Die Masse wird ebensoleicht heldenhaft wie verbrecherisch

INHALTSVERZEICHNIS

2 Kapitel Gefuumlhle und Sittlichkeit der Massen 9

sect Triebhaftigkeit Beweglichkeit und Erregbarkeit der Massen middot Die Masse ist der Spielball aller aumluszligeren Reize deren unaufhoumlrliche Schwankungen sie widerspiegelt middot Die Antriebe denen sie gehorchen sind so gebieterisch daszlig der persoumlnliche Vorteil zuruumlcktritt middot Bei den Massen ist nichts vorbedacht middot Wirkungskraft der Rassesect 2 Beeinfluszligbarkeit und Leichtglaumlubigkeit der Massen middot Ihre Empfaumlnglich- keit fuumlr Beeinfluszligungen middot Die in ihrem Gemuumlt hervorgerufenen Bilder werden fuumlr Wirklichkeit gehalten middot Warum diese Bilder fuumlr alle einzelnen aus denen eine Masse besteht gleichartig sind Angleichung der Gelehrten und des Einfaumlltigen in einer Masse middot Verschiedene Beispiele von Taumluschungen denen alle Mitglieder in einer Masse unterliegen middot Unmoumlglichkeit der Zeugenschaft der Massen irgendwelchen Glauben beizumessen middot Die Einmuumltigkeit zahlrei- cher Zeugen ist einer der schlechtesten Beweise den man zur Erhaumlrtung einer Tatsache beibringen kann middot Geringer Wert der Geschichtswerkesect 3 Uumlberschwang und Einseitigkeit der Massengefuumlhle middot Die Massen kennen weder Zweifel noch Ungewiszligheit und ergehen sich stets in Uumlbertreibungen middot Ihre Gefuumlhle sind stets uumlberschwenglichsect 4 Unduldsamkeit Herrschsucht und Konservatismus der Massen middot Ursachen dieser Gefuumlhle Unterwuumlrfigkeit der Massen vor einer starken Macht middot Die augenblicklichen revolutionaumlren Triebe der Massen hindern sie nicht houmlchst ruumlckstaumlndig zu sein middot Sie sind instinktiv Feinde von Veraumlnderung und Fort- schrittsect 5 Sittlichkeit der Massen middot Die Sittlichkeit der Massen kann je nach den Einfluumlssen viel niedriger oder viel houmlher sein als die der einzelnen die sie bilden Erklaumlrung und Beispiele middot Die Massen werden selten durch den Eigennutz geleitet der meist den einzigen Antrieb fuumlr den einzelnen bildet middot Versittlichende Wirkung der Massen

3 Kapitel Ideen Urteile und Einbildungskraft der Massen 38

sect Die Ideen der Massen middot Grundlegende und nebensaumlchliche Ideen middot Wie entgegengesetzte Vorstellungen gleichzeitig bestehen koumlnnen Wandlungen die die houmlheren Ideen durchmachen muumlssen um fuumlr die Massen annehmbar zu werden middot Die soziale Bedeutung der Vorstellungen ist unabhaumlngig von dem Wahrheitsgehalt den sie in sich tragen koumlnnensect 2 Die Urteile der Massen middot Die Massen sind nicht durch Beweisgruumlnde zu beeinflussen middot Die Urteile der Massen sind stets sehr niedriger Art middot Die Vorstellungen die sie assoziieren haben nur den Schein von Analogie und Folgerichtigkeitsect 3 Die Einbildungskraft der Massen middot Macht der Massenphantasie middot Sie denken in Bildern die ohne jegliche Verbindung aufeinander folgen middot Die

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INHALTSVERZEICHNIS

Massen nimmt besonders die wunderbare Seite der Dinge gefangen middot DasWunderbare und das Sagenhafte sind die wahren Traumlger der Kulturen middot Die Volksphantasie war stets der Stuumltzpunkt der Macht aller Staatsmaumlnner middot Auf welche Weise die Tatsachen auf die Einbildungskraft der Massen Eindruck machen koumlnnen

4 Kapitel Die religioumlsen Formen die alle Uumlberzeugungen der Masse annehmen 46

Wodurch das religioumlse Gefuumlhl gebildet wird middot Es ist unabhaumlngig von der Anbetung einer Gottheit middot Seine Merkmale middot Macht der Uumlberzeugungen die religioumlse Formen angenommen haben middot Verschiedene Beispiele middot Die Volksgoumlt- ter sind nie ganz verschwunden middot Neue Formen ihrer Wiedergeburt middot Religioumlse Formen des Atheismus middot Bedeutung dieser Begriffe in historischer Hinsicht middot Die Reformation die Bartholomaumlusnacht die Schreckenstage und alle aumlhnli- chen Ereignisse sind die Folgen der religioumlsen Gefuumlhle der Massen und nicht des Willens einzelner Persoumlnlichkeiten

Zweites BuchDIE MEINUNGEN DER UND GLAUBENSLEHREN

MASSEN

Kapitel Entfernte Triebkraumlfte der Glaubenslehren und Meinungen der Massen 54

Vorbereitende Ursachen der Massenuumlberzeugungen Das Auftreten von Glaubenslehren in den Massen ist die Folge vorangehender Verarbeitung middot Untersuchung der verschiedenen Ursachen dieser Glaubensuumlberzeugungen sect Die Rasse middot Ihr auszligerordentlicher Einfluszlig middot Sie zeigt die Wirkungen der Vorfahrensect 2 Die Uumlberlieferungen middot Sie sind die Zusammenfassung der Rassenseele middot Soziale Bedeutung der Uumlberlieferungen middot Wodurch sie schaumldlich werden nachdem sie notwendig gewesen sind middot Die Massen sind die zaumlhesten Bewah- rer der uumlberlieferten Ideensect 3 Die Zeit Sie bereitet allmaumlhlich die Einfuumlhrung der Glaubenslehren vor dann ihre Zerstoumlrung middot Dank ihrer erhebt sich die Ordnung aus dem Chaossect 4 Die politischen und sozialen Einrichtungen middot Irrige Auffassung von ihrer Aufgabe middot Ihr Einfluszlig ist aumluszligerst gering Sie sind Wirkungen nicht Ursachen middot Die Voumllker koumlnnen sich nicht die Einrichtungen aussuchen die ihnen am besten erscheinen middot Sie sind Etiketten die mit derselben Aufschrift die ver- schiedensten Dinge decken middot Wie die Verfassungen entstehen koumlnnen middot Die

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INHALTSVERZEICHNIS

Notwendigkeit gewisser theoretisch schlechter Einrichtungen wie z B derZentralisation fuumlr gewisse Voumllkersect 5 Unterricht und Erziehung middot Irrigkeit der herrschenden Anschauungen uumlber den Einfluszlig des Unterrichts auf die Massen middot Statistische Nachweise middot Entsittlichende Wirkung der klassischen Bildung middot Die Wirkung die der Unterricht ausuumlben koumlnnte middot Beispiele die die verschiedenen Voumllker bieten

2 Kapitel Unmittelbare Triebkraumlfte der Anschauungen der Massen 7

sect Bilder Worte und Redewendungen middot Magische Macht der Worte und Redewendungen Die Macht der Worte knuumlpft sich an Bilder die durch sie hervorgerufen werden und ist unabhaumlngig von ihrem wahren Sinn middot Diese Bilder wechseln mit jedem Zeitalter und mit jeder Rasse middot Abnutzung der Worte middot Beispiele fuumlr die auszligerordentliche Veraumlnderlichkeit der Bedeutung einiger sehr gebraumluchlicher Worte middot Es ist politisch nuumltzlich alte Dinge mit neuen Namen zu taufen wenn die Ausdruumlcke mit denen man sie fruumlher bezeichnete auf die Massen einen unguumlnstigen Eindruck machen middot Der Rasse gemaumlszlige verschiedenartige Bedeutung der Worte middot Verschiedenartiger Sinn des Wortes bdquoDemokratieldquo in Europa und Amerikasect 2 Die Taumluschungen Ihre Wichtigkeit middot Man findet sie in Anfaumlngen jeder Kultur middot Soziale Notwendigkeit der Taumluschungen middot Die Massen ziehen sie stets den Wahrheiten vorsect 3 Die Erfahrung Die Erfahrung allein kann notwendig gewordene Wahr- heiten in der Massenseele befestigen und gefaumlhrlich gewordene Taumluschungen zerstoumlren middot Die Erfahrung wirkt nur bei haumlufiger Wiederholung middot Was die Erfahrungen kosten die noumltig sind um die Massen zu uumlberzeugensect 4 Die Vernunft middot Nichtigkeit ihres Einflusses auf die Massen middot Man wirkt auf sie nur durch Beeinflussung ihrer unbewuszligten Gefuumlhle middot Die Rolle der Logik in der Geschichte middot Die verborgenen Ursachen der unwahrscheinlichen Ereignisse

3 Kapitel Die Fuumlhrer der Massen und ihre Uumlberzeugungs- mittel 83

sect Die Fuumlhrer der Massen middot Urspruumlngliches Beduumlrfnis aller Massen einem Fuumlhrer zu gehorchen middot Psychologie der Fuumlhrer middot Sie allein koumlnnen Vertrauen erwecken und die Massen organisieren middot Notwendige Gewaltherrschaft der Fuumlhrer middot Einteilung der Fuumlhrer middot Die Macht des Willenssect 2 Die Wirkungsmittel der Fuumlhrer middot Behauptung Wiederholung Uumlbertra- gung middot Die verschiedenen Aufgaben dieser Faktoren middot Wie die Uumlbertragung sich von den niederen zu den houmlheren Gesellschaftsschichten fortpflanzen

X

INHALTSVERZEICHNIS

kann middot Eine volkstuumlmliche Anschauung wird bald zur allgemeinen An- schauungsect 3 Nimbus middot Erklaumlrung und Einteilung des Nimbus middot Erworbener und persoumlnlicher Nimbus middot Beispiele middot Verlust des Nimbus

4 Kapitel Grenzen der Veraumlnderlichkeit der Grundanschau- ungen und Meinungen der Massen 0

sect Die unveraumlnderlichen Grundanschauungen Unveraumlnderlichkeit gewisser Gesamtuumlberzeugungen middot Sie sind die Fuumlhrer einer Kultur middot Schwierigkeit sie auszurotten middot Inwiefern Unduldsamkeit bei den Voumllkern eine Tugend ist middot Die philosophische Sinnwidrigkeit einer Gesamtuumlberzeugung schadet ihrer Aus- breitung nichtsect 2 Die veraumlnderlichen Meinungen der Massen Aumluszligerste Veraumlnderlichkeit der Anschauungen die nicht aus altgemeinen Glaubensuumlberzeugungen her- vorgehen middot Scheinbare Veraumlnderungen der Ideen und Uumlberzeugungen in weni- ger als einem Jahrhundert middot Tatsaumlchliche Grenzen dieser Wandlungen Die Elemente auf die sich die Veraumlnderung erstreckt Das Schwinden allgemeiner Glaubensuumlberzeugungen und die auszligerordentliche Verbreitung der Presse heutzutage machen die modernen Ansichten immer veraumlnderlicher middot Wie die Anschauungen der Massen uumlber die meisten Angelegenheiten zur Gleichguumll- tigkeit neigen middot Unfaumlhigkeit der Regierungen wie ehedem die Anschauungen zu lenken middot Die Zersplitterung der Anschauungen verbinden in der heutigen Zeit ihre Tyrannei

Drittes BuchEINTEILUNG UND BESCHREIBUNG DER VERSCHIE-

DENEN ARTEN VON MASSEN

Kapitel Einteilung der Massen 4

sect Ungleichartige Massen middot Ihre Unterscheidungsmerkmale middot Einfluszlig der Rasse middot Die Massenseele ist um so schwaumlcher als die Rassenseele staumlrker ist Die Rassenseele stellt die Stufe der Kultur die Massenseele die Stufe der Barbarei darsect 2 Gleichartige Massen middot Einteilung middot Sekten Kasten Klassen

2 Kapitel Die sogenannten verbrecherischen Massen 7

Die sogenannten verbrecherischen Massen middot Eine Masse kann nur juristisch nicht psychologisch verbrecherisch sein middot Voumlllige Unbewuszligtheit der Massen- handlungen middot Verschiedene Beispiele middot Psychologie der Septembermaumlnner middot Ihre Urteile ihre Empfindsamkeit Grausamkeit und Sittlichkeit

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XII INHALTSVERZEICHNIS

3 Kapitel Die Geschworenen bei den Schwurgerichten 22

Die Geschworenen der Schwurgerichte middot Allgemeine Eigenschaften der Ge- schworenen middot Die Statistik zeigt daszlig ihre Entscheidungen unabhaumlngig sind von ihrer Zusammensetzung middot Wie auf die Geschworenen Eindruck gemacht wird middot Geringe Wirkung der Logik middot Art der Verbrechen die von den Geschworenen milde und solcher die streng beurteilt werden middot Uumlberre- dungsweisen beruumlhmter Rechtsanwaumllte middot Nutzen der Geschworenen und die groszlige Gefahr daszlig sie durch Richter ersetzt werden

4 Kapitel Die Waumlhlermassen 28

Allgemeine Eigenschaften der Waumlhlermassen middot Wie man sie uumlberzeugt middot Wel- che Eigenschaften der Wahlkandidat haben muszlig middot Notwendigkeit des Nimbus middot Warum Arbeiter und Bauern so selten ihre Vertreter aus ihrer Mitte waumlhlen middot Macht der Worte und Redewendungen uumlber den Waumlhler middot Allgemeines Bild der Wahlversammlungen middot Wie sich die Anschauungen des Waumlhlers bilden middot Die Macht der Ausschuumlsse middot Sie bilden die schlimmste Form der Tyrannei middot Die Revolutionsausschuumlsse middot Trotz seines geringen psychologischen Wertes ist das allgemeine Stimmrecht unersetzlich middot Warum die Abstimmungen die glei- chen bleiben wuumlrden auch wenn man das Stimmrecht auf eine bestimmte Buumlrgerklasse beschraumlnkte middot Das allgemeine Stimmrecht in allen Laumlndern

5 Kapitel Die Parlamentsversammlungen 37

Die parlamentarischen Massen zeigen die meisten allgemeinen Eigenschaften der nicht namenlosen ungleichartigen Massen middot Einseitigkeit der Anschauun- gen middot Die Beeinfluszligbarkeit und ihre Grenzen middot Unverruumlckbar feste und fluumlch- tige Meinungen middot Warum Unentschiedenheit vorherrscht middot Die Rolle der Fuumlhrer middot Ursache ihres Einflusses middot Sie sind die wahren Leiter einer Versamm- lung deren Abstimmung also nur die einer kleinen Minderheit ist Unum- schraumlnkte Macht der Fuumlhrer middot Die Mittel ihrer Redekunst Worte und Bilder middot Psychologische Notwendigkeit daszlig die Fuumlhrer eine allgemeine Uumlberzeugung haben und beschraumlnkt sind middot Unmoumlglichkeit fuumlr den Fuumlhrer seine Beweis- gruumlnde ohne Nimbus durchzusetzen middot Uumlberschwang sowohl der guten als auch der schlechten Gefuumlhle in den Versammlungen middot Automatismus der sich unter gewissen Umstaumlnden herausbildet middot Die Sitzungen des Konvents middot Ein Fall daszlig eine Versammlung die Massenkennzeichen verliert middot Einfluszlig der Fachleute auf die technischen Fragen middot Vorteile und Gefahren der parlamenta- rischen Regierungsweise in allen Staaten middot Sie hat sich den Beduumlrfnissen der Gegenwart angepaszligt fuumlhrt aber zu wirtschaftlicher Verschwendung und all- maumlhlichen Freiheitsbeschraumlnkungen middot Geschichtsphilosophisches Ergebnis

Erlaumluterungen 54

EINFUumlHRUNG

von Peter R Hofstaumltter

Die Massenpsychologie die der vierundfuumlnfzigjaumlhrige Gustave Le Bon (842ndash93) im Jahr 895 veroumlffentlichte ist wie wenige andere ein Erfolgsbuch dessen Thesen bereits so sehr zum Gemeingut der gebildeten Welt geworden sind daszlig manche es gar nicht mehr fuumlr noumltig halten es auch zu nennen wenn sie ihre eigenen Urteile ganz unwillkuumlrlich in die Worte des franzoumlsischen Autors kleiden Bis- weilen geschieht auch das Umgekehrte daszlig naumlmlich Le Bon eigene Gedanken unterschoben werden Er ist eben zum Begriff geworden Daran hat sich seit dem Jahr 908 in dem die von dem Wiener Philosophen Rudolf Eisler stammende Uumlbersetzung in erster Auflage erschien auch in Deutschland kaum etwas geaumlndert Wer etwas auf sich hielt und darum gesonnen war von der anonymen Masse gebuumlhrenden Abstand zu halten glaubte bei Le Bon jede Art von Unterstuumltzung zu finden Gegebenenfalls konnte man natuumlrlich auch Horaz zitieren mit dessen bdquoodi profanum vulgus et arceoldquo (Oden III ) und damit bekunden daszlig man den uneingeweihten Poumlbel haszligt und sich fern haumlltVielfach hat dabei allerdings der fluumlssige Text zum leichten Daruumlber- Hinweg-Lesen verfuumlhrt Immerhin enthalten ja schon die Worte die hauptsaumlchlichen Aussagen des Buches Die bdquoMasseldquo kommt vom griechischen bdquoBrotteigldquo (maza) den man kneten (massein) muszlig die

bdquofoulesldquo des Originaltextes leiten sich vom lateinischen bdquofulloldquo dem bdquoWalkerldquo oder bdquoTuchmacherldquo her und die englische bdquocrowdldquo ist dem mittelhochdeutschen bdquokrotenldquo stammverwandt das so viel wie

bdquopressenldquo bedeutet In jedem Fall hat man es mit dem Gestaltlosen dem Amorphen zu tun das erst durch aumluszligere Einwirkung geformt wird Dazu haben sich professionelle Gestalter ndash Politiker Propa- gandisten und Demagogen ndash nur allzugern aufgerufen gefuumlhltSo gelesen ist Le Bons Lehre verfuumlhrerisch bzw sogar irrefuumlhrend und wohl auch etwas zu billig Man muszlig genauer zusehen um zu merken daszlig der Autor hier und in den ein Jahr zuvor erschienenen

bdquoLois psychologiques de lrsquoeacutevolution des peuplesldquo in verschluumlsselter Weise die Geschichte von dem Erdenkloszlig erzaumlhlt aus dem Gott den Von A Seiffhart 922 ins Deutsche uumlbertragen und bei S Hirzel Leipzig als bdquoPsycholo- gische Grundgesetze in der Voumllkerentwicklungldquo erschienen

Menschen machte und dem er nach dem Suumlndenfall verhieszlig bdquoDubist Erde und sollst zu Erde werdenldquo ( Mose 3 9) Seine Version lautete Ihr Voumllker seid aus dumpfen Massen hervorgegangen und es liegt an euch ndash eurem Suumlndenfall ndash wie bald ihr wieder in amorphe Massen zerfallen werdet bdquoDie Masse ist das Ende das radikale Nichtsldquo so hat das Oswald Spengler im bdquoUntergang des Abendlan- desldquo (922) ausgedruumlcktDie Sache ist aber womoumlglich noch ernster denn bdquodas radikale Nichtsldquo ist mitten im Leben der Voumllker enthalten und kann als

bdquopsychologische Masseldquo in jedem Moment zum Vorschein kommen Das erinnert an Freuds Todestrieb der in zahllosen Varianten der Aggression der Destruktion und der Selbstzerstoumlrung das Leben gefaumlhrdet Wie Freud darin ein Kennzeichen des bdquoDaumlmonischenldquo sah (920) ist auch fuumlr Le Bon die Masse ein daumlmonisches Wesen bdquoso etwas wie die Sphinx der antiken Sageldquo (S 7) 2

I Der Arzt und das Schicksal

Dr Gustave Le Bon lieszlig sich als Arzt von der Vorstellung leiten daszlig Kulturen wie Lebewesen sich im Aufsteigen entfalten ihren Formenreichtum zeigen dann aber bdquonach Vollendung ihrer schoumlpfe- rischen Wirkung hellip mit dem fortschreitenden Schwinden ihres Ide- als hellip mehr und mehr alles verlieren was ihren Zusammenhalt ihre Einheit und Staumlrke bildeteldquo Sie zerfallen was bleibt ist

bdquohellip nur noch eine Menge alleinstehender Einzelner hellip eine Masse hellip Der Poumlbel herrscht und die Barbaren dringen vor Noch kann die Kultur glaumlnzend scheinen weil sie das aumluszligere Ansehen bewahrt das von einer langen Vergangenheit geschaffen wurde tat- saumlchlich aber ist sie ein morscher Bau der keine Stuumltze mehr hat und beim ersten Sturm zusammenbrechen wirdldquo (S 53)Er betrachtete es als seine Aufgabe diese Entwicklung die er im Prinzip fuumlr unvermeidlich hielt so lange wie moumlglich hinauszuzouml- gern wie eben auch ein Arzt im vollen Wissen um die Sterblichkeit seiner Patienten bestrebt ist deren Leben und Wohlbefinden zu erhalten Wo es sich um Seuchen handelt will ein Hygieniker natuumlr- lich auch sich selbst davor schuumltzen von ihnen befallen zu werden

2 Bei Zitaten aus Le Bons bdquoPsychologie der Massenldquo ist nur die Seitenzahl angegeben bei solchen aus anderen Werken dieses Autors wird jeweils die Jahreszahl vorangesetzt

XIV EINFUumlHRUNG

fuumlr Le Bon bedurfte es dazu der Einsicht in die Funktionsweise derKrankheit bdquoDie Kenntnis der Psychologie der Massen ist heute das letzte Hilfsmittel fuumlr den Staatsmann der hellip nicht allzusehr von ihnen beherrscht werden willldquo (S 6)Als bdquoein Menschheitsziel von houmlchster Invarianzldquo bezeichnete auch der Dichter Hermann Broch (886ndash95) bdquodie gluumlcklichen Normali- taumltsperioden der Menschheit tunlichst zu verlaumlngernldquo obwohl seine im amerikanischen Exil entworfene bdquoMassenwahntheorieldquo ebenfalls ein mit dem Charakter der bdquoUnentrinnbarkeitldquo ausgezeichnetes

bdquoGesetz der psychischen Zyklenldquo enthieltIm Todesjahr Le Bons ndash 93 ndash nahm ein deutscher Arzt der Psychiater und Philosoph Karl Jaspers (883ndash969) das Thema in der Abhandlung uumlber bdquodie geistige Situation der Zeitldquo auf Als Band 000 der hochangesehenen bdquoSammlung Goumlschenldquo war das Buumlchlein so etwas wie eine Jubilaumlumsschrift die fuumlr das Denken der Weimarer Republik in hohem Maszlige als repraumlsentativ galt Seine These lautete

bdquoEs beginnt heute der letzte Feldzug gegen den Adel Statt auf politischem und soziologischem Felde wird er in den Seelen selbst gefuumlhrtldquo indem sich bdquodie Instinkte des Massemenschen hellip wie schon oumlfters gefaumlhrlicher als je mit religioumlskirchlichen und politisch absolutistischen Instinkten (vereinigen) um die universale Nivellie- rung in der Massenordnung mit einer Weihe zu versehenldquo (S 74) Der Adel den er meinte war nicht eine irgendwie privilegierte Schicht sondern so etwas bdquowie die unsichtbare Kirche eines corpus mysticum hellip der selbstseienden Geisterldquo (S 76) die als Minoritaumlt Geschichte machen Somit sei jetzt bdquodas Problem des menschlichen Adels hellip die Rettung der Wirksamkeit der Besten welche die Wenigsten sindldquo (S 73)Jaspers beruft sich ausdruumlcklich auf Le Bon der bdquodie Eigenschaften der Masse hellip als Impulsivitaumlt Suggestibilitaumlt Intoleranz Wandel- barkeit usw trefflich analysiert hatldquo (S 35) Als typische Zuumlge wer- den weiterhin aufgezaumlhlt bdquoEntscheidung durch Majoritaumlten Haszlig gegen jeden hervorragenden Einzelnen Forderung der Gleichheit ruumlcksichtslose Isolierung oder Ausschlieszligung jeder Besonderheit welche nicht repraumlsentativ fuumlr alle ist Verfolgung des Uumlberragen- denldquo (S 73) Allerdings sind bdquoMassemenschen hellip anzuerkennen sofern sie dienen leisten aufblickend den Impuls eines moumlglichen Aufschwungs kennen das heiszligt sofern sie selbst das sind was die Wenigen entschieden sindldquo (S 78)Nach dem zweiten Weltkrieg beurteilte Jaspers die Situation nicht wesentlich anders bdquoDie Verwandlung von Volk in Publikum und

EINFUumlHRUNG XV

Masse ist heute unaufhaltsamldquo heiszligt es 949 in bdquoVom Ursprung undZiel der Geschichteldquo (S 26) denn bdquoMassen entstehen wo Men- schen ohne eigentliche Welt ohne Herkunft und Boden verfuumlgbar und auswechselbar werdenldquo (S 25) Der Philosoph prangerte dabei

bdquodie Minderwertigkeit der Vielen des Durchschnittsldquo an bdquoderen Dasein durch den Massendruck alles bestimmtldquo In diesem Sinne so meinte er ist Masse bdquodie Erscheinung einer geschichtlichen Lage unter bestimmten Bedingungen (und) keineswegs endguumlltig minder- wertigldquo es sei naumlmlich auch moumlglich bdquodaszlig in den Massen selber die vernuumlnftig ringende Arbeit wirklichen Geistes sich entwickleldquo (S 27) Auch hier gewinnt schlieszliglich der Arzt die OberhandNoch einmal zuruumlck zum Jahr 93 in dem Le Bon starb Damals forderte eine Kommission des Voumllkerbundes repraumlsentative Vertreter des internationalen Geisteslebens zu einem brieflichen Meinungsaus- tausch auf bei dem Albert Einstein im Hinblick auf die Moumlglichkeit der Kriegsverhuumltung Freud die Frage stellte bdquoWie ist es moumlglich daszlig sich die Masse hellip bis zur Raserei und Selbstopferung entflam- men laumlszligtldquo Man denkt unwillkuumlrlich an Le Bons These bdquowenn die Massen geschickt beeinflusst werden koumlnnen sie heldenhaft und opferwillig seinldquo (S 3) Freud der sich schon 92 (in bdquoMassen- psychologie und Ich-Analyseldquo) sehr intensiv mit dem franzoumlsischen Autor beschaumlftigt hatte blieb auch seinerseits im Rahmen von dessen Vorstellungen bdquoEs ist ein Stuumlck hellip der angeborenen und nicht zu beseitigenden Ungleichheit der Menschen daszlig sie in Fuumlhrer und in Abhaumlngige zerfallen Die letzteren sind die uumlbergroszlige Mehrheit sie beduumlrfen einer Autoritaumlt welche fuumlr sie Entscheidungen faumlllt denen sie sich meist bedingungslos unterwerfen Hier waumlre anzuknuumlpfen man muumlszligte mehr Sorge als bisher aufwenden um eine Oberschicht selbstaumlndig denkender der Einschuumlchterung unzugaumlnglicher nach Wahrheit ringender Menschen zu erziehen denen die Lenkung der unselbstaumlndigen Massen zufallen wuumlrdeldquo (Ges W XVI S 24) Das war ndash abermals aus aumlrztlicher Sicht ndash ein Vorschlag zur Gesell- schafts-Hygiene der als herrschende Elite bdquoeine Gemeinschaft von Menschenldquo postulierte bdquodie ihr Triebleben der Diktatur der Ver- nunft unterworfen habenldquo Ihnen entsprechen im Konzept von Jas- pers bdquodie selbstseienden Menschenldquo jene bdquoBesten hellip die sie selbst sind im Unterschied von denen die in sich nur eine Leere fuumlhlen keine Sache als ihre kennen sich selber fliehenldquo (93 S 74) Man kennt sie auch aus zahlreichen Publikationen Le Bons z B aus der thesenartigen Zusammenfassung seiner Leitgedanken in den bdquoApho- rismes du temps preacutesentldquo (93) die von der Gesellschaft eine hoch-

XVI EINFUumlHRUNG

qualifizierte Fuumlhrung fuumlr die Massen verlangen damit deren dynami-sche Energie in die fuumlr das allgemeine Wohlergehen erforderliche Aktivitaumlt geleitet werde

II Werke und Tage

Als Arzt so berichtet Le Bon (S 80) habe er im Jahr 870 bei der Belagerung von Paris erstmalig die unheimliche Beeinfluszligbarkeit von Massen beobachtet Der erst 29-jaumlhrige war damals Chefarzt einer Lazarettabteilung fuumlr seine Verdienste wurde er nach dem Krieg zum Offizier der Ehrenlegion ernanntAls Autor hatte er sich bis dahin erst durch eine Arbeit uumlber den Scheintod und uumlber vorzeitige Bestattungen (866) bekannt gemacht Das Thema war fuumlr ihn nicht uncharakteristisch denn in einem gewissen Sinn sind auch die ohne eigenen Willen agierenden Mitglie- der einer Masse bdquoScheintoteldquo Sie erinnern an gehorsame Medien die auf den Befehl eines Hypnotiseurs hin sich regen oder erstarren ohne spaumlter zu wissen warum und wieso Untaten die sie in diesem Zustand begangen haben koumlnnten waumlren bdquovielleicht gesetzlich aber nicht psychologisch als Verbrechenldquo zu bezeichnen (S 8 f) Die Pariser Kommune von 870 7 die Le Bon im Zusammenhang mit revolutionaumlren Greueltaten erwaumlhnt (S 2) forderte Uumlberlegungen dieser Art zweifellos heraus Sie sind uns nach 945 nicht erspart gebliebenAuf das gleiche Problem waren auch schon die Kriminologen Gabriel Tarde (843ndash904) und Scipio Sighele (868ndash93) gesto- szligen in deren Schriften manche Formulierungen aus der bdquoPsycholo- gie des foulesldquo von 895 vorweggenommen sind so z B bei Tarde in bdquoLes lois de lrsquoimitationldquo (890) die Darstellung der Gesellschaft als eine stufenweise herabfallende bdquoKaskade sukzessiver Magnetisatio- nenldquo d h hypnotischer Beeinf lussungen die sie im ganzen zu einem Fall von Somnambulismus (Schlafwandeln) macht bdquoSehr oft war der Fuumlhrer zuerst ein Gefuumlhrter der selbst von der Idee hynoti- siert war deren Apostel er spaumlter wurdeldquo heiszligt es bei Le Bon (S 83) fuumlr den das bdquoil a lui-mecircme eacuteteacute hypnotiseacuteldquo ganz gewiszlig keine bloszlige Phrase war bdquoSorgfaumlltige Beobachtungen scheinen (naumlmlich) zu beweisen daszlig ein einzelner der lange Zeit im Schoszlige einer wirken- den Masse eingebettet war sich hellip in einem besonderen Zustand befindet der sich sehr der Verzauberung naumlhert die den Hypnoti- sierten unter dem Einfluszlig des Hypnotiseurs uumlberkommtldquo (S 6)

EINFUumlHRUNG XVII

Die hypnotischen Phaumlnomene und deren therapeutische Verwertbar-keit faszinierten gerade um diese Zeit durch die Arbeiten von J M Charcot (835ndash893) in Paris und H Bernheim (840ndash99) in Nancy eine breite Oumlffentlichkeit Zwischen 88 und 89 schrieb in Wien der Arzt Arthur Schnitzler seinen bdquoAnatolldquo der mit einer Hypnose-Szene beginnt waumlhrend sich Sigmund Freud ndash ausgeruumlstet mit einem Stipedium seiner Fakultaumlt ndash auf mehreren Reisen in Paris und in Nancy mit den neuen Methoden vertraut machte Viele Jahre spaumlter (92) hat er in bdquoMassenpsychologie und Ich-Analyseldquo den Vergleich umgekehrt bdquoDie Hypnose hat ein gutes Anrecht auf die Bezeichnung eine Masse zu zweitldquo (Ges W XIII S 42)Le Bon selbst scheint die aumlrztliche Praxis weniger gelockt zu haben als einerseits die hygienische Betreuung der Bevoumllkerung insgesamt und andererseits die Forschung die sich ndash dem Geist der Zeit folgend ndash zunaumlchst im Rahmen der phrenologischen Tradition ent- faltete Die von Franz Joseph Gall (758ndash828) aufgestellte Hypo- these daszlig der knoumlcherne Schaumldel Ruumlckschluumlsse auf die staumlrkere und schwaumlchere Ausbildung der darunterliegenden Gehirnpartien und damit auf die Begabungen und Charakterzuumlge eines Menschen zulasse war allerdings im letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts nicht mehr aufrechtzuerhalten Jedoch bemuumlhte man sich mit gro- szligem Eifer um den Nachweis eines Zusammenhanges zwischen Schauml- delvolumen bzw Gehirngroumlszlige und Intelligenz Die Wege die dabei eingeschlagen wurden und die Irrwege auf die viele gerieten schil- dert neuerdings S J Gould (98) sehr anschaulich Den bdquoGroszlig- kopfertenldquo waumlre eine solche ganz objektive Bestaumltigung ihrer Uumlberle- genheit nicht unlieb gewesen Paul Broca (824ndash880) der 86 das motorische Sprachzentrum im Gehirn entdeckt hatte eroumlffnete 867 in Paris ein anthropologisches Laboratorium in dem sich Le Bon laumlngere Zeit mit Schaumldelmessungen beschaumlftigteSeine 879 publizierten bdquoRecherches anatomiques et matheacutematiques sur les variations de volume du cerveau et sur leurs relations avec lrsquointelligenceldquo wurde mit einem Preis der Akademie der Wissenschaf- ten ausgezeichnet Das Hauptergebnis ist von wesentlicher Bedeu- tung fuumlr Le Bonrsquos Theorie der Kultur- und Voumllkerentwicklung bdquoDer Durchschnittsunterschied des Schaumldels bei zwei Voumllkern ist niemals sehr bedeutend hellip Vergleicht man (aber) die Schaumldel der verschie- denen Menschenrassen aus vergangener und gegenwaumlrtiger Zeit so erkennt man die Rassen deren Schaumldelvolumen die groumlszligten indivi- duellen Abweichungen aufweist als die in der Kultur am houmlchsten

XVIII EINFUumlHRUNG

stehenden und bemerkt daszlig in dem Maszlige wie eine Rasse in derKultur fortschreitet die Schaumldel der Individuen aus denen sie besteht sich immer mehr differenzierenldquo (894 S 33)Was die Gruppen voneinander unterscheidet sind somit nicht ndash wie noch Broca zeigen wollte ndash die Durchschnittswerte der Verteilungen sondern deren Streuungsweiten um den gemeinsamen Mittelwert Aus Gruumlnden die mehr mit dem Lebensstandard als mit der Kultur der Voumllker zu tun haben duumlrften ist das nicht unplausibel aber diese Frage braucht hier nicht entschieden zu werden Von grundlegender Bedeutung war jedoch fuumlr Le Bonrsquos Denken der Schluszlig den er aus seinem Ergebnis zog bdquodaszlig (naumlmlich) die Kultur uns nicht zur intel- lektuellen Gleichheit sondern zu einer immer groumlszliger werdenden Ungleichheit fuumlhrtldquo (894 S 33) Das ist der Ansatzpunkt seines Buches uumlber die bdquopsychologischen Grundgesetze der Voumllkerentwick- lungldquoDen in ihrer Eigenart zu maximaler Besonderheit ausgepraumlgten Ein- zelindividuen entsprechen bei Jaspers die bdquoselbstseienden Men- schenldquo deren bdquoNaumlhe das Beste (ist) was heute geschenkt werden kannldquo (S 75)Auch wenn dies Le Bon und Jaspers gleichermaszligen zuruumlckgewiesen haumltten stellt sich angesichts des unverkennbaren Narziszligmus der groszligen Einzelnen ndash bzw ihrer Verkuumlnder ndash die Erinnerung an die kulturelle Pose jener bdquohochmuumltigen Kasteldquo ein die Baudelaire 863 beschrieben hat deren bdquobrennendes Beduumlrfnisldquo darin bestand bdquosich innerhalb der Grenzen des Geziemenden eine Originalitaumlt zu schaf- fen eine Art Kult mit sich selberldquo Die Rede ist vom bdquoDandysmusldquo und dessen bdquoculte de soi-mecircmeldquo jenem bdquoletzten Aufleuchten des Heroismus in Zeiten des Verfallsldquo der bdquohauptsaumlchlich in Uumlbergangs- epochen (erscheint) wenn die Demokratie noch nicht allmaumlchtig ist und die Aristokratie noch nicht gaumlnzlich abgewirtschaftet hatldquoGewiszlig der Dandy ist in unseren Augen ein laumlcherliches Zerrbild des

bdquoHeroismusldquo aber die zeitliche Einordnung dieses bdquoAuf leuchtensldquo stimmt genau bdquoDie furchtbare Dekadenz der lateinischen Rasseldquo beklagte Le Bon in seiner Voumllkerpsychologie von 894 ebenso wie das die Schriftsteller J K Huysmans (bdquoGegen den Strichldquo 884) Paul Bourget (bdquoDer Schuumllerldquo 889) und Maurice Barreacutes (bdquoDie Ent- wurzeltenldquo 898) tatenJ Peacuteladan dessen Roman bdquoFinis Latinorumldquo (898) als 3 Band der 2-baumlndigen Reihe bdquoLa deacutecadence latineldquo (884ndash925) erschien hatte dem Unheil sogar durch die Gruumlndung eines mystischen

EINFUumlHRUNG XIX

Rosenkreuzer-Bundes (888) zu wehren versucht Aumlhnliche Gedan-ken bewegten in Deutschland Stefan George der sich 889 in Paris fuumlr Baudelaires Dandy-Ideal begeistert hatte In den bdquoBlaumlttern fuumlr die Kunstldquo veroumlffentlichte er 902 ein Weihespiel das den Titel traumlgt

bdquoDie Aufnahme in den Ordenldquo Darin verkuumlndet der Groszligmeister dem Juumlngling bdquoDen Voumllkern ungeahnt ist hier in hut hellip Die vor der Allerstarrung wahrt die glut ndash hellip Kein wachtet der vor ihr sein blut erwaumlgeldquoMan schwaumlrmte fuumlr die Gralsritter und fuumlr Wagners bdquoParsivalldquo Nicht einmal Freud widerstand als ihm Ernest Jones die Idee eines geheimen Leitungsgremiums der Psychoanalyse einfluumlsterte jedoch bestand er in seinem Brief vom 26 Dezember 92 ausdruumlcklich darauf bdquodaszlig die Existenz des Bundes und seine Aktionen ein absolu- tes Geheimnis zu bleiben haumlttenldquo So ganz im Verborgenen wirken wollte man aber doch auch wieder nicht und so trug denn jeder der sieben Herren einen goldenen mit einer antiken Gemme gezierten Ring am FingerDie Gefahr wie sie in Paris die Retter sahen schilderte am 0 April 886 die Zeitung bdquoLe Deacutecadentldquo nach Mario Praz wie folgt bdquoEs waumlre der Gipfel des Wahnsinns sich den Stand der Dekadenz den wir erreicht haben nicht klarzumachen Religion Sitten Gerechtig- keit ndash alles verfaumlllt hellip Die Gesellschaft loumlst sich unter der Wirkung einer zersetzenden Zivilisation auf Der moderne Mensch ist uumlbersaumlt- tigt Verfeinerung der Begierden der Empfindungen des Geschmacks des Luxus der Vergnuumlgungen Neurose Hysterie Hypnotismus Morphiumsucht wissenschaftliche Scharlatanerie uumlberspannte Verehrung von Schopenhauers Philosophie sind die Vorboten des sozialen VerfallsldquoAus Wien lieszlig sich 893 mit einem Aufsatz uumlber Gabriele DrsquoAnnun- zio der 29-jaumlhrige Hugo von Hofmannsthal in der gleichen Tonart vernehmen bdquoHeute scheinen zwei Dinge modern zu sein Die Ana- lyse des Lebens und die Flucht aus dem Leben hellip Modern sind alte Moumlbel und junge Nervositaumlten hellip Wir haben nichts als ein senti- mentales Gedaumlchtnis einen gelaumlhmten Willen und die unheimliche Gabe der Selbstverdoppelung Wir schauen unserem Leben zu hellip Wir hellip Ich rede von ein paar tausend Menschen in den groszligen europaumlischen Staumldten verstreut hellip Sie fuumlhlen sich mit schmerzlicher Deutlichkeit als Menschen von heute sie verstehen sich miteinander und das Privilegium dieser geistigen Freimaurerei ist fast das einzige was sie im guten Sinn vor den uumlbrigen voraushaben hellipldquo (Werke

XX EINFUumlHRUNG

VIII S 75 f) Abermals ein Orden der Wenigen im Kontrast zubdquoden uumlbrigenldquoMan sprach in Paris und in Wien vom bdquoFin de siegravecleldquo als ginge es um den bdquoUntergang des Abendlandesldquo jedoch litt man in Frankreich das tonangebend war im wesentlichen unter den Spannungen die der Schweizer Publizist P Seippel 905 auf die Formel bdquoles deux Francesldquo gebracht hatte Die Geister schieden sich am Phaumlnomen der Franzoumlsischen Revolution von 789 in der die einen den hoffnungs- vollen Aufbruch in eine neue Zeit erblickten die anderen aber den Anfang vom Ende In der Tat bedurfte es der schweren Staatskrise von 877 bis der 4 Juli im Gedenken an den Bastille-Sturm zum Staatsfeiertag werden konnteLe Bon stand auf Seiten der Traditionalisten jedoch distanzierte er sich von den bdquoLieblingsschriftstellern der jetzigen Bourgeoisieldquo (S 3)

ndash gemeint waren damit offenbar Huysmans (848ndash907) Barreacutes (862ndash923) und Charles Peacuteguy (873ndash94) ndash jenen bdquoNeubekehr- tenldquo mit ihrem bdquoverzweifeltem Appell an die sittlichen Kraumlfte der Kircheldquo er setzte als Arzt auf die heilende Wirkung der Wissen- schaftWie jene erblickte er aber im Sozialismus den er immer wieder ndash vor allem in der bdquoPsychologie du socialismeldquo (898) ndash angriff die Negation von Kultur bdquoDer Sozialismusldquo heiszligt es in der Voumllkerpsy- chologie bdquoscheint zur Zeit die schwerste Gefahr zu sein von der die europaumlischen Voumllker bedroht werden (er) stellt den neuen Glauben der ungeheuren Menge der Enterbten darldquo (894 S 36) Nicht viel anders klang es in Baudelaires Dandy-Aufsatz von 863 bdquoAber leider erstickt der steigende Schlamm der Demokratie der sich uumlber alles legt und alles gleichmacht Tag um Tag diese letzten Vertreter des menschlichen Stolzesldquo ndash die DandiesObwohl er von den Modenarren die sich selbst bisweilen bdquoles incroyablesldquo ndash die Unglaublichen ndash nannten kaum sehr viel gehal- ten haben duumlrfte war Le Bon im Prinzip der gleichen Ansicht wie sie bdquoSobald der Sozialismus ein Land unterjocht hat besteht seine einzige Aussicht sich einige Zeit zu erhalten darin daszlig er alle die Individuen bis auf das Letzte verschwinden laumlszligt die eine so groszlige Uumlberlegenheit besitzen um sich ndash wenn auch nur in geringem Maszlige

ndash uumlber den niedrigsten Durchschnitt zu erhebenldquo (894 S 30) Voumlllig grundlos waren solche Aumlngste nicht sie konnten sich einerseits auf die Erfahrungen mit der Pariser Kommune von 87 berufen und andererseits auf das anarchistische Programm Bakunins

EINFUumlHRUNG XXI

wie es z B in den bdquoDaumlmonenldquo Dostojewski (87 72) schildern laumlszligtbdquoDas Hauptprinzip ist die Gleichheit Ais erstes wird das gesamte Bildungsniveau gesenkt hellip Wir brauchen keine Hochbegabten hellip wir werden jedes Genie im Keim ersticken Alles wird auf einen Nenner gebracht volle Gleichheit hergestelltldquoFuumlr Le Bon kann Gleichheit jedenfalls bdquonur im Untergeordneten bestehen sie ist der dunkle druumlckende Traum vulgaumlrer Mittelmaumlszligig- keit hellip Sollte Gleichheit in der Welt herrschen so muumlszligte man allmaumlhlich alles was den Wert einer Rasse ausweist auf das Niveau des am tiefsten stehenden was diese Rasse besitzt herabdruumlckenldquo (894 S 23) Genau das aber sind bdquodie Forderungen der Massenldquo die heute bdquonach und nach immer deutlicher (werden sie) laufen auf nichts Geringeres hinaus als auf den gaumlnzlichen Umsturz der gegen- waumlrtigen Gesellschaft um sie jenem primitiven Kommunismus zuzufuumlhren der vor dem Beginn der Kultur der normale Zustand aller menschlichen Gesellschaft warldquo (S 3)Es ist das Hauptresultat seiner Schaumldelmessungen von dem er sich unbeirrt leiten laumlszligt Je differenzierter umso houmlher Gleichheit ist unten bei den Massen bdquoAllein durch die Tatsache Glied einer Masse zu sein steigt der Mensch also mehrere Stufen von der Leiter der Kultur hinabldquo (S 7) Dort wo die Individualitaumlt verschwindet gilt das bdquoGesetz der seelischen Einheit (de lrsquouniteacute mentale) der Massenldquo Oswald Spengler umschrieb es ohne Le Bon auch nur zu nennen im bdquoUntergang des Abendlandesldquo (922) bdquoEine zufaumlllige Menge wird auf der Straszlige zusammengeballt sie hat ein Bewuszligtsein ein Fuumlhlen eine Sprache bis die kurzlebige Seele erlischt und jeder seines Weges gehtldquo (II S 22)Daszlig ein Mensch aus einem vergleichsweise so geringem Anlaszlig sogleich bdquomehrere Stufen von der Leiter der Kulturldquo hinabsteigt ist schwer vorzustellen ndash es sei denn man spraumlche mit Freud von der

bdquoRegression der seelischen Taumltigkeit auf eine fruumlhere Stufe wie wir sie bei Wilden oder bei Kindern zu finden nicht erstaunt sindldquo (92 S 29) Genau das geschieht auch in der Hypnose durch die bdquoder Hypnotiseur beim Subjekt ein Stuumlck von dessen archaischer Erb- schaftldquo weckt bdquoDer unheimliche zwanghafte Charakter der Mas- senbildung der sich in ihren Suggestionserscheinungen zeigt kann also wohl mit Recht auf ihre Abkunft von der Urhorde zuruumlckge- fuumlhrt werdenldquo meinte Freud (92 S 42)Urhorden hat Le Bon so wenig jemals gesehen wie Freud aber er kannte aus eigener Anschauung die Restbestaumlnde sozusagen die Kadaver groszliger Kulturen Nationen oder Rassen Zwischen den drei

XXII EINFUumlHRUNG

Begriffen pflegte er uumlbrigens nicht besonders genau zu unterschei-den in einer romanischen Sprache denkend erschienen ihm ganz unwillkuumlrlich die Rassen als die bdquoWurzelnldquo aus denen sich ndash von einer Nation gepf legt ndash die Kultur wie ein Gewaumlchs entfaltet In die Rolle des Leichenbeschauers geriet der Arzt durch seine voumllkerkundlichen Studien bdquoDer Mensch und die Gesellschaften ihr Ursprung und ihre Geschichteldquo (88) und bdquoDie Kultur der Araberldquo (884) die ihm notwendig erschienen nachdem die Schaumldelmessun- gen zu der Korrelation zwischen kulturellem Niveau und Differen- ziertheit gefuumlhrt hatten Auf Grund dieser Arbeiten erhielt er 884 von der Franzoumlsischen Akademie den Auftrag in Indien die buddhi- stischen Baudenkmaumller zu inventarisieren Hier sah er nun zwischen den Zeugen einer unstreitig groszligen Vergangenheit das Elend der kolonialen Gegenwart Mengen von Menschen denen ihre Geschichte nichts mehr bedeutet und die der Fremde der mit ihnen nicht einmal reden konnte als Individuen kaum voneinander zu unterscheiden vermochte Sie sehen fuumlr ihn alle gleich aus Das ist die Masse schlechthin der Endzustand des Zerfalls bdquoDann geschieht es daszlig die Menschen hellip sich nicht mehr regieren koumlnnen und danach verlangen in den unbedeutensten Handlungen gefuumlhrt zu werden hellip Mit dem endguumlltigen Verlust des fruumlheren Ideals verliert die Rasse zuletzt auch ihre Seeie sie ist dann nur noch eine Menge alleinstehender Einzelnerldquo (S 53)Zunaumlchst fanden diese Beobachtungen ihren Niederschlag in mehre- ren Buumlchern bdquoDie Kulturen Indiensldquo (887) bdquoDie fruumlhen Kulturen des Orients (889) und bdquoDie Kunstdenkmaumller Indiensldquo (89) Ihnen folgten dann aber in schnellem Tempo die Schriften in denen Le Bon mit dem Einsatz allrsquo seiner Uumlberredungskunst den europauml- ischen Nationen und in erster Linie Frankreich das indische Schick- sal ersparen wollte das sich mit der im Fin de siegravecle mancherorts liebend gepflegten Dekadenz bereits anzudeuten schien bdquoDie psy- chologischen Grundgesetze der Voumllkerentwicklungldquo (894) bdquoDie Psychologie der Massenldquo (895) bdquoDie Psychologie des Sozialismusldquo (898) bdquoDie Psychologie der Erziehungldquo (902) bdquoDie politische Psycholgieldquo (902) sowie bdquoDie franzoumlsische Revolution und die Psy- chologie der Revolutionenldquo (903)Nach naturphilosophischen Abhandlungen (bdquoDie Evolution der Materieldquo 905 und bdquoDie Evolution der Kraumlfteldquo 907) wandte sich

bdquoDie Welt des alten Indienldquo uumlbers von H Leonhardt Verlag Herbig Muumlnchen 974

EINFUumlHRUNG XXIII

Le Bon der inzwischen die Leitung der Bibliothegraveque de Philosophiescientifique uumlbernommen hatte waumlhrend des Weltkrieges und nach diesem noch einmal der Politik zu bdquoDie psychologischen Lehren des europaumlischen Kriegesldquo (96) bdquoDie Psychologie der neuen Zeitldquo (920) bdquoDie Welt aus dem Gleichgewichtldquo (923) und bdquoDie gegen- waumlrtige Entwicklung der Weltldquo (927)Die Hektik seines Publizierens hat etwas Unheimliches an sich den Schluumlssel zum Verstaumlndnis enthaumllt eine Bemerkung in der bdquoPsycholo- gie des foulesldquo bdquoDie Massen sind so etwas wie die Sphinx der antiken Sage man muszlig die Fragen die ihre Psychologie uns stellt loumlsen oder darauf gefaszligt sein von ihnen verschlungen zu werdenldquo (S 7)Die Symbolisten haben mit dem Maler Gustave Moreau (826ndash894) an der Spitze bdquodie sinnbildliche Gottheit unzerstoumlrbarer Wollust die Goumlttin der unsterblichen Hysterieldquo (Huysmans 884)

bdquodas unbewuszligte Geschoumlpf ldquo (Moreau) ndash die Sphinx oder auch Salome ndash immer wieder als die groszlige faszinierende Gefahr darge- stellt an der in der dekadenten Hingabe der maumlnnliche Kulturwille scheitern muszlig In Peacuteladans Romanen verfaumlllt von den zur Rettung der Kultur erkorenen Helden einer nach dem anderen diesem Schicksal und in den nachgelassenen Notizen aus Baudelaires letz- tem Lebensjahr (867) wird ganz unumwunden festgestellt bdquoDie Frau ist das Gegenteil des Dandy also muszlig sie Grauen erregenldquo In den romanischen Sprachen ist auch der Tod ndash la mort ndash ein Femi- ninum vielleicht die Ruumlckkehr in den Mutterschoszlig der Erde Le Bon kannte das Grauen aus Indien wo er ndash wie es scheint ndash das Thema seiner Erstlingsschrift den Scheintod uumlberhaupt nicht mehr in Erwaumlgung gezogen hatte Jetzt ndash Freud auch darin verwandt ndash sah er sich zur Uumlbernahme der Oumldipus-Rolle verpflichtet

III Gruppen ndash nicht Massen

Von den Vielen den bdquoPolloildquo deren bloszlige Anzahl fuumlr Stefan George bereits bdquoFrevelldquo ist sprach Platon meist im Ton gnadenloser Gering- schaumltzung Daszlig bdquodie Meisten schlecht sindldquo das Maszlig aber das Beste weiszlig man aus den Merkspruumlchen welche die Sieben Weisen dem abendlaumlndischen Denken mit auf den Weg gegeben haben Diese Thesen stammen wann und wo immer sie auftreten aus dem Kampf um die Demokratie bzw gegen ein allgemeines Wahlrecht Beson-

XXIV EINFUumlHRUNG

ders gern wird mit ihnen auf das Scherbengericht (Ostrakismos)hingewiesen durch das Kleisthenes in Athen seine Reformen (509 507 v Chr) gegen das Wiedererstarken der Adelspartei absichern wollte Es bedurfte dabei bloszlig eines Quorums von 6 000 Buumlrgern um eine missliebige Persoumlnlichkeit binnen zehn Tagen zum Verlassen des Landes zu zwingen ohne daszlig es erforderlich gewesen waumlre ihr irgendwelche Vergehen nachzuweisenDas System bleibt unheimlich auch wenn bdquosoviel man weiszlig hellip der Ostrakismos in Athen erfolgreich nur etwa zehnmal zur Anwendung (kam) ehe man ihn aufgabldquo (Tarkiainen 972) Hier ist deutlich die

bdquoNivellierungldquo am Werk vor der Le Bon warnte Umso erstaunli- cher ist daszlig Aristoteles in seiner bdquoPolitikldquo (284 b) einen sehr milden Vergleich waumlhlte bdquoAuch der Chormeister wird doch den nicht im Chor mitsingen lassen dessen Stimme an Kraft und Schoumln- heit die des ganzen Chores uumlbertrifftldquo Er zog daraus den Schluszlig

bdquodie Idee des Scherbengerichts (habe) bei anerkannten Uumlberlegenhei- ten ein gewisses Recht vom Standpunkt des Staates aus Besser (sei) es freilich wenn der Gesetzgeber von vornherein die ganze Verfas- sung so einrichtet daszlig es eines solchen Heilmittels nicht bedarfldquo Die Nivellierung als bdquoHeilmittelldquo ndash bdquoiatreialdquo heiszligt es im Griechi- schen ndash auch Aristoteles war Arzt (iatros)Man kann sich wenn man Le Bonrsquos Ansichten teilt zwar auf viele Vorlaumlufer berufen ndash insbesondere auf Platon ndash nicht aber auf Aristoteles der nicht nur in der bdquoPolitikldquo sondern auch in der bdquoMetaphysikldquo fuumlr Mitbestimmungsverfahren plaumldierte bdquoObwohl kein einzelner (die Wahrheit) angemessen zu erreichen vermag koumln- nen wir doch nicht alle dabei versagen jeder stellt eine Behauptung auf uumlber die Natur und als einzelner traumlgt er nichts oder nur wenig zur Erkenntnis bei aber aus der Vereinigung aller resultiert etwas Groszliges an Wissenldquo (993 b) bdquoDaher beurteilen ja auch die Vielen die Werke von Musikern und Dichtern am besten naumlmlich der eine diese der andere jene Seite an denselben aile zusammen aber das Ganzeldquo (28 b)Die Diskussion entbrennt immer wieder Niccolograve Macchiavelli (467ndash527) der in Florenz nach dem Sturz der Medici (494) als Republikaner ziemlich bald (489) zu hohen Staatsaumlmtern aufgestie- gen ist die er 52 nach der Ruumlckkehr der Medici auch prompt wieder verliert kennt zwar auch den Spruch bdquoWer dem Volk ver- traut hat auf Sand gebautldquo (Chi fonda in sul populo fonda in sul fango) aber er haumllt ihn fuumlr ein bdquoabgedroschenes Sprichwortldquo (pro-

EINFUumlHRUNG XXV

verbio trito) das nur unter bestimmten Voraussetzungen gilt (IlPrincipe 53 cap IX) Grundsaumltzlich aber meint er bdquodaszlig ein Volk kluumlger und bestaumlndiger und von richtigerem Urteil ist als ein Fuumlrst Nicht ohne Grund sagt man daher Volkes Stimme Gottes Stimme Die oumlffentliche Meinung prophezeit so wunderbar richtig als saumlhe sie vermoumlge einer verborgenen Kraft ihr Wohl und Wehe vorausldquo (Discorsi 53ndash59 I cap 58) Ein wenig wie pro domo gespro- chen klingt der Zusatz bdquoMan sieht auch daszlig das Volk bei der Besetzung der Aumlmter eine viel bessere Wahl trifft als ein Fuumlrstldquo ndash aber im Grunde war das ja auch die aristotelische Lehrmeinung Die nicht weniger plausible Gegenthese findet sich bei Descartes im

bdquoDiscours de la Meacutethodeldquo (II 4) bdquoStimmenmehrheit ist kein Beweis angesichts von schwer zu entdeckenden Wahrheiten denn es ist weit wahrscheinlicher (plus vraisemblable) daszlig ein Mensch allein sie fin- det als ein ganzes Volkldquo Obwohl sich diese Uumlberlegung durch eine einfache Rechnung bestaumltigen laumlszligt fuumlhrt sie auf einen Irrweg Geht man naumlmlich davon aus daszlig jedes Einzelindividuum eine von seiner Begabung Bildung und Motivation abhaumlngige Wahrscheinlichkeit p

fuumlr die Loumlsung eines bestimmten Problems besitzt dann liegt deren Wert zwischen Null und Eins 000 le pi le 00 Die Findewahr- scheinlichkeit einer groszligen Anzahl von n Personen (pn) entspraumlche aber dem Produkt aller Einzelwerte das zweifellos sehr viel kleiner als der einzelne pi-Wert ist pn = pi ∙ pi2 hellip pin lt pi

Zur Veranschaulichung diene eine Untersuchung von P R Laughlin und seinen Mitarbeitern (975) in der amerikanischen College-Stu- denten zuerst einzeln die 5 Aufgaben eines recht schwierigen Tests der verbalen Intelligenz bearbeiteten Die durchschnittliche Loumlsungs- wahrscheinlichkeit belief sich fuumlr Einzelpersonen auf pi = 042 waumlhrend sie fuumlr Dreiergruppen auf p3 = 058 anstieg die Gruppen waren somit im Schnitt erfolgreicher als die Einzelnen Die Empirie spricht fuumlr Aristoteles und Macchiavelli aber gegen Descartes und Le Bon obwohl rechnerisch Descartes natuumlrlich Recht behaumllt das Pro- dukt von 042 ∙ 042 ∙ 042 = 007 ist sehr viel kleiner als die Trefferwahrscheinlichkeit einer EinzelpersonSofern es sich um eine Gruppe handelt ist es freilich auch gar nicht erforderlich daszlig jedes ihrer Mitglieder alle Teilaufgaben loumlst man kann sich die Arbeit ganz im Sinne des Aristoteles so teilen daszlig bdquoder eine diese der andere jene Seite (beurteilt) alle zusammen aber das Ganzeldquo Versagen wuumlrde daher ein Team nur wenn keines seiner Mitglieder einen Treffer erzielt Die Wahrscheinlichkeit dafuumlr belaumluft

EINFUumlHRUNGXXVI

sich auf das Produkt der drei individuellen Nicht-Finde-Wahrschein-lichkeiten von qi = ndash pi = 058 somit auf 058 ∙ 058 ∙ 058 = 020 Gegenuumlber dieser kollektiven Nicht-Finde-Wahrscheinlichkeit hat daher die Dreiergruppe eine kollektive Finde-Wahrscheinlichkeit von p3 = ndash qi

3 = 080Im Experiment sind die Erfolge der Gruppen hinter diesem Wert mit p3 = 058 erheblich zuruumlckgeblieben obwohl sie ndash wie gesagt ndash houmlher lagen als die einzelnen Finde-Wahrscheinlichkeiten von im Schnitt 042 Das ist wenn man den hier vorgestellten Ansatz empi- risch uumlberpruumlft fast immer der Fall denn dieser beschreibt ein Optimum fuumlr dessen Erreichung eine Reihe von noch zu eroumlrtern- den Voraussetzungen besteht Zunaumlchst aber ist festzuhalten daszlig Experimentalgruppen in der Regel bei intellektuellen Suchaufgaben besser abschneiden als die durchschnittliche Einzelperson das schlieszligt jedoch keineswegs die Moumlglichkeit aus daszlig diese oder jene Einzelperson auch die optimale Gruppenleistung weit uumlberbieten kannDas Modell der kollektiven Optimalleistung das in den Fuumlnfziger- jahren von mehreren Autoren fast gleichzeitig formuliert wurde (P R Hofstaumltter 97) laumlszligt sich zu dem Ausdruck verallgemeinern daszlig die Wahrscheinlichkeit des Sucherfolges einer aus n Personen bestehenden Gruppe dem Komplimentaumlrwert der n-ten Potenz der durchschnittlichen Nicht-Finde-Wahrscheinlichkeit (qi) entsprichtpn = ndash qi

n Bedenkt man allerdings wie stark pn mit zunehmender Gruppengroumlszlige (n) selbst bei geringen Ausgangswerten ansteigt ver- liert das Modell einiges an Glaubwuumlrdigkeit Bei einer an sich gerin- gen individuellen Findewahrscheinlichkeit von pi = 00 braumlchten es n = 30 Personen bereits auf eine kollektive Findewahrscheinlichkeit von p30 = 096 der Erfolg waumlre ihnen damit nahezu sicher Im Extrem uumlbersteigert wuumlrde die Maxime daher lauten Man nehme eine genuumlgend groszlige Anzahl von Dummkoumlpfen dann laumlszligt sich jedes Problem nahezu mit Sicherheit loumlsen Das aber ist natuumlrlich barer UnsinnLe Bon haumltte zweifellos seinen Spaszlig gehabt an dieser Utopie demo- kratischer Wunschtraumlume obwohl er von seinen Schaumldelmessungen her durchaus Sinn fuumlr mathematisch-statistische Uumlberlegungen hatte Ernsthaft erwaumlgenswert wird unser Ansatz erst durch die Beruumlck- sichtigung der ihm innewohnenden vier Bedingungen die ndash sieht man genauer zu ndash eine nach der anderen Eigenschaften von Massen ausschlieszligen Was zunaumlchst die bdquoDummkoumlpfeldquo anlangt ist festzu-

EINFUumlHRUNG XXVII

stellen daszlig Personen mit einer absoluten Nicht-Finde-Wahrschein-lichkeit von qi = 00 nichts zur Verringerung des Produkts der q- Werte beitragen Ihre Beteiligung an der gemeinsamen Suchleistung wuumlrde daher bloszlig durch einen uumlberhoumlhten Wert von n den Ansatz verfaumllschen Vorausgesetzt wird daher zunaumlchst daszlig alle individuel- len pi-Werte groumlszliger als Null sindAn zweiter Stelle gilt daszlig die einfache Multiplikation von Wahr- scheinlichkeiten nur dann zulaumlssig ist wenn es sich dabei um unab- haumlngige Wahrscheinlichkeiten handelt Ausgeschaltet werden daher nach den Dummkoumlpfen nun auch die bloszligen Nachahmer die in den Suchvorgang keine eigene d h unabhaumlngige Findewahrscheinlich- keit einbringen Das Modell verlangt somit nicht nur einen gewissen Grad von Intelligenz sondern auch die im Charakter begruumlndete Selbstaumlndigkeit die Bereitschaft auf eigene Faust unter Umstaumlnden auch einen Fehler zu riskieren und bisweilen eine nicht unerhebliche Widerstandskraft gegenuumlber Einfluumlssen aus der Umwelt Bis zu den

bdquoselbstseienden Menschenldquo von Jaspers braucht man diese Forde- rung freilich nicht hinaufzuschraubenAn dritter Stelle wird eine gewisse Gruppenloyalitaumlt in dem Sinn verlangt daszlig der eine der etwas gefunden zu haben glaubt den anderen seinen Befund auch prompt mitteilt Man nennt das die Kommunikations-Bedingung deren Einhaltung bei den Gruppen- mitgliedern eine gemeinsame Sprache ein gemeinsames Ziel und zusaumltzlich die fuumlr Uumlberlegung und Verstaumlndigung erforderliche Zeit voraussetzt In besonderem Maszlige unterliegen dieser Bedingung in unserer Gesellschaft die als bdquoProfessorenldquo bezeichneten Such-Spezia- listen deren Titel sie zwar nicht zu Gestaumlndnissen dafuumlr aber zur Mitteilung ihrer Forschungsergebnisse verpflichtet damit diese in der allgemeinen Diskussion uumlberpruumlft werden koumlnnen Von Kennern der Verhaumlltnisse ist zu erfahren daszlig auch dafuumlr Charaktereigen- schaften erforderlich sind Auch wenn diese vorhanden sind wird es mit zunehmender Personenzahl immer schwieriger und bald sogar unmoumlglich daszlig jeder sich mit jedem austauscht Die Gruppengrouml- szligen die in dem Modell einen so positiven Effekt hat wird auf diese Weise in der Praxis allmaumlhlich zu einem wesentlichen Hindernis fuumlr dessen AnwendungAm schwierigsten ist sowohl zu schildern als auch zu befriedigen die an vierter Stelle in dem Modell enthaltene sog Akzeptierungsbedin- gung die vorsieht daszlig die Gruppe als ganze in der Lage ist jeden echten Fund zu akzeptieren bzw jeden Fehler als solchen abzuleh-

EINFUumlHRUNGXXVIII

nen Akademische Gremien sind ndash wie man aus der Wissenschafts-geschichte weiszlig ndash nicht immer in der Lage gewesen dieser Forde- rung gerecht zu werden da diese ja auf Seiten der Gesamtgruppe so etwas wie Allwissenheit voraussetzt Das waumlre unsinnig Wir muumlssen uns daher ersatzweise mit Regeln und Strategien begnuumlgen wie sie z B fuumlr die Urteilsfindung in Geschworenenprozessen entwickelt wurden bdquoZweier oder dreier Zeugen Mundldquo fordert schon die Bibel (5 Mose 7 6) Wuumlrde man von Geschworenen nur einstimmige Entscheidungen annehmen muumlszligten vergleichsweise viele Verfahren an der Unmoumlglichkeit scheitern ein Urteil zu finden Geringer ist diese Gefahr wenn eine Jury nur mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit (8 von 2 oder 4 von 6 Stimmen) zu entscheiden braucht

Es ist kaum zu vermeiden daszlig sich an dieser Stelle fruumlher oder spaumlter die Frage nach den Qualifikationen erhebt die eine Person besitzen muszlig oder wenigstens sollte um an kollektiven Such- und Entscheidungsprozessen mitwirken zu koumlnnen Die Erinnerung an den bisweilen mit mehr Brutalitaumlt als Sachverstand gefuumlhrten Streit um die Zusammensetzung akademischer Gremien der bei uns noch kaum ein Jahrzehnt zuruumlckliegt zeigt erschreckend deutlich wie leicht eine fuumlr rationale Leistung bestimmte Gruppe zur Masse im Sinn Le Bons degenerieren kann Auf jeden Fall ist man nun wieder in der Politik wo Machtkonstellationen uumlber Mitbestimmungsrechte zu entscheiden pflegenMacchiavelli der sich in den bdquoDiscorsildquo mit dem roumlmischen Histori- ker Livius auseinandersetzte hat dessen These zuruumlckgewiesen es sei bdquodie Natur der Menge daszlig sie entweder sklavisch dient oder uumlbermuumltig herrschtldquo (XXIV 25) Haec natura multitudinis est aut servit humiliter aut superbe dominatur bdquoWas unsere Geschichts- schreiber von der Natur der Menge sagen gilt nicht fuumlr eine durch Gesetze gezuumlgelte Menge wie die roumlmische sondern fuumlr eine zuumlgel- lose wie die syrakusanische welche die Verbrechen rasender und zuumlgelloser Menschen beging hellip Denn ein Volk mit guter Verfas- sung wird bestaumlndig klug und dankbar sein so gut wie ein Fuumlrst ja mehr als ein Fuumlrstldquo (I cap 58)Der hier vorgenommenen Einschraumlnkung auf bdquodurch Gesetze gezuuml- gelte Mengenldquo entsprechen im Teilbereich der intellektuellen Such- leistungen die Voraussetzungen fuumlr das Wahrscheinlichkeitsmodell Da ihnen gerecht zu werden an sich schon schwierig ist und mit zunehmender Gruppengroumlszlige immer schwieriger wird liegt die empirisch ermittelte Erfolgswahrscheinlichkeit von Gruppen wie in

EINFUumlHRUNG XXIX

dem vorhin geschilderten Beispiel fast immer deutlich unter demtheoretischen Optimalwert z B also bei p3 = 058 statt bei 080 Daran knuumlpft sich sofort die empirische Frage nach den situativen Bedingungen welche fuumlr die Erfuumlllung der rationalen Voraussetzun- gen guumlnstig bzw schaumldlich sind Als eher schaumldlich erweist sich wie der amerikanische Psychologe I L Janis (972) gezeigt hat das

bdquoGruppendenkenldquo (groupthink) d h der intellektuelle Gruppen- zwang fuumlr den es eine Reihe von Symptomen gibt ein uumlbersteigertes Selbstvertrauen der Gruppe das emotional bedingte Pochen auf die Gemeinsamkeit des Denkens Fuumlhlens und Urteilens sowie die Angst einzelner Gruppenmitglieder davor sie koumlnnten als illoyal erscheinen Wenn die Dinge in einem Team so liegen ndash und das ist besonders leicht dort der Fall wo an der Spitze eine Persoumlnlichkeit mit hohem Prestige steht ndash versagt die gruppeninterne Kritik an den Plaumlnen leicht es herrscht dann zuviel EintrachtZur Veranschaulichung wird in der Fachliteratur gerne das Kuba- Unternehmen von Praumlsident Kennedy im April 96 herangezogen das mit der Landung in der Schweinebucht klaumlglich scheiterte Es laumlszligt sich zeigen daszlig zum Zeitpunkt der geplanten Invasion zahlrei- che Tatsachen bekannt waren die in ihrer Gesamtheit das Vorhaben als viel zu riskant haumltten erscheinen lassen muumlssen Sie wurden aber von dem Stab zu dem Kennedy das Praumlsidialamt umgestaltet hatte und der unter seinem Vorsitz tagte nicht in ausreichender Weise beachtet Man wollte Entschluszligkraft zeigen nachdem der vorherge- gangenen Eisenhower-Administration deren Zaudern zum Vorwurf gemacht worden war Das Ergebnis war ndash ganz nuumlchtern betrachtet

ndash ein Verstoszlig gegen die Voraussetzungen des Suchmodells die Mitglieder des Stabes verstanden nicht ihre Unabhaumlngigkeit zu wah- ren einzelne verzichteten auf die Kommunikation abweichender Ansichten und insgesamt wurde daher eine falsche Loumlsung akzep- tiertEtwas Aumlhnliches scheint 980 Praumlsident Carter bei dem Versuch passiert zu sein die amerikanischen Geiseln aus Teheran herauszu- holen Es faumlllt auf daszlig in beiden Faumlllen die Amtsinhaber eine Auf- bruchsstimmung erzeugt hatten von der auch die Kabinettsrunde erfaszligt wurde bdquoIn gewissen historischen Augenblicken kann ein hal- bes Dutzend Menschen eine psychologische Masse ausmachenldquo heiszligt es bei Le Bon (S ) nach dessen Meinung bdquosich in der Masse die Menschen stets einander angleichen (weshalb) die Abstimmung von vierzig Akademiemitgliedern uumlber allgemeine Fragen nicht mehr gilt als die von vierzig Wassertraumlgernldquo (S 35)

XXX EINFUumlHRUNG

Eine Gruppe ndash und das trifft auch fuumlr Regierungsmannschaften zundash die nicht zur bdquopsychologischen Masseldquo werden will muszlig daher auf die Erhaltung von Distanz zwischen ihren Mitgliedern achten obwohl sich mit dem Gefuumlhl menschlicher Naumlhe ein Erlebnis der Geborgenheit einzustellen pflegt in dem manche Autoren ndash Elias Canetti z B ndash eine bdquoEntladungldquo von Angst und damit das Haupt- motiv fuumlr den Anschluszlig an eine Masse erblickenDie Staumlrke dieses Gefuumlhls der menschlichen Naumlhe bzw der Aurakti- vitaumlt eines Du haumlngt dabei ndash wie wir aus Experimenten von D Byrne (974) wissen ndash sehr erheblich vom Vorhandensein gemeinsa- mer Ansichten und Uumlberzeugungen abJe bedrohlicher eine Situation erscheint umso staumlrker wird das Beduumlrfnis nach der Naumlhe von Gleichgesinnten (S Schachter 959) bzw das Bestrebenldquo die Last der Freiheit loszuwerdenldquo (bdquoEscape from freedomldquo E Fromm 94) bdquoDie Massen hellip scheinen dazu verurteilt zu sein unaufhoumlrlich von der wildesten Anarchie zum druumlckendsten Despotismus zu taumelnldquo meinte Le Bon (894 S 33) bdquoSie scheinen inbruumlnstig die Freiheit zu lieben in Wirklich- keit weisen sie diese immer von sich und verlangen staumlndig vom Staat ihnen Ketten zu schmiedenldquoDas war nicht mehr als eine Variation uumlber die These des Livius mit der sich Macchiavelli auseinandergesetzt hat bdquoaut servit humiliter aut superbe dominaturldquo ndash wobei in Erinnerung zu bringen ist daszlig

bdquodominorldquo trotz seiner Passivform bdquoich herrscheldquo heiszligt Beide ndash Livius und Le Bon uumlbersehen allerdings die Abhaumlngigkeit ihrer Behauptung von bestimmten Rahmenbedingungen bei deren Fehlen ihre These schlicht falsch wird obwohl es natuumlrlich nicht wenige Beispiele fuumlr ihre Richtigkeit gibt vornehmlich in Epochen der groszligen Arbeitslosigkeit der Kriegsangst und der wirtschaftlichen RezessionWas seine Forschungsstrategie anlangt hat Le Bon einen wichtigen Vorschlag des Francis Bacon aus dem bdquoNovum organum scien- tiarumldquo (620) unberuumlcksichtigt gelassen naumlmlich die Sammlung der negativen Instanzen d h der Faumllle in denen ein Effekt nicht in Erscheinung tritt obwohl er auf Grund der Erfahrung mit aumlhnlichen Faumlllen erwartet wird Bei der Erforschung des Wesens der Waumlrme gehoumlrten fuumlr Bacon in die bdquoTable of Deviationldquo unter anderem z B die Beobachtungen daszlig die Strahlen des Mondes und der Sterne sowie das Licht der Gluumlhwuumlrmchen nicht warm sind Sein systemati- sches Vorgehen fuumlr das die eben angedeutete Trennung von Licht

EINFUumlHRUNG XXXI

und Waumlrme nur ein kleines Beispiel ist wurde immerhin mit derseiner Zeit weit vorauseilenden Erkenntnis belohnt daszlig Waumlrme eine Form der Bewegung kleinster Partikel ist (Nov Org II 20)Haumltte Le Bon die Situationen genauer betrachtet in denen aus meh- reren Menschen keine bdquopsychologische Masseldquo wird waumlre er wahr- scheinlich zum Begruumlnder der Gruppendynamik geworden So aber trifft ihn Bacons Vorwurf der zugleich eine interessante sozial- und denk-psychologische Erkenntnis enthaumllt bdquoWenn der Verstand von Anfang an bejahend (d h unter ausschlieszliglicher Beruumlcksichtigung von positiven Instanzen) vorzugehen versucht ndash und das geschieht immer wenn er sich selber uumlberlassen ist ndash so entspringen daraus phantasievolle Meinungen und Vermutungen ungenuumlgend definierte Begriffe und Grundannahmen die jeden Tag revidiert werden muumls- senldquo (II 5) Um gedanklich mit dem Nichtvorhandensein an sich erwarteter Erscheinung zu operieren bedarf es in der Tat erheblicher Selbstdisziplin Daszlig sie in Massensituationen fehlt macht Massen fuumlr propagandistische Behauptungen und fuumlr Klischeevorstellungen so anfaumlllig

IV Risiko und Verantwortung

Was Le Bon berichtet wirkt uumlber weite Strecken so uumlberaus plausi- bel weil in Gruppen fast immer zahlreiche Prozesse ablaufen die deren Bestand gefaumlhrden indem sie aus ihnen bdquopsychologische Mas- senldquo werden lassen Typisch dafuumlr ist ein Versuchsergebnis das 962

ndash im Jahr nach dem Kuba-Desaster ndash aumluszligerst beunruhigend wirkte ndash so sehr daszlig dem Phaumlnomen mittlerweile mehr als vierhundert Einzeluntersuchungen gewidmet wurdenEs ging in der Diplomarbeit die der bis dahin voumlllig unbekannte Herr Stoner der Management-Hochschule des Massachusetts Insti- tute of Technology vorlegte um den sog bdquoRisiko-Schubldquo der zustande kommt wenn sich eine Gruppe auf die Voraussetzungen einigen soll die erfuumlllt sein muumlssen damit eine bestimmte Entschei- dung getroffen oder empfohlen werden kann Bei den einschlaumlgigen Versuchen werden Situationen geschildert in denen jeweils zwei Alternativen zur Auswahl stehen Ein Ingenieur kann z B bei der groszligen Firma fuumlr die er schon seit mehreren Jahren arbeitet in einer relativ bescheidenen Position bleiben oder er kann in einem neuen Unternehmen eine interessantere und besser bezahlte Stellung uumlber-

XXXII EINFUumlHRUNG

nehmen Wie verlockend das Angebot ist haumlngt u a von der wirt-schaftlichen Soliditaumlt der neuen Firma ab Zu beantworten haben die Versuchspersonen daher ndash zunaumlchst einzeln und dann nach einer Diskussion als Gruppe ndash die Frage wie groszlig die Chancen fuumlr eine gedeihliche Entwicklung der neuen Firma sein muumlszligten damit fuumlr den Ingenieur ein Stellenwechsel in Betracht kaumlme Zur Auswahl stehen fuumlr die Antwort die Proportionen 0 bis 9 0 Wer nur wenig an Sicherheit beansprucht wird vielleicht schon bei einem Chancenverhaumlltnis von 3 0 den Wechsel in Erwaumlgung ziehen er gilt damit als besonders risikobereit waumlhrend ein anderer der lieber auf bdquoNummer Sicherldquo setzt ein Chancenverhaumlltnis von 8 0 verlan- gen koumlnnteDas Ergebnis Nach der Diskussion liegt der Sicherheitsanspruch auf den sich die Mitglieder einigen in der Regel niedriger als der Mittelwert ihrer individuellen Schaumltzungen vor der Diskussion Das heiszligt aber ihre Risikobereitschaft hat zugenommen es ist ein

bdquoRisiko-Schubldquo erfolgtDas ist deshalb so beunruhigend weil wir im allgemeinen damit rechnen daszlig Gruppen ndash Expertengremien oder politische Koumlrper- schaften ndash bedachtsamer urteilen als Einzelpersonen und daszlig sie sich weder von den bdquoFalkenldquo noch von den bdquoTaubenldquo zu einem allzugro- szligen Risiko hinreiszligen lassen Genau das aber trifft nicht zu Die Gruppenentscheidung ist fast immer extremer als die mittlere Indivi- dualentscheidung Man spricht allerdings heute lieber von einem Polarisations-Effekt weil Diskussionen nicht immer zu einem ver- ringerten Sicherheitsanspruch fuumlhren (E Witte 979) Ihr Resultat kann auch in umgekehrter Richtung ein uumlberhoumlhter Sicherheitsan- spruch sein durch den unter Umstaumlnden reale Chancen verpaszligt werden koumlnnen Auch das ndash die Untaumltigkeit angesichts von Moumlg- lichkeiten ndash kann gefaumlhrlich bzw bdquoriskantldquo sein Ein nicht geringer Teil der gegenwaumlrtig in der Bundesrepublik ablaufenden Diskussio- nen hat genau dieses Problem zum Gegenstand das Risiko naumlmlich das ein etwaiger Verzicht auf Kernkraftwerke mit sich bringen koumlnnteGruppen diskutieren um zu einer Entscheidung zu gelangen und um handeln zu koumlnnen In diesem Sinn duumlrfte der Polarisations- Effekt durchaus zweckmaumlszligig sein da er ihnen das sprichwoumlrtliche Schicksal des buridanischen Esels erspart Erreicht wird die erhoumlhte Entscheidungsfaumlhigkeit bisweilen allerdings mit Hilfe einer gefaumlhrli- chen Illusion bei der Erinnerungen an die Massenpsychologie

EINFUumlHRUNG XXXIII

anklingen Gemeint ist die ungemein entlastende Vorstellung eslieszlige sich im Fall eines Misserfolges einer Kollektiventscheidung die Gesamtschuld unter den Beteiligten so aufteilen daszlig auf jeden ein- zelnen im Sinne einer bdquoDiffusion der Verantwortungldquo nur ein gerin- ger Bruchteil kommt Eine solche Vorstellung wirkt enthemmendWas alle in einer bestimmten Situation tun kann man schlieszliglich niemandem vorwerfen Es muszlig so heiszligt es fuumlr ein solches Verhal- ten daher aumluszligere in den Umstaumlnden gelegene Gruumlnde geben nicht aber innere Gruumlnde des eigenen Wesens deren man sich spaumlter einmal vielleicht schaumlmen muumlszligte Das ist der Inhalt der in den letzten Jahren entwickelten Theorie der Kausalitaumlts-Zuschreibung (bdquoAttributionldquo H H Kelley u a 980 W Herkner 980) die zwischen bdquoexternalerldquo und bdquoinfernalerldquo Zuschreibung unterscheidet Verantwortung uumlbernehmen heiszligt das eigene Tun bdquointernalldquo aus der eigenen Persoumlnlichkeit deren Faumlhigkeiten Erfahrungen und Motiven ableiten Massen interpretieren dagegen in der Regel bdquoexter- nalldquo Sie sind in ihrem Selbstbild fast immer unschuldig bzw sogar

bdquoOpferldquo der vorherrschenden Verhaumlltnisse Man frage nur randalie- rende Demonstranten Nicht selten berufen sich Massen wenn etwas schiefgegangen ist auf einen Fuumlhrer der dann schnell zum Suumlndenbock wird bdquoDer Nimbus verschwindet immer im Augen- blick des Miszligerfolges Der Held dem die Masse gestern zujubelte wird morgen von ihr angespien hellipldquo meinte Le Bon (S 00)Die Massen mit ihrem bdquounstillbaren Beduumlrfnis regiert zu werdenldquo (894 S 7) zeigen bdquosich selbst uumlberlassen daszlig sie ihrer Zuumlgellosig- keit uumlberdruumlssig instinktiv der Knechtschaft zusteuernldquo (S 34) Beschrieben wird hier einerseits die bdquoautoritaumlre Persoumlnlichkeitldquo im Sinne T W Adornos (950) andererseits bdquodie einsame Masseldquo David Riesmans (950) deren Angehoumlrige sich der Auszligenlenkung uumlberlassen indem sie ihr Tun an dessen Resonanz ruumlckkoppeln Finden sie in der Umwelt Zustimmung machen sie weiter stoszligen sie auf Ablehnung oder Widerstand drehen sie blitzschnell um In beiden Faumlllen wird das auf Unselbstaumlndigkeit oder auch auf Gehor- sam programmierte Individuum dem innengelenkten Menschen gegenuumlbergestellt der sich in erster Linie seinem persoumlnlichen Gewissen verpflichtet fuumlhlt und der es aushaumllt bisweilen sogar mit sich selbst uneins zu seinDiese Begriffsbildungen zu denen man noch den von der Psycho- analyse entwickelten bdquoanalen Typusldquo (908) hinzunehmen kann weisen samt und sonders auf den von Le Bon und den meisten

XXXIV EINFUumlHRUNG

Autoren des Fin de siegravecle befuumlrchteten Untergang des eigenstaumlndigenIndividuums in der Masse hin Im Sinne Heinrich Manns wird es da zum bloszligen bdquoUntertanldquo (96) In dem Aufsatz bdquoReichstagldquo (9) hat ihn der Dichter vorwegnehmend wie folgt beschrieben bdquodieser widerwaumlrtig interessante Typus des imperialistischen Untertanen des Chauvinisten ohne Mitverantwortung des in der Masse ver- schwindenden Machthabers des Autoritaumltsglaumlubigen wider besseres WissenldquoBei Le Bon sind es um die gleiche Zeit ndash in den bdquoLehren aus dem europaumlischen Kriegldquo (96) ndash ebenfalls ganz speziell die Deutschen denen er Autoritaumltsglaumlubigkeit vorwirft bdquoZu den allgemeinen Cha- rakterzuumlgen die man fast bei jedem Deutschen heutzutage findet gehoumlrt neben der Unterwuumlrfigkeit gegenuumlber jeder offiziellen Auto- ritaumlt und ihrer Kameraderie ein hochmuumltiges Gefuumlhl der kollektiven Uumlberlegenheitldquo (96 S 7) Das freilich ist eine recht genaue Uumlber- setzung der Massenformel des Livius bdquoaut servit humiliter aut superbe dominaturldquo Jedoch weiszlig Le Bon noch mehr bdquoMan beob- achtet bei den Intellektuellen ebenso wie beim einfachen Volk den Mangel an Erziehung die Brutalitaumlt und das voumlllige Fehlen ritterli- chen Geistesldquo (96 S 72) bdquoDer Theorie nach ist Deutschland zwar christlich aber der friedfertige Jesus der Bibel ist dort zu einer ebenso wilden Gottheit geworden wie der altertuumlmliche Odin der pausenlos von Eroberungen und Massakern traumlumtldquo (96 S 47) Immerhin einen bdquoArchetypus Wotanldquo hat C G Jung bei den Deutschen 935 auch festgestellt er schreibt ihm zu daszlig er bdquoals autonomer Faktor kollektive Wirkungen erzeugt und dadurch ein Bild seiner eigenen Natur entwirft In Ruhezeiten dagegen (sei) einem die Existenz des Archetyps Wotan unbewuszligt wie eine latente Epilepsieldquo Derlei Gehaumlssigkeiten muumlssen ertragen werden Noch heute sehr bitter zu lesen ist aber Le Bons Resuumlmee aus dem ersten Weltkrieg bdquoEin Volk von Gott dazu auserwaumlhlt die Welt zu erobern und zu beherrschen gibt eine solche Mission nicht so leicht auf Deutschland wird darauf nicht verzichten bevor es nicht meh- rere Male (plusieurs fois) besiegt worden istldquo (96 S 353)Der Autor der Massenpsychologie hat selbst Propaganda getrieben

ndash auf deutscher Seite taten das ebenfalls nicht wenige Schriftsteller und Gelehrte ndash Thomas Mann unter ihnen Im Wiener Kriegsarchiv widmeten sich zur gleichen Zeit Stefan Zweig und Alfred Polgar neben anderen einer Taumltigkeit die Hofmannsthal wenig respektvoll als bdquoHeldenfrisierenldquo bezeichnete ndash man bereitete die Kriegsberichte

EINFUumlHRUNG XXXV

fuumlr den Genuszlig des Publikums entsprechend zu Es besteht somitkein Grund sich gegenseitig etwas nachzutragen freilich ist auch dafuumlr keiner ersichtlich daszlig die linke Antibougeoisie der Weimarer Zeit und weit daruumlber hinaus so gerne bereit war die schon im Altertum formulierten Massenattribute ganz speziell den Deutschen so zuzuschreiben als handelte es sich um die Ergebnisse neuester ForschungAn einige ihrer Angehoumlrigen wandte sich 935 der kurz zuvor aus der orthodoxen Schule ausgeschlossene Psychoanalytiker Wilhelm Reich bdquoSie vernachlaumlssigen die hilflose fuumlhrungsbeduumlrftige ja oft autoritaumltssuumlchtige Struktur der Masse Sie sehen nur deren Freiheits- sehnsucht doch diese Sehnsucht darf mit der Faumlhigkeit frei zu sein hellip nicht verwechselt werdenldquo (935 S 7) Den Schluszlig aus solchen und aumlhnlichen Beobachtungen hatte Lenin schon 902 in Muumlnchen gezogen indem er sich vornahm nicht auf die Spontanei- taumlt der Arbeitermassen sondern auf eine Geheimorganisation streng ausgelesener und sorgfaumlltig geschulter bdquoBerufsrevolutionaumlreldquo zu set- zen bdquoWas den Appell an die Masse zur Aktion betrifft so wird das von selbst kommen sobald es eine energische politische Agitation lebendige und aufruumlttelnde Enthuumlllungen geben wirdldquo denn bdquodas politische Klassenbewuszligtsein kann dem Arbeiter nur von auszligen gebracht werdenldquo heiszligt es in bdquoWas tunldquo (S 08 u 7)Der Zeitgeist der vor Grotesken nicht zuruumlckschreckt will es daszlig genau im gleichen Jahr und ebenfalls in Muumlnchen Stefan George

bdquoDie Aufnahme in den Ordenldquo als Weihespiel entwarf der Juumlngling antwortet darin dem Groszligmeister bdquoDer von den dunklen maumlchten fast verwirrte hellip Dankt dem geboumlte das genesung bringt hellip Zu welchem joch ihr seinen nacken zwingt hellip Um eure ruhe bittet der verirrteldquoIm gleichen Jahr 902 lieszlig in Paris der Neo-Rosenkreuzer Peacuteladan unter dem Titel bdquoPereatldquo den 5 Band der bdquoDeacutecadence Latineldquo erscheinen waumlhrend Le Bon seine bdquoPolitische Psychologieldquo veroumlf- fentlichteKein Zweifel die Diktatoren kannten ob sie nun auf einen nationa- len oder auf einen internationalen Sozialismus zusteuerten den Autor nur zu gut der 894 gemeint hatte bdquoder Sozialismus wird uumlbrigens ein viel zu druumlckendes Regime sein als daszlig er von Dauer sein koumlnnteldquo (894 S 38) Man muszlig hinzusetzen Sie die Diktato- ren hatte Le Bon sich als Leser uumlberhaupt nicht gewuumlnscht

XXXVI EINFUumlHRUNG

LITERATUR

ADORNO T W u a The authoritarian personality New York 950 (dt Studien zum autoritaumlren Charakter Frankfurt 973)BAUDELAIRE CH Der Dandy (863) in Ausgewaumlhlte Werke hgb v Franz Blei Muumlnchen o JBROCH H Massenwahntheorie hgb v P M Luumltzeler Frankfurt 979BYRNE D An introduction to personality Englewood Cliffs 974CANETTI E Masse und Macht Duumlsseldorf 978 2DE MAN H Vermassung und Kulturverfall Bern 950FREUD S Jenseits des Lustprinzips (920) Ges W XIIIFREUD S Massenpsychologie und Ichanalyse (92) Ges W XIIIFREUD S Warum Krieg (932) Ges W XVIFROMM E Escape from freedom New York 94 (dt Die Furcht vor der Freiheit Zuumlrich 945)GOULD S J The mismeasure of man New York 98HAGEMANN W Der Mythos der Masse Beitr z Publizistik Bd 4 Heidel- berg 95HERKNER W (Hgb) Attribution Psychologie der Kausalitaumlt Bern 980HOFSTAumlTTER P R Gruppendynamik Kritik der Massenpsychologie Rein- bek 97 2HOFSTAumlTTER P R Einfuumlhrung in die Sozialpsychologie Stuttgart 973 5 Kroumlner TA Nr 295HOFSTAumlTTER P R Individuum und Gesellschaft Berlin 973JANIS I L Victims of group think Boston 972JASPERS K Die geistige Situation der Zeit Berlin 93JASPERS K Vom Ursprung und Ziel der Geschichte Frankfurt 955 2JUNG C G Wotan Neue Schweiz Rundschau 3 93536KELLEY H H u a Attribution theory and research in Ann Rev Psy- chol 3 980KRONER B Massenpsychologie und kollektives Verhalten in C F Grau- mann (Hgb) Sozialpsychologie Handbuch d Psychol Bd 7 Goumlttin- gen 972LAUGHLIN P R u a Group size member activity and social decision schemes on a intellective task in J personality and social Psychol 3 975LENIN W Was tun (902) Berlin (Ost) 97MACCHIAVELLI N Discorsi sopra la prima Deca di Tito Livio uumlbers v F v Oppeln-Bronikowski Koumlln 965MACCHIAVELLI N Der Fuumlrst uumlbers von R Zorn Stuttgart 955 Kroumlner TA Nr 235MAC DOUGALL The group mind Cambridge 920MILGRAM S u TOCH H Collective behavior crowds and social move- ments in Handbook of social Psychol vol 4 Reading 969MOEDE W Experimentelle Massenpsychologie Leipzig 920

ORTEGA Y GASSET J Der Aufstand der Massen (930) Stuttgart 957PICARD E Gustave Le Bon et son œuvre Paris 909PRAZ M Liebe Tod und Teufel die schwarze Romantik (948) Muumlnchen 98REICH W Masse und Staat (935) enthalten in Massenpsychologie des Faschismus Koumlln 97 2REIWALD P Vom Geist der Massen Zuumlrich 948 3RIESMAN D u a The lonely crowd New Haven 950 (dt Die einsame Masse Reinbek 958)SCHACHTER S The psychology of affiliation Stanford 959SCHICKEDANZ H J (Hgb) Der Dandy Texte und Bilder aus dem 9 Jahrhundert Dortmund 980SCHONAUER F Stefan George Reinbek 960SHAW M E Groupdynamics the psychology of small group behavior New York 976 2SMELSER N J Theorie des kollektiven Verhaltens Koumlln 972SPENGLER O Der Untergang des Abendlandes Muumlnchen 9822SUCHANEK-FROumlHLICH S Kulturgeschichte Frankreichs Stuttgart 968 Kroumlner TA Nr 358TARKIAINEN T Die athenische Demokratie Muumlnchen 972WITTE E H Das Verhalten in Gruppensituationen Goumlttingen 979

LITERATURXXXVIII

VORWORT ZUR ERSTEN AUFLAGE

Meine fruumlhere Arbeit war der Darstellung der Rassenseele gewid- met Hier wollen wir die Massenseele untersuchenDer Inbegriff der gemeinsamen Merkmale die allen Angehoumlrigen einer Rasse durch Vererbung zuteil wurden macht die Seele dieser Rasse aus Wenn sich jedoch eine gewisse Anzahl solcher einzelnen massenweise zur Tat vereinigt so zeigt sich daszlig sich aus dieser Vereinigung bestimmte neue psychologische Eigentuumlmlichkeiten ergeben die zu den Rassenmerkmalen hinzukommen und sich zuweilen erheblich von ihnen unterscheidenDie organisierten Massen haben zu allen Zeiten eine wichtige Rolle im Voumllkerleben gespielt niemals aber in solchem Maszlige wie heute Die unbewuszligte Wirksamkeit der Massen die an die Stelle der bewuszligten Tatkraft der einzelnen tritt bildet ein wesentliches Kenn- zeichen der Gegenwart Ich habe versucht das schwierige Problem der Massen in streng wissenschaftlicher Weise zu behandeln also methodisch und unbekuumlmmert um Meinungen Theorien und Dok- trinen Nur so glaube ich kommt man zur Erkenntnis der Wahr- heit besonders wenn es sich wie hier um eine Frage handelt die die Geister lebhaft erregt Der Forscher der sich um die Erklaumlrung einer Erscheinung bemuumlht hat sich um die Interessen die durch seine Untersuchung beruumlhrt werden koumlnnen nicht zu kuumlmmern Ein ausgezeichneter Denker Goblet drsquoAlviella hat in einer seiner Schrif- ten gesagt ich gehoumlre keiner zeitgenoumlssischen Kritik an und traumlte zuweilen in Gegensatz zu gewissen Folgerungen aller Schulen Hof- fentlich verdient die vorliegende Arbeit das gleiche Urteil Zu einer Schule gehoumlren heiszligt deren Vorurteile und Standpunkte teilen muumlssenIch muszlig jedoch dem Leser erklaumlren warum ich aus meinen Studien Schluumlsse ziehe welche von denen abweichen die sich auf den ersten Blick daraus ergeben z B wenn ich den auszligerordentlichen geisti- gen Tiefstand der Massen feststelle und doch behaupte es sei unge-

Psychologische Gesetze der Voumllkerentwicklung

XXXIX

achtet dieses Tiefstandes gefaumlhrlich die Organisation der MassenanzutastenSorgfaumlltige Beobachtung der geschichtlichen Tatsachen hat mir naumlm- lich stets gezeigt daszlig es ganz und gar nicht in unserer Macht steht die sozialen Organismen die ebenso kompliziert sind wie andere Organisationen jaumlh tiefgehenden Umwandlungen zu unterwerfen Zuweilen ist die Natur radikal doch nicht so wie wir es verstehen daher gibt es nichts Traurigeres fuumlr ein Volk als die Leidenschaft der groszligen Umgestaltungen so vortreff lich sie theoretisch scheinen moumlgen Nuumltzlich waumlren sie nur dann wenn es moumlglich waumlre die Seelen der Voumllker ploumltzlich zu aumlndern Die Zeit allein hat diese Macht Die Menschen werden von Ideen Gefuumlhlen und Gewohn- heiten geleitet von Eigenschaften die in ihnen selbst stecken Ein- richtungen und Gesetze sind Offenbarungen unserer Seele der Aus- druck ihrer Beduumlrfnisse Da die Einrichtungen und Gesetze von der Seele ausgehen wird sie von ihnen nicht beeinfluszligtDas Studium der sozialen Erscheinungen laumlszligt sich nicht von dem der Voumllker trennen bei denen sie sich gebildet haben Philosophisch betrachtet koumlnnen diese Erscheinungen unbedingten Wert haben praktisch aber sind sie nur von bedingtem WertMan muszlig also beim Studium einer sozialen Erscheinung dieselbe Sache nacheinander von zwei ganz verschiedenen Gesichtspunkten aus betrachten Wir sehen demnach daszlig die Lehren der reinen Vernunft sehr oft denen der praktischen entgegengesetzt sind Es gibt keine Tatsachen auch nicht auf physischem Gebiet auf die sich diese Unterscheidung nicht anwenden lieszlige Vom Gesichtspunkt der unbedingten Wahrheit aus sind ein Wuumlrfel ein Kreis unveraumlnderli- che geometrische Figuren die mittels feststehender Formeln genau zu bestimmen sind Fuumlr den Gesichtssinn koumlnnen diese geometri- schen Figuren sehr mannigfache Formen annehmen In der Wirk- lichkeit kann die Perspektive den Wuumlrfel in eine Pyramide oder in ein Quadrat den Kreis in eine Ellipse oder Gerade verwandeln Und diese angenommenen Formen sind von viel groumlszligerer Bedeutung als die wirklichen denn sie sind die einzigen die wir sehen und die sich photographisch oder zeichnerisch wiedergeben lassen Das Unwirk- liche ist in gewissen Faumlllen wahrer als das Wirkliche Es hieszlige die Natur umformen und unkenntlich machen wollte man sich die Dinge in ihren streng geometrischen Formen vorstellen In einer Welt deren Bewohner die Dinge nur abbilden oder photographieren koumlnnten jedoch nicht beruumlhren wuumlrde man nur sehr schwer zu

VORWORT ZUR ERSTEN AUFLAGEXL

einer genauen Vorstellung ihrer Form gelangen und die Kenntnisdieser Form die nur einer geringen Zahl von Gelehrten zugaumlnglich waumlre wuumlrde nur schwaches Interesse weckenDer Philosoph der die sozialen Erscheinungen studiert muszlig sich vor Augen halten daszlig sie neben ihrem theoretischen auch prakti- schen Wert haben und daszlig dieser vom Gesichtspunkt der Kulturent- wicklung der einzig bedeutsame ist Das muszlig ihn sehr vorsichtig machen gegen die Folgerungen welche die Logik ihm zunaumlchst einzugeben scheint Auch andere Gruumlnde veranlassen ihn zur Zuruumlckhaltung Die sozialen Tatsachen sind so verwickelt daszlig man sie in ihrer Gesamtheit nicht umfassen und die Wirkungen ihrer wechselseitigen Beeinflussung nicht voraussagen kann Auch schei- nen sich hinter den sichtbaren Tatsachen oft Tausende von unsicht- baren Ursachen zu verbergen Die sichtbaren sozialen Tatsachen scheinen die Folgen einer riesigen unbewuszligten Wirkungskraft zu sein die nur zu oft unserer Untersuchung unzugaumlnglich ist Die wahrnehmbaren Erscheinungen lassen sich den Wogen vergleichen welche der Oberflaumlche des Ozeans die unterirdischen Erschuumltterun- gen mitteilen die in seinen Tiefen vorgehen und die wir nicht kennen In den meisten Faumlllen zeigt die Handlungsweise der Massen eine auszligerordentlich niedrige Geistigkeit aber in anderen Handlun- gen scheinen sie von jenen geheimnisvollen Kraumlften gelenkt zu wer- den welche die Alten Schicksal Natur Vorsehung nannten die wir als die Stimmen der Toten bezeichnen und deren Macht wir nicht verkennen koumlnnen so unbekannt uns auch ihr Wesen ist Oft scheint es als ob die Voumllker in ihrem Schoszlig verborgene Kraumlfte tragen von denen sie gefuumlhrt werden Kann etwas verwickelter logischer wunderbarer sein als eine Sprache Und entspringt nicht dies wohlgeordnete und feine Gebilde der unbewuszligten Massenseele Die gelehrtesten Hochschulen verzeichnen nur die Regeln dieser Sprachen waumlren aber nicht imstande sie zu schaffen Wissen wir sicher ob die genialen Ideen der groszligen Maumlnner ausschlieszliglich ihr eigenes Werk sind Zweifellos sind sie stets Schoumlpfungen einzelner Geister aber die unzaumlhligen Koumlrnchen die den Boden fuumlr den Keim dieser Ideen bilden hat die Massenseele sie nicht erzeugtGewiszlig uumlben die Massen ihre Wirkungskraft stets unbewuszligt aus Aber vielleicht ist gerade dies Unbewuszligte das Geheimnis ihrer Kraft In der Natur gibt es Wesen die nur aus Instinkt handeln und Taten vollbringen deren wunderbare Mannigfaltigkeit wir anstaunen Der Gebrauch der Vernunft ist fuumlr die Menschheit nochraquo zu neu und zu

VORWORT ZUR ERSTEN AUFLAGE XLI

unvollkommen um die Gesetze des Unbewuszligten enthuumlllen zu koumln-nen und besonders um es zu ersetzen Der Anteil des Unbewuszligten an unseren Handlungen ist ungeheuer und der Anteil der Vernunft sehr klein Das Unbewuszligte ist eine Wirkungskraft die wir noch nicht erkennen koumlnnen Wollen wir uns also in den engen aber sicheren Grenzen der wissenschaftlich erkennbaren Dinge halten und nicht auf dem Felde unbestimmter Vermutungen und nichtiger Vor- aussetzungen umherirren so duumlrfen wir nur die Erscheinungen fest- stellen die uns zugaumlnglich sind und muumlssen uns damit begnuumlgen Jede Folgerung die wir aus unseren Beobachtungen ziehen ist mei- stens voreilig denn hinter den wahrgenommenen Erscheinungen gibt es solche die wir undeutlich sehen und hinter diesen wahr- scheinlich noch andere die wir uumlberhaupt nicht erkennen

Le Bon

XLII VORWORT ZUR ERSTEN AUFLAGE

EINLEITUNG

DAS ZEITALTER DER MASSEN

Die groszligen Erschuumltterungen welche den Kulturwenden vorangehen scheinen auf den ersten Blick durch bedeut- same politische Veraumlnderungen bestimme zu sein durch Voumllkerinvasion oder durch den Sturz von Herrscherhaumlu- sern Eine aufmerksame Untersuchung dieser Ereignisse enthuumlllt jedoch hinter ihren scheinbaren Ursachen als wahre Ursache eine tiefgehende Veraumlnderung in den Anschauun- gen der Voumllker Das sind nicht die wahren historischen Erschuumltterungen die uns durch ihre Groumlszlige und Heftigkeit verwundern Die einzigen Veraumlnderungen von Bedeutung

ndash die einzigen aus welchen die Erneuerung der Kulturen hervorgeht ndash vollziehen sich innerhalb der Anschauungen der Begriffe und des Glaubens Die bemerkenswerten Er- eignisse der Geschichte sind die sichtbaren Wirkungen der unsichtbaren Veraumlnderungen des menschlichen Denkens Wenn diese groszligen Ereignisse so selten sind so hat das seinen Grund darin daszlig es nichts Bestaumlndigeres in einer Rasse gibt als das Erbgut ihrer GefuumlhleDas gegenwaumlrtige Zeitalter bildet einen jener kritischen Zeitpunkte in denen das menschliche Denken im Begriff ist sich zu wandelnDa die Ideen der Vergangenheit obwohl halb zerstoumlrt noch sehr maumlchtig und die Ideen die sie ersetzen sollen erst in der Bildung begriffen sind so ist die Gegenwart eine Periode des Uumlberganges und der AnarchieWas aus diesem notwendig etwas chaotischen Zeitraum einmal hervorgehen wird ist im Augenblick nicht leicht zu sagen Auf welchem Grundgedanken wird sich die kuumlnf-

tige Gesellschaft aufbauen Wir wissen es noch nicht Schon jetzt aber kann man voraussehen daszlig sie bei ihrer Or- ganisation mit einer neuen Macht der juumlngsten Herrscherin der Gegenwart zu rechnen haben wird mit der Macht der Massen Auf den Ruinen so vieler einst fuumlr wahr gehal- tener und jetzt toter Ideen so vieler Maumlchte die durch Revolutionen nach und nach gebrochen worden sind hat diese Macht allein sich erhoben und scheint bald die aumln- dern aufsaugen zu wollen Waumlhrend alle unsre alten An- schauungen schwanken und verschwinden und die alten Gesellschaftsstuumltzen eine nach der andern einstuumlrzen ist die Macht der Massen die einzige Kraft die durch nichts be- droht wird und deren Ansehen immer mehr waumlchst Das Zeitalter in das wir eintreten wird in Wahrheit das Z eit a lter der Ma ssen seinVor kaum einem Jahrhundert bestanden die Haupttrieb- kraumlfte der Ereignisse in der uumlberlieferten Politik der Staaten und dem Wettstreit der Fuumlrsten Die Meinung der Massen galt in den meisten Faumlllen gar nichts Heute gelten die politischen Uumlberlieferungen die persoumlnlichen Bestre- bungen der Herrscher und deren Wettstreit nur noch wenig Die Stimme des Volkes hat das Uumlbergewicht er- langt Sie schreibt den Koumlnigen ihr Verhalten vor In der Seele der Massen nicht mehr in den Fuumlrstenberatungen bereiten sich die Schicksale der Voumllker vorDer Eintritt der Volksklassen in das politische Leben ihre fortschreitende Umwandlung zu fuumlhrenden Klassen ist eines der hervorstechendsten Kennzeichen unsrer Uumlber- gangszeit Dieser Eintritt wird nicht durch das allgemeine Stimmrecht gekennzeichnet das lange Zeit so wenig ein- fluszligreich und anfangs so leicht zu lenken war Die Geburt der Macht der Masse entstand zuerst durch die Verbrei- tung gewisser Gedankengaumlnge die langsam von den Gei- stern Besitz ergriffen sodann durch die allmaumlhliche Ver- einigung der einzelnen zur Verwirklichung der bisher theo- retischen Anschauungen Die Vereinigung ermoumlglichte es den Massen sich wenn auch nicht sehr richtige so doch

2 DAS ZEITALTER DER MASSEN

wenigstens ganz bestimmte Ideen von ihren Interessen zu bilden und das Bewuszligtsein ihrer Kraft zu erlangen Sie gruumlnden Syndikate denen sich alle Machthaber unterwer- fen Arbeitsboumlrsen die allen Wirtschaftsgesetzen zum Trotz die Bedingungen der Arbeit und des Lohnes zu regeln suchen Sie entsenden in die Parlamente Abgeordnete denen aller Unternehmungsgeist alle Selbstaumlndigkeit fehlt und die oft nur zu Wortfuumlhrern der Ausschuumlsse die sie gewaumlhlt hatten herabgewuumlrdigt wurdenHeute werden die Forderungen der Massen nach und nach immer deutlicher und laufen auf nichts Geringeres hinaus als auf den gaumlnzlichen Umsturz der gegenwaumlrtigen Gesell- schaft um sie jenem primitiven Kommunismus zuzufuumlhren der vor dem Beginn der Kultur der normale Zustand aller menschlichen Gemeinschaft war Begrenzung der Arbeits- zeit Enteignung von Bergwerken Eisenbahnen Fabriken und Boden gleiche Verteilung aller Produkte Abschaffung aller oberen Klassen zugunsten der Volksklassen usw ndash das sind ihre ForderungenJe weniger die Masse vernuumlnftiger Uumlberlegung faumlhig ist um so mehr ist sie zur Tat geneigt Die Organisation hat ihre Kraft ins Ungeheure gesteigert Die Glaubenslehren die wir auftauchen sehen werden bald die Macht der alten Glaubenslehren besitzen d h die tyrannische und herrische Kraft welche sich aller Auseinandersetzung entzieht Das goumlttliche Recht der Massen wird das goumlttliche Recht der Koumlnige ersetzenDie Lieblingsschriftsteller der jetzigen Bourgeoisie die am besten deren etwas beschraumlnkte Ideen ihre kurzsichtigen Anschauungen ihren allgemeingehaltenen Skeptizismus und oft uumlbermaumlszligigen Egoismus schildern geraten vor der neuen Macht die sie heranwachsen sehen voumlllig auszliger Fassung und richten um die Verwirrung der Geister zu bekaumlmpfen einen verzweifelten Appell an die sittlichen Kraumlfte der Kirche die sie einst so gering schaumltzten Sie sprechen vom Bankrott der Wissenschaft und erinnern uns an die Leh- ren der geoffenbarten Wahrheiten Aber diese Neubekehr-

3ENTWICKLUNG DES GEGENWAumlRTIGEN ZEITALTERS

ten vergessen daszlig die Gnade wenn sie sie wirklich be- ruumlhrte doch nicht die gleiche Macht uumlber jene Seelen hat die sich wenig um das Jenseits kuumlmmern Die Massen wol- len heute die Goumltter nicht mehr die ihre ehemaligen Her- ren gestern noch verleugneten und zerstoumlren halfen Die Fluumlsse flieszligen nicht zu ihren Quellen zuruumlckDie Wissenschaft hat mitnichten Bankrott gemacht und hat nichts mit der gegenwaumlrtigen Anarchie der Geister oder mit der neuen Macht zu tun die in ihrem Schoszlige empor- waumlchst Sie hat uns die Wahrheit verheiszligen oder wenig- stens die Erkenntnis der Zusammenhaumlnge die unsrem Ver- stande zugaumlnglich sind sie hat uns niemals den Frieden und das Gluumlck versprochen In uumlberlegener Gleichguumlltigkeit gegen unsre Gefuumlhle houmlrt sie unsre Klagen nicht und nichts ver- mag uns die Taumluschungen wiederzugeben die sie vertriebAllgemeine Symptome die bei allen Nationen erkennbar sind zeigen uns das reiszligende Anwachsen der Macht der Massen Was es auch bringen mag wir werden es ertragen muumlssen Alle Anschuldigungen sind nur nutzloses Gerede Vielleicht bedeutet der Aufstieg der Massen eine der letzten Etappen der Kulturen des Abendlandes die Ruumlckkehr zu jenen Zeiten verworrener Anarchie die stets dem Auf- bluumlhen einer neuen Gesellschaft voranzugehen scheinen Aber wie waumlre er zu verhindernBisher bestand die Aufgabe der Massen offenbar in diesen groszligen Zerstoumlrungen der alten Kulturen Die Geschichte lehrt uns daszlig in dem Augenblick da die moralischen Kraumlfte das Ruumlstzeug einer Gesellschaft ihre Herrschaft verloren haben die letzte Aufloumlsung von jenen unbewuszlig- ten und rohen Massen welche recht gut als Barbaren ge- kennzeichnet werden herbeigefuumlhrt wird Bisher wurden die Kulturen von einer kleinen intellektuellen Aristokratie geschaffen und geleitet niemals von den Massen Die Mas- sen haben nur Kraft zur Zerstoumlrung Ihre Herrschaft bedeutet stets eine Stufe der Aufloumlsung Eine Kultur setzt feste Regeln Zucht den Uumlbergang des Triebhaften zum Vernuumlnftigen die Vorausberechnung der Zukunft uumlber-

DAS ZEITALTER DER MASSEN4

haupt einen hohen Bildungsgrad voraus ndash Bedingungen fuumlr welche die sich selbst uumlberlassenen Massen voumlllig unzu- gaumlnglich sind Vermoumlge ihrer nur zerstoumlrerischen Macht wirken sie gleich jenen Mikroben welche die Aufloumlsung geschwaumlchter Koumlrper oder Leichen beschleunigen Ist das Gebaumlude einer Kultur morsch geworden so fuumlhren die Massen seinen Zusammenbruch herbei Jetzt tritt ihre Hauptaufgabe zutage Ploumltzlich wird die blinde Macht der Masse fuumlr einen Augenblick zur einzigen Philosophie der GeschichteWird es sich mit unsrer Kultur ebenso verhalten Es ist zu befuumlrchten aber wir wissen es noch nichtWir muumlssen uns damit abfinden die Herrschaft der Massen zu ertragen da unvorsichtige Haumlnde allmaumlhlich alle Schran- ken die jene zuruumlckhalten konnten niedergerissen haben Wir kennen diese Massen von denen man jetzt so viel spricht Die Psychologen von Fach die nicht in ihrer Naumlhe leben haben sie stets ignoriert und sich mit ihnen nur in bezug auf die Verbrechen beschaumlftigt zu denen sie faumlhig sind Zweifellos gibt es verbrecherische Massen aber es gibt auch tugendhafte heroische und noch viele anders- artige Massen Die Massenverbrechen bilden lediglich einen Sonderfall ihres Seelenlebens und lassen ihre geistige Be- schaffenheit nicht besser erkennen als die eines Einzel- wesens von dem man nur seine Laster kenntDoch offen gestanden Alle Herren der Erde alle Reli- gions- und Reichsstifter die Apostel aller Glaubensrichtun- gen die hervorragenden Staatsmaumlnner und in einer be- scheideneren Sphaumlre die einfachen Haumlupter kleiner mensch- licher Gemeinschaften waren stets unbewuszligte Psychologen mit einer instinktiven und oft sehr sicheren Kenntnis der Massenseele weil sie diese gut kannten wurden sie so leicht Machthaber Napoleon erfaszligte wunderbar das Seelen- leben der franzoumlsischen Massen aber er verkannte oft voumlllig die Massenseele fremder Rassen Diese Unkenntnis Uumlbrigens verstanden sich seine kluumlgsten Ratgeber nicht besser darauf Tal- leyrand schrieb ihm Spanien wuumlrde seine Soldaten als Befreier empfangen Es empfing sie wie Raubtiere Ein mit den Erbinstinkten der Rasse vertrauter Psychologe haumltte diesen Empfang leicht voraussehen koumlnnen

DIE MASSEN ALS ZERSTOumlRERINNEN DER KULTUR 5

veranlaszligte ihn namentlich in Spanien und Ruszligland Kriege zu fuumlhren die seinen Sturz vorbereiteten

Die Kenntnis der Psychologie der Massen ist heute das letzte Hilfsmittel fuumlr den Staatsmann der diese nicht etwa beherrschen ndash das ist zu schwierig geworden ndash aber wenig- stens nicht allzusehr von ihnen beherrscht werden willDie Massenpsychologie zeigt wie auszligerordentlich wenig Einfluszlig Gesetze und Einrichtungen auf die urspruumlngliche Natur der Massen haben und wie unfaumlhig diese sind Mei- nungen zu haben auszliger jenen die ihnen eingefloumlszligt wur- den Regeln welche auf rein begrifflichem Ermessen be- ruhen vermoumlgen sie nicht zu leiten Nur die Eindruumlcke die man in ihre Seele pflanzt koumlnnen sie verfuumlhren Darf z B ein Gesetzgeber der eine neue Steuer auflegen will die theoretisch gerechteste waumlhlen Keinesfalls Die unge- rechteste kann praktisch fuumlr die Massen die beste sein wenn sie am unauffaumllligsten und leichtesten in Erscheinung tritt Auf diese Weise wird eine noch so hohe indirekte Steuer allezeit von der Masse angenommen werden Wenn sie taumlglich pfennigweise fuumlr Konsumartikel entrichtet wird stoumlrt sie die Gewohnheiten nicht und beeinfluszligt sie wenig Man lege an ihrer Stelle eine proportionale auf einmal zu entrichtende Steuer auf die Loumlhne oder anderen Einkom- men mag sie auch theoretisch zehnmal weniger hart sein als die andre so wird sie heftigen Widerspruch erregen An Stelle der taumlglichen Pfennige die man nicht spuumlrt tritt naumlmlich eine verhaumlltnismaumlszligig hohe Geldsumme die am Zahl- tag riesig groszlig erscheint und sehr nachdruumlcklich empfunden wird Sie waumlre nur dann unbemerkt verbraucht worden wenn sie Pfennig fuumlr Pfennig zur Seite gelegt worden waumlre aber ein so wirtschaftliches Gebaren wuumlrde ein Maszlig von Voraus- sicht beweisen dessen die Massen unfaumlhig sindDies Beispiel enthuumlllt sonnenklar ihre geistige Verfassung Einem Psychologen wie Napoleon ist sie nicht entgangen aber die Gesetzgeber weiche die Massenseele nicht beachten wuumlr- den sie nicht verstehen Die Erfahrung hat ihnen noch nicht

6 DAS ZEITALTER DER MASSEN

genuumlgend bewiesen daszlig die Menschen sich niemals von den Vorschriften der reinen Vernunft leiten lassenSo lieszlige sich die Massenpsychologie noch auf vieles andere anwenden Ihre Kenntnis wirft hellstes Licht auf zahlreiche historische und oumlkonomische Erscheinungen die ohne sie voumlllig unverstaumlndlich bleibenSelbst wenn es lediglich das Interesse unsrer Neugier be- friedigte verdiente das Studium der Massenpsychologie in Angriff genommen zu werden denn es ist ebenso inter- essant die Triebkraumlfte der menschlichen Handlungen zu entraumltseln wie die eines Minerals oder einer PflanzeUnser Studium der Massenseele wird nur einen kurzen Uumlberblick eine bloszlige Zusammenfassung unsrer Unter- suchungen bieten koumlnnen Man darf von ihr nicht mehr als einige anregende Gesichtspunkte verlangen Andere werden das Gebiet besser bearbeiten Heute ist es noch jungfraumlulicher Boden den wir beackern

Die wenigen Autoren die sich mit dem Studium der Psychologie der Massen abgeben haben ihre Untersuchungen nur hinsichtlich der Verbrechen ange- stellt Da ich diesem Stoffgebiet nur ein kurzes Kapitel gewidmet habe so verweise ich den Leser auf die Arbeiten von Tarde und die Schrift von Sighele bdquoDie verbrecherische Masseldquo Die letztere Arbeit enthaumllt keinen ein- zigen neuen Gedanken des Autors gibt aber eine Zusammenstellung von Tat- sachen die der Psychologe verwerten kann uumlbrigens sind meine Schluszlig- folgerungen betreffs der Kriminalitaumlt und Moralitaumlt der Massen denen der beiden Autoren die ich nannte ganz entgegengesetztMan wird in meinen verschiedenen Arbeiten besonders in meiner Schrift bdquoDie Psychologie des Sozialismusldquo einige Ergebnisse aus den Gesetzen finden welche die Massenpsychologie beherrschen Diese Gesetze Sassen sich auszligerdem auf den verschiedensten Gebieten anwenden Der Direktor des Koumlnigl Konservatoriums in Bruumlssel A Gevaert hat von den Gesetzen die ich in einer Abhandlung uumlber Musik darlegte welche er treffend als bdquoMassenkunstldquo bezeichnete eine bemerkenswerte Anwendung gemacht bdquoIhre beiden Schriftenldquo schrieb mir dieser ausgezeichnete Lehrer bei Uumlbersendung seiner Abhandlung bdquohaben mir die Loumlsung eines von mir fruumlher als unloumlslich betrachteten Problems gebracht die erstaunliche Eignung jeder Masse ein neues oder altes ein einheimisches oder fremdes ein einfaches oder zusammengesetztes Tonstuumlck zu empfinden vorausgesetzt daszlig es schoumln gespielt wird und daszlig die Musiker einen begei- sterten Dirigenten habenldquo Herr Gevaert zeigt vortrefflich warum bdquoein Werk welches ausgezeichneten Musikern bei Durchsicht der Partitur in der Einsam- keit ihres Zimmers unverstaumlndlich blieb oft von einem jeder technischen Bil- dung ermangelnden Auditorium ohne weiteres erfaszligt wirdldquo Ebenso ausge- zeichnet erklaumlrt er weshalb diese aumlsthetischen Eindruumlcke keinerlei Spuren hinterlassen

DIE MASSEN UND DER STAATSMANN 7

ERSTES BUCH

DIE MASSENSEELE

1 KAPITEL

Allgemeine Kennzeichen der Massen Das psychologische Gesetz von ihrer seelischen Einheit

Im gewoumlhnlichen Wortsinn bedeutet Masse eine Vereinigung irgendwelcher einzelner von beliebiger Nationalitaumlt belie- bigem Beruf und Geschlecht und beliebigem Anlaszlig der Ver- einigungVom psychologischen Gesichtspunkt bedeutet der Ausdruck bdquoMasseldquo etwas ganz anderes Unter bestimmten Umstaumlnden und nur unter diesen Umstaumlnden besitzt eine Versammlung von Menschen neue von den Eigenschaften der einzelnen die diese Gesellschaft bilden ganz verschiedene Eigentuumlm- lichkeiten Die bewuszligte Persoumlnlichkeit schwindet die Ge- fuumlhle und Gedanken aller einzelnen sind nach derselben Richtung orientiert Es bildet sich eine Gemeinschaftsseele die wohl veraumlnderlich aber von ganz bestimmter Art ist Die Gesamtheit ist nun das geworden was ich mangels eines besseren Ausdrucks als organisierte Masse oder wenn man lieber will als psychologische Masse bezeichnen werde Sie bildet ein einziges Wesen und unterliegt dem Gesetz der see- lischen Einheit der Massen (loi de lrsquouniteacute mentale des foules) Die Tatsache daszlig viele Individuen sich zufaumlllig zusammen- finden verleiht ihnen noch nicht die Eigenschaften einer organisierten Masse Tausend zufaumlllig auf einem oumlffentlichen Platz ohne einen bestimmten Zweck versammelte einzelne bilden keineswegs eine Masse im psychologischen Sinne Da- mit sie die besonderen Wesenszuumlge der Masse annehmen be- darf es des Einflusses gewisser Reize deren Wesensart wir zu bestimmen haben

Das Schwinden der bewuszligten Persoumlnlichkeit und die Orien- tierung der Gefuumlhle und Gedanken nach einer bestimmten Richtung die ersten Vorstoumlszlige der Masse auf dem Weg sich zu organisieren erfordern nicht immer die gleich- zeitige Anwesenheit mehrerer einzelner an einem einzigen Ort Tausende von getrennten einzelnen koumlnnen im ge- gebenen Augenblick unter dem Einfluszlig gewisser heftiger Gemuumltsbewegungen etwa eines groszligen nationalen Ereig- nisses die Kennzeichen einer psychologischen Masse an- nehmen Irgendein Zufall der sie vereinigt genuumlgt dann daszlig ihre Handlungen sogleich die besondere Form der Massenhandlungen annehmen In gewissen historischen Augenblicken kann ein halbes Dutzend Menschen eine psychologische Masse ausmachen waumlhrend hunderte zu- faumlllig vereinigte Menschen sie nicht bilden koumlnnen Anderer- seits kann bisweilen ein ganzes Volk ohne sichtbare Zu- sammenscharung unter dem Druck gewisser Einfluumlsse zur Masse werdenHat sich eine psychologische Masse gebildet so erwirbt sie vorlaumlufige aber bestimmbare allgemeine Merkmale Diesen allgemeinen Merkmalen gesellen sich besondere Kennzeichen veraumlnderlicher Art hinzu je nach den Ele- menten aus denen die Masse sich zusammensetzt und durch die ihre geistige Struktur zu veraumlndern istDie psychologischen Massen lassen sich also einteilen Das Studium dieser Einteilung wird uns zeigen daszlig eine hete- rogene d h aus ungleichartigen Elementen zusammen- gesetzte Masse mit homogenen d h aus mehr oder minder aumlhnlichen Elementen zusammengesetzten Massen (Sekten Kasten Klassen) allgemeine Kennzeichen gemein hat und auszligerdem noch Besonderheiten aufweist durch die sie sich voneinander unterscheiden lassenBevor wir uns aber mit den verschiedenen Arten der Masse befassen muumlssen wir zuerst die allgemeinen Kenn- zeichen untersuchen Wir werden gleich dem Naturforscher vorgehen der mit der Beschreibung der allgemeinen Merk- male der Mitglieder einer Familie beginnt bevor er sich

WAS IST EINE MASSE 11

mit den besonderen Merkmalen befaszligt welche die Unter- scheidung der Gattungen und Arten dieser Familie ermoumlg- lichenDie genaue Schilderung der Massenseele ist nicht leicht weil ihre Organisation nicht bloszlig nach Rasse und Zu- sammensetzung der Gesamtheit sondern auch nach der Natur und dem Grade der Anreize schwankt denen diese Gesamtheit unterliegt Aber dieselbe Schwierigkeit besteht fuumlr das psychologische Studium jedes beliebigen Wesens Nur in Romanen aber nicht im wirklichen Leben haben die einzelnen einen bestaumlndigen Charakter aufzuweisen Allein die Gleichfoumlrmigkeit der Umgebung schafft die sicht- bare Gleichartigkeit der Charaktere Ich habe anderwaumlrts gezeigt daszlig alle geistigen Beschaffenheiten Charaktermoumlg- lichkeiten enthalten die sich unter dem Einf luszlig eines jaumlhen Umgebungswechsels offenbaren koumlnnen So befanden sich unter den wildesten grausamsten Konventmitgliedern gutmuumltige Buumlrger die unter normalen Verhaumlltnissen fried- liche Notare oder ehrsame Beamte geworden waumlren Als der Sturm voruumlber war nahmen sie ihren Normalcharakter als friedliche Buumlrger wieder an Unter ihnen fand Napo- leon seine willigsten DienerDa wir hier nicht alle Stufen der Massenbildung studieren koumlnnen werden wir sie besonders in dem Zustand ihrer vollendeten Organisation ins Auge fassen Wir werden auf diese Weise sehen was sie werden koumlnnen aber nicht was sie immer sind Allein in diesem fortgeschrittenen Organisationszustand bauen sich auf dem unveraumlnderlichen und vorherrschenden Rassenuntergrunde gewisse neue und besondere Merkmale auf und es vollzieht sich die Wen- dung aller Gefuumlhle und Gedanken der Gesamtheit nach einer uumlbereinstimmenden Richtung So allein offenbart sich was ich oben das psychologische Gesetz der seelischen Einheit der Massen genannt habeVerschiedene psychische Kennzeichen der Massen haben sie gemein mit alleinstehenden Individuen waumlhrend andere im Gegenteil nur bei Gesamtheiten anzutreffen sind Wir

12 ALLGEMEINE KENNZEICHEN DER MASSEN

wollen zunaumlchst die besonderen Merkmale studieren um ihre Bedeutung recht aufzuzeigenDas Uumlberraschendste an einer psychologischen Masse ist welcher Art auch die einzelnen sein moumlgen die sie bilden wie aumlhnlich oder unaumlhnlich ihre Lebensweise Beschaumlfti- gungen ihr Charakter oder ihre Intelligenz ist durch den bloszligen Umstand ihrer Umformung zu Masse besitzen sie eine Art Gemeinschaftsseele vermoumlge deren sie in ganz andrer Weise fuumlhlen denken und handeln als jedes von ihnen fuumlr sich fuumlhlen denken und handeln wuumlrde Es gibt gewisse Ideen und Gefuumlhle die nur bei den zu Massen verbundenen einzelnen auftreten oder sich in Handlungen umsetzen Die psychologische Masse ist ein unbestimmtes Wesen das aus ungleichartigen Bestandteilen besteht die sich fuumlr einen Augenblick miteinander verbunden haben genau so wie die Zellen des Organismus durch ihre Ver- einigung ein neues Wesen mit ganz anderen Eigenschaften als denen der einzelnen Zellen bildenIn Widerspruch zu einer Anschauung die sich befremd- licherweise bei einem so scharfsinnigen Philosophen wie Herbert Spencer findet gibt es in dem Haufen der eine Masse bildet keineswegs eine Summe und einen Durch- schnitt der Bestandteile sondern Zusammenfassung und Bildung neuer Bestandteile genau so wie in der Chemie sich bestimmte Elemente wie z B die Basen und Saumluren bei ihrem Zustandekommen zur Bildung eines neuen Koumlr- pers verbinden dessen Eigenschaften von denen der Koumlr- per die an seinem Zustandekommen beteiligt waren voumll- lig verschieden sindEs ist leicht festzustellen inwieweit sich der einzelne in einer Masse vom alleinstehenden einzelnen unterscheidet weniger leicht aber ist die Aufdeckung der Ursachen dieser VerschiedenheitUm diesen Ursachen wenigstens einigermaszligen naumlherzu- kommen muszlig man sich zunaumlchst an die Feststellung der modernen Psychologie erinnern daszlig nicht nur im orga- nischen Leben sondern auch in den Vorgaumlngen des Ver-

GESETZ VON DER SEELISCHEN EINHEIT DER MASSEN 13

standes die unbewuszligten Erscheinungen eine ausschlagge- bende Rolle spielen Das bewuszligte Geistesleben bildet nur einen sehr geringen Teil im Vergleich zum unbewuszligten Seelenleben Der geschickteste Analytiker der schaumlrfste Beobachter kann nur eine sehr kleine Anzahl bewuszligter Triebfedern die ihn fuumlhren entdecken Unsere bewuszligten Handlungen entspringen einer unbewuszligten Grundlage die namentlich durch Vererbungseinfluumlsse geschaffen wird Diese Grundlage enthaumllt die zahllosen Ahnenspuren aus denen sich die Rassenseele aufbaut Hinter den eingestandenen Ursachen unserer Handlungen gibt es zweifellos geheime Gruumlnde die wir nicht eingestehen hinter diesen aber liegen noch gehei- mere die wir nicht einmal kennen Die Mehrzahl unserer taumlglichen Handlungen ist nur die Wirkung verborgener Triebkraumlfte die sich unserer Kenntnis entziehenDurch die unbewuszligten Bestandteile die der Rassenseele zugrunde liegen aumlhneln sich alle einzelnen dieser Rasse durch ihre bewuszligten Anlagen dagegen ndash Fruumlchte der Erziehung vor allem aber einer besonderen Erblichkeit ndash unterscheiden sie sich voneinander Menschen von ver- schiedenartigster Intelligenz haben aumluszligerst aumlhnliche Triebe Leidenschaften und Gefuumlhle In allem was Gegenstand des Gefuumlhls ist Religion Politik Moral Sympathien und Antipathien usw uumlberragen die ausgezeichnetsten Men- schen nur selten das Niveau der gewoumlhnlichen einzelnen Zwischen einem groszligen Mathematiker und seinem Schuster kann verstandesmaumlszligig ein Abgrund klaffen aber hinsicht- lich des Charakters ist der Unterschied oft nichtig oder sehr geringEben diese allgemeinen Charaktereigenschaften die vom Unbewuszligten beherrscht werden und der Mehrzahl der normalen Angehoumlrigen einer Rasse ziemlich gleichmaumlszligig eigen sind werden in den Massen vergemeinschaftlicht In der Gemeinschaftsseele verwischen sich die Verstandes- faumlhigkeiten und damit auch die Persoumlnlichkeit der einzel- nen Das Ungleichartige versinkt im Gleichartigen und die unbewuszligten Eigenschaften uumlberwiegen

14 ALLGEMEINE KENNZEICHEN DER MASSEN

Eben die Vergemeinschaftlichung der gewoumlhnlichen Eigen- schaften erklaumlrt uns warum die Massen niemals Hand- lungen ausfuumlhren koumlnnen die eine besondere Intelligenz beanspruchen Die Entscheidungen von allgemeinem In- teresse die von einer Versammlung hervorragender aber verschiedenartiger Leute getroffen werden sind jenen welche eine Versammlung von Dummkoumlpfen treffen wuumlrde nicht merklich uumlberlegen Sie koumlnnen in der Tat nur die mittelmaumlszligigen Allerweltseigenschaften vergemeinschaft- lichen Die Masse nimmt nicht den Geist sondern nur die Mittelmaumlszligigkeit in sich auf Es hat nicht wie man so oft wiederholt die bdquoganze Welt mehr Geist als Voltaireldquo sondern Voltaire hat zweifellos mehr Geist als die bdquoganze Weltldquo wenn man unter dieser die Massen verstehtBeschraumlnkten sich aber die Individuen der Masse auf Ver- schmelzung ihrer allgemeinen Eigenschaften so ergaumlbe sich daraus nur ein Durchschnitt aber nicht wie wir sagten eine Schoumlpfung neuer Eigentuumlmlichkeiten Wie bilden sich diese neuen Eigentuumlmlichkeiten Das haben wir jetzt zu untersuchenDas Auftreten besonderer Charaktereigentuumlmlichkeiten der Masse wird durch verschiedene Ursachen bestimmt Die erste dieser Ursachen besteht darin daszlig der einzelne in der Masse schon durch die Tatsache der Menge ein Gefuumlhl unuumlberwindlicher Macht erlangt welches ihm gestattet Trieben zu froumlnen die er fuumlr sich allein notwendig gezuumlgelt haumltte Er wird ihnen um so eher nachgeben als durch die Namenlosigkeit und demnach auch Unverantwortlichkeit der Masse das Verantwortungsgefuumlhl das die einzelnen stets zuruumlckhaumllt voumlllig verschwindetEine zweite Ursache die geistige Uumlbertragung (contagion mentale) bewirkt gleichfalls das Erscheinen der besonderen Wesenszuumlge der Masse und zugleich ihre Richtung Die Uumlbertragung ist leicht festzustellen aber noch nicht zu er- klaumlren man muszlig sie den Erscheinungen hypnotischer Art zuordnen mit denen wir uns sogleich beschaumlftigen werden In der Masse ist jedes Gefuumlhl jede Handlung uumlbertragbar

DIE MASSE VOM UNBEWUSSTEN BEHERRSCHT 15

und zwar in so hohem Grade daszlig der einzelne sehr leicht seine persoumlnlichen Wuumlnsche den Gesamtwuumlnschen opfert Diese Faumlhigkeit ist seiner eigentlichen Natur durchaus ent- gegengesetzt und nur als Bestandteil einer Masse ist der Mensch dazu faumlhigNoch eine dritte und zwar die wichtigste Ursache ruft in den zur Masse vereinigten einzelnen besondere Eigenschaf- ten hervor welche denen der alleinstehenden einzelnen voumlllig widersprechen ich rede von der Beeinfluszligbarkeit (suggestibilite) von der die obenerwaumlhnte geistige Uumlbertra- gung uumlbrigens nur eine Wirkung istUm diese Erscheinung zu verstehen muumlssen wir uns ge- wisse neue Entdeckungen der Physiologie vergegenwaumlrti- gen Wir wissen heute daszlig ein Mensch in einen Zustand versetzt werden kann der ihn seiner bewuszligten Persoumln- lichkeit beraubt und ihn allen Einfluumlssen des Hypnotiseurs der ihm sein Bewuszligtsein genommen hat gehorchen und Handlungen begehen laumlszligt die zu seinem Charakter und seinen Gewohnheiten in schaumlrfstem Gegensatz stehen Sorg- faumlltige Beobachtungen scheinen nun zu beweisen daszlig ein einzelner der lange Zeit im Schoszlige einer wirkenden Masse eingebettet war sich alsbald ndash durch Ausstroumlmungen die von ihr ausgehen oder sonst eine noch unbekannte Ur- sache ndash in einem besonderen Zustand befindet der sich sehr der Verzauberung naumlhert die den Hypnotisierten unter dem Einfluszlig des Hypnotiseurs uumlberkommt Da das Verstandesleben des Hypnotisierten lahmgelegt ist wird er der Sklave seiner unbewuszligten Kraumlfte die der Hypnoti- seur nach seinem Belieben lenkt Die bewuszligte Persoumlnlich- keit ist voumlllig ausgeloumlscht Wille und Unterscheidungsver- moumlgen fehlen alle Gefuumlhle und Gedanken sind in die Sinne verlegt die durch den Hypnotiseur beeinfluszligt werdenUngefaumlhr in diesem Zustand befindet sich der einzelne als Glied einer Masse Er ist sich seiner Handlungen nicht mehr bewuszligt Waumlhrend bei ihm wie beim Hypnotisierten gewisse Faumlhigkeiten aufgehoben sind koumlnnen andere auf einen Zustand houmlchster Uumlberspannung getrieben werden

16 ALLGEMEINE KENNZEICHEN DER MASSEN

Unter dem Einfluszlig einer Suggestion wird er sich mit un- widerstehlichem Ungestuumlm auf gewisse Taten werfen Und dies Ungestuumlm ist in den Massen noch unwiderstehlicher als bei den Hypnotisierten weil die fuumlr alle einzelnen gleiche Suggestion durch Gegenseitigkeit waumlchst Die ein- zelnen in einer Masse die eine hinreichend starke Persoumln- lichkeit haben um dem Einfluszlig zu widerstehen sind in zu geringer Anzahl vorhanden und der Strom reiszligt sie mit Houmlchstens koumlnnen sie vermittels eines anderen Einflusses eine Ablenkung versuchen Ein gluumlcklicher Ausdruck ein im rechten Augenblick angewandter bildlicher Vergleich hat oft die Massen von den blutigsten Taten abgehaltenDie Hauptmerkmale des einzelnen in der Masse sind also Schwinden der bewuszligten Persoumlnlichkeit Vorherrschaft des unbewuszligten Wesens Leitung der Gedanken und Gefuumlhle durch Beeinflussung und Uumlbertragung in der gleichen Rich- tung Neigung zur unverzuumlglichen Verwirklichung der ein- gefloumlszligten Ideen Der einzelne ist nicht mehr er selbst er ist ein Automat geworden dessen Betrieb sein Wille nicht mehr in der Gewalt hatAllein durch die Tatsache Glied einer Masse zu sein steigt der Mensch also mehrere Stufen von der Leiter der Kultur hinab Als einzelner war er vielleicht ein gebildetes Indivi- duum in der Masse ist er ein Triebwesen also ein Barbar Er hat die Unberechenbarkeit die Heftigkeit die Wildheit aber auch die Begeisterung und den Heldenmut urspruumlng- licher Wesen denen er auch durch die Leichtigkeit aumlhnelt mit der er sich von Worten und Vorstellungen beeinflussen und zu Handlungen verfuumlhren laumlszligt die seine augenschein- lichsten Interessen verletzen In der Masse gleicht der ein- zelne einem Sandkorn in einem Haufen anderer Sand- koumlrner das der Wind nach Belieben emporwirbeltAus diesem Grunde sprechen Schwurgerichte Urteile aus die jeder Geschworene als einzelner miszligbilligen wuumlrde Parlamente nehmen Gesetze und Vorlagen an die jedes Mitglied einzeln ablehnen wuumlrde Einzeln genommen waren die Maumlnner des Konvents aufgeklaumlrte Buumlrger mit fried-

UMWANDLUNG DER GEFUumlHLE DES EINZELNEN 17

lichen Gewohnheiten Zur Masse vereinigt zauderten sie nicht unter dem Einfluszlig einiger Fuumlhrer die offenbar un- schuldigsten Menschen aufs Schafott zu schicken brachen unter Auszligerachtlassung ihres eignen Vorteils deren Un- verletzlichkeit und verringerten ihre ScharNicht nur in seinen Handlungen weicht das Glied der Masse von seinem normalen Ich ab Schon bevor es jede Unabhaumlngigkeit einbuumlszligte haben sich seine Gedanken und Gefuumlhle umgeformt und zwar so daszlig der Geizige zum Verschwender der Zweif ler zum Glaumlubigen der Ehren- mann zum Verbrecher der Hasenfuszlig zum Helden wird Der Verzicht auf alle seine verbrieften Vorrechte den der Adel in einem Augenblick der Begeisterung in der be- ruumlhmten Nacht vom 4 August 789 leistete waumlre sicher- lich von seinen Mitgliedern als einzelnen niemals ange- nommen wordenAus den vorstehenden Beobachtungen ist zu schlieszligen daszlig die Masse dem alleinstehenden Menschen intellektuell stets untergeordnet ist Hinsichtlich der Gefuumlhle aber und der durch sie bewirkten Handlungen kann sie unter Umstaumln- den besser oder schlechter sein Es haumlngt alles von der Art des Einflusses ab unter dem die Masse steht Das haben die Schriftsteller die die Masse nur vom kriminellen Ge- sichtspunkt studiert haben vollstaumlndig verkannt Gewiszlig ist die Masse oft verbrecherisch oft aber auch heldenhaft Man bringt sie leicht dazu sich fuumlr den Triumph eines Glaubens oder einer Idee in den Tod schicken zu lassen begeistert sie fuumlr Ruhm und Ehre daszlig sie sich wie im Zeitalter der Kreuzzuumlge fast ohne Brot und Wasser zur Befreiung des goumlttlichen Grabes von den Unglaumlubigen oder wie im Jahre 793 zur Verteidigung des vaterlaumlndi- schen Bodens fortreiszligen laumlszligt Gewiszlig ein unbewuszligtes Hel- dentum aber durch solche Heldentaten vollzieht sich die Geschichte Wollte man nur die mit kalter Uumlberlegung ausgefuumlhrten Groszligtaten auf das Aktivkonto der Voumllker schreiben so wuumlrden in den Weltannalen nur wenige ver- zeichnet sein

18 ALLGEMEINE KENNZEICHEN DER MASSEN

2 KAPITEL

Gefuumlhle und Sittlichkeit der Massen

Nach diesem allgemeinen Hinweis auf die Hauptkenn- zeichen der Massen kommen wir nun zur Untersuchung der EinzelheitenVerschiedene besondere Eigenschaften der Massen wie Triebhaftigkeit (impulsiviteacute) Reizbarkeit (irritabiliteacute) Un- faumlhigkeit zum logischen Denken Mangel an Urteil und kritischem Geist Uumlberschwang der Gefuumlhle (exageacuteration des sentiments) und noch andere sind bei Wesen einer nied- rigeren Entwicklungsstufe wie beim Wilden und beim Kinde ebenfalls zu beobachten Ich streife diese Uumlberein- stimmung nur im Voruumlbergehen denn ihre Ausfuumlhrung wuumlrde uumlber den Rahmen dieser Arbeit hinausgehen Sie waumlre unnoumltig fuumlr alle mit der Psychologie der Primitiven Vertrauten und fuumlr jene die nichts von ihr wissen ohne rechte UumlberzeugungskraftIch gehe nun die verschiedenen Merkmale die sich bei der Mehrzahl der Massen leicht beobachten lassen der Reihe nach durch

sect Triebhaftigkeit Beweglichkeit und Erregbarkeit der Massen

Bei der Untersuchung ihrer grundlegenden Charakterzuumlge sagten wir daszlig die Masse beinahe ausschlieszliglich vom Un- bewuszligten geleitet wird Ihre Handlungen stehen viel oumlfter unter dem Einfluszlig des Ruumlckenmarks als unter dem des Gehirns Die vollzogenen Handlungen koumlnnen ihrer Aus- fuumlhrung nach vollkommen sein da sie aber nicht vom Ge- hirn ausgehen so handelt der einzelne nach zufaumllligen Reizen Die Masse ist der Spielball aller aumluszligeren Reize deren unaufhoumlrlichen Wechsel sie widerspiegelt Sie ist also die Sklavin der empfangenen Anregungen Der allein- stehende einzelne kann ja denselben Reizen unterliegen

wie die Masse da ihm aber sein Gehirn die unangenehmen Folgen des Nachgebens zeigt so gehorcht er ihnen nicht Physiologisch laumlszligt es sich so erklaumlren daszlig der alleinste- hende einzelne die Faumlhigkeit zur Beherrschung seiner Emp- findungen hat die Masse aber nicht dazu imstande istDie mannigfachen Triebe denen die Massen gehorchen koumlnnen je nach dem Anreiz edel oder grausam heldenhaft oder feige sein stets aber sind sie so unabweisbar daszlig der Selbsterhaltungstrieb vor ihnen zuruumlcktrittDa die Reize die auf eine Masse wirken sehr wechseln und die Massen ihnen immer gehorchen so sind sie natuumlr- lich aumluszligerst wandelbar Daher sehen wir sie auch in dem- selben Augenblick von der blutigsten Grausamkeit zum unbedingtesten Heldentum oder Edelmut uumlbergehen Die Masse wird leicht zum Henker ebenso leicht aber auch zum Maumlrtyrer Aus ihrem Herzen floumlssen die Stroumlme von Blut die fuumlr den Triumph jedes Glaubens notwendig sind Man braucht nicht zu den Zeitaltern der Helden zuruumlck- zugehen um zu erkennen wozu die Massen faumlhig sind Nie markten sie bei einem Aufstand um ihr Leben und erst vor wenigen Jahren haumltte ein General der ploumltzlich volkstuumlmlich geworden war wenn er es verlangt haumltte leicht hunderttausend Menschen gefunden bereit sich fuumlr seine Sache toumlten zu lassenNichts ist also bei den Massen vorbedacht Sie koumlnnen unter dem Einfluszlig von Augenblicksreizen die ganze Folge der entgegengesetzten Gefuumlhle durchlaufen Sie gleichen den Blaumlttern die der Sturm aufwirbelt nach allen Rich- tungen verstreut und wieder fallen laumlszligt Die Betrachtung gewisser revolutionaumlrer Massen wird uns einige Beispiele fuumlr die Veraumlnderlichkeit ihrer Gefuumlhle gebenDiese Veraumlnderlichkeit macht sie schwer regierbar beson- ders wenn ein Teil der oumlffentlichen Gewalt in ihre Haumlnde gefallen ist Wuumlrden die Notwendigkeiten des Alltags- lebens nicht eine Art unsichtbarer Regelung der Ereignisse herausbilden so koumlnnten die Demokratien nicht bestehen Wenn auch die Massen die Dinge leidenschaftlich be-

20 GEFUumlHLE UND SITTLICHKEIT DER MASSEN

gehren so wollen sie sie doch nicht fuumlr lange Zeit Sie sind ebenso unfaumlhig zu ausdauerndem Wollen wie zum DenkenDie Masse ist nicht nur triebhaft und wandelbar Gleich dem Wilden laumlszligt sie nicht zu daszlig sich zwischen ihre Be- gierde und die Verwirklichung dieser Begierde ein Hinder- nis erhebt um so weniger als ihre Uumlberzahl ihr das Ge- fuumlhl unwiderstehlicher Macht gewaumlhrt Fuumlr den einzelnen in der Masse schwindet der Begriff des Unmoumlglichen Der alleinstehende einzelne ist sich klar daruumlber daszlig er allein keinen Palast einaumlschern keinen Laden pluumlndern koumlnnte und die Versuchung dazu kommt ihm kaum in den Sinn Als Glied einer Masse aber uumlbernimmt er das Machtbe- wuszligtsein das ihm die Menge verleiht und wird der ersten Anregung zu Mord und Pluumlnderung augenblicklich nach- geben Ein unerwartetes Hindernis wird wuumltend zertruumlm- mert Wenn der menschliche Organismus dauernde Wut zulieszlige so koumlnnte man die Wut als den normalen Zustand der gehemmten Masse bezeichnenDie Erregbarkeit Triebhaftigkeit und Veraumlnderlichkeit der Massen sowie das gesamte Empfinden des Volkes das wir zu untersuchen haben werden stets durch die grundlegen- den Rasseeigenschaften abgewandelt Sie bilden den festen Boden in dem alle unsere Gefuumlhle wurzeln Ohne Zweifel sind die Massen reizbar und triebhaft aber in den mannig- fachsten Abstufungen Der Unterschied zwischen einer la- teinischen und einer angelsaumlchsischen Masse z B ist auf- fallend Die juumlngsten Ereignisse unserer Geschichte geben ein sprechendes Bild davon Im Jahre 870 hat die Ver- oumlffentlichung eines einfachen Telegramms mit dem Bericht uumlber eine angeblich einem Botschafter zugefuumlgte Beleidigung genuumlgt einen Wutausbruch zu entfachen der zur unmittel- baren Ursache eines furchtbaren Krieges wurde Einige Jahre spaumlter erzeugte die telegraphische Anzeige einer un- bedeutenden Schlappe bei Langson einen neuen Ausbruch der den sofortigen Sturz der Regierung herbeifuumlhrte Zu gleicher Zeit erregte die viel schwerere Niederlage einer

TRIEBHAFTIGKEIT BEWEGLICHKEIT ERREGBARKEIT 21

englischen Expedition bei Khartum nur eine sehr schwache Bewegung in England und kein Ministerium fiel Uumlberall sind die Massen weibisch die weibischsten aber sind die lateinischen Massen Wer sich auf sie stuumltzt kann sehr hoch und sehr schnell steigen aber stets in der Naumlhe des tarpeji- schen Felsens und mit der Gewiszligheit eines Tages hinunter- gestuumlrzt zu werden

sect 2 Beeinfluszligbarkeit und Leichtglaumlubigkeit der Massen

Als einen der allgemeinen Charakterzuumlge bezeichneten wir die uumlbermaumlszligige Beeinf luszligbarkeit und wiesen nach wie ansteckend eine Beeinflussung in jeder Menschenansamm- lung ist woraus sich die blitzschnelle Gerichtetheit der Gefuumlhle in einem bestimmten Sinne erklaumlrt So parteilos man sich die Masse auch vorstellt so befindet sie sich doch meistens in einem Zustand gespannter Erwartung der die Beeinflussung beguumlnstigt Die erste klar zum Ausdruck gebrachte Beeinflussung teilt sich durch Uumlbertragung augen- blicklich allen Gehirnen mit und gibt sogleich die Gefuumlhls- richtung an Bei allen Beeinfluszligten draumlngt die fixe Idee danach sich in eine Tat umzuformen Ob es sich darum handelt einen Palast in Brand zu stecken oder sich zu opfern die Masse ist mit der gleichen Leichtigkeit dazu bereit Alles haumlngt von der Art des Anreizes ab nicht mehr wie beim alleinstehenden einzelnen von den Bezie- hungen zwischen der eingegebenen Tat und dem Maszlig der Vernunft das sich ihrer Verwirklichung widersetzen kann So muszlig die Masse die stets an den Grenzen des Unbe- wuszligten umherirrt allen Einfluumlssen unterworfen ist von der Heftigkeit ihrer Gefuumlhle erregt wird welche allen Wesen eigen ist die sich nicht auf die Vernunft berufen koumlnnen alles kritischen Geistes bar von einer uumlbermaumlszligigen Leichtglaumlubigkeit sein Nichts erscheint ihr unwahrschein- lich und das darf man nicht vergessen wenn man begrei-

22 GEFUumlHLE UND SITTLICHKEIT DER MASSEN

fen will wie leicht die unwahrscheinlichsten Legenden und Berichte zustande kommen und sich verbreiten Die Entstehung von Legenden die so leicht in den Massen umlaufen ist nicht nur die Folge vollkommener Leicht- glaumlubigkeit sondern auch der ungeheuerlichen Entstellun- gen welche die Ereignisse in der Phantasie der Menschen- ansammlungen erfahren Der einfachste Vorfall von der Masse gesehen ist sofort ein entstelltes Geschehnis Sie denkt in Bildern und das hervorgerufene Bild loumlst eine Folge anderer Bilder aus ohne jeden logischen Zusammen- hang mit dem ersten Diesen Zustand verstehen wir leicht wenn wir bedenken welche sonderbaren Vorstellungs- reihen zuweilen ein Erlebnis in uns hervorruft Die Ver- nunft beweist die Zusammenhanglosigkeit dieser Bilder aber die Masse beachtet sie nicht und vermengt die Zusaumltze ihrer entstellenden Phantasie mit dem Ereignis Die Masse ist unfaumlhig das Persoumlnliche von dem Sachlichen zu unter- scheiden Sie nimmt die Bilder die in ihrem Bewuszligtsein auftauchen und sehr oft nur eine entfernte Aumlhnlichkeit mit der beobachteten Tatsache haben fuumlr WirklichkeitDie Entstellungen mit denen eine Masse ein Ereignis um- formt dessen Zeuge sie gewesen ist scheinen unzaumlhlig und von verschiedener An zu sein da die Menschen aus denen die Masse besteht von sehr verschiedenem Temperament sind Aber so ist es nicht Infolge der Uumlbertragung sind die Entstellungen durch die einzelnen einer Gemeinschaft alle von gleicher Art und gleichem Wesen Die erste Ent- stellung die ein Glied der Gesamtheit vorbringt formt den Kern des ansteckenden Einflusses Bevor der heilige Georg allen Kreuzfahrern auf den Mauern von Jerusalem er- schien war er sicher zuerst nur von einem von ihnen wahrgenommen worden Durch Beeinflussung und Uumlber-

Wer noch die Belagerung von Paris mitgemacht hat erlebte viele Faumllle dieser Leichtglaumlubigkeit der Massen an die unwahrscheinlichsten Dinge Ein brennendes Wachslicht in einem houmlheren Stockwerk galt sofort fuumlr ein Zeichen das man den Belagerern geben wollte Zwei Sekunden Uumlberlegung wuumlrden bewiesen haben daszlig man unmoumlglich aus einer Entfernung von mehreren Meilen dieses Kerzenlicht sehen kann

BEEINFLUSSBARKEIT UND LEICHTGLAumlUBIGKEIT 23

tragung wurde das gemeldete Wunder sofort von allen angenommenSo vollzieht sich der Vorgang von Kollektivhalluzina- tionen die in der Geschichte so haumlufig sind und alle klas- sischen Merkmale der Echtheit zu haben scheinen da es sich hier um Erscheinungen handelt die von Tausenden von Menschen festgestellt wurdenDie geistige Beschaffenheit der einzelnen aus denen die Masse besteht widerspricht nicht diesem Grundsatz Denn diese Eigenschaften sind bedeutungslos In dem Augenblick da sie zu einer Masse gehoumlren werden der Ungebildete und der Gelehrte gleich unfaumlhig zur BeobachtungDiese Behauptung mag widersinnig klingen Um sie zu beweisen muumlszligte man auf eine groszlige Anzahl historischer Tatsachen zuruumlckgreifen und dazu wuumlrden mehrere Baumlnde nicht genuumlgenDa ich aber den Leser doch nicht unter dem Eindruck un- bewiesener Behauptungen lassen moumlchte so will ich einige Beispiele anfuumlhren die ich auf gut Gluumlck aus der groszligen Anzahl die man zitieren koumlnnte herausgreifeDer folgende Fall wurde gewaumlhlt weil er besonders all- gemeinguumlltig fuumlr Kollektivhalluzinationen ist Er wirkte sich auf eine Menge aus die aus den verschiedensten ein- zelnen ndash unwissenden und gebildeten ndash bestand Er wird von dem Schiffsleutnant Julien Feacutelix in seinem Buch uumlber die Meeresstroumlmungen nebenher berichtet und ist auch in die bdquoRevue Scientifiqueldquo aufgenommen wordenDie Fregatte bdquoLa Belle-Pouleldquo kreuzte auf See um die Korvette bdquoLe Berceauldquo wiederzufinden von der sie durch einen heftigen Orkan getrennt worden war Es war am hellen lichten Tage Ploumltzlich signalisiert die Wache ein Schiff in Seenot Die Mannschaft richtet ihre Blicke auf die bezeichnete Stelle und alle Offiziere und Matrosen sehen deutlich ein menschenbeladenes Wrack welches von kleinen Fahrzeugen auf denen Notsignale flatterten ge- schleppt wurde Admiral Desfosseacutes lieszlig ein Boot bemannen um den Schiffbruumlchigen zu Hilfe zu eilen Waumlhrend sie sich

24 GEFUumlHLE UND SITTLICHKEIT DER MASSEN

naumlherten sahen die im Boot befindlichen Matrosen und Offiziere bdquoMassen von Menschen sich hin und her bewegen die Haumlnde ausstrecken und vernahmen den dumpfen und verworrenen Laumlrm einer groszligen Anzahl Stimmenldquo Als das Boot angekommen war fand man nichts weiter vor als einige mit Blaumlttern bedeckte Baumaumlste die sich von der benachbarten Kuumlste losgerissen hatten Vor einem so hand- greiflichen Beweis schwindet die TaumluschungDies Beispiel enthuumlllt ganz klar den Verlauf der Kollektiv- taumluschungen wie wir ihn beschrieben haben Auf der einen Seite eine Masse im Zustand gespannter Aufmerksamkeit auf der andern eine Suggestion die von der Wache ausgeht die ein schiffbruumlchiges Fahrzeug auf dem Meer signalisiert eine Suggestion die durch Uumlbertragung von allen Anwesen- den Offizieren wie Matrosen aufgenommen wirdEine Masse braucht nicht zahlreich zu sein um die Faumlhig- keit richtigen Sehens zu verlieren und die wirklichen Tat- sachen durch davon abweichende Taumluschungen zu ersetzen Die Versammlung einiger einzelner bildet eine Masse und selbst wenn es hervorragende Gelehrte waumlren so wuumlrden sie doch alle fuumlr die Dinge die auszligerhalb ihres Faches liegen die Massenkennzeichen annehmen Das Be- obachtungsvermoumlgen und der kritische Geist eines jeden von ihnen schwinden sofortEin scharfsinniger Psychologe Davey liefert uns dafuumlr ein recht merkwuumlrdiges Beispiel welches vor kurzem in den

bdquoAnnales des Sciences psychiquesldquo mitgeteilt wurde und es verdient hier berichtet zu werden Davey berief eine Versammlung ausgezeichneter Beobachter ein unter ihnen den hervorragenden englischen Forscher Wallace und fuumlhrte ihnen nachdem er sie die Gegenstaumlnde untersuchen und beliebig hatte versiegeln lassen alle klassischen Phauml- nomene des Spiritismus vor Materialisation von Geistern Schiefertafelschrift usw Nachdem er hierauf von diesen beruumlhmten Beobachtern schriftliche Berichte erhalten hatte in welchen erklaumlrt wurde die beobachteten Erscheinungen seien nur auf uumlbernatuumlrlichem Wege moumlglich gewesen ent-

BEEINFLUSSBARKEIT UND LEICHTGLAumlUBIGKEIT 25

huumlllte er ihnen daszlig sie das Ergebnis sehr einfacher Kniffe waren bdquoDas Erstaunliche an diesem Versuch Daveysldquo schreibt der Verfasser des Berichts bdquoist nicht die Bewun- derung der Kunststuumlcke als solcher sondern die auszliger- ordentliche Geistlosigkeit der Berichte welche die unein- geweihten Zeugen daruumlber abgaben Denn die Zeugen haben zahlreiche und genaue Berichte geliefert die voumlllig irrig sind die aber wenn man ihre Schilderungen fuumlr richtig haumllt zu dem Ergebnis fuumlhren daszlig die geschilderten Vorgaumlnge durch Betrug nicht zu erklaumlren sind Die von Davey ersonnenen Methoden waren so einfach daszlig man sich uumlber die Kuumlhnheit wundert mit der er sie anwandte er besaszlig aber eine solche Macht uumlber den Geist der Masse daszlig er ihr das was sie nicht sah als gesehen aufzwingen konnteldquo Diese Macht hat der Hypnotiseur immer uumlber den Hypnotisierten Sieht man aber wie sie sich auf uumlber- legene von vornherein miszligtrauische Geister auswirkt dann begreift man mit welcher Leichtigkeit die gewoumlhn- lichen Massen zu taumluschen sindEs gibt unzaumlhlige aumlhnliche Beispiele Vor einigen Jahren gaben die Zeitungen die Geschichte von zwei kleinen er- trunkenen Maumldchen wieder die aus der Seine gezogen wurden Diese Kinder wurden zuerst in bestimmtester Weise von einem Dutzend Zeugen erkannt Vor so uumlber- einstimmenden Aussagen schwand auch der leiseste Zweifel des Untersuchungsrichters er lieszlig den Totenschein aus- fertigen In dem Augenblick aber da man sich zur Beerdi- gung anschickte entdeckte man durch Zufall daszlig die mit den Opfern Identifizierten noch voumlllig lebendig waren und kaum eine entfernte Aumlhnlichkeit mit den ertrunkenen Klei- nen besaszligen Wie in mehreren der fruumlher angefuumlhrten Beispiele hatte die Behauptung des ersten Zeugen der das Opfer einer Taumluschung war zur Beeinflussung aller an- deren genuumlgtIn solchen Faumlllen ist der Ausgangspunkt fuumlr die Beein- flussung stets die Taumluschung die durch mehr oder weniger unbestimmte Erinnerungen in einem einzelnen erzeugt

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wird auszligerdem die Uumlbertragung durch Mitteilung dieses ersten Irrtums Ist der erste Beobachter leicht erregbar so genuumlgt es oft daszlig der Leichnam den er zu erkennen glaubt abgesehen von aller wirklichen Aumlhnlichkeit eine Besonderheit etwa eine Narbe oder ein Bekleidungsmerk- mal aufzuweisen hat wodurch bei ihm die Vorstellung einer andern Person ausgeloumlst werden kann Die einge- bildete Vorstellung kann dann zum Kern einer Art Kri- stallisation werden welche den Bereich des Verstandes er- greift und allen kritischen Geist lahmt Der Beobachter sieht dann nicht mehr die Sache selbst sondern das Bild das in seiner Seele aufgetaucht ist Auf diese Weise erklaumlrt sich das vermeintliche Wiedererkennen von Kinderleichen durch die Muumltter wie in dem folgenden schon alten Fall an dem sich die beiden Arten von Beeinflussung deren Ab- lauf ich erklaumlrt habe deutlich offenbaren

bdquoDas Kind wurde von einem anderen Kinde erkannt ndash das sich irrte Die Reihe des unrichtigen Wiedererkennens lief nun ab Und nun geschah etwas sehr Merkwuumlrdiges An dem Tage nachdem die Leiche durch einen Schuumller wiedererkannt worden war schrie eine Frau auf Ach mein Gott das ist mein Kindlsquo Man fuumlhrte sie zur Leiche sie untersucht die Kleider und stellt eine Narbe an der Stirn fest Gewiszliglsquo sagte sie es ist mein armer Junge der seit Ende Juli vermiszligt wird Man wird ihn mir ent- fuumlhrt und getoumltet habenlsquo Die Frau war Hausmeisterin in der Rue de Four und hieszlig Chavandret Man lieszlig ihren Schwager kommen und dieser sagte ohne Zoumlgern Das ist der kleine Philibertlsquo Mehrere Bewohner der Straszlige ganz abgesehen von seinem Lehrer fuumlr den die Schulmedaille ausschlaggebend war erkannten in dem Kinde von la Villette Philibert Chavandret Nun Nachbarn Schwager Lehrer und Mutter hatten sich geirrt Sechs Wochen spaumlter war die Identitaumlt des Kindes festgestellt Es war ein Knabe aus Bordeaux der dort getoumltet und mit der Post nach Paris gebracht worden war ldquo bdquoEclairldquo vom 2 April 895

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Wir koumlnnen wieder feststellen daszlig dies bdquoErkennenldquo meistens bei Frauen und Kindern also gerade bei den erregbarsten Wesen vorkommt Es zeigt gleichzeitig wie wenig Wert solche Zeugnisse vor Gericht haben koumlnnen Besonders Kinderaus- sagen sollten nie herangezogen werden Die Richter wieder- holen immer man luumlge in diesem Alter nicht das ist ein Gemeinplatz Besaumlszligen sie eine etwas tiefere psychologische Bildung so wuumlszligten sie ganz im Gegenteil in diesem Alter luumlgt man stets Gewiszlig ist die Luumlge harmlos sie bleibt aber dennoch eine Luumlge Besser wuumlrde die Verurteilung eines An- geklagten nach dem Spiel bdquoKopf oder Schriftldquo erfolgen als wie so oft geschehen nach dem Zeugnis eines KindesUm aber auf die Beobachtungen zuruumlckzukommen die von den Massen gemacht werden so koumlnnen wir daraus schlieszligen daszlig die Kollektivbeobachtungen die verfehltesten von allen sind und daszlig sie meistens nur die einfache Taumluschung eines einzelnen sind die durch Uumlbertragung alle andern beeinfluszligt hat Unzaumlhlige Faumllle beweisen daszlig man gegen die Zeugenschaft der Masse das groumlszligte Miszligtrauen hegen muszlig Tausende von Menschen erlebten den beruumlhmten Reiterangriff der Schlacht bei Sedan und doch ist es unmoumlg- lich aus den widersprechenden Berichten von Augenzeugen festzustellen von wem er kommandiert wurde Der englische General Wolseley hat in einem neuen Buch den Beweis er- bracht daszlig man bis jetzt uumlber die wichtigsten Ereignisse der Schlacht bei Waterloo obwohl Hunderte von Zeugen sie beglaubigt hatten in groumlszligtem Irrtum befangen war

Wissen wir auch nur von einer einzigen Schlacht wie sie sich wirklich ab- gespielt hat Ich zweifle sehr daran Wir kennen Sieger und Besiegte aber wahrscheinlich weiter nichts Was drsquoHarcourt uumlber die Schlacht von Solferino berichtet die er teils mitgemacht und teils gesehen hat laumlszligt sich auf alle Schlachten anwenden bdquoDie Generaumlle (natuumlrlich durch Hunderte von Aussagen unterrichtet) setzen ihre offiziellen Berichte auf die mit der Verbreitung der Berichte betrauten Offiziere aumlndern diese Schriftstuumlcke und setzen die end- guumlltige Fassung fest der Generalstabschef kritisiert und erneuert sie nochmals Man bringt sie zum Feldmarschall er ruft Sie befinden sich in einem voumllli- gen Irrtumlsquo und nimmt eine neue Uumlberarbeitung vor Von dem urspruumlnglichen Bericht bleibt fast nichts stehenldquo DrsquoHarcourt erzaumlhlt dies als Beweis der Un- moumlglichkeit die Wahrheit uumlber das packendste und aufs genaueste beobachtete Ereignis festzustellen

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All diese Beispiele zeigen ich wiederhole es wie wenig Wert die Zeugenschaft der Massen hat Die Lehrbuumlcher der Logik zaumlhlen die Uumlbereinstimmung zahlreicher Zeugen zur Klasse der sichersten Beweise die man zur Erhaumlrtung einer Tatsache erbringen kann Aber was wir von der Psychologie der Massen wissen zeigt wie sehr sie sich in diesem Punkte taumluschen Die Ereignisse die von der groumlszlig- ten Anzahl von Personen beobachtet wurden sind sicher am zweifelhaftesten Zu erklaumlren eine Tatsache sei von Tausenden von Zeugen gleichzeitig festgestellt worden heiszligt erklaumlren daszlig das wirkliche Ereignis von dem ange- nommenen Bericht im allgemeinen erheblich abweichtAus dem Vorstehenden folgt klar daszlig die Geschichtswerke als reine Phantasiegebilde zu betrachten sind Es sind Phantasieberichte schlecht beobachteter Ereignisse nebst nachtraumlglich ersonnenen Erklaumlrungen Haumltte uns die Ver- gangenheit nicht ihre Literaturdenkmaumller ihre Kunst- und Bauwerke hinterlassen so wuumlszligten wir nicht die geringste Tatsache von ihr Kennen wir ein einziges wahres Wort uumlber das Leben der groszligen Maumlnner die in der Menschheit eine hervorragende Rolle spielten Houmlchstwahrscheinlich nicht Im Grunde hat uumlbrigens ihr tatsaumlchliches Leben recht wenig Interesse fuumlr uns Die legendaumlren Helden nicht die wirklichen Helden haben Eindruck auf die Massen ge- machtLeider sind die Legenden selbst nicht von Dauer Die Phantasie der Massen formt sie je nach den Zeiten und den Rassen um Vom grausamen Jehova der Bibel bis zum Gott der Liebe der heiligen Therese ist ein groszliger Schritt und der in China verehrte Buddha hat mit dem in Indien angebeteten keinen Zug gemeinEs bedarf nicht des Ablaufs von Jahrhunderten damit sich die Heldenlegende in der Phantasie der Massen wandelt diese Wandlung erfolgt oft innerhalb weniger Jahre Wir haben in unsern Tagen erlebt wie sich die Legende eines der groumlszligten Helden der Geschichte in weniger als fuumlnfzig Jahren wiederholt veraumlndert hat Unter den Bourbonen

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wurde Napoleon zu einer idyllischen menschenfreundlichen und freisinnigen Persoumlnlichkeit einem Freunde der Armen die wie der Dichter sagt sein Andenken in ihrer Huumltte fuumlr lange Zeit bewahren wuumlrden Dreiszligig Jahre spaumlter war der gutmuumltige Held zu einem grausamen Despoten gewor- den zu einem Usurpator von Macht und Freiheit der drei Millionen Menschen nur zur Befriedigung seines Ehrgeizes geopfert hatte Gerade jetzt wandelt sich die Legende wieder Wenn einige Dutzend Jahrhunderte daruumlber hin- gegangen sind werden die zukuumlnftigen Forscher angesichts dieser widersprechenden Berichte vielleicht das Dasein des Helden bezweifeln wie wir bisweilen das Dasein Buddhas bezweifeln und werden dann in ihm nur einen Sonnen- mythus oder eine Fortentwicklung der Herkulessage er- blicken Zweifellos werden sie sich uumlber diese Ungewiszligheit leicht troumlsten denn da sie eine bessere psychologische Er- kenntnis haben werden als wir heutzutage so werden sie wissen daszlig die Geschichte nur Mythen zu verewigen vermag

sect 3 Uumlberschwang (exageacuteration) und Einseitigkeit (simplisme) der Massengefuumlhle

Alle Gefuumlhle gute und schlechte die eine Masse aumluszligert haben zwei Eigentuumlmlichkeiten sie sind sehr einfach und sehr uumlberschwenglich Wie in so vielen andern naumlhert sich auch in dieser Beziehung der einzelne der einer Masse angehoumlrt den primitiven Wesen Gefuumlhlsabstufungen nicht zugaumlnglich sieht er die Dinge grob und kennt keine Uumlber- gaumlnge Der Uumlberschwang der Gefuumlhle in der Masse wird noch dadurch verstaumlrkt daszlig er sich durch Suggestion und Uumlbertragung sehr rasch ausbreitet und daszlig Anerkennung die er erfaumlhrt seinen Spannungsgrad erheblich steigertDie Einseitigkeit und Uumlberschwenglichkeit der Gefuumlhle der Massen bewahren sie vor Zweifel und Ungewiszligheit Den Frauen gleich gehen sie sofort bis zum Aumluszligersten Ein aus- gesprochener Verdacht wird sogleich zu unumstoumlszliglicher

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Gewiszligheit Ein Keim von Abneigung und Miszligbilligung den der einzelne kaum beachten wuumlrde waumlchst beim Ein- zelwesen der Masse sofort zu wildem HaszligDie Heftigkeit der Gefuumlhle der Massen wird besonders bei den ungleichartigen Massen durch das Fehlen jeder Verantwortlichkeit noch gesteigert Die Gewiszligheit der Straflosigkeit die mit der Groumlszlige der Menge zunimmt und das Bewuszligtsein einer bedeutenden augenblicklichen Ge- walt bedingt durch die Masse ermoumlglichen der Gesamtheit Gefuumlhle und Handlungen die dem einzelnen unmoumlglich sind In den Massen verlieren die Dummen Ungebildeten und Neidischen das Gefuumlhl ihrer Nichtigkeit und Ohn- macht an seine Stelle tritt das Bewuszligtsein einer rohen zwar vergaumlnglichen aber ungeheuren KraftUngluumlcklicherweise ruft der Uumlberschwang schlechter Ge- fuumlhle bei den Massen den vererbten Rest der Instinkte des Urmenschen herauf die beim alleinstehenden und verant- wortlichen einzelnen durch die Furcht vor Strafe gezuumlgelt werden So erklaumlrt sich die Neigung der Massen zu schlim- men AusschreitungenWenn die Massen geschickt beeinfluszligt werden koumlnnen sie heldenhaft und opferwillig sein Sie sind es sogar in viel houmlherem Maszlige als der einzelne Wir werden beim Studium der Massenmoral bald Gelegenheit haben auf diesen Punkt zuruumlckzukommenDa die Masse nur durch uumlbermaumlszligige Empfindungen erregt wird muszlig der Redner der sie hinreiszligen will starke Aus- druumlcke gebrauchen Zu den gewoumlhnlichen Beweismitteln der Redner in Volksversammlungen gehoumlrt Schreien Be- teuern Wiederholen und niemals darf er den Versuch machen einen Beweis zu erbringenDie gleiche Uumlbertreibung der Gefuumlhle verlangt die Masse von ihren Helden Ihre Eigenschaften und hervorragenden Tugenden muumlssen stets vergroumlszligert werden Im Theater fordert die Masse von dem Helden des Dramas Tugenden einen Mut und eine Moral wie sie im Leben niemals vor- kommen

UumlBERSCHWANG UND EINSEITIGKEIT 31

Man spricht mit Recht von der besonderen Optik des Thea- ters Zweifellos ist sie vorhanden aber ihre Gesetze haben nichts mit dem gesunden Menschenverstand und der Logik zu tun Die Kunst zur Masse zu sprechen ist von unter- geordnetem Rang erfordert jedoch ganz besondere Faumlhig- keiten Beim Lesen gewisser Stuumlcke kann man sich ihren Erfolg oft nicht erklaumlren Im allgemeinen sind die Theater- direktoren selbst uumlber den Erfolg sehr im Ungewissen wenn ihnen die Stuumlcke eingereicht werden denn um ur- teilen zu koumlnnen muumlszligten sie sich in eine Masse verwan- deln Wenn wir uns mit Einzelheiten befassen koumlnnten waumlre es leicht auch noch den bedeutenden Einfluszlig der Rasse aufzuzeigen Das Drama das in dem einen Lande die Masse begeistert hat oft in einem andern keinen oder nur einen durchschnittlichen Achtungserfolg weil es nicht die Kraumlfte spielen laumlszligt die das neue Publikum bewegen koumlnntenIch brauche nicht besonders zu betonen daszlig der Uumlber- schwang der Massen sich nur auf die Gefuumlhle und in keiner Weise auf den Verstand erstreckt Die Tatsache der bloszligen Zugehoumlrigkeit des einzelnen zur Masse bewirkt wie ich bereits zeigte eine betraumlchtliche Senkung der Voraussetzun- gen seines Verstandes In seinen Untersuchungen uumlber die Massenverbrechen hat Tarde das gleichfalls festgestellt

Dadurch erklaumlrt es sich auch daszlig gewisse Theaterstuumlcke die von allen Direktoren zuruumlckgewiesen wurden zuweilen auszligerordentliche Erfolge er- zielen wenn ihre Auffuumlhrung doch zufaumlllig zustande kommt Der Erfolg des Coppeacuteeschen Stuumlckes bdquoPour la Couronneldquo das zehn Jahre lang trotz des Namens seines Autors von allen Direktoren der ersten Theater abgelehnt wurde ist bekannt bdquoCharleys Tanteldquo wurde nach einer ganzen Reihe von Ablehnungen auf Kosten eines Boumlrsenmaklers aufgefuumlhrt und erzielte in Frank- reich zweihundert in England uumlber tausend Auffuumlhrungen Ohne die ge- nannte Erklaumlrung daszlig sich die Theaterdirektoren nicht in die Seele der Masse versetzen koumlnnen waumlre es unbegreiflich daszlig maszliggebende Einzelne die Wert darauf legen sich nicht durch schwere Irrtuumlmer bloszligzustellen solche Fehlurteile faumlllen koumlnnen

32 GEFUumlHLE UND SITTLICHKEIT DER MASSEN

sect 4 Unduldsamkeit Herrschsucht (autoritarisme) und Konservatismus der Massen

Die Massen kennen nur einfache und uumlbertriebene Gefuumlhle Meinungen Ideen Glaubenssaumltze die man ihnen einfloumlszligt werden daher nur in Bausch und Bogen von ihnen ange- nommen oder verworfen und als unbedingte Wahrheiten oder ebenso unbedingte Irrtuumlmer betrachtet So geht es stets mit Uumlberzeugungen die auf dem Wege der Beeinflussung nicht durch Nachdenken erworben wurden Jedermann weiszlig wie unduldsam die religioumlsen Glaubenssaumltze sind und welche Gewaltherrschaft sie uumlber die Seelen ausuumlbenDa die Masse in das was sie fuumlr Wahrheit oder Irrtum haumllt keinen Zweifel setzt andererseits ein klares Bewuszligt- sein ihrer Kraft besitzt so ist sie ebenso eigenmaumlchtig wie unduldsam Der einzelne kann Widerspruch und Ausein- andersetzung anerkennen die Masse duldet sie niemals In den oumlffentlichen Versammlungen wird der leiseste Wider- spruch eines Redners sofort mit Wutgeschrei und groben Schmaumlhungen beantwortet und wenn der Redner beharr- lich ist folgen leicht Taumltlichkeiten und der Redner wird hinausgeworfen Ohne die einschuumlchternde Anwesenheit der Sicherheitsbehoumlrde wuumlrde man oft den Gegner lynchen Herrschsucht und Unduldsamkeit finden sich bei allen Ar- ten der Massen aber in ganz verschiedenen Graden und hier kommt wieder der Grundbegriff der Rasse zur Gel- tung die alles Fuumlhlen und Denken der Menschen beherrscht Herrschsucht und Unduldsamkeit sind besonders bei den lateinischen Massen ausgebildet und zwar in solchem Maszlige daszlig es ihnen fast gelungen ist das Gefuumlhl der per- soumlnlichen Unabhaumlngigkeit das bei den Angelsachsen so maumlchtig ist bei ihnen voumlllig zu vernichten Die lateinischen Massen haben nur Gefuumlhl fuumlr die Gesamt-Unabhaumlngigkeit ihrer Sekte und bezeichnend fuumlr diese Unabhaumlngigkeit ist das Beduumlrfnis alle Andersglaumlubigen sofort und gewaltsam fuumlr ihren eigenen Glauben zu gewinnen Von der Inquisi- tion angefangen konnten sich bei den lateinischen Voumllkern

die Jakobiner aller Zeiten niemals zu einem andern Frei- heitsbegriff aufschwingenHerrschsucht und Unduldsamkeit sind fuumlr die Massen sehr klare Gefuumlhle die sie ebenso leicht ertragen wie sie sie in die Tat umsetzen Die Massen erkennen die Macht an und werden durch Guumlte die sie leicht fuumlr eine Art Schwauml- che halten nur maumlszligig beeinfluszligt Niemals galten ihre Sym- pathien den guumltigen Herren sondern den Tyrannen von denen sie kraftvoll beherrscht wurden Ihnen haben sie stets die groumlszligten Denkmaumller errichtet Wenn sie den ge- stuumlrmten Despoten gern mit Fuumlszligen treten so geschieht das weil er seine Macht eingebuumlszligt hat und in die Reihe der Schwachen eingereiht wird die man verachtet und nicht fuumlrchtet Das Urbild des Massenhelden wird stets Caumlsaren- charakter zeigen Sein Helmbusch verfuumlhrt sie seine Macht floumlszligt ihnen Achtung ein und sein Schwert fuumlrchten sieStets bereit zur Auflehnung gegen die schwache Obrigkeit beugt sich die Masse knechtisch vor einer starken Herr- schaft Ist die Haltung der Obrigkeit schwankend so wen- det sich die Masse die stets ihren aumluszligersten Gefuumlhlen folgt abwechselnd von der Anarchie zur Sklaverei von der Sklaverei zur AnarchieUumlbrigens wuumlrde man die Psychologie der Massen ganz miszligverstehen wenn man an die Vorherrschaft ihrer revo- lutionaumlren Triebe glaubte Nur ihre Gewalttaten taumluschen uns uumlber diesen Punkt Die Ausbruumlche der Empoumlrung und Zerstoumlrung sind immer nur von kurzer Dauer Die Massen werden zu sehr vom Unbewuszligten geleitet und sind also dem Einfluszlig uralter Vererbung zu sehr unterworfen als daszlig sie nicht aumluszligerst beharrend sein muumlszligten Wenn sie sich selbst uumlberlassen werden erlebt man bald daszlig sie ihrer Zuumlgellosigkeit uumlberdruumlssig instinktiv der Knecht- schaft zusteuern Die kuumlhnsten und schroffsten Jakobiner stimmten Bonaparte entschieden zu als er alle Freiheiten aufhob und seine eiserne Hand schwer fuumlhlen lieszligDie Geschichte der Voumllkerrevolutionen ist fast unverstaumlnd- lich wenn man die von Grund aus beharrenden Trieb-

34 GEFUumlHLE UND SITTLICHKEIT DER MASSEN

kraumlfte der Massen verkennt Sie wuumlnschen zwar die Namen ihrer Einrichtungen zu wechseln und um diesen Wechsel zu vollziehen machen sie zuweilen sogar groszlige Revolu- tionen durch aber der Kern dieser Einrichtungen ist zu sehr Ausdruck der erblichen Beduumlrfnisse der Rasse als daszlig sie nicht immer wiederkehren muumlszligten Die unauf- houmlrliche Veraumlnderlichkeit der Massen erstreckt sich nur auf ganz aumluszligerliche Dinge In Wahrheit haben sie nicht weiter erklaumlrbare Beharrungsinstinkte und wie alle Primitiven eine fetischistische Ehrfurcht vor den Uumlberlieferungen einen unbewuszligten Abscheu vor allen Neuerungen die ihre realen Lebensbedingungen aumlndern koumlnnten Haumltte die De- mokratie in der Zeit der Erfindung der mechanischen Web- stuumlhle der Dampfmaschine der Eisenbahnen die Macht besessen uumlber die sie heute verfuumlgt so waumlre die Verwirk- lichung dieser Erfindungen unmoumlglich gewesen Es ist ein Gluumlck fuumlr den Fortschritt der Kultur daszlig die Uumlbermacht der Massen erst dann geboren wurde als die groszligen Ent- deckungen der Wissenschaft und der Industrie vollendetwaren

sect 5 Sittlichkeit der Massen

Wenn wir mit dem Begriff Sittlichkeit den Sinn fuumlr die Achtung vor gewissen sozialen Gebraumluchen und die be- staumlndige Unterdruumlckung eigennuumltziger Antriebe verbinden dann liegt es auf der Hand daszlig die Massen zu triebhaft und veraumlnderlich sind um fuumlr Sittlichkeit empfaumlnglich zu sein Wenn wir aber unter dem Begriff der Sittlichkeit das augenblickliche Auftreten gewisser Eigenschaften wie Ent- sagung Ergebenheit Uneigennuumltzigkeit Selbstaufopferung Rechtsgefuumlhl verstehen so koumlnnen wir sagen die Massen sind oft eines sehr hohen Maszliges von Sittlichkeit faumlhigDie wenigen Psychologen die sich mit dem Studium der Massen befaszligt haben taten es nur in bezug auf ihre ver- brecherischen Handlungen Und in Anbetracht der Haumlufig- keit solcher Taten haben sie die Massen als sittlich sehr tiefstehend beurteilt

SITTLICHKEIT 35

Gewiszlig erbringen sie oft den Beweis dafuumlr aber wie kommtdas Nur weil die Triebe zerstoumlrerischer Wildheit Uumlber- reste aus der Urzeit sind die in jedem von uns schlum- mern Fuumlr den einzelnen waumlre es zu gefaumlhrlich diese Triebe zu befriedigen waumlhrend ihm sein Untertauchen in einer unverantwortlichen Masse durch die ihm Straflosig- keit gesichert ist voumlllige Freiheit der Triebbefriedigung gewaumlhrt Da wir diese Zerstoumlrungstriebe gewoumlhnlich nicht an unseren Mitmenschen ausuumlben koumlnnen so beschraumlnken wir uns darauf sie an Tieren auszulassen Derselben Quelle entspringen die Jagdleidenschaft und die Grausamkeit der Massen Die Masse die ein wehrloses Opfer langsam zu Tode quaumllt gibt den Beweis feiger Grausamkeit fuumlr den Philosophen aber ist sie in hohem Maszlige mit der Grausam- keit der Jaumlger verwandt die dutzendweise zusammen- kommen um mit Vergnuumlgen zu sehen daszlig ihre Hunde einem ungluumlcklichen Hirsch den Bauch aufreiszligenWenn nun die Masse imstande ist Mordtaten Brandstif- tungen und Verbrechen aller Art zu begehen so ist sie ebenso zu Taten der Hingabe Aufopferung und Uneigen- nuumltzigkeit faumlhig sogar in houmlherem Maszlige als der einzelne Besonders wirkt man auf den einzelnen in der Masse wenn man sich auf die Gefuumlhle fuumlr Ruhm und Ehre Re- ligion und Vaterland beruft Die Geschichte ist voller Bei- spiele dieser Art wie sie die Kreuzzuumlge bieten und die Freiwilligen von 793 Nur die Gesamtheiten sind groszliger Uneigennuumltzigkeit und Aufopferung faumlhig Wie viele Mas- sen haben sich fuumlr Uumlberzeugungen und Ideen die sie kaum verstanden heldenhaft hinschlachten lassen Massen die in Streik treten streiken oft wohl mehr um einem Kampfruf zu folgen als um einen Lohnzuschlag zu erlangen Das persoumlnliche Interesse ist bei den Massen selten eine maumlch- tige Triebkraft waumlhrend es bei dem einzelnen fast den ausschlieszliglichen Antrieb bildet Es ist wahrlich nicht der Eigennutz der die Massen in so viele Kriege fuumlhrte die fuumlr ihren Verstand unbegreiflich waren und in denen sie

36 GEFUumlHLE UND SITTLICHKEIT DER MASSEN

sich so leicht niedermetzeln lieszligen wie die Lerchen die durch den Spiegel des Jaumlgers hypnotisiert werdenSelbst die ausgemachtesten Schufte nehmen oft allein durch die Tatsache der Vereinigung in einer Masse sehr strenge moralische Grundsaumltze an Taine zeigt daszlig die Menschen- schlaumlchter der Septembertage [792] die bei ihren Opfern vorgefundenen Brieftaschen und Schmuckstuumlcke die sie leicht an sich nehmen konnten auf den Tisch der Ausschuumlsse nieder- legten Die heulende wimmelnde elende Volksmasse die in der Revolution vom Jahre 848 in die Tuilerien eindrang nahm nichts von den Gegenstaumlnden die sie blendeten und von denen ein jeder Brot fuumlr viele Tage bedeutet haumltteDiese Versittlichung des einzelnen durch die Masse ist ge- wiszlig keine feste Regel aber sie ist haumlufig zu beobachten und selbst unter viel weniger ernsten Umstaumlnden als den von mir angefuumlhrten Wie ich bereits sagte verlangt die Masse im Theater von dem Helden des Dramas uumlbertrie- ben hohe Tugenden und selbst eine Zuhoumlrerschaft die aus niedrigen Elementen zusammengesetzt ist erweist sich oft- mals als sehr pruumlde Der berufsmaumlszligige Lebemann der Zu- haumllter der Bummler und Sportvogel murrt oft bei einer etwas gewagten Szene oder einer schluumlpfrigen Rede die doch im Vergleich zu ihren uumlbrigen Unterhaltungen recht harmlos istFroumlnen die Massen also oft niedrigen Instinkten so bieten sie manchmal auch wieder Beispiele hochsittlicher Hand- lungsweise Wenn Uneigennuumltzigkeit Entsagung bedin- gungslose Hingabe an ein eingebildetes oder wirkliches Ideal sittliche Tugenden sind dann kann man sagen daszlig die Massen diese Tugenden oft in einem so hohen Grade besitzen wie ihn die weisesten Philosophen selten erreicht haben Gewiszlig uumlben sie diese Tugenden unbewuszligt aus aber darauf kommt es nicht an Haumltten die Massen zuweilen nachgedacht und ihren eigenen Vorteil wahrgenommen dann haumltte sich vielleicht keine Kultur auf der Oberflaumlche unseres Planeten entfaltet und die Menschheit waumlre ohne Geschichte geblieben

SITTLICHKEIT 37

3 KAPITEL

Ideen Urteile und Einbildungskraft der Massen

sect Die Ideen der Massen

Die Untersuchungen einer fruumlheren Arbeit von mir uumlber die Bedeutung der Ideen fuumlr die Entwicklung der Voumllker haben bewiesen daszlig sich jede Zivilisation aus einer ge- ringen Anzahl selten erneuter Grundideen entwickelt Ich habe dort dargelegt wie sich diese Ideen in der Seele der Massen festsetzen wie muumlhsam sie in sie eindringen und welche Macht sie dann gewinnen Ich zeigte wie die gro- szligen historischen Umwaumllzungen meistens aus der Veraumln- derung dieser Grundideen entstehenDa ich diesen Gegenstand hinreichend behandelt habe so moumlchte ich nicht darauf zuruumlckkommen und will mich dar- auf beschraumlnken einige Worte uumlber die Ideen zu sagen die den Massen zugaumlnglich sind und unter welchen Formen sie sie erfassenMan kann sie in zwei Klassen einteilen Zu der einen zaumlhlen wir die zufaumllligen und fluumlchtigen Ideen die unter dem Einfluszlig des Augenblicks entstehen z B die Vorliebe fuumlr eine Person oder eine Lehre Zu der anderen die Grundideen denen Umgebung Vererbung Glaube groszlige Dauerhaftigkeit verleihen wie z B die religioumlsen Glau- benssaumltze von ehemals die demokratischen und sozialen Ideen von heuteMan kann sich die Grundideen als die Wassermasse eines langsam dahinstroumlmenden Flusses die fluumlchtigen Ideen als die kleinen immer wechselnden Wellen vorstellen die seine Oberflaumlche erregen und obwohl ohne wirkliche Be- deutung sichtbarer sind als der Fluszliglauf selbstIn unseren Tagen geraten die Grundanschauungen von denen unsere Vaumlter lebten immer mehr ins Wanken und gleichzeitig erweisen sich die Einrichtungen die auf ihnen beruhen als voumlllig erschuumlttert Taumlglich bilden sich viele

jener kleinen fluumlchtigen Ideen von denen ich eben sprach aber nur wenige von ihnen scheinen uumlberwiegenden Ein- fluszlig gewinnen zu sollenWelche Ideen den Massen auch suggeriert werden moumlgen zur Wirkung koumlnnen sie nur kommen wenn sie in sehr einfacher Form aufzunehmen sind und sich in ihrem Geist in bildhafter Erscheinung widerspiegeln Kein Band logi- scher Uumlbereinstimmung oder Folgerichtigkeit verbindet diese Vorstellungsbilder miteinander sie koumlnnen einander vertreten wie die Glaumlser der Laterna magica die der Vor- fuumlhrer der Schachtel entnimmt in der sie uumlbereinander- geschichtet lagen Man wird also einsehen daszlig in der Masse die entgegengesetztesten Vorstellungen einander fol- gen Unter dem Einfluszlig einer der verschiedenen in ihrem Verstand aufgespeicherten Ideen folgt die Masse dem Zu- fall des Augenblicks und wird infolgedessen die verschie- denartigsten Taten begehen Der voumlllige Mangel an kriti- schem Geist laumlszligt sie die Widerspruumlche nicht sehenDiese Erscheinung tritt uumlbrigens nicht nur bei den Massen auf Man trifft sie auch bei vielen einzelnen nicht nur bei Primitiven Ich habe es bei gelehrten Hindus die an unse- ren europaumlischen Universitaumlten studierten und promovier- ten beobachtet Ohne die feste Grundlage ihrer ererbten religioumlsen oder sozialen Ideen im geringsten zu beeintraumlch- tigen hatte sich daruumlber eine Schicht abendlaumlndischer mit jenen nicht verwandter Anschauungen gelegt Bei zufaumllligen Gelegenheiten kamen nun bald diese bald jene in Worten oder Taten zum Vorschein und derselbe Mensch zeigte so die offensichtlichsten Widerspruumlche Freilich Wider- spruumlche mehr scheinbarer als wirklicher Art denn nur die ererbten Vorstellungen sind beim einzelnen maumlchtig genug um zu Triebkraumlften seines Verhaltens zu werden Nur dann wenn der Mensch infolge von Kreuzungen aus ver- schiedenen Erbmassen beeinfluszligt wird koumlnnen sich seine Handlungen wirklich von einem Augenblick zum anderen voumlllig widersprechen Es ist unnoumltig diese Erscheinungen hier besonders zu betonen obwohl sie von wesentlicher

DIE IDEE DER MASSEN 39

psychologischer Bedeutung sind Meiner Meinung nach be- darf es zu ihrem Verstaumlndnis wenigstens zehnjaumlhriger Rei- sen und BeobachtungenDa die Ideen den Massen nur in sehr einfacher Gestalt zu- gaumlnglich sind muumlssen sie sich um volkstuumlmlich zu werden oft voumlllig umformen Wenn es sich um hochwertige philo- sophische oder wissenschaftliche Ideen handelt kann man die grundlegenden Veraumlnderungen feststellen deren sie beduumlrfen um von Stufe zu Stufe bis zum Standort der Massen hinabzusteigen Diese Veraumlnderungen sind beson- ders abhaumlngig von der Rasse der die Masse angehoumlrt doch sie verkleinern oder vereinfachen stets Daher gibt es in Wahrheit vorn sozialen Gesichtspunkt keine Rangordnung der Ideen d h mehr oder weniger hohe Anschauungen Schon durch die Tatsache daszlig eine Idee zu den Massen gelangt und hier zu wirken vermag wird sie beinahe all dessen entkleidet was ihre Groumlszlige und Erhabenheit aus- machteDer Wert einer Idee ihrer Rangordnung nach ist uumlbrigens bedeutungslos nur die von ihr erzeugten Wirkungen sind zu beachten Die christlichen Ideen des Mittelalters die demokratischen Ideen des 8 Jahrhunderts die sozialisti- schen Ideen der Gegenwart stehen gewiszlig nicht besonders hoch man kann sie in philosophischer Beziehung als ziem- lich armselige Irrtuumlmer betrachten aber ihre Bedeutung war und ist ungeheuer und noch lange werden sie die wesentlichsten Mittel zur Fuumlhrung der Staaten bleibenAber selbst wenn die Idee die Veraumlnderung durchgemacht hat durch die sie fuumlr die Massen annehmbar wurde wirkt sie nur wenn sie ndash durch verschiedene Vorgaumlnge die noch zu erforschen sind ndash in das Unbewuszligte eingedrungen und zu einem Gefuumlhl geworden ist Diese Umwandlung dauert im allgemeinen sehr langeMan darf nicht glauben eine Idee koumlnne durch den Beweis ihrer Richtigkeit selbst bei gebildeten Geistern Wirkungen erzielen Man wird davon uumlberzeugt wenn man sieht wie wenig Einfluszlig die klarste Beweisfuumlhrung auf die Mehrzahl

40 IDEEN URTEILE UND EINBILDUNGSKRAFT DER MASSEN

der Menschen hat Der unumstoumlszligliche Beweis kann von einem geuumlbten Zuhoumlrer angenommen worden sein aber das Unbewuszligte in ihm wird ihn schnell zu seinen ur- spruumlnglichen Anschauungen zuruumlckfuumlhren Sehen wir ihn nach einigen Tagen wieder wird er aufs neue mit genau denselben Worten seine Einwaumlnde vorbringen Er steht tatsaumlchlich unter dem Einfluszlig fruumlherer Anschauungen die aus Gefuumlhlen gewachsen sind und nur sie wirken auf die Motive unserer Worte und TatenHat sich aber eine Idee endlich in die Seele der Massen eingegraben dann entwickelt sie eine unwiderstehliche Macht und es ergibt sich eine ganze Reihe von Wirkungen Die philosophischen Ideen die zur Franzoumlsischen Revolu- tion fuumlhrten brauchten fast ein Jahrhundert um in der Volksseele Wurzel zu fassen Man weiszlig welche unwider- stehliche Gewalt sie dann entfalteten Der Ansturm eines ganzen Volkes zur Eroberung der sozialen Gleichheit zur Verwirklichung begrifflicher Rechte und idealer Freiheiten erschuumltterte die abendlaumlndische Welt bis auf den Grund Zwanzig Jahre lang fielen die Voumllker uumlbereinander her und Europa lernte Hekatomben kennen die mit denen des Dschingiskhan und Tamerlan zu vergleichen sind Nie trat so klar zutage was die Leidenschaft der Ideen die die Faumlhigkeit haben die Richtung der Gefuumlhle zu aumlndern her- vorbringen kannIdeen brauchen lange Zeit um sich in der Masse festzu- setzen und sie brauchen nicht weniger Zeit um wieder daraus zu verschwinden Auch sind die Massen in bezug auf Ideen immer mehrere Generationen hinter den Wissen- schaftlern und Philosophen zuruumlck Alle Staatsmaumlnner wis- sen heute wieviel Irrtum in den Grundideen steckt die ich soeben anfuumlhrte da aber ihr Einfluszlig noch sehr stark ist so sind sie genoumltigt nach Grundsaumltzen zu regieren an deren Wahrheit sie nicht mehr glauben

DIE IDEE DER MASSEN 41

sect 2 Die Urteile der Massen

Man kann nicht mit unbedingter Bestimmtheit sagen daszlig Massen durch Schluszligfolgerungen nicht zu beeinf lussen waumlren Aber die Beweise die sie anwenden und die wel- che auf sie wirken scheinen vom Standpunkt der Logik so untergeordneter Art daszlig man sie allein mit Hilfe der Analogie als Schluumlsse gelten lassen kannDie untergeordneten Schluszligfolgerungen beruhen ebenso wie die houmlherentwickelten auf Ideenverbindungen aber die von den Massen in Verbindung gebrachten Ideen sind nur durch Aumlhnlichkeit und Aufeinanderfolge verknuumlpft Sie verketten sich wie die des Eskimo der aus Erfahrung weiszlig daszlig das Eis ein durchsichtiger Koumlrper im Munde schmilzt und der daraus schlieszligt daszlig Glas ebenfalls ein durch- sichtiger Koumlrper auch im Munde schmelzen muumlsse oder wie die des Wilden der sich einbildet wenn er das Herz eines tapferen Feindes verzehre erwerbe er dessen Tapfer- keit oder auch wie die des Arbeiters der von seinem Arbeitgeber ausgebeutet wurde und daraus schlieszligt daszlig alle Unternehmer Ausbeuter seienVerknuumlpfung aumlhnlicher Dinge wenn sie auch nur ober- flaumlchliche Beziehungen zueinander haben und vorschnelle Verallgemeinerung von Einzelfaumlllen das sind die Merk- male der Massenlogik Schluszligfolgerungen solcher Art wer- den den Massen durch geschickte Redner immer wieder vorgesetzt Von ihnen allein lassen sie sich beeinflussen Eine logische Kette unumstoumlszliglicher Urteile wuumlrde fuumlr die Massen voumlllig unfaszligbar sein und deshalb darf man sagen daszlig sie gar nicht oder falsch urteilen und durch Logik nicht zu beeinflussen sind Oft staunen wir beim Lesen uumlber die Schwaumlche gewisser Reden die ungeheuren Ein- druck auf ihre Zuhoumlrer gemacht haben aber man vergiszligt daszlig sie dazu bestimmt waren Massen hinzureiszligen und nicht dazu von Philosophen gelesen zu werden Der Red- ner der mit der Masse in inniger Verbindung steht weiszlig die Bilder hervorzurufen durch die sie verfuumlhrt wird

Gelingt ihm das so ist sein Ziel erreicht und ein Band voll Reden wiegt die wenigen Phrasen nicht auf durch die es gelang die Seelen so zu verfuumlhren daszlig sie sich uumlber- zeugen lieszligenEs ist uumlberfluumlssig zu bemerken daszlig die Unfaumlhigkeit der Massen richtig zu urteilen ihnen jede Moumlglichkeit kriti- schen Geistes raubt das heiszligt die Faumlhigkeit Wahrheit und Irrtum voneinander zu unterscheiden und ein scharfes Urteil abzugeben Die Urteile die die Massen annehmen sind nur aufgedraumlngte niemals gepruumlfte Urteile Viele einzelne erheben sich in dieser Beziehung nicht uumlber die Masse Die Leichtigkeit mit der gewisse Meinungen all- gemein werden haumlngt vor allem mit der Unfaumlhigkeit der meisten Menschen zusammen sich auf Grund ihrer beson- deren Schluumlsse eine eigne Meinung zu bilden

sect 3 Die Einbildungskraft der Massen

Die auffallende Einbildungskraft der Massen ist wie bei allen Wesen fuumlr die logisches Denken nicht in Frage kommt leicht aufs tiefste zu erregen Die Bilder die in ihrem Geist durch eine Person ein Ereignis einen Un- gluumlcksfall hervorgerufen werden sind fast so lebendig wie die wirklichen Dinge Die Massen befinden sich ungefaumlhr in der Lage eines Schlaumlfers dessen Denkvermoumlgen im Augenblick aufgehoben ist so daszlig in seinem Geist Bilder von aumluszligerster Heftigkeit aufsteigen die sich aber schnell verfluumlchtigen wuumlrden wenn die Uumlberlegung mitzureden haumltte Fuumlr die Massen die weder zur Uumlberlegung noch zum logischen Denken faumlhig sind gibt es nichts Unwahrschein- liches Vielmehr die unwahrscheinlichsten Dinge sind in der Regel die auffallendstenDaher werden die Massen stets durch die wunderbaren und legendaumlren Seiten der Ereignisse am staumlrksten er- griffen Das Wunderbare und das Legendaumlre sind tatsaumlch- lich die wahren Stuumltzen einer Kultur Der Schein hat in der Geschichte stets eine groumlszligere Rolle gespielt als das

DIE EINBILDUNGSKRAFT DER MASSEN 43

Sein Das Unwirkliche hat stets den Vorrang vor dem WirklichenDie Massen koumlnnen nur in Bildern denken und lassen sich nur durch Bilder beeinflussen Nur diese schrecken oder verfuumlhren sie und werden zu Ursachen ihrer Taten Darum haben auch Theatervorstellungen die das Bild in seiner klarsten Form geben stets einen ungeheuren Einfluszlig auf die Massen Fuumlr den roumlmischen Poumlbel bildeten einst Brot und Spiele das Gluumlcksideal Dies Ideal hat sich im Laufe der Zeiten wenig geaumlndert Nichts erregt die Phantasie des Volkes so stark wie ein Theaterstuumlck Alle Versammelten empfinden gleichzeitig dieselben Gefuumlhle und wenn sie sich nicht sofort in Taten umsetzen so geschieht das nur weil auch der unbewuszligte Zuschauer nicht im Zweifel sein kann daszlig er das Opfer einer Taumluschung ist und uumlber ein- gebildete Abenteuer geweint oder gelacht hat Manchmal jedoch sind die Gefuumlhle die durch diese Bilder suggeriert werden stark genug um wie die gewoumlhnlichen Suggestio- nen danach zu streben sich in Taten umzusetzen Man hat schon oft die Geschichte von jenem Volkstheater erzaumlhlt das den Schauspieler der den Verraumlter spielte nach Schluszlig der Vorstellung schuumltzen muszligte um ihn den Angriffen der uumlber seine vermeintlichen Verbrechen empoumlrten Zuschauer zu entziehen Das ist meiner Meinung nach eins der tref- fendsten Beispiele fuumlr den geistigen Zustand der Massen und besonders fuumlr die Leichtigkeit mit der man sie beein- f luszligt Das Unwirkliche ist in ihren Augen fast ebenso wichtig wie das Wirkliche Sie haben eine auffallende Nei- gung keinen Unterschied zu machenIn der Phantasie des Volkes ist die Macht der Eroberer und die Kraft der Staaten begruumlndet Wenn man auf sie Ein- druck macht reiszligt man die Massen mit Alle bedeutenden geschichtlichen Ereignisse die Entstehung des Buddhismus des Christentums des Islams der Reformation der Revolu- tion und in unserer Zeit das drohende Hereinbrechen des Sozialismus sind die unmittelbaren oder mittelbaren Folgen starker Eindruumlcke auf die Phantasie der Massen

44 IDEEN URTEILE UND EINBILDUNGSKRAFT DER MASSEN

Auch die groszligen Staatsmaumlnner aller Zeiten und Laumlnder die unumschraumlnkten Gewaltherrscher einbegriffen haben die Volksphantasie als Stuumltze ihrer Macht betrachtet Nie- mals haben sie versucht gegen sie zu regieren bdquoIch habe den Krieg in der Vendeacutee beendigt indem ich katholisch wurdeldquo sagte Napoleon im Staatsrat bdquoin Aumlgypten habe ich dadurch Fuszlig gefaszligt daszlig ich mich zum Mohammedaner machte und die italienischen Priester gewann ich indem ich ultramontan wurde Wenn ich uumlber ein juumldisches Volk herrschte wuumlrde ich den Salomonischen Tempel wieder aufbauen lassenldquo Seit Alexander und Caumlsar hat es viel- leicht niemals ein groszliger Mann besser verstanden Ein- druck auf die Massenseele zu machen es war Napoleons staumlndige Sorge sie zu beeinflussen Von ihr traumlumte er bei seinen Siegen in seinen Reden seinen Abhandlungen bei all seinen Taten ndash und noch auf seinem Totenbett traumlumte er davonWie macht man Eindruck auf die Phantasie der Massen Wir werden es gleich sehen Einstweilen sei nur gesagt daszlig dieser Zweck nie durch den Versuch erreicht wird auf Geist und Vernunft zu wirken Antonius brauchte keine ge- lehrte Rhetorik um das Volk gegen Caumlsars Moumlrder aufzu- wiegeln Er las ihnen Caumlsars Testament vor und zeigte ihnen seinen LeichnamAlles was die Phantasie der Massen erregt erscheint in der Form eines packenden klaren Bildes das frei ist von jedem Deutungszubehoumlr und nur durch einige wunderbare Tatsachen gestuumltzt einen groszligen Sieg ein groszliges Wunder ein groszliges Verbrechen eine groszlige Hoffnung Sie pflegt die Dinge in Bausch und Bogen aufzunehmen und ohne jemals ihre Entwicklung zu beachten Hundert kleine Verbrechen oder hundert kleine Unfaumllle werden auf die Phantasie der Massen oft nicht die geringste Wirkung ausuumlben wohl aber wird sie durch ein einziges unerhoumlrtes Verbrechen ein einziges groszliges Ungluumlck tief erschuumlttert wenn es auch viel weniger blutig ist als die hundert kleinen Unfaumllle zu- sammengenommen Die groszlige Grippe-Epidemie an der

45DIE EINBILDUNGSKRAFT DER MASSEN

vor einigen Jahren in Paris fuumlnftausend Menschen inner- halb weniger Wochen starben machte auf die Volksphan- tasie wenig Eindruck Freilich wandelte sich diese Heka- tombe im wahrsten Sinne nicht in einige sichtbare Bilder sondern nur in die taumlglichen statistischen Berichte um Ein Ungluumlcksfall der statt fuumlnftausend nur fuumlnfhundert Men- schenleben kostet aber an einem einzigen Tage auf einem oumlffentlichen Platz in einem sichtbaren Geschehnis eintraumlte z B der Einsturz des Eiffelturms wuumlrde einen ungeheuren Eindruck auf die Einbildungskraft gemacht haben Der mutmaszligliche Verlust eines Ozeandampfers von dem man irrtuumlmlich glaubte er sei auf hoher See untergegangen erregte die Massenphantasie acht Tage lang auszligerordent- lich Die Statistik zeigt nun aber daszlig in demselben Jahre tausend groszlige Schiffe Schiffbruch erlitten Aber um diese allmaumlhlichen Verluste die auf andre Art recht erhebliche Opfer an Menschenleben und Handelswerten forderten kuumlmmerten sich die Massen keinen AugenblickAlso nicht die Tatsachen als solche erregen die Volksphan- tasie sondern die Art und Weise wie sie sich vollziehen Sie muumlssen durch Verdichtung ndash wenn ich so sagen darf ndash ein packendes Bild hervorbringen das den Geist erfuumlllt und ergreift Die Kunst die Einbildungskraft der Massen zu erregen ist die Kunst sie zu regieren

4 KAPITEL

Die religioumlsen Formen die alle Uumlberzeugungen der Masse annehmen

Wir haben gesehen daszlig die Massen nicht uumlberlegen daszlig sie Ideen in Bausch und Bogen annehmen oder verwerfen weder Auseinandersetzung noch Widerspruch dulden und daszlig die Einfluumlsse die auf sie wirken den Bereich ihrer Vernunft gaumlnzlich erfuumlllen und danach streben sich so- gleich in die Tat umzusetzen Wir haben gezeigt daszlig die

46 DIE RELIGIOumlSEN FORMEN DER MASSENUumlBERZEUGUNGEN

entsprechend beeinfluszligten Massen bereit sind sich fuumlr das Ideal zu opfern das man ihnen suggeriert hat Wir haben schlieszliglich festgestellt daszlig sie nur heftige und extreme Gefuumlhle kennen Die Zuneigung wird bei ihnen schnell zur Anbetung und kaum geborene Abneigung wandelt sich in Haszlig Diese allgemeinen Merkmale lassen uns die Art ihrer Uumlberzeugungen ahnenDie naumlhere Untersuchung der Uumlberzeugungen der Masse sowohl in den Zeiten des Glaubens als in den groszligen politischen Erhebungen wie etwa im vorigen Jahrhundert ergibt daszlig diese Uumlberzeugungen stets eine besondere Form aufweisen die ich nicht besser zu bezeichnen weiszlig als mit dem Namen religioumlsen GefuumlhlsDies Gefuumlhl besitzt sehr einfache Kennzeichen Anbetung eines vermeintlichen houmlheren Wesens Furcht vor der Ge- walt die ihm zugeschrieben wird blinde Unterwerfung unter seine Befehle Unfaumlhigkeit seine Glaubenslehren zu untersuchen die Bestrebung sie zu verbreiten die Neigung alle als Feinde zu betrachten die sie nicht an- nehmen Ob sich ein derartiges Gefuumlhl auf einen unsicht- baren Gott auf ein steinernes Idol auf einen Helden oder auf eine politische Idee richtet ndash sobald es die angefuumlhrten Merkmale aufweist ist es immer religioumlser Art Das Uumlber- natuumlrliche und das Wunderbare sind uumlberall darin wieder- zuerkennen Die Massen umkleiden das politische Bekennt- nis oder den siegreichen Anfuumlhrer der sie fuumlr den Augen- blick zur Schwaumlrmerei hinreiszligt mit derselben geheimnis- vollen MachtNicht nur dann ist man religioumls wenn man eine Gottheit anbetet sondern auch dann wenn man alle Kraumlfte seines Geistes alle Unterwerfung seines Willens alles Gluten des Fanatismus dem Dienst einer Macht oder eines Wesens weiht das zum Ziele und Fuumlhrer der Gedanken und Handlungen wirdMit dem religioumlsen Gefuumlhl sind gewoumlhnlich Unduldsamkeit und Fanatismus verbunden Sie sind unausbleiblich bei allen die das Geheimnis des irdischen und himmlischen

DIE RELIGIOumlSEN FORMEN DER MASSENUumlBERZEUGUNGEN 47

Gluumlckes zu besitzen glauben Die beiden Eigenschaften sind bei allen in einer Gruppe vereinigten Menschen wiederzu- finden wenn irgendein Glaube sie erhebt Die Jakobiner der Schreckenstage waren ebenso tief religioumls wie die Ka- tholiken der Inquisition und ihr grausamer Eifer ent- sprang der gleichen QuelleDie Uumlberzeugungen der Massen nehmen die Eigenschaften der blinden Unterwerfung der grausamen Unduldsamkeit und des Beduumlrfnisses nach Verbreitung an die mit dem religioumlsen Gefuumlhl verbunden sind so daszlig man also sagen kann alle ihre Uumlberzeugungen haben eine religioumlse Form Der Held dem die Masse zujubelt ist in der Tat ein Gott fuumlr sie Napoleon war es fuumlnfzehn Jahre lang und keine Gottheit hat eifrigere Anbeter gehabt auch sandte keine die Menschen leichter in den Tod Die Heiden- und Chri- stengoumltter uumlbten niemals eine vollkommenere Herrschaft uumlber die Seelen ausAlle Stifter religioumlser und politischer Glaubensbekenntnisse haben sie nur dadurch begruumlndet daszlig sie es verstanden den Massen jene Gefuumlhle des religioumlsen Fanatismus ein- zufloumlszligen die bewirken daszlig der Mensch sein Gluumlck in der Anbetung findet und ihn dazu treiben sein Leben fuumlr sein Idol zu opfern So war es zu allen Zeiten In seinem schouml- nen Buch uumlber das roumlmische Gallien macht Pustel de Cou- langes darauf aufmerksam daszlig das roumlmische Kaiserreich sich keineswegs durch seine Kraft sondern durch die reli- gioumlse Bewunderung erhielt die es einfloumlszligte bdquoEs waumlre in der Geschichte ohne Beispielldquo sagt er mit Recht bdquodaszlig eine Regierung die von der Bevoumllkerung verabscheut wird fuumlnf Jahrhunderte gewaumlhrt haumltte hellip Es waumlre unerklaumlrlich daszlig dreiszligig Legionen des Kaiserreichs hundert Millionen Menschen zum Gehorsam zwingen konntenldquo Sie gehorch- ten aber nur weil der Kaiser der die Groumlszlige Roms ver- koumlrperte einmuumltig als Gott verehrt wurde Im kleinsten Flecken des Reiches besaszlig der Kaiser seine Altaumlre bdquoIn jener Zeit sah man von einem Ende des Reiches bis zum andern in den Seelen eine neue Religion entstehen deren

48 DIE RELIGIOumlSEN FORMEN DER MASSENUumlBERZEUGUNGEN

Gottheiten die Kaiser selbst waren Einige Jahre vor dem christlichen Zeitalter errichtete ganz Gallien welches durch sechzig Staumldte vertreten wurde dem Augustus gemeinsam einen Tempel bei Lyon hellip Seine Priester die von der Gesamtheit der gallischen Staumldte gewaumlhlt wurden waren die ersten Persoumlnlichkeiten des Landes hellip Man kann un- moumlglich dies alles der Furcht und der knechtischen Unter- werfung zuschreiben Ganze Voumllker sind nicht knechtisch und sind es nicht drei Jahrhunderte lang Nicht allein die Houmlflinge verehrten den Fuumlrsten sondern Rom und nicht Rom allein auch Gallien Spanien Griechenland und AsienldquoHeutzutage besitzen die meisten groszligen Seeleneroberer keine groszligen Altaumlre mehr wohl aber Statuen oder Bilder und der Kultus den man mit ihnen treibt ist von dem fruumlheren nicht erheblich verschieden Man faumlngt an die Philosophie der Geschichte ein wenig zu verstehen wenn man diesen Angelpunkt der Psychologie der Massen recht begriffen hat Fuumlr die Massen muszlig man entweder ein Gott sein oder man ist nichtsDas sind nicht nur aberglaumlubische Anschauungen einer anderen Zeit die die Vernunft endguumlltig verscheucht hat In seinem ewigen Kampf mit der Vernunft wurde das Ge- fuumlhl nie besiegt Zwar wollen die Massen die Worte Gott- heit und Religion von denen sie so lange beherrscht wur- den nicht mehr houmlren aber zu keiner Zeit sah man sie so viele Bildwerke und Altaumlre errichten wie seit einem Jahr- hundert Die Volksbewegung die unter dem Namen Bou- langismus bekannt wurde hat bewiesen wie leicht die religioumlsen Instinkte der Massen der Erneuerung faumlhig sind Damals gab es kein Dorfwirtshaus in dem nicht das Bild des Helden zu finden war Man schrieb ihm die Macht zu allen Ungerechtigkeiten allen Uumlbeln abzuhelfen und Tau- sende von Menschen haumltten ihr Leben fuumlr ihn hingegeben Welchen Platz haumltte er in der Geschichte eingenommen wenn sein Charakter mit der Legende Schritt gehalten haumltte

49MACHT DER RELIGIOumlS GEWORDENEN UumlBERZEUGUNGEN

Auch ist es eine uumlberfluumlssige Banalitaumlt zu wiederholen die Massen beduumlrften einer Religion Denn alle politischen religioumlsen und sozialen Glaubenslehren finden bei ihnen nur Aufnahme unter der Bedingung daszlig sie eine religioumlse Form angenommen haben die sie jeder Auseinandersetzung entzieht Wenn es moumlglich waumlre die Massen zu bewegen den Atheismus anzunehmen so wuumlrde er ganz zum un- duldsamen Eifer eines religioumlsen Gefuumlhls und in seinen aumluszligeren Formen bald zu einem Kultus werden Ein merk- wuumlrdiges Beispiel bietet uns die Entwicklung der kleinen positivistischen Sekte Sie gleicht jenem Nihilisten dessen Geschichte der tiefgruumlndige Dostojewskij uns erzaumlhlt Vom Geiste erleuchtet zerbrach er eines Tages die Bildwerke der Gottheiten und Heiligen die den Altar seiner Kapelle schmuumlckten loumlschte die Kerzen aus und ersetzte ohne einen Augenblick zu zoumlgern die zerstoumlrten Bilder durch die Werke einiger atheistischer Philosophen dann zuumlndete er pietaumltvoll die Kerzen wieder an Der Gegenstand seines religioumlsen Glaubens war ein andrer geworden aber kann man behaupten daszlig sich seine religioumlsen Gefuumlhle geaumlndert hattenIch wiederhole noch einmal gewisse historische Ereignisse und zwar gerade die wichtigsten kann man nur verstehen wenn man die Form welche die Uumlberzeugungen der Mas- sen stets annehmen in Rechnung stellt Viele soziale Er- scheinungen sollten lieber von Psychologen als von Natur- forschern studiert werden Unser groszliger Historiker Taine hat die Revolution nur als Naturforscher studiert und so ist ihm die wirkliche Entwicklung der Ereignisse recht oft verborgen geblieben Er hat die Tatsachen vorzuumlglich be- obachtet aber da er die Massenpsychologie nicht genuumlgend erforscht hatte konnte sie der beruumlhmte Schriftsteller nicht immer aus den Ursachen erklaumlren Da die Tatsachen ihn durch ihre Blutigkeit und Wildheit und ihren Anarchismus erschreckten so erschienen ihm die Helden in dem groszligen Epos nur als eine Horde epileptischer Wilder die sich zuumlgellos ihren Trieben hingaben Die Gewalttaten der Re-

50 DIE RELIGIOumlSEN FORMEN DER MASSENUumlBERZEUGUNGEN

volution ihre Metzeleien ihr Beduumlrfnis nach Verbreitung ihre Kriegserklaumlrung an alle Koumlnige sind nur zu erklaumlren wenn man bedenkt daszlig sie zur Befestigung eines neuen religioumlsen Glaubens dienten Die Reformation die Bartho- lomaumlusnacht die Religionskriege die Inquisition die Schreckenstage sind Erscheinungen derselben Art unter dem Einfluszlig dieser religioumlsen Gefuumlhle die notwendig dazu fuumlh- ren mit Feuer und Schwert alles auszurotten was sich der Einfuumlhrung des neuen Glaubens entgegenstellt Das Ver- fahren der Inquisition und der Schreckenstage ist das aller wahrhaft Uumlberzeugten sie waumlren keine Glaumlubigen wenn sie anders verfuumlhrenUmwaumllzungen gleich jenen die ich erwaumlhnte sind nur moumlglich wenn die Massenseele sie ins Leben ruft Die un- umschraumlnktesten Gewaltherrscher koumlnnten sie nicht ent- fesseln Die Historiker die uns die Bartholomaumlusnacht als das Werk eines Koumlnigs zeigen kennen die Psychologie der Massen ebensowenig wie die der Koumlnige Solche Kund- gebungen koumlnnen nur der Massenseele entspringen Die unumschraumlnkteste Macht des eigenmaumlchtigsten Herrschers reicht kaum weiter als zu einer geringen Beschleunigung oder Verzoumlgerung des Zeitpunktes Nicht die Koumlnige haben die Bartholomaumlusnacht die Religionskriege verursacht und nicht Robespierre Danton oder Saint-Just waren die Ur- heber der Schreckenstage Hinter solchen Ereignissen findet man immer wieder die Seele der Massen

RELIGION OHNE GOTT ATHEISMUS 51

ZWEITES BUCH

DIE MEINUNGEN UND GLAUBENSLEHREN DER MASSEN

1 KAPITEL

Entfernte Triebkraumlfte der Glaubenslehren und Meinungen der Massen

Wir haben bisher den geistigen Zustand der Massen stu- diert Wir kennen die Art ihres Fuumlhlens Denkens Schlie- szligern Nun wollen wir sehen auf welche Weise ihre Mei- nungen und Glaubenslehren entstehen und sich befestigen Zwei verschiedene Arten von Triebkraumlften bestimmen diese Meinungen und Glaubenslehren mittelbare und unmittel- bare TriebkraumlfteDie mittelbaren Triebkraumlfte befaumlhigen die Massen zur An- nahme gewisser Uumlberzeugungen und verhindern das Ein- dringen anderer Sie bereiten den Boden auf dem man ploumltzlich neue Ideen hervorsprieszligen sieht deren Kraft und Wirkung Staunen erregen die aber nur scheinbar ploumltzlich sind Der Ausbruch und die Verwirklichung gewisser Ideen bei den Massen zeigen oft eine blitzartige Ploumltzlichkeit Doch das ist nur die oberflaumlchliche Wirkung hinter der man meistens eine lange Vorarbeit suchen muszligDieser langen Arbeit ohne die sie wirkungslos bleiben wuumlrden uumlbergeordnet sind die unmittelbaren Antriebe die die lebendige Uumlberzeugung der Massen hervorrufen ndash also der Idee ihre Gestalt geben und sie mit all ihren Folgen entfesseln Diese unmittelbaren Triebkraumlfte sind der An- laszlig fuumlr das Auftauchen der Entschluumlsse die eine Gesamt- heit zu einer jaumlhen Erhebung fuumlhren ndash durch sie bricht ein Aufruhr los oder wird ein Streik beschlossen sie brin- gen durch riesige Stimmenmehrheit einen Menschen zur Macht oder stuumlrzen eine Regierung Bei allen groszligen Ge- schehnissen der Geschichte kann man die ununterbrochene

Wirkung dieser beiden Arten von Triebkraumlften feststellen Als eins der klarsten Beispiele koumlnnte man die Franzoumlsische Revolution anfuumlhren deren mittelbare Antriebe die Kri- tiken der Schriftsteller und die Erpressungen des Adels waren Die so vorbereitete Massenseele war infolgedessen leicht aufzuruumltteln durch unmittelbare Antriebe wie die Ansprachen der Redner und den Widerstand des Hofes gegen unbedeutende ReformenZu den mittelbaren Triebkraumlften gehoumlren allgemeine Fak- toren die allen Glaubensbekenntnissen und Anschauungen zugrunde liegen das sind die Rasse die Uumlberlieferungen die Zeit die Einrichtungen und die ErziehungWir wollen ihre jeweilige Aufgabe untersuchen

sect Die Rasse

Als ein Antrieb ersten Ranges ist die Rasse zu betrachten denn sie ist allein schon viel bedeutender als alle uumlbrigen Ich habe sie in einer andern Schrift genuumlgend untersucht und brauche hier nicht ausfuumlhrlich darauf zuruumlckzukom- men Ich zeigte in jener Schrift was eine geschichtliche Masse ist und daszlig wenn sich ihre Charaktermerkmale ge- bildet haben ihre Glaubenslehren ihre Einrichtungen ihre Kunst kurz alle ihre Kulturelemente den aumluszligeren Aus- druck ihrer Seele bilden Die Kraft der Rasse ist so groszlig daszlig kein Element von einem Volk zum andern uumlbergehen koumlnnte ohne die tiefgehendsten Umwandlungen zu er- fahren Die Umgebung die Umstaumlnde die Ereignisse spie- geln die augenblicklichen sozialen Einfluumlsse wider Sie koumln- nen von bedeutender Wirkung sein aber dieser Einfluszlig ist stets nur ein augenblicklicher wenn er im Gegensatz zu den Rasseneinfluumlssen d h zu der ganzen Ahnenreihe steht

Da diese Lehre noch sehr neu ist und ohne sie die Geschichte voumlllig un- verstaumlndlich bleibt so habe ich ihrer Darlegung mehrere Kapitel meines Wer- kes bdquoDie psychologischen Gesetze der Voumllkerentwicklungldquo gewidmet Der Leser wird daraus ersehen daszlig obwohl der Schein truumlgt weder die Sprache noch die Religion noch die Kuumlnste noch irgendein Kulturelement uumlberhaupt un- veraumlndert von einem Volk zum andern uumlbergehen kann

DIE RASSE 51

Wir werden noch in mehreren Kapiteln dieser Arbeit Gelegenheit haben auf den Einfluszlig der Rasse zuruumlckzu- kommen und zu zeigen daszlig er stark genug ist die Sonder- merkmale der Massenseele zu beherrschen Daraus ergibt sich der Umstand daszlig die Massen der verschiedenen Laumln- der in ihrem Glauben und Verhalten sehr betraumlchtliche Unterschiede aufweisen und nicht auf die gleiche Weise zu beeinflussen sind

sect 2 Die Uumlberlieferungen

Die Uumlberlieferungen umfassen die Ideen Beduumlrfnisse und Gefuumlhle der Vorzeit Sie bilden die Einheit der Rasse und lasten mit ihrem ganzen Gewicht auf unsSeit die Embryologie den ungeheuren Einf luszlig der Ver- gangenheit auf die Entwicklung der Wesen gezeigt hat haben sich die biologischen Wissenschaften gewandelt und die historischen werden es auch tun wenn dieser Gedanke weiter verbreitet sein wird Noch ist er nicht hinreichend bekannt und viele Staatsmaumlnner sind damit auf dem Standpunkt der Theoretiker des vergangenen Jahrhunderts stehengeblieben daszlig sie glauben eine Gesellschaft koumlnne mit ihrer Vergangenheit brechen und allein durch die Kraft der Vernunft von Grund auf erneuert werdenEin Volk ist ein Organismus der durch die Vergangenheit geschaffen wurde Wie alle Organismen kann er sich nur durch langsame Anhaumlufung von Erbmasse veraumlndernDie wahren Fuumlhrer der Voumllker sind die Uumlberlieferungen und wie ich schon mehrmals wiederholte nur die aumluszligeren Formen veraumlndern sich leicht Ohne Uumlberlieferung d h ohne Volksseele ist keine Kultur moumlglich So bestanden denn auch die beiden groszligen Aufgaben des Menschen seit er auf der Welt ist in der Schaffung eines Netzes von Uumlberlieferungen und in ihrer Zerstoumlrung nach Verbrauch ihrer nuumltzlichen Wirkungen Keine Kultur ohne beharrende Uumlberlieferungen ohne ihre langsame Ausschaltung kein Fortschritt Die Schwierigkeit besteht darin das richtige

ENTFERNTE TRIEBKRAumlFTE DES GLAUBENS DER MASSEN56

Gleichgewicht zwischen Beharrung und Veraumlnderlichkeit zu finden Diese Schwierigkeit ist ungeheuer Hat ein Volk durch viele Geschlechter seine Gewohnheiten zu sehr er- starren lassen so kann es sich nicht mehr aumlndern und wird wie China unfaumlhig zur Vervollkommnung Selbst gewalt- same Veraumlnderungen bleiben wirkungslos denn dann wer- den entweder die zerrissenen Glieder der Kette wieder zusammengeschweiszligt und die Vergangenheit nimmt ihre Herrschaft unveraumlndert wieder auf oder die Bruchstuumlcke bleiben getrennt und dann folgt der Anarchie bald die EntartungEs ist also die Aufgabe eines Volkes die Einrichtungen der Vergangenheit zu bewahren indem es sie nur nach und nach veraumlndert Die Roumlmer im Altertum und die Eng- laumlnder in der Neuzeit sind fast die einzigen die sie ver- wirklicht habenGerade die Massen und namentlich die Massen aus denen sich die Klassen zusammensetzen sind die zaumlhesten Be- wahrer der uumlberlieferten Ideen und widersetzen sich am hartnaumlckigsten ihrem Wechsel Ich habe bereits auf den konservativen Geist der Massen hingewiesen und gezeigt daszlig viele Revolten nur auf eine Veraumlnderung von Worten hinauslaufen Gegen Ende des 8 Jahrhunderts konnte man angesichts der zerstoumlrten Kirchen der verjagten oder guillotinierten Priester der allgemeinen Verfolgung des katholischen Kultus glauben die alten religioumlsen Ideen haumltten alle Macht eingebuumlszligt und doch muszligte nach einigen Jahren infolge allgemeiner Forderungen der abgeschaffte Kultus wieder eingesetzt werden Der Bericht des alten Konventsmitgliedes Fourcroy den Taine anfuumlhrt ist in dieser Hinsicht sehr klar bdquoWas man uumlberall von der Feier des Sonntags und dem Kirchenbesuch sieht beweist daszlig die Masse der Franzosen zu den alten Gebraumluchen zuruumlckkehren will und es ist nicht mehr an der Zeit sich diesem nationalen Hang zu widersetzen Die groszlige Masse der Menschen braucht Religion einen Kultus und Priester Es ist ein Irrtum einiger moder- ner Philosophen dem ich selbst verfallen war an die Moumlglichkeit einer Bil- dung zu glauben die verbreitet genug waumlre um die religioumlsen Vorurteile zu zerstoumlren sie sind fuumlr die gruumlszlige Anzahl der Ungluumlcklichen eine Quelle des Trostes hellip Man muszlig daher der Masse des Volkes ihre Priester ihre Altaumlre und ihren Kultus lassenldquo

DIE UumlBERLIEFERUNGEN 57

Kein Beispiel koumlnnte besser die Macht der Gewohnheit uumlber die Menschenseele zeigen Die furchtbarsten Idole werden nicht in den Tempeln beherbergt und die gewalt- taumltigsten Tyrannen wohnen nicht in den Palaumlsten Sie wauml- ren leicht zu stuumlrzen Aber die unsichtbaren Herren die unsere Seelen beherrschen entziehen sich jedem Angriff und geben nur der langsamen Abnutzung durch die Jahr- hunderte nach

sect 3 Die Zeit

Einer der wirksamsten Faktoren in den gesellschaftlichen wie in den sozialen Fragen ist die Zeit Sie ist der wahre Schoumlpfer und der groszlige Zerstoumlrer Sie hat die Berge aus Sandkoumlrnern aufgebaut und die winzige Zelle der geo- logischen Urzeit zur menschlichen Wuumlrde erhoben Die Einwirkung der Jahrhunderte genuumlgt um jede beliebige Erscheinung umzuformen Mit Recht sagt man daszlig eine Ameise die Zeit genug haumltte den Montblanc abtragen koumlnnte Ein Wesen das die magische Gewalt besaumlszlige die Zeit nach Belieben zu veraumlndern haumltte die Macht die von den Glaumlubigen ihren Goumlttern zugeschrieben wirdAber wir haben uns hier nur mit dem Einfluszlig der Zeit auf die Entstehung der Anschauungen der Massen zu be- schaumlftigen Unter diesem Gesichtspunkt ist ihre Wirkung ebenfalls ungeheuer Sie haumllt die groszligen Kraumlfte wie die der Rasse die sich nicht ohne sie bilden koumlnnen in ihrer Abhaumlngigkeit Sie laumlszligt alle Glaubenslehren entstehen und absterben Von ihr empfangen sie ihre Macht und sie ent- zieht sie ihnen auch wiederDie Zeit bereitet die Meinungen und Glaubensbekenntnisse der Massen vor d h den Boden auf dem sie keimen Daraus folgt daszlig gewisse Ideen nur zu einer bestimmten Zeit dann nicht mehr zu verwirklichen sind Die Zeit haumluft unermeszligliche Uumlberreste von Glaubensbekenntnissen und Gedanken an denen die Ideen eines Zeitalters ent- springen Sie keimen nicht durch Zufall und Ungefaumlhr Ihre Wurzeln reichen tief in die Vergangenheit Wenn sie

58 ENTFERNTE TRIEBKRAumlFTE DES GLAUBENS DER MASSEN

bluumlhen so hatte die Zeit ihre Bluumlte vorbereitet und um ihren Ursprung zu erfassen muszlig man stets zuruumlckgehen Sie sind Toumlchter der Vergangenheit und Muumltter der Zu- kunft stets aber Sklavinnen der ZeitSo ist denn die Zeit unsere wahre Meisterin und man braucht sie nur walten zu lassen um zu sehen wie alle Dinge sich wandeln Heute beunruhigen uns die bedroh- lichen Anspruumlche der Massen und die Zerstoumlrungen und Umwaumllzungen die sie ahnen lassen Die Zeit allein wird es auf sich nehmen das Gleichgewicht wieder herzustellen

bdquoKeine Ordnungldquo schreibt treffend Lavisse bdquowurde an einem Tage gegruumlndet Die politischen und sozialen Orga- nisationen sind Werke die Jahrhunderte erfordern der Feudalismus bestand Jahrhunderte lang formlos und chao- tisch bevor er seine Richtlinien fand die absolute Mon- archie bestand ebenfalls durch Jahrhunderte bis sie regel- rechte Herrschaftsmittel herausbildete und es gab groszlige Verwirrungen in diesen Uumlbergangszeitenldquo

sect 4 Die politischen und sozialen Einrichtungen

Der Gedanke Einrichtungen koumlnnten den Uumlbeln der Ge- sellschaft abhelfen der Fortschritt der Nationen sei die Folge der Vervollkommnung der Verfassungen und Regie- rungen und die sozialen Umwandlungen koumlnnten sich durch Erlasse vollziehen dieser Gedanke ist noch ganz allgemein verbreitet Die Franzoumlsische Revolution nahm ihn zum Ausgangspunkt und die sozialen Lehren der Gegenwart stuumltzen sich auf ihnUnunterbrochene Erfahrungen konnten diesen fuumlrchter- lichen Wahn nicht ernstlich erschuumlttern Vergebens haben die Philosophen und Historiker versucht seine Sinnlosig- keit zu beweisen Immerhin war es ein Leichtes fuumlr sie zu zeigen daszlig alle Einrichtungen Toumlchter der Ideen Ge- fuumlhle und Sitten sind und daszlig diese Ideen Gefuumlhle und Sitten nicht dadurch umgestaltet werden daszlig man die Gesetze umgestaltet Ein Volk waumlhlt die meisten Einrich-

DIE ZEIT 59

tungen nicht nach Belieben ebensowenig wie es die Farbe seiner Augen oder Haare waumlhlt Einrichtungen und Regie- rungsformen sind ein Rasseerzeugnis Weit entfernt davon die Schoumlpfer einer Epoche zu sein sind sie deren Geschoumlpfe Die Voumllker werden nicht nach ihren augenblicklichen Lau- nen sondern ihrem Charakter gemaumlszlig regiert Die Bildung einer Staatsordnung erfordert Jahrhunderte und Jahr- hunderte braucht es zu ihrer Wandlung Die Einrichtungen haben keinen unmittelbaren Wert sie sind an sich weder gut noch schlecht Zu einer bestimmten Zeit koumlnnen sie fuumlr ein bestimmtes Volk gut und fuumlr ein anderes grund- schlecht seinEin Volk hat also keineswegs die Macht seine Einrich- tungen wirklich zu veraumlndern Gewiszlig kann es um den Preis gewaltsamer Revolutionen ihre Namen aumlndern aber der Kern bleibt derselbe Die Namen sind nur leere Eti- ketten die ein Historiker der sich mit dem wahren Wert der Dinge befaszligt nicht in Rechnung zu ziehen braucht So ist England das demokratischste Land der Welt ob- wohl es eine monarchistische Regierung hat waumlhrend in den spanisch-amerikanischen Republiken trotz ihrer demokrati- schen Verfassung die haumlrteste Despotie herrscht Nicht die Regierung sondern der Charakter der Voumllker bestimmt ihre Schicksale Diese Wahrheit habe ich in einer fruumlhe- ren Arbeit mit Hilfe bestimmter Beispiele zu begruumlnden versuchtEs ist also ein kindisches Unterfangen eine zwecklose rhetorische Uumlbung die Zeit mit der Anfertigung von Ver- fassungen zu vergeuden Die Notwendigkeit und die Zeit uumlbernehmen ihre Ausarbeitung wenn man sie nur walten laumlszligt Der groszlige Historiker Macaulay zeigt in einem Satz der von den Politikern aller lateinischen Laumlnder auswendig

Das erkennen selbst in den Vereinigten Staaten die entschiedensten Repu- blikaner Die amerikanische Zeitung bdquoForumldquo gibt dieser Meinung die ich nach der bdquoReview of Reviewsldquo vom Dezember 894 wiedergebe bestimmten Ausdruck bdquoSelbst die gluumlhendsten Feinde der Aristokratie duumlrfen nie ver- gessen daszlig heute England das demokratischste Land der Erde ist in dem die Rechte des einzelnen am meisten geachtet werden und die einzelnen die meiste Freiheit besitzenldquo

60 ENTFERNTE TRIEBKRAumlFTE DES GLAUBENS DER MASSEN

gelernt werden muumlszligte daszlig die Angelsachsen es so mach- ten Nachdem er die scheinbaren Wohltaten der Gesetze vom Standpunkt der reinen Vernunft ein Chaos von Un- sinnigkeiten und Widerspruumlchen angefuumlhrt hat vergleicht er die Dutzende von Verfassungen die in den Erschuumltte- rungen der lateinischen Voumllker Europas und Amerikas untergegangen sind mit der Verfassung Englands und zeigt daszlig diese sich nur aumluszligerst langsam stuumlckweise unter dem Einfluszlig unmittelbarer Notwendigkeit veraumlnderte aber niemals durch berechnete Vernunftgruumlnde bdquoSich nie um die Anordnung wohl aber um die Nuumltzlichkeit kuumlmmern nie eine Ausnahme beseitigen nur weil es eine Ausnahme ist nie eine Neuerung einfuumlhren es sei denn es mache sich eine Unzutraumlglichkeit fuumlhlbar und auch dann nur gerade so viel erneuern daszlig diese Unzutraumlglichkeit abgestellt wird nie einen Antrag stellen der uumlber den Einzelfall den man behandelt hinausgeht Das sind die Regeln die seit den Zeiten Johannes bis zum Zeitalter Viktorias unsere 250 Parlamente allgemein geleitet habenldquoMan muumlszligte die Gesetze und Einrichtungen eines jeden Volkes eins nach dem andern vornehmen um zu zeigen in welchem Maszlige sie der Ausdruck der Beduumlrfnisse ihrer Rasse und deshalb nicht gewaltsam umzuwandeln sind Man kann sich mit den Vorteilen und Uumlbelstaumlnden der Zentralisation philosophisch auseinandersetzen wenn wir aber sehen wie ein Volk das aus verschiedenen Rassen besteht tausendjaumlhrige Anstrengungen macht um Schritt fuumlr Schritt diese Zentralisation zu erreichen wenn wir feststellen daszlig eine groszlige Revolution deren Ziel die Zer- truumlmmerung aller Einrichtungen der Vergangenheit war sich genoumltigt sah diese Zentralisation nicht allein anzu- erkennen sondern sogar zu uumlbertreiben so koumlnnen wir sagen sie ist das Ergebnis gebieterischer Notwendigkeiten eine unmittelbare Folge des Daseins und koumlnnen nur den Mangel an Weitblick bei den Politikern die von ihrer Aufhebung reden beklagen Wenn durch einen Zufall ihre Meinung siegte so waumlre dieser Erfolg das Signal zu einer

DIE POLITISCHEN UND SOZIALEN EINRICHTUNGEN 61

tiefgreifenden Anarchie die obendrein zu einer viel druumlk- kenderen Zentralisation als der fruumlheren fuumlhren wuumlrdeAus dem Vorstehenden ist zu schlieszligen daszlig man in den Einrichtungen nicht das Mittel zu suchen hat die Seelen der Massen nachhaltig zu bewegen Gewisse Laumlnder mit demokratischen Einrichtungen wie die Vereinigten Staaten bluumlhen wunderbar auf waumlhrend andre wie die spanisch- amerikanischen Republiken trotz durchaus aumlhnlicher Ein- richtungen in der traurigsten Anarchie dahinleben Diese Einrichtungen haben ebensowenig mit der Groumlszlige der einen wie mit dem Niedergang der andern zu tun Die Voumllker werden immer von ihrem Charakter beherrscht und alle Einrichtungen die sich diesem Charakter nicht innig an- schmiegen sind nichts als ein ausgeliehenes Gewand eine voruumlbergehende Verkleidung Gewiszlig hat es blutige Kriege und gewaltige Revolutionen gegeben um Einrichtungen einzufuumlhren denen man wie den Reliquien der Heiligen die uumlbernatuumlrliche Macht zuschreibt das Gluumlck hervorzu- zaubern In gewissem Sinne koumlnnte man sagen Einrich- tungen wirken auf die Massenseele da sie solche Erhebun- gen verursachen In Wahrheit sind es nicht die Einrich- tungen die so wirken denn wir wissen daszlig sie siegend oder besiegt an sich keinerlei Wert besitzen Wenn wir ihren Siegeszug verfolgen verfolgen wir nur Taumluschungen

sect 5 Unterricht und Erziehung

An erster Stelle unter den herrschenden Gedanken unsrer Zeit steht die Idee der Unterricht habe den bestimmten Wenn man die tiefgehenden religioumlsen und politischen Uneinigkeiten welche die verschiedenen Gebiete Frankreichs trennen mit den separatistischen Ten- denzen vergleicht die in der Revolutionszeit auftraten und sich von neuem gegen Ende des deutsch-franzoumlsischen Krieges zeigten so sieht man daszlig die verschiedenen Rassen die auf unserem Boden leben noch lange nicht mit- einander verschmolzen sind Die kraftvolle Zentralisation und die Schaffung kuumlnstlicher Departements zum Zweck der Vermischung der fruumlheren Provin- zen waren gewiszlig das nuumltzlichste Werk der Revolution Koumlnnte die Dezen- tralisation von der heute kurzsichtige Geister so viel reden bewerkstelligt werden so wuumlrde sie unfehlbar zu den blutigsten Kaumlmpfen fuumlhren Das zu verkennen heiszligt unsre Geschichte voumlllig vergessen

62 ENTFERNTE TRIEBKRAumlFTE DES GLAUBENS DER MASSEN

Erfolg die Menschen zu bessern und sogar einander aumlhn- lich zu machen Nur durch seine Wiederholung ist dieser Satz schlieszliglich zu einem der unerschuumltterlichsten Saumltze der Demokratie geworden Er ist ebenso unantastbar ge- worden wie einst die Dogmen der KircheAber in diesem Punkt wie in so vielen anderen stehen die Ideen der Demokratie in schaumlrfstem Gegensatz zu den Ergebnissen der Psychologie und der Erfahrung Mehrere hervorragende Philosophen besonders Herbert Spencer konnten leicht beweisen daszlig der Unterricht den Men- schen weder sittlicher noch gluumlcklicher macht daszlig er die Instinkte und Leidenschaften des Menschen nicht aumlndert und schlecht geleitet oft mehr Schaden als Nutzen bringt Die Statistiker bestaumltigen diese Ansicht indem sie zeigen daszlig die Kriminalitaumlt mit der Verbreitung des Unterrichts oder wenigstens einer gewissen Art des Unterrichts zu- nimmt daszlig die aumlrgsten Feinde der Gesellschaft die Anar- chisten oft aus den Besten der Schule hervorgehen Ein hoher Justizbeamter Adolphe Guillot berichtet daszlig man jetzt dreitausend gebildete auf tausend ungebildete Ver- brecher rechnen kann und daszlig innerhalb fuumlnfzig Jahren das Verbrechertum von 227 auf 552 von hunderttausend Einwohnern gestiegen ist was einen Zuwachs von 33 Pro- zent bedeutet Er hat auch in Uumlbereinstimmung mit seinen Kollegen festgestellt daszlig die Kriminalitaumlt besonders bei den jungen Leuten zunimmt bei denen die unentgeltliche Pflichtschule an die Stelle des Lehrherrn getreten istGewiszlig hat niemals jemand behauptet daszlig gut geleiteter Unterricht keine praktischen sehr nuumltzlichen Ergebnisse haben koumlnnte wenn auch nicht in sittlicher Hinsicht so doch in bezug auf die Entfaltung der beruflichen Faumlhig- keiten Leider haben besonders seit dreiszligig Jahren die lateinischen Voumllker ihre Unterrichtsformen auf ganz falschen Voraussetzungen aufgebaut und beharren trotz der Beobach- tungen der hervorragendsten Koumlpfe in ihren bedauerlichen Irrtuumlmern Ich selbst habe in verschiedenen Schriften ge- Vgl bdquoPsychologie des Sozialismusldquo bdquoPsychologie der Erziehungldquo

UNTERRICHT UND ERZIEHUNG 63

zeigt daszlig unsere gegenwaumlrtige Erziehung die Mehrzahl derer denen sie zuteil wurde in Feinde der Gesellschaft verwandelt die vielfach die Gefolgschaft der schlimmsten Formen des Sozialismus bildenDie erste Gefahr dieser Erziehung die treffend als latei- nisch gekennzeichnet wird beruht auf einem psychologi- schen Grundirrtum sich einzubilden die Intelligenz ent- wickle sich durch Auswendiglernen von Lehrbuumlchern Ferner bemuumlht man sich soviel als moumlglich zu lehren und von der Volksschule bis zur Doktor- oder Staatspruumlfung hat der junge Mann sich nur mit dem Inhalt von Buumlchern voll- zustopfen ohne jemals sein Urteil oder seine Entschluszlig- kraft zu uumlben Der Unterricht besteht fuumlr ihn im Hersagen und Gehorchen bdquoAufgaben lernen eine Grammatik oder einen Abriszlig auswendig wissen gut wiederholen gut nach- machenldquo schreibt der ehemalige Unterrichtsminister Jules Simon bdquodas ist eine komische Erziehung bei der jede An- strengung nur ein Beweis des Glaubens an die Unfehl- barkeit des Lehrers ist und dazu fuumlhrt uns herabzusetzen und unfaumlhig zu machenldquoWaumlre diese Erziehung nur nutzlos so koumlnnte man sich damit begnuumlgen die ungluumlcklichen Kinder zu bedauern denen man statt vieler notwendiger Dinge lieber die Genealogie der Soumlhne Chlotars die Kaumlmpfe zwischen Neu- strien und Austrasien oder zoologische Einteilungen bei- bringt aber sie bildet eine viel ernstere Gefahr sie be- wirkt bei dem der sie genossen hat einen heftigen Wider- willen gegen die Verhaumlltnisse in denen er geboren ist und den nachdruumlcklichen Wunsch aus ihnen herauszukommen Der Arbeiter will nicht mehr Arbeiter der Bauer nicht mehr Bauer bleiben und der letzte Kleinbuumlrger sieht fuumlr seine Soumlhne keine andere Moumlglichkeit als die Laufbahn eines festbesoldeten Staatsbeamten Anstatt die Menschen fuumlr das Leben vorzubereiten bereitet die Schule sie nur fuumlr oumlffentliche Aumlmter vor in denen man ohne einen Schim- mer von Tatkraft Erfolg haben kann Sie erzeugt am Fuszlige der sozialen Leiter die proletarischen Heere die mit ihrem

64 ENTFERNTE TRIEBKRAumlFTE DES GLAUBENS DER MASSEN

Los unzufrieden und stets zum Aufstand bereit sind oben aber unsere leichtfertige zugleich skeptische und glaumlubige Bourgeoisie mit ihrem uumlbertriebenen Vertrauen zur Staats- vorsehung die sie gleichwohl unaufhoumlrlich beschimpft weil sie stets ihre eigenen Fehler der Regierung zuschiebt und unfaumlhig ist ohne die Vermittlung der Obrigkeit etwas zu unternehmenDer Staat kann nur eine kleine Anzahl der Anwaumlrter verwenden die er mit Hilfe von Handbuumlchern fabriziert und dafuumlr auszeichnet und laumlszligt die andern ohne Beschaumlf- tigung Er muszlig sich also dareinfinden die ersten zu er- naumlhren und die andern zu Feinden zu haben Von der Spitze bis zum Fuszlig der sozialen Pyramide belagert heute das riesige Heer der Anwaumlrter die verschiedenen Aumlmter Ein Kaufmann findet schwer einen Stellvertreter in den Kolonien aber es gibt Tausende von Kandidaten die sich um die bescheidensten oumlffentlichen Stellungen bemuumlhen Das Seinedepartement allein zaumlhlt zwanzigtausend be- schaumlftigungslose Lehrer und Lehrerinnen die Feld und Werkstatt verachten und sich an den Staat wenden um leben zu koumlnnen Da die Zahl der Auserwaumlhlten be- schraumlnkt ist so muszlig notwendigerweise die der Unzufrie- denen ungeheuer groszlig sein Sie sind zu allen Revolutionen bereit gleichguumlltig unter weichem Fuumlhrer und zu welchen Zielen Der Erwerb unnuumltzer Kenntnisse ist ein sicheres Mittel einen Menschen zum Empoumlrer zu machen

Uumlbrigens ist dies nicht nur eine besondere Erscheinung bei den lateinischen Voumllkern man kann sie auch in China feststellen das ebenfalls von einer festen Hierarchie von Mandarinen geleitet wird und wo das Mandarinat wie bei uns auf dem Wege von Pruumlfungen erlangt wird deren einziges Erfordernis das fehlerlose Hersagen dicker Lehrbuumlcher ist Das Heer beschaumlftigungsloser Gelehrter wird heute in China fuumlr ein wahres Nationalungluumlck gehalten Auch in Indien hat sich seitdem die Englaumlnder dort Schulen gegruumlndet um die Eingeborenen zu belehren nicht um sie zu erziehen eine besondere Klasse von Gelehrten die der Babus gebildet die zu unversoumlhnlichen Feinden der eng- lischen Macht werden wenn es ihnen nicht gelingt eine Anstellung zu er- halten Die erste Wirkung des Unterrichts bei alten Babus ob angestellt oder ohne Beschaumlftigung war ein auszligerordentliches Sinken ihrer Sittlichkeit Ich habe diesen Punkt in meinem Buch bdquoDie Kulturen Indiensldquo ausfuumlhrlich be- handelt Alle Autoren die die Halbinsel besuchten haben das ebenfalls fest- gestellt

UNTERRICHT UND ERZIEHUNG 65

Es ist offenbar zu spaumlt sich einer solchen Stroumlmung ent- gegenzustemmen Die Erfahrung allein die letzte Lehr- meisterin der Voumllker wird es uumlbernehmen uns unsern Irrtum zu zeigen Sie allein wird maumlchtig genug sein uns die Notwendigkeit des Ersatzes unserer abscheulichen Lehr- buumlcher unserer klaumlglichen Pruumlfungen durch einen berufs- maumlszligigen Unterricht zu beweisen der die Jugend befaumlhigt zu den Feldern zu den Werkstaumltten zu den kolonialen Unternehmungen zuruumlckzukehren die heute verlassen sind Diesen berufsmaumlszligigen Unterricht den alle aufgeklaumlrten Geister jetzt fordern empfingen einst unsere Vaumlter und die Voumllker die heute die Welt durch ihren Willen ihre Tatkraft ihren Unternehmungsgeist beherrschen haben ihn sich zu bewahren gewuszligt Auf bemerkenswerten Seiten seiner Buumlcher deren wesentlichste Stellen ich spaumlter an- fuumlhren werde hat Taine klar gezeigt daszlig unsere Erzie- hung einst ungefaumlhr so war wie heute die englische oder amerikanische Erziehung und er hat durch einen bedeuten- den Vergleich zwischen dem lateinischen und angelsaumlch- sischen System die Folgen der beiden Erziehungsmethoden ins hellste Licht geruumlckt Vielleicht koumlnnte man noch alle Unzutraumlglichkeiten unserer klassischen Bildung hinnehmen selbst wenn sie nur Entwurzelte und Unzufriedene heran- bildete wenn nur der oberf laumlchliche Erwerb so vieler Kenntnisse und das luumlckenlose Hersagen so vieler Lehr- buumlcher die Voraussetzungen der Intelligenz heben wuumlrde Ist das aber wirklich der Fall Ach nein Urteil Erfah- rung Tatkraft und Charakter sind die Bedingungen des Erfolges im Leben sie sind nicht aus Buumlchern zu lernen Buumlcher sind nuumltzliche Nachschlagewerke aber es ist durchaus unnuumltz lange Teilstuumlcke daraus im Kopf aufzu- speichernDaszlig der berufsmaumlszligige Unterricht die Intelligenz in einem Maszlige entwickelt das der klassische Unterricht nie erreicht hat Taine sehr gut in folgenden Zeilen gezeigt bdquoDie Ideen bilden sich nur in ihrer natuumlrlichen und regelrechten Um- gebung Ihre Keime werden durch die unzaumlhligen Wahr-

66 ENTFERNTE TRIEBKRAumlFTE DES GLAUBENS DER MASSEN

nehmungseindruumlcke genaumlhrt die der junge Mensch taumlglich in der Werkstatt im Bergwerk beim Gericht im Arbeits- zimmer auf der Schiffswerft im Krankenhaus beim An- blick der Werkzeuge Betriebsstoffe und Unternehmungen in Gegenwart der Kunden der Arbeiter der Arbeit des gut oder schlecht ausgefuumlhrten kostspieligen oder gewinn- bringenden Unternehmens empfaumlngt Das sind die kleinen Sonderwahrnehmungen der Augen des Ohres der Haumlnde und sogar des Geruchs die unwillkuumlrlich empfangen und unbewuszligt verarbeitet werden und sich in ihm ordnen so daszlig sie ihm fruumlher oder spaumlter die und die neue Ver- bindung Vereinfachung Ersparnis Vervollkommnung oder Erfindung eingeben All dieser wertvollen Verbindungen all dieser fuumlr seine Entwicklung foumlrderlichen unentbehr- lichen Moumlglichkeiten ist der junge Franzose beraubt und zwar gerade im fruchtbaren Alter sieben oder acht Jahre ist er in einer Schule eingesperrt fern von unmittelbarer eigener Erfahrung die ihm einen genauen und lebendigen Begriff von den Dingen den Menschen und den verschie- denen Umgangsformen gegeben haumltteldquo

bdquohellip Wenigstens neun von zehn haben ihre Zeit und ihre Muumlhe mehrere Jahre ihres Lebens und zwar fruchtbare wichtige ja entscheidende Jahre verloren man rechne zunaumlchst die Haumllfte oder zwei Drittel derer die zur Pruuml- fung gehen ab ich meine die Abgewiesenen ferner von den Zugelassenen Gepruumlften und Ausgezeichneten noch die Haumllfte oder zwei Drittel naumlmlich die Uumlberarbeiteten Man hat ihnen zu viel zugemutet wenn man von ihnen ver- langte an einem bestimmten Tage auf einem Stuhl oder vor einer Tafel zwei Stunden lang fuumlr eine Menge von Wissenschaften zum lebenden Nachschlagewerk alles menschlichen Wissens zu dienen Tatsaumlchlich sind sie es an diesem Tage zwei Stunden lang wirklich oder beinahe gewesen aber einen Monat spaumlter sind sie es nicht mehr Sie koumlnnten die Pruumlfung nicht wieder bestehen ihre Ge- daumlchtnis-Errungenschaften sind zu zahlreich und druumlckend und entgleiten unaufhoumlrlich ihrem Geist und sie machen

UNTERRICHT UND ERZIEHUNG 67

keine neuen Ihre Geisteskraft hat nachgelassen der be- fruchtende Saft ist vertrocknet der erwachsene Mensch kommt zum Vorschein und oft ist es der fertige Mensch Ist der in seinem Beruf und verheiratet so ergibt er sich drein sich im Kreise und fuumlr unabsehbare Zeit immer in demselben Kreise zu bewegen er verschanzt sich hinter seinem beschraumlnkten Amt das er fehlerlos ausfuumlllt ohne das Geringste daruumlber hinaus zu tun Das ist das Durch- schnittsergebnis der Ertrag wiegt die Unkosten bestimmt nicht auf In England und Amerika wo man wie ehemals vor 789 auch bei uns in Frankreich den umgekehrten Prozeszlig durchmachte ist der Ertrag ebenso groszlig oder groumlszligerldquoDer hervorragende Historiker zeigt uns dann den Unter- schied zwischen unserm und dem angelsaumlchsischen System Dort geschieht die Belehrung nicht durch das Buch sondern durch die Sache selbst Der Techniker z B bildet sich in einer Fabrik nie in einer Schule jeder kann genau den Grad erreichen der seiner Intelligenz entspricht als Ar- beiter oder Werkmeister wenn er nicht weiterkann als Ingenieur wenn es seine Faumlhigkeiten zulassen Das Ver- fahren ist fuumlr die ganze Gesellschaft demokratischer und nuumltzlicher als wenn man die Laufbahn eines Menschen von einer mehrstuumlndigen Pruumlfung abhaumlngig macht die er im Alter von achtzehn bis zwanzig Jahren abzulegen hatbdquoIm Krankenhaus im Bergwerk in der Fabrik beim Architekten beim Anwalt macht der in jungen Jahren zu- gelassene Schuumller seine Lehr- und Probezeit durch unge- faumlhr wie bei uns ein Schreiber in einem Buumlro oder ein Malerlehrling in der Werkstatt Vorher und bis zu seinem Eintritt konnte er nur ein paar allgemeine kurzgefaszligte Kurse besuchen um einen geeigneten Rahmen zu haben dem er die Beobachtungen die er jeden Augenblick macht einfuumlgen kann Je nach Faumlhigkeit hat er in seiner freien Zeit meist Gelegenheit einige technische Kurse zu besuchen um seine taumlglichen Erfahrungen je nach deren Stand zu verknuumlpfen Bei einer derartigen Ausbildung waumlchst und

68 ENTFERNTE TRIEBKRAumlFTE DES GLAUBENS DER MASSEN

entwickelt sich die praktische Faumlhigkeit von selbst bis zu dem Grade den die Anlagen des Schuumllers erreichen koumln- nen und in der Richtung die seine kuumlnftige Taumltigkeit die besondere Arbeit der er sich von nun an widmen will er- fordert Auf diese Weise kommt in England und in den Vereinigten Staaten der junge Mann rasch dazu alles was in ihm ist aus sich herauszuholen Mit fuumlnfundzwanzig Jahren und wenn ihm die Voraussetzungen dazu nicht fehlen noch fruumlher ist er ein nuumltzlicher Arbeiter oder sogar ein selbstaumlndiger Unternehmer nicht nur ein Ge- triebe sondern noch mehr ein Antrieb ndash In Frankreich wo der umgekehrte Ausbildungsgang geherrscht hat und mit jeder Generation chinesischer wird ist die Summe der verlorenen Kraumlfte unermeszliglich groszligldquoUnd der bedeutende Philosoph gelangt zu folgendem Er- gebnis uumlber das zunehmende Miszligverhaumlltnis zwischen un- serer lateinischen Erziehung und dem Leben

bdquoAuf allen drei Stufen des Unterrichts der der Kindheit des Knaben- und des Juumlnglingsalters ist die theoretische Vorbereitung auf der Schulbank und aus Buumlchern verlaumln- gert und uumlberbuumlrdet worden im Hinblick auf die Pruumlfung den akademischen Grad das Diplom und das Patent und durch die schlechten Mittel die Anwendung eines unnatuumlr- lichen und antisozialen Bildungsganges die uumlbermaumlszligige Hinausschiebung der praktischen Lehre durch das Internat den kuumlnstlichen Drill und die mechanische Gedaumlchtnis- uumlberfuumlllung durch Uumlberarbeitung ohne Ruumlcksicht auf die Zukunft das Mannesalter und die Pflichten des Mannes die er bald uumlben muszlig durch Vernachlaumlssigung der wirk- lichen Welt in die der junge Mensch bald eintreten wird der Gesellschaft die ihn umgibt der er sich anpassen muszlig will er nicht von vornherein verzichten des menschlichen Daseinskampfes fuumlr den er zu seiner Verteidigung und um sich zu halten im voraus geruumlstet und gewappnet geuumlbt abgehaumlrtet sein muszlig Diese unentbehrliche Aus- ruumlstung diese Errungenschaft die wichtiger ist als alle anderen diese Tuumlchtigkeit des gesunden Menschenverstan-

UNTERRICHT UND ERZIEHUNG 69

des des Willens und der Nerven in unseren Schulen wird sie nicht gewonnen ganz im Gegenteil statt den Menschen tuumlchtiger zu machen machen sie ihn untuumlchtig fuumlr seine naumlchste und kuumlnftige Stellung Daher sind nach dem Ver- lassen der Schule sein Eintritt in die Welt und seine ersten Schritte auf dem Felde des praktischen Wirkens nichts als eine Reihe schmerzlicher Niederlagen aus denen er ver- wundet und fuumlr lange Zeit zermuumlrbt verkruumlppelt hervor- geht Es ist eine harte und gefaumlhrliche Probe bei der das geistige und sittliche Gleichgewicht erschuumlttert wird und Gefahr laumluft nicht wiederhergestellt zu werden Die Ent- taumluschung kam zu jaumlh und zu vollstaumlndig der Betrug war zu groszlig und der Ekel zu stark Sind wir im vorstehenden von der Massenpsychologie ab- gewichen Gewiszlig nicht Wenn wir die Ideen und Glau- bensmeinungen die heute in ihr keimen und morgen auf- gehen werden verstehen wollen so muumlssen wir wissen wie der Boden dafuumlr vorbereitet wurde Der Unterricht den die Jugend eines Landes genieszligt erlaubt uns die Schicksale dieses Landes ein wenig vorauszusehen Die Er- ziehung die der heutigen Generation zuteil wird recht- fertigt die duumlstersten Ahnungen Hand in Hand mit dem Unterricht und der Erziehung veredelt sich die Massenseele oder verdirbt Es war daher notwendig zu zeigen wie das gegenwaumlrtige System sie geformt hat und wie die Masse der Unbeteiligten und Gleichguumlltigen allmaumlhlich zu einem riesigen Heer Unzufriedener wurde das bereit ist allen Einfluumlssen der Weltverbesserer und Redner zu folgen Die Schule bildet heute Unzufriedene und Anarchisten und bereitet fuumlr die lateinischen Voumllker die Zeiten des Nieder- gangs vor

Taine Le reacutegime moderne II 894 ndash Es sind fast die letzten Seiten die Taine schrieb Sie fassen die Ergebnisse der langen Erfahrungen des groszligen Denkers ausgezeichnet zusammen Die Erziehung ist unser einziges Mittel die Seele eines Volkes ein wenig zu beeinflussen und der Gedanke ist tief- traurig daszlig es fast niemand in Frankreich gibt der zu begreifen vermag daszlig unser gegenwaumlrtiger Unterricht eine furchtbare Ursache der Entartung ist Anstatt die Jugend zu erheben erniedrigt und verdirbt er sie

70 ENTFERNTE TRIEBKRAumlFTE DES GLAUBENS DER MASSEN

2 KAPITEL

Unmittelbare Triebkraumlfte der Anschauungen der Massen

Wir haben die mittelbaren und vorbereitenden Triebkraumlfte festgestellt die der Massenseele besondere Empfaumlnglichkeit verleihen indem sie das Aufbluumlhen gewisser Gefuumlhle und Ideen bei den Massen ermoumlglichen Jetzt haben wir noch die Triebkraumlfte zu untersuchen die eine unmittelbare Handlung bewirken koumlnnen Im naumlchsten Kapitel werden wir dann sehen wie diese Triebkraumlfte zu benutzen sind damit sie all ihre Wirkungen erzielen koumlnnenDer erste Teil dieses Werkes behandelte die Gefuumlhle Ideen und Uumlberzeugungen von Gesamtheiten (collectiviteacutes) Aus ihrer Kenntnis kann man offenbar die Mittel die Massen- seele zu beeinflussen in allgemeiner Weise feststellen Wir wissen bereits was auf die Einbildungskraft der Massen Eindruck macht kennen die Macht der Uumlbertragung von Beeinflussungen besonders jenen die in bildhafter Form auftreten Da aber die moumlglichen Beeinflussungen ganz ver- schiedenen Ursprung haben so koumlnnen auch die Faktoren die auf die Massen zu wirken vermoumlgen recht verschieden sein man muszlig sie daher gesondert untersuchen Die Mas- sen sind so etwas wie die Sphinx der antiken Sage man muszlig die Fragen die ihre Psychologie uns stellt loumlsen oder darauf gefaszligt sein von ihnen verschlungen zu werden

sect Bilder Worte und Redewendungen

Beim Studium der Einbildungskraft der Massen fanden wir daszlig sie namentlich durch Bilder erregt wird Diese Bilder stehen einem nicht immer zur Verfuumlgung aber man kann sie durch geschickte Anwendung von Worten und Redewendungen hervorrufen Werden sie kunstgerecht an- gewandt so besitzen sie wirklich die geheimnisvolle Macht die ihnen einst die Adepten der Magie zuschrieben Sie rufen in der Massenseele die furchtbarsten Stuumlrme hervor

und koumlnnen sie auch besaumlnftigen Man koumlnnte allein aus den Knochen der Menschen die der Macht der Worte und Redewendungen zum Opfer fielen eine houmlhere Pyramide als die des alten Cheops erbauen Die Macht der Worte ist mit den Bildern verbunden die sie hervorrufen und voumlllig unabhaumlngig von ihrer wahren Bedeutung Worte deren Sinn schwer zu erklaumlren ist sind oft am wirkungs- vollsten So z B die Ausdruumlcke Demokratie Sozialismus Gleichheit Freiheit u a deren Sinn so unbestimmt ist daszlig dicke Baumlnde nicht ausreichen ihn festzustellen Und doch knuumlpft sich eine wahrhaft magische Macht an ihre kurzen Silben als ob sie die Loumlsung aller Fragen ent- hielten In ihnen ist die Zusammenfassung der verschie- denen unbewuszligten Erwartungen und der Hoffnung auf ihre Verwirklichung lebendigMit Vernunft und Beweisgruumlnden kann man gewisse Worte und Redewendungen nicht bekaumlmpfen Man spricht sie mit Andacht vor den Massen aus und sogleich werden die Mienen ehrfurchtsvoll und die Koumlpfe neigen sich Viele sehen in ihnen Naturkraumlfte oder uumlbernatuumlrliche Maumlchte Sie rufen in den Seelen groszligartige und unbestimmte Bilder hervor aber eben das Unbestimmte das sie verwischt ver- mehrt ihre geheimnisvolle Macht Sie lassen sich mit jenen furchtbaren Gottheiten vergleichen die hinter dem Alier- heiligsten verborgen sind und denen der Andaumlchtige nur mit Zittern nahtDa die Bilder die durch die Worte hervorgerufen werden unabhaumlngig sind von ihrem Sinn so wandeln sie sich von Zeitalter zu Zeitalter von Volk zu Volk waumlhrend die Formeln dafuumlr die gleichen bleiben Mit bestimmten Wor- ten verbinden sich zeitweilig bestimmte Bilder das Wort ist nur der Klingelknopf der sie hervorruftNicht alle Worte und Redewendungen besitzen die Macht Bilder hervorzurufen und es gibt solche die sich danach abnutzen und in der Seele nichts mehr hervorrufen Sie bleiben dann leerer Schall dessen Hauptnutzen darin be- steht allen die von ihnen Gebrauch machen das Denken

72 UNMITTELBARE TRIEBKRAumlFTE DER MASSEN-ANSCHAUUNG

zu ersparen Mit einem kleinen Vorrat von Redewen- dungen und Gemeinplaumltzen die wir in der Jugend erlern- ten besitzen wir alles Noumltige um ohne die ermuumldende Notwendigkeit nachdenken zu muumlssen durchs Leben zu gehenBetrachtet man eine bestimmte Sprache so sieht man daszlig sich die Worte aus denen sie sich zusammensetzt im Laufe der Zeit nur ziemlich langsam veraumlndern aber un- aufhoumlrlich veraumlndern sich die Bilder die sie hervorrufen oder der Sinn den man ihnen unterlegt Und in einer anderen Arbeit bin ich daher zu dem Schluszlig gekommen daszlig die genaue Uumlbersetzung einer Sprache besonders einer toten Sprache voumlllig unmoumlglich ist Was tun wir denn in Wirklichkeit wenn wir einen franzoumlsischen Ausdruck ins Lateinische Griechische oder Sanskrit uumlbertragen wollen oder selbst wenn wir nur versuchen ein Buch zu ver- stehen das vor einigen Jahrhunderten in unserer eigenen Sprache geschrieben wurde Wir uumlbertragen einfach die Bilder und Vorstellungen die das moderne Leben in un- serem Verstand erzeugt hat auf die voumlllig verschiedenen Begriffe und Bilder die das antike Leben in der Seele von Rassen hervorbrachte deren Lebensbedingungen keine Aumlhn- lichkeit mit den unsrigen zeigen Die Menschen der Revo- lutionszeit glaubten die Griechen und Roumlmer nachzuahmen und gaben nur den alten Worten einen Sinn den sie nie- mals gehabt hatten Welche Aumlhnlichkeit koumlnnte zwischen den Einrichtungen der Griechen und solchen bestehen die heute mit gleichlautenden Worten bezeichnet werden Was war eine Republik damals anderes als eine wesentlich aristokratische aus einer Vereinigung kleiner Despoten gebildete Einrichtung die eine versklavte in voumllliger Ab- haumlngigkeit gehaltene Masse beherrschte Diese kommunalen Aristokratien die sich auf Sklaverei gruumlndeten haumltten nicht einen Augenblick ohne sie bestehen koumlnnenUnd wie koumlnnte das Wort Freiheit fuumlr ein Zeitalter das die Gedankenfreiheit noch nicht einmal ahnte und keinen groumlszligeren und uumlberdies seltneren Frevel kannte als uumlber

BILDER WORTE UND REDEWENDUNGEN 73

die Goumltter die Gesetze und die Sitten der Buumlrgerschaft zu streiten dieselbe Bedeutung haben wie fuumlr uns Das Wort Vaterland bedeutete in der Seele eines Atheners oder Spar- taners die Verehrung Athens oder Spartas keineswegs aber Griechenlands das aus vielen Stadtstaaten bestand die sich fortwaumlhrend bekriegten und miteinander wetteiferten Welche Bedeutung hatte dasselbe Wort bei den wetteifern- den Staumlmmen von verschiedener Rasse Sprache und Reli- gion des alten Galliens die Caumlsar so leicht besiegte weil er unter ihnen stets Verbuumlndete hatte Rom allein verlieh Gallien ein Vaterland indem es ihm die politische und religioumlse Einheit gab Doch man braucht gar nicht so weit zuruumlckzugehen knapp zwei Jahrhunderte genuumlgen glaubt man das Wort Vaterland sei von den franzoumlsischen Prin- zen die sich wie der groszlige Condeacute mit dem Feinde gegen ihren eigenen Herrscher verbanden in seiner jetzigen Be- deutung verstanden worden Und hatte dasselbe Wort fuumlr die Emigranten nicht noch einen ganz andern Sinn als heutzutage Sie glaubten den Gesetzen der Ehre zu gehor- chen wenn sie Frankreich bekaumlmpften und gehorchten ihnen damit tatsaumlchlich von ihrem Gesichtspunkt aus da das Lehnsgesetz den Vasallen dem Lehnsherrn verband und nicht dem Lande und dort wo sich der Herr befand auch das wahre Vaterland warUnzaumlhlige Worte haben so ihre Bedeutung im Laufe der Zeit entscheidend geaumlndert Wir koumlnnen nur noch mit groszliger Muumlhe ihre fruumlhere Bedeutung verstehen Man muszlig viel lesen hat man mit Recht gesagt um nur zu begreifen was in den Augen unsrer Groszligeltern Worte wie bdquoder Koumlnigldquo und bdquodie koumlnigliche Familieldquo bedeuteten Wie steht es da erst mit schwierigeren AusdruumlckenDie Worte haben also nur veraumlnderliche und vergaumlngliche Bedeutungen die mit den Zeiten und Voumllkern wechseln Wollen wir durch sie auf die Massen wirken so muumlssen wir den Sinn kennen den sie fuumlr die Massen im gege- benen Augenblick haben nicht aber jenen den sie einst besaszligen oder den sie fuumlr Persoumlnlichkeiten von ganz be-

74 UNMITTELBARE TRIEBKRAumlFTE DER MASSEN-ANSCHAUUNG

sonderer geistiger Beschaffung haben koumlnnen Worte sind ebenso lebendig wie IdeenWenn also die Massen infolge politischer Umwaumllzungen oder nach einem Glaubenswechsel einen tiefen Widerwillen gegen die Bilder haben die durch bestimmte Worte aus- geloumlst werden so ist es die erste Aufgabe des wahren Staatsmannes die Bezeichnungen zu aumlndern ohne ndash wohl- gemerkt ndash an die Dinge selbst zu ruumlhren da diese zu sehr an eine ererbte Geistesverfassung gebunden sind als daszlig man sie aumlndern koumlnnte Der geistreiche Tocqueville hat darauf aufmerksam gemacht daszlig die Arbeit des Konsulats und des Kaisertums vor allen Dingen darin bestand die Mehrzahl der Einrichtungen der Vergangenheit mit neuen Bezeichnungen zu versehen folglich die Ausdruumlcke die in der Phantasie der Massen verhaszligte Bilder hervorriefen durch andre zu ersetzen deren Neuheit das unmoumlglich machte Die

bdquoTailleldquo wurde zur Grundsteuer die bdquoGabelleldquo zur Salz- steuer die Verbrauchssteuer zu indirekten Steuern und Zoumll- len die Meister- und Zunfttaxe zur Gewerbesteuer uswEine der wichtigsten Aufgaben der Staatsmaumlnner besteht also darin die Dinge die die Massen unter ihren alten Bezeichnungen verabscheuen mit volkstuumlmlichen oder we- nigstens bedeutungslosen Namen zu taufen Die Macht der Worte ist so groszlig daszlig gutgewaumlhlte Bezeichnungen genuuml- gen um den Massen die verhaszligtesten Dinge annehmbar zu machen Taine bemerkt ganz richtig daszlig die Jakobiner durch Berufung auf die damals sehr volkstuumlmlichen Worte

bdquoFreiheitldquo und bdquoBruumlderlichkeitldquo einen Despotismus der des Koumlnigreichs Dahomey wuumlrdig gewesen waumlre ein Tri- bunal wie die Inquisition und Menschenhekatomben gleich denen des alten Mexiko heraufbeschwoumlren konnten Die Regierungskunst besteht wie die der Rechtsanwaumllte darin daszlig man die Worte zu meistern versteht Eine schwierige Kunst denn in derselben Gesellschaft haben die gleichen Worte fuumlr die verschiedenen sozialen Schichten oft ganz verschiedene Bedeutung Sie gebrauchen anscheinend diesel- ben Worte sprechen aber nicht dieselbe Sprache

BILDER WORTE UND REDEWENDUNGEN 75

In den vorstehenden Beispielen haben wir als Haupt- ursache fuumlr den Bedeutungswandel der Worte besonders die Zeit in Betracht gezogen Wollten wir auch die Rasse heranziehen so wuumlrden wir sehen daszlig zu gleicher Zeit bei Voumllkern von gleicher Kultur aber verschiedener Rasse die gleichen Worte oft ganz verschiedenartigen Vorstellungen entsprechen Diese Unterschiede kann man ohne zahlreiche Reisen nicht kennenlernen und verstehen und ich will sie daher nicht hervorheben Ich beschraumlnke mich auf die Be- merkung daszlig gerade die gebraumluchlichsten Worte bei den verschiedenen Voumllkern die verschiedenste Bedeutung haben So z B die Ausdruumlcke bdquoDemokratieldquo und bdquoSozialismusldquo die heute soviel gebraucht werdenSie entsprechen in Wirklichkeit fuumlr die lateinische und die angelsaumlchsische Seele inhaltlich und bildlich voumlllig ent- gegengesetzten Vorstellungen Bei den lateinischen Voumllkern bedeutet das Wort Demokratie vor allem die Ausloumlschung des Willens und der Tatkraft des einzelnen vor dem Staat Dem Staat wird immer mehr aufgeladen er soll fuumlhren zentralisieren monopolisieren fabrizieren An ihn wenden sich bestaumlndig alle Parteien ohne Ausnahme Radikale Sozialisten Monarchisten Bei den Angelsachsen nament- lich bei den Amerikanern bedeutet dasselbe Wort im Gegenteil die angespannteste Entfaltung des Willens und der Persoumlnlichkeit das moumlglichste Zuruumlcktreten des Staates den man mit Ausnahme der Polizei des Heeres und der diplomatischen Beziehungen nichts leiten laumlszligt nicht einmal den Unterricht Dasselbe Wort hat also bei diesen beiden Voumllkern einen voumlllig entgegengesetzten Sinn

sect 2 Die Taumluschungen (illusions)

Seit der Morgenroumlte der Kultur sind die Voumllker immer dem Einfluszlig von Taumluschungen ausgesetzt gewesen Den

In den bdquoPsychologischen Gesetzen der Voumllkerentwicklungldquo habe ich klar auf den Unterschied hingewiesen der das lateinische Ideal der Demokratie von dem angelsaumlchsischen Ideal der Demokratie unterscheidet

76 UNMITTELBARE TRIEBKRAumlFTE DER MASSEN-ANSCHAUUNG

Schoumlpfern von Taumluschungen haben sie die meisten Tempel Bildwerke und Altaumlre errichtet Fruumlher waren es religioumlse heute sind es philosophische Taumluschungen ndash aber immer findet man diese furchtbaren Herrscherinnen an der Spitze aller Kulturen die nacheinander auf unserm Planeten bluumlhten In ihrem Namen stiegen die Tempel Chaldaumlas und Aumlgyptens die Kirchenbauten des Mittelalters empor in ihrem Namen wurde ganz Europa vor einem Jahr- hundert umgewaumllzt Es gibt nicht eine einzige unserer kuumlnstlerischen politischen oder sozialen Anschauungen die nicht ihren maumlchtigen Stempel truumlge Oft schuumlttelt sie der Mensch um den Preis furchtbarer Umwaumllzungen ab aber er scheint dazu verdammt zu sein sie immer wieder auf- zurichten Ohne sie haumltte er die primitive Barbarei nicht hinter sich lassen koumlnnen und ohne sie wuumlrde er ihr bald wieder verfallen Zweifellos sind es leere Schatten aber diese Toumlchter unserer Traumlume haben die Voumllker gezwun- gen all das zu schaffen was den Glanz der Kuumlnste und die Groumlszlige der Kultur ausmacht

bdquoWenn man alle Kunstwerke und Denkmaumller in den Mu- seen und Bibliotheken die dem Einfluszlig der Religion ihr Dasein verdanken zerstoumlren und auf den Steinen ihrer Vorhoumlfe zertruumlmmern koumlnnte was bliebe von den groszligen Traumlumen der Menschheit uumlbrigldquo schreibt ein Autor der die Summe unseres Wissens zieht bdquoDie Daseinsberech- tigung der Goumltter Helden und Dichter besteht darin den Menschen ihren Anteil an Hoffnungen und Taumluschungen zu geben ohne die sie nicht leben koumlnnen Eine Zeitlang schien die Wissenschaft diese Aufgabe zu uumlbernehmen Sie hat sich aber bei den idealhungrigen Gemuumltern um ihr Ansehen gebracht weil sie nicht mehr genug zu verspre- chen wagt und nicht genug zu luumlgen weiszligldquoDie Philosophen des vergangenen Jahrhunderts widmeten sich mit Eifer der Zerstoumlrung der religioumlsen politischen und sozialen Taumluschungen von denen unsere Vaumlter viele Jahrhunderte lang gelebt hatten Diese Zerstoumlrung lieszlig die Quellen der Hoffnung und Ergebung versiegen Hinter den

DIE TAumlUSCHUNGEN 77

geopferten Chimaumlren fanden sie die blinden Naturkraumlfte die unerbittlich sind gegen Schwaumlche und kein Mitleid kennenTrotz all ihrer Fortschritte hat die Philosophie nicht ver- mocht den Massen ein Ideal zu bieten das sie bezaubern koumlnnte Da ihnen aber Taumluschungen unentbehrlich sind so wenden sie sich unwillkuumlrlich wie die Motte dem Licht den Rednern zu die sie ihnen bieten Die groszlige Trieb- kraft der Voumllkerentwicklung war niemals die Wahrheit sondern der Irrtum Und wenn heute der Sozialismus seine Macht wachsen sieht so erklaumlrt es sich daraus daszlig er die einzige Taumluschung darstellt die noch lebendig ist Wissen- schaftliche Beweisfuumlhrungen koumlnnen seine Entwicklung nicht aufhalten Seine Hauptstaumlrke liegt darin daszlig er von Koumlpfen verteidigt wird die die Tatsachen der Wirklichkeit genuumlgend verkennen um es zu wagen den Menschen kuumlhn das Gluumlck zu versprechen Die soziale Taumluschung herrscht heute auf allen Ruinen die die Vergangenheit auftuumlrmte und ihr gehoumlrt die Zukunft Nie haben die Massen nach Wahrheit geduumlrstet Von den Tatsachen die ihnen miszlig- fallen wenden sie sich ab und ziehen es vor den Irrtum zu vergoumlttern wenn er sie zu verfuumlhren vermag Wer sie zu taumluschen versteht wird leicht ihr Herr wer sie aufzu- klaumlren sucht stets ihr Opfer

sect 3 Die Erfahrung

Die Erfahrung ist so ziemlich das einzige wirksame Mittel um der Massenseele eine Wahrheit fest einzupflanzen und zu gefaumlhrlich gewordene Taumluschungen zu zerstoumlren Dazu muszlig die Erfahrung auf einer breiten Grundlage ruhen und oft wiederholt werden Die von einer Generation gesam- melten Erfahrungen sind im allgemeinen fuumlr die folgende nutzlos darum hat es keinen Zweck geschichtliche Ereig- nisse als Beweise anzufuumlhren Ihr einziger Nutzen ist daszlig sie zeigt in welchem Maszlige die Erfahrungen in jedem Zeit- alter wiederholt werden muumlssen um irgendwelchen Einfluszlig

78 UNMITTELBARE TRIEBKRAumlFTE DER MASSEN-ANSCHAUUNG

zu gewinnen und den Erfolg zu haben auch nur einen Irrtum der mit der Massenseele verwachsen ist auszu- rottenUnser Jahrhundert und das vorhergehende werden von den Historikern der Zukunft zweifellos als eine Zeit merk- wuumlrdiger Erfahrungen bezeichnet werden Kein anderes Zeitalter hat so viele aufzuweisenDie gewaltigste Erfahrung war die Franzoumlsische Revo- lution Um zu entdecken daszlig man eine Gesellschaft nicht mit den Mitteln der reinen Vernunft von Grund auf er- neuern kann muszligten einige Millionen Menschen hinge- schlachtet und ganz Europa zwanzig Jahre lang erschuumlttert werden Um uns durch die Erfahrung zu beweisen daszlig Caumlsaren den Voumllkern die ihnen zujauchzen teuer zu stehen kommen waren innerhalb fuumlnfzig Jahren zwei vernich- tende Erfahrungen noumltig die trotz ihrer Verstaumlndlichkeit nicht uumlberzeugend genug gewesen zu sein scheinen Gleich- wohl kostete die erste drei Millionen Menschen und einen feindlichen Einmarsch die zweite eine Zerreiszligung des Lan- des und die Notwendigkeit stehender Heere Eine dritte waumlre beinahe vor kurzem gemacht worden und wird eines Tages sicherlich gemacht werden Um uns zu beweisen daszlig das riesige deutsche Heer nicht wie man uns vor 870 lehrte eine Art harmloser Nationalgarde ist war der schreckliche Krieg noumltig der uns so viel gekostet hat Um zu der Erkenntnis zu kommen daszlig das Schutzzollsystem

Die Anschauung der Massen bildete sich in diesem Fall durch die groben Verbindungen unaumlhnlicher Dinge deren Mechanik ich fruumlher erklaumlrt habe Weil damals unsere Nationalgarde aus friedlichen Kleinbuumlrgern ohne jede straffe Zucht bestand und nicht ernst zu nehmen war erweckte alles was einen aumlhnlichen Namen trug dieselben Bilder und wurde folglich fuumlr ebenso harmlos gehalten Der Irrtum der Massen wurde damals wie es bei allge- meinen Anschauungen so oft der Fall ist von den Fuumlhrern geteilt In einer Rede die Herr Thiers am 3 Dezember 867 in der Deputiertenkammer hielt wiederholte er ein Staatsmann der der Massenanschauung oft gefolgt ist Preuszligen besitze auszliger einem aktiven Heere an Zahl dem unsrigen fast gleich nur eine Nationalgarde die von derselben Art wie wir sie einmal besessen und demnach ohne Bedeutung sei ndash eine ebenso richtige Behauptung wie die beruumlhmte Prophezeiung desselben Staatsmannes uumlber die Zukunfts- losigkeit der Eisenbahnen

DIE ERFAHRUNG 79

die Voumllker die es anwenden endguumlltig zugrunde richtet werden noch unheilvolle Erfahrungen noumltig sein Diese Beispiele lieszligen sich ins Unendliche vermehren

sect 4 Die Vernunft

Bei der Aufzaumlhlung der Faktoren die imstande sind die Massenseele zu erregen koumlnnten wir uns die Erwaumlhnung der Vernunft ersparen wenn man nicht den negativen Wert ihres Einflusses aufzeigen muumlszligteWir haben bereits festgestellt daszlig die Massen durch logi- sche Beweise nicht zu beeinflussen sind und nur grobe Ideenverbindungen begreifen Daher wenden sich auch die Redner die Eindruck auf sie zu machen verstehen an ihr Gefuumlhl und niemals an ihre Vernunft Die Gesetze der Logik haben keinerlei Einfluszlig auf sie Um die Massen zu uumlberzeugen muszlig man sich zunaumlchst genau Rechenschaft geben uumlber die Gefuumlhle die sie beseelen muszlig den An- schein erwecken daszlig man sie teilt dann versuchen sie zu veraumlndern indem man mittels angedeuteter Ideenverbin- dungen gewisse zwingende Bilder hervorruft ferner muszlig man im Notfall sein Vorhaben aufgeben koumlnnen und vor

Meine ersten Beobachtungen uumlber die Kunst der Massenbeeinflussung und die schwachen Hilfsmittel die die Logik in dieser Beziehung bietet machte ich waumlhrend der Belagerung von Paris an dem Tage an dem ich den Mar- schall Vhellip nach dem Louvre dem Sitz der damaligen Regierung bringen sah weil eine wuumltende Volksmenge ihn dabei uumlberrascht haben wollte als er den Festungsplan entwendete um ihn den Preuszligen zu verkaufen Ein Re- gierungsmitglied G P hellip ein beruumlhmter Redner trat heraus um eine Ansprache an die Massen zu halten die die unverzuumlgliche Hinrichtung des Gefangenen verlangten Ich erwartete der Redner werde die Unsinnigkeit der Beschuldigung durch die Feststellung beweisen daszlig der angeklagte Marschall ausgerechnet einer der Konstrukteure der Befestigung sei deren Plan man uumlbrigens in allen Buchhandlungen kaufen konnte Zu meiner groszligen Verbluumlf- fung ndash ich war damals noch sehr jung ndash lautete die Rede ganz anders bdquoDem Recht wird Genuumlge geschehenldquo rief der Redner indem er auf den Gefangenen zuging bdquowird in unerbittlicher Weise Genuumlge geschehen Laszligt die Regierung der nationalen Verteidigung eure Sache durchfuumlhren einstweilen werden wir den Angeklagten einsperrenldquo Durch diese scheinbare Genugtuung besaumlnftigt zerstreute sich die Menge und der Marschall konnte schon nach Verlauf einer Viertelstunde seine Wohnung aufsuchen Sicherlich waumlre er totgeschlagen wor- den wenn sein Verteidiger der wuumltenden Menge die logischen Beweisgruumlnde vorgehalten haumltte die meine groszlige Jugend sehr uumlberzeugend fand

80 UNMITTELBARE TRIEBKRAumlFTE DER MASSEN-ANSCHAUUNG

allen Dingen jeden Augenblick die Gefuumlhle erraten die man erweckt Diese Notwendigkeit seine Ausdrucksweise je nach dem erzielten Erfolg im Augenblick zu veraumlndern verurteilt jede vorbereitete und eingelernte Rede von vorn- herein zur Wirkungslosigkeit Der Redner folgt seinen eignen Gedanken nicht denen seiner Zuhoumlrer und verliert schon allein durch diese Tatsache jeden EinfluszligDie logischen Koumlpfe die an die ziemlich knappen Schluszlig- ketten der Vernunft gewoumlhnt sind koumlnnen sich nicht ent- halten ihre Zuflucht zu dieser Uumlberzeugungsweise zu neh- men wenn sie sich an die Massen wenden und sind immer wieder uumlber das Fehlschlagen ihrer Beweise uumlberrascht

bdquoDie gewoumlhnlichen mathematischen Schluumlsse die sich auf den Syllogismus d h auf Identitaumltsketten gruumlnden sind notwendigldquo schreibt ein Logiker hellip bdquoIhre Notwendigkeit wuumlrde selbst die Zustimmung einer anorganischen Masse erzwingen wenn sie den Identitaumltsketten folgen koumlnnteldquo Gewiszlig aber die Menge ist ebensowenig imstande ihnen zu folgen oder sie auch nur zu verstehen wie die anorganische Masse Man mache z B den Versuch primitive Wesen Wilde oder Kinder durch ein logisches Urteil zu uumlber- zeugen und man wird einsehen wie wenig Wirkung diese Beweisfuumlhrung hatMan braucht nicht einmal bis zu den primitiven Wesen hinabzusteigen um die voumlllige Ohnmacht der Logik im Kampf gegen Gefuumlhle festzustellen Erinnern wir uns nur daran wie hartnaumlckig sich viele Jahrhunderte hindurch die religioumlsen Vorurteile gehalten haben die der einfachsten Logik widersprechen Fast zweitausend Jahre lang beugten sich die aufgeklaumlrtesten Geister unter ihre Gesetze und erst in der modernen Zeit war es uumlberhaupt moumlglich ihre Wahrheiten anzuzweifeln Das Mittelalter und die Renais- sance hatten genug aufgeklaumlrte Koumlpfe aber nicht ein ein- ziger war darunter dem die Vernunft die kindischen Seiten seines Aberglaubens enthuumlllt und auch nur einen leisen Zweifel an den Bosheiten des Teufels oder an der Not- wendigkeit der Hexenverbrennungen wachgerufen haumltte

DIE VERNUNFT 81

Ist es zu bedauern daszlig die Massen nie von der Vernunft geleitet werden Wir wagen es nicht zu behaupten Der menschlichen Vernunft waumlre es wahrscheinlich nicht ge- lungen die Menschheit mit derselben Glut und Kuumlhnheit die Bahnen der Kultur zu fuumlhren zu der ihre Trugbilder sie fortgerissen haben Die Trugbilder waren Erzeugnisse des Unbewuszligten von dem wir geleitet werden und sie waren wahrscheinlich notwendig Jede Rasse birgt in ihrer geistigen Verfassung die Gesetze ihres Schicksals und viel- leicht gehorcht sie diesen Gesetzen infolge eines untruumlg- lichen Instinktes auch dann wenn ihre unvernuumlnftigsten Aumluszligerungen in Erscheinung treten Es scheint manchmal als ob die Voumllker geheimen Kraumlften unterworfen waumlren gleich jenen die die Eichel in eine Eiche umwandeln oder den Kometen zwingen seine Bahn einzuhaltenDas wenige was wir uumlber diese Kraumlfte erforschen koumlnnen muszlig in dem allgemeinen Entwicklungsgang der Voumllker ge- sucht werden und nicht in den einzelnen Tatsachen aus denen sich diese Entwicklung zu ergeben scheint Wuumlrde man nur diese einzelnen Tatsachen in Betracht ziehen so schiene es als sei die Geschichte von ungereimten Zufaumlllen beherrscht Es war unglaubhaft daszlig ein unwissender Zim- mermann aus Galilaumla zweitausend Jahre hindurch zu einem allmaumlchtigen Gott werden konnte in dessen Namen die bedeutendsten Kulturen gegruumlndet wurden unglaubhaft war es auch daszlig einige arabische Horden die ihre Wuumlste ver- lieszligen den groumlszligten Teil der alten griechisch-roumlmischen Welt erobern konnten unglaubhaft war es endlich daszlig in einem sehr gealterten und in Rangordnungen festgelegten Europa ein einfacher Artillerieleutnant es zuwege brachte uumlber eine groszlige Anzahl von Voumllkern und Koumlnigen zu herrschenUumlberlassen wir also die Vernunft den Philosophen aber ver- langen wir nicht von ihr daszlig sie sich allzuviel in die Re- gierung der Menschen einmische Nicht vermoumlge sondern oft trotz der Vernunft bildeten sich Gefuumlhle wie Ehre Ent- sagung religioumlser Glaube Ruhmes- und Vaterlandsliebe die bis heute die groszligen Triebfedern aller Kultur gewesen sind

82 UNMITTELBARE TRIEBKRAumlFTE DER MASSEN-ANSCHAUUNG

3 KAPITEL

Die Fuumlhrer der Massen und ihre Uumlberzeugungsmittel

Die Geistesverfassung der Massen ist uns jetzt bekannt und wir wissen nun auch welche Kraumlfte auf sie wirken Jetzt haben wir zu untersuchen wie diese Kraumlfte angewandt wer- den muumlssen und durch wen sie nutzbringend in Taumltigkeit umgesetzt werden

sect Die Fuumlhrer der Massen

Sobald eine gewisse Anzahl lebender Wesen vereinigt ist einerlei ob eine Herde Tiere oder eine Menschenmenge unterstellen sie sich unwillkuumlrlich einem Oberhaupt d h einem FuumlhrerIn den menschlichen Massen spielt der Fuumlhrer eine hervor- ragende Rolle Sein Wille ist der Kern um den sich die An- schauungen bilden und ausgleichen Die Masse ist eine Herde die sich ohne Hirten nicht zu helfen weiszligSehr oft war der Fuumlhrer zuerst ein Gefuumlhrter der selbst von der Idee hypnotisiert war deren Apostel er spaumlter wurde Sie hat ihn so sehr erfuumlllt daszlig neben ihr alles verschwand und daszlig ihm nun jede gegenteilige Anschauung als Irrtum und Aberglaube erscheint So z B Robespierre der von seinen wunderlichen Ideen so hypnotisiert war daszlig er sich zu ihrer Verbreitung der Mittel der Inquisition bedienteMeistens sind die Fuumlhrer keine Denker sondern Maumlnner der Tat Sie haben wenig Scharfblick und koumlnnten auch nicht anders sein da der Scharfblick im allgemeinen zu Zweifel und Untaumltigkeit fuumlhrt Man findet sie namentlich unter den Nervoumlsen Reizbaren Halbverruumlckten die sich an der Grenze des Irrsinns befinden So abgeschmackt auch die verfochtene Idee oder das verfolgte Ziel sein mag gegen ihre Uumlberzeugung wird alle Logik zunichte Ver- achtung und Verfolgung stoumlrt sie nicht oder erregt sie nur noch mehr Persoumlnliches Interesse Familie alles wird ge-

opfert Sogar der Selbsterhaltungstrieb ist bei ihnen aus- geschaltet und zwar in solchem Maszlige daszlig die einzige Be- lohnung die sie oft anstreben das Martyrium ist Die Staumlrke ihres Glaubens verleiht ihren Worten eine groszlige suggestive Macht Die Menge houmlrt immer auf den Men- schen der uumlber einen starken Willen verfuumlgt Die in der Masse vereinigten Einzelnen verlieren allen Willen und wenden sich instinktiv dem zu der ihn besitztAn Fuumlhrern hat es den Voumllkern nie gefehlt aber sie besit- zen nicht alle die starken Uumlberzeugungen die den Apostel machen Oft sind es geschickte Redner die nur ihre eigenen Interessen verfolgen und durch Schmeicheln niedriger In- stinkte zu uumlberreden suchen Der Einf luszlig den sie aus- uumlben bleibt stets nur aumluszligerlich Die groszligen Uumlberzeugten die die Massenseele erhoben haben wie Peter von Amiens Luther Savonarola die Revolutionsmaumlnner begeisterten erst nachdem sie selbst durch einen Glauben begeistert waren Dann freilich konnten sie in den Seelen jene furcht- bare Macht erzeugen die Glaube heiszligt und den Menschen zum voumllligen Sklaven seines Traumes machtGlauben erwecken sei es religioumlser politischer oder sozialer Glaube Glaube an eine Person oder an eine Idee das ist die besondere Rolle des groszligen Fuumlhrers Von allen Kraumlf- ten die der Menschheit zur Verfuumlgung stehen war der Glaube stets eine der bedeutendsten und mit Recht schreibt ihm das Evangelium die Macht zu Berge zu versetzen Dem Menschen einen Glauben schenken heiszligt seine Kraft verzehnfachen Die groszligen geschichtlichen Ereignisse wur- den oft von unbekannten Glaumlubigen verwirklicht die nichts als ihren Glauben besaszligen Nicht die Gelehrten und Philo- sophen vor allem nicht die Skeptiker haben die groszligen Religionen geschaffen die die Welt und die riesigen Reiche die sich von der einen Erdhaumllfte bis zur andern erstreckten beherrscht habenDoch solche Beispiele passen nur fuumlr die groszligen Fuumlhrer und die sind so selten daszlig die Geschichte ihre Zahl leicht feststellen koumlnnte Sie bilden den Gipfel einer absteigenden

84 DIE FUumlHRER UND IHRE UumlBERZEUGUNGSMITTEL

Reihe von den Fuumlhrernaturen angefangen bis hinunter zum Arbeiter der in einer rauchigen Kneipe seine Genos- sen nach und nach begeistert indem er fortwaumlhrend ein paar kaum verstandene Redensarten wiederholt die nach seiner Meinung alle Traumlume und Hoffnungen verwirk- lichen wuumlrdenIn allen sozialen Schichten von der houmlchsten bis zur nied- rigsten geraumlt der Mensch sobald er nicht mehr allein- steht leicht unter die Herrschaft eines Fuumlhrers Die meisten Menschen besonders in den Massen des Volkes haben von nichts auszligerhalb ihres Berufsfaches eine klare und richtige Vorstellung Sie sind nicht imstande sich selbst zu leiten so dient ihnen der Fuumlhrer als Wegweiser Er kann zur Not aber nur sehr unzureichend durch Zeitungen ersetzt wer- den die ihren Lesern Meinungen anfertigen und Redens- arten bieten welche alles Denken ersparenDie Herrschaft der Fuumlhrer ist aumluszligerst gewaltsam und ver- dankt nur dieser Gewalt ihre Geltung Man kann oft er- leben wie leicht sie sich in unruhigsten Arbeiterschichten Gehorsam verschaffen ohne ein anderes Mittel als ihr Ansehen anzuwenden Sie bestimmen die Zahl der Arbeits- stunden die Lohntarife beschlieszligen die Streiks lassen sie zu einer bestimmten Stunde beginnen und endenHeute haben es die Fuumlhrer darauf abgesehen nach und nach die oumlffentlichen Gewalten zu ersetzen soweit man sie eroumlrtern und schwaumlchen kann Durch ihre Gewaltherrschaft erreichen diese neuen Herren daszlig die Massen ihnen viel leichter folgen als irgendeiner Regierung Verschwindet durch einen Zufall der Fuumlhrer und ist nicht sofort Ersatz da so wird die Masse wieder eine Menge ohne Zusammen- hang und Widerstandskraft Waumlhrend eines Streiks der Pariser Omnibusangestellten genuumlgte die Verhaftung der beiden Anfuumlhrer die ihn leiteten um ihm sofort ein Ende zu bereiten Nicht das Freiheitsbeduumlrfnis sondern der Diensteifer herrscht stets in der Massenseele Ihr Drang zu gehorchen ist so groszlig daszlig sie sich jedem der sich zu ihrem Herrn erklaumlrt instinktiv unterordnen

DIE FUumlHRER DER MASSEN 85

Innerhalb der Klasse der Fuumlhrer laumlszligt sich eine ziemlich scharfe Einteilung vornehmen Zu der einen Art gehoumlren die energischen willensstarken aber nicht ausdauernden Menschen zur andern viel selteneren die Menschen mit einem starken ausdauernden Willen Die ersteren sind heftig tapfer kuumlhn Sie taugen besonders dazu einen Handstreich durchzufuumlhren die Massen trotz der Gefahr mitzureiszligen und die jungen Rekruten in Helden zu ver- wandeln So waren z B im ersten Kaiserreich Ney und Murat So war auch noch zu unserer Zeit Garibaldi ein talentloser aber energischer Abenteurer dem es gelang mit einer Handvoll Menschen sich des ehemaligen Koumlnigreichs Neapel zu bemaumlchtigen obwohl es von einem regelrechten Heer verteidigt wurdeAber wenn die Energie solcher Fuumlhrer auch gewaltig ist so ist sie doch nur voruumlbergehend und uumlberdauert kaum den Aufschwung den sie erzeugten Sind die Helden in den Strom des gewoumlhnlichen Lebens zuruumlckgetaucht so geben sie die fruumlher so feurig waren Beweise von er- staunlicher Schwaumlche Sie scheinen unfaumlhig zum Nach- denken und koumlnnen sich in den einfachsten Verhaumlltnissen nicht zurechtfinden nachdem sie doch vorher die andern so gut zu leiten verstanden Diese Fuumlhrer koumlnnen ihre Aufgabe nur dann erfuumlllen wenn sie selbst unausgesetzt gefuumlhrt und angetrieben werden stets einen Menschen oder eine Idee uumlber sich fuumlhlen und genauen Verhaltungsregeln folgen muumlssenDie zweite Fuumlhrerklasse die der Menschen mit ausdauern- dem Willen uumlbt trotz ihres weniger glaumlnzenden Auftretens einen viel bedeutenderen Einfluszlig aus Zu ihnen gehoumlren die wahren Begruumlnder von Religionen oder groszligen Wer- ken Paulus Mohammed Kolumbus Lesseps Moumlgen sie intelligent beschraumlnkt oder unbedeutend sein stets wird die Welt fuumlr sie eintreten Der beharrliche Wille den sie besitzen ist eine unendlich seltene und unendlich maumlchtige Eigenschaft die sich alles unterwirft Man ist sich nicht immer klar genug daruumlber was ein starker und stetiger

86 DIE FUumlHRER UND IHRE UumlBERZEUGUNGSMITTEL

Wille vermag Nichts widersteht ihm weder die Natur noch die Goumltter noch die MenschenDas juumlngste Beispiel hat uns der beruumlhmte Ingenieur ge- geben der zwei Erdteile voneinander trennte und den Versuch durchfuumlhrte den dreitausend Jahre hindurch die groumlszligten Herrscher vergeblich unternommen hatten Er scheiterte spaumlter an einem gleichartigen Unternehmen aber dann war er alt und im Alter erlischt alles auch der WilleUm die Macht des Willens zu beweisen braucht man nur die Geschichte der Schwierigkeiten die bei dem Durch- stich des Suezkanals zu uumlberwinden waren mit allen Ein- zelheiten zu erzaumlhlen Ein Augenzeuge Doktor Cazalis hat die Ausfuumlhrung dieses Riesenwerkes in einige ergrei- fende Zeilen zusammengefaszligt wie sie dessen unsterblicher Urheber schilderte bdquoEr erzaumlhlte Tag fuumlr Tag in einzelnen Abschnitten das Gedicht vom Kanal Er erzaumlhlte von allem was er zu uumlberwinden hatte von allem Unmoumlg- lichen das er moumlglich gemacht hatte von allen Wider- staumlnden den Buumlndnissen gegen ihn den Bitterkeiten Un- faumlllen Schlappen die ihn aber nie entmutigen und lahmen konnten er dachte an England das ihn bekaumlmpfte ihn unablaumlssig angriff erinnerte an Aumlgypten und Frankreich die zoumlgerten an den franzoumlsischen Konsul der sich mehr als die andern den ersten Arbeiten widersetzte und wie man sich ihm entgegenstellte indem man die Arbeiter durch den Durst zu beeinflussen suchte und ihnen das Trinkwasser verweigerte dann sprach er vom Marine- ministerium und von den Ingenieuren von all den ernsten erfahrenen Kennern ihrer Wissenschaft die naturgemaumlszlig alle feindlich gesinnt und theoretisch von dem Fehlschlag uumlberzeugt waren den sie berechneten und in Aussicht stell- ten wie man eine Sonnenfinsternis fuumlr einen bestimmten Tag oder eine bestimmte Stunde voraussagtldquo Das Buch in dem das Leben all dieser groszligen Fuumlhrer zu schildern waumlre wuumlrde nicht viele Namen enthalten aber diese Na- men standen an der Spitze der wichtigsten Ereignisse der Kultur und Geschichte

DIE FUumlHRER DER MASSEN 87

sect 2 Die Wirkungsmittel der Fuumlhrer Behauptung Wiederholung Uumlbertragung

Wenn es sich darum handelt eine Masse fuumlr den Augen- blick mitzureiszligen und sie zu bestimmen irgend etwas zu tun etwa einen Palast zu pluumlndern sich bei der Verteidi- gung eines befestigten Platzes oder einer Barrikade toumlten zu lassen so muszlig man durch raschen Einfluszlig auf sie wir- ken Der erfolgreichste ist das Beispiel Doch ist dann not- wendig daszlig die Masse schon durch gewisse Umstaumlnde vorbereitet ist und besonders daszlig der der sie mitreiszligen will die Eigenschaft besitzt die ich spaumlter als Einf luszlig untersuchen werdeHandelt es sich jedoch darum der Massenseele Ideen und Glaubenssaumltze langsam einzufloumlszligen z B die modernen so- zialen Lehren so wenden die Fuumlhrer verschiedene Verfah- ren an Sie benutzen hauptsaumlchlich drei bestimmte Arten die Behauptung die Wiederholung und die Uumlbertragung oder Ansteckung (contagion) Ihre Wirkung ist ziemlich langsam aber ihre Erfolge sind von DauerDie reine einfache Behauptung ohne Begruumlndung und jeden Beweis ist ein sichres Mittel um der Massenseele eine Idee einzufloumlszligen Je bestimmter eine Behauptung je freier sie von Beweisen und Belegen ist desto mehr Ehrfurcht erweckt sie Die religioumlsen Schriften und die Gesetzbuumlcher aller Zeiten haben sich stets einfacher Behauptungen be- dient Die Staatsmaumlnner die zur Durchfuumlhrung einer poli- tischen Angelegenheit berufen sind die Industriellen die ihre Erzeugnisse durch Anzeigen verbreiten kennen den Wert der BehauptungDie Behauptung hat aber nur dann wirklichen Einf luszlig wenn sie staumlndig wiederholt wird und zwar moumlglichst mit denselben Ausdruumlcken Napoleon sagte es gaumlbe nur eine einzige ernsthafte Redefigur die Wiederholung Das Wie- derholte befestigt sich so sehr in den Koumlpfen daszlig es schlieszliglich als eine bewiesene Wahrheit angenommen wirdMan versteht den Einfluszlig der Wiederholung auf die Mas-

sen gut wenn man sieht welche Macht sie uumlber die auf- geklaumlrtesten Koumlpfe hat Das Wiederholte setzt sich schlieszlig- lich in den tiefen Bereichen des Unbewuszligten fest in denen die Ursachen unserer Handlungen verarbeitet werden Nach einiger Zeit wenn wir vergessen haben wer der Urheber der wiederholten Behauptung ist glauben wir schlieszliglich daran Daher die erstaunliche Wirkung der An- zeige Haben wir hundertmal gelesen die beste Schokolade sei die Schokolade X so bilden wir uns ein wir haumltten es haumlufig gehoumlrt und glauben schlieszliglich es sei wirklich so Tausend schriftliche Zeugnisse uumlberreden uns so sehr zu glauben das Y-Pulver habe die bedeutendsten Persoumlnlich- keiten von den hartnaumlckigsten Krankheiten geheilt daszlig wir uns am Ende wenn wir selbst an einem derartigen Uumlbel erkranken versucht fuumlhlen es zu probieren Lesen wir taumlglich in derselben Zeitung A sei ein ausgemachter Schuft und B ein Ehrenmann so werden wir schlieszliglich davon uumlberzeugt vorausgesetzt allerdings daszlig wir nicht zu oft in einem andern Blatt die entgegengesetzte Meinung lesen die die Eigenschaften der beiden miteinander ver- tauscht Behauptung und Wiederholung allein sind maumlchtig genug um einander bekaumlmpfen zu koumlnnenWenn eine Behauptung oft genug und einstimmig wieder- holt wurde wie das bei gewissen Finanzunternehmungen der Fall ist die jede Konkurrenz aufkaufen so bildet sich das was man eine geistige Stroumlmung (courant drsquoopinion) nennt und der maumlchtige Mechanismus der Ansteckung kommt dazu Unter den Massen uumlbertragen sich Ideen Gefuumlhle Erregungen Glaubenslehren mit ebenso starker Ansteckungskraft wie Mikroben Diese Erscheinung beob- achtet man auch bei Tieren wenn sie in Scharen zusammen sind Das Krippenbeiszligen eines Pferdes im Stall wird bald von den andern Pferden desselben Stalles nachgeahmt Ein Schreck die wirre Bewegung einiger Schafe greift bald auf die ganze Herde uumlber Die Uumlbertragung der Gefuumlhle er- klaumlrt die ploumltzlichen Paniken Gehirnstoumlrungen wie der Wahnsinn verbreiten sich gleichfalls durch Uumlbertragung

BEHAUPTUNG WIEDERHOLUNG UumlBERTRAGUNG 89

Es ist bekannt wie haumlufig der Irrsinn bei Psychiatern auf- tritt Man berichtet sogar von Geisteskrankheiten z B der Platzangst die vom Menschen auf Tiere uumlbertragen werdenDie Uumlbertragung erfordert nicht die gleichzeitige Anwesen- heit der Individuen an demselben Ort sie kann auch aus der Entfernung unter dem Eindruck gewisser Ereignisse erfolgen die alle Geister in dieselbe Richtung lenken und ihnen die besonderen Merkmale der Masse verleihen be- sonders wenn sie durch die fruumlher erwaumlhnten mittelbaren Faktoren vorbereitet sind So hat z B der Revolutions- ausbruch von 848 der von Paris ausging in jaumlher Weise auf einen groszligen Teil Europas uumlbergegriffen und mehrere Monarchien erschuumlttert Die Nachahmung der man so groszligen Einf luszlig auf die sozialen Erscheinungen zugeschrieben hat ist in Wahrheit nur eine einfache Wirkung der Uumlbertragung Da ich ihre Rolle an anderer Steile bereits beschrieben habe so be- schraumlnke ich mich auf die Wiederholung dessen was ich vor vielen Jahren daruumlber sagte und was seitdem von andern Autoren ausgefuumlhrt wurde

bdquoWie die Tiere ist der Mensch von Natur ein nachahmen- des Wesen Nachahmung ist ihm Beduumlrfnis doch wohlge- merkt nur unter der Bedingung daszlig sie leicht ist aus diesem Beduumlrfnis wird die Macht der Mode geboren Mag es sich nun um Meinungen Ideen literarische Aumluszligerungen oder einfach um die Kleidung handeln wie viele wagen es sich ihrer Herrschaft zu entziehen Nicht mit Beweis- gruumlnden sondern durch Vorbilder leitet man die Massen Jedem Zeitalter druumlckt eine kleine Anzahl von einzelnen ihr Siegel auf das die Masse unbewuszligt nachahmt Aber diese einzelnen duumlrfen sich nicht allzu weit von den uumlber- kommenen Ideen entfernen Die Nachahmung wuumlrde dann zu schwierig und ihr Einfluszlig waumlre gleich Null Deshalb

Siehe meine letzten Arbeiten bdquoPolitische Psychologieldquo bdquoMeinungen und An- schauungenldquo bdquoDie Franzoumlsische Revolution und die Psychologie der Revo- lunonenldquo

90 DIE FUumlHRER UND IHRE UumlBERZEUGUNGSMITTEL

haben die Menschen die ihrer Zeit zu sehr uumlberlegen sind keinerlei Einf luszlig Der Abstand ist zu groszlig Aus dem- selben Grunde haben die Europaumler trotz aller Vorzuumlge ihrer Kultur einen so unbedeutenden Einf luszlig auf die Voumllker des OrientsldquobdquoDie vereinigte Wirkung von Vergangenheit und gegen- seitiger Nachahmung macht alle Menschen desselben Landes und desselben Zeitalters schlieszliglich so aumlhnlich daszlig selbst bei denen deren besondere Pflicht es doch waumlre sich ihr zu entziehen bei Philosophen Gelehrten Schriftstellern Gedanken und Stil eine Familienaumlhnlichkeit zeigen die sofort die Zeit der sie angehoumlren erkennen laumlszligt Eine kurze Unterhaltung mit irgendeinem Menschen genuumlgt um seinen Lesestoff seine regelmaumlszligige Beschaumlftigung und die Umgebung in der er lebt von Grund auf erkennen zu lassen ldquoDie Ansteckung ist stark genug den Menschen nicht nur gewisse Meinungen sondern auch bestimmte Arten des Fuumlhlens aufzuzwingen Sie bewirkt die Miszligachtung von Werken wie z B der Oper bdquoTannhaumluserldquo und macht einige Jahre spaumlter aus ihren aumlrgsten Verleumdern Be- wundererUumlberzeugung und Glaube der Massen verbreiten sich nur durch den Vorgang der Uumlbertragung niemals mit Hilfe von Vernunftgruumlnden Im Wirtshause befestigen sich durch Behauptung Wiederholung und Uumlbertragung die heutigen Begriffe der Arbeiter und der Glaube der Masse ist zu allen Zeiten ebenso geschaffen worden Treffend vergleicht Renan die Begruumlnder des Christentums mit den bdquosozialisti- schen Arbeitern die ihre Ideen von Wirtshaus zu Wirts- haus verbreitenldquo Und schon Voltaire hat in bezug auf die christliche Religion festgestellt bdquomehr als hundert Jahre habe ihr nur der gemeinste Poumlbel angehangenldquoIn Beispielen analog den angefuumlhrten geht die Uumlber- tragung wenn sie sich in den Volksschichten ausgewirkt hat in die houmlheren Gesellschaftsschichten uumlber Heutzutage Gustave le Bon Der Mensch und die Gesellschaften 88 Bd 2 S 6

BEHAUPTUNG WIEDERHOLUNG UumlBERTRAGUNG 91

sehen wir daszlig die sozialistischen Lehren anfangen auch die zu ergreifen die vermutlich ihre ersten Opfer sein werden Vor der mechanischen Ansteckung tritt sogar der persoumlnliche Vorteil zuruumlckDaher zwingt sich jede volkstuumlmlich gewordene Anschau- ung schlieszliglich immer auch den houmlchsten sozialen Schichten auf so offensichtlich auch die Unsinnigkeit der siegreichen Anschauung sein mag Diese Wirkung der unteren sozialen Schichten auf die Oberklassen ist um so merkwuumlrdiger als die Glaubensanschauungen der Masse mehr oder weniger immer von einer houmlheren Idee herruumlhren die in der Um- gebung in der sie geboren wurde haumlufig ohne Wirkung blieb Die Fuumlhrer die von dieser houmlheren Idee ergriffen wurden bemaumlchtigen sich ihrer entstellen sie und gruumlnden eine Sekte die sie aufs neue entstellt und so entstellt unter den Massen verbreitet Ist sie einmal eine volkstuumlmliche Wahrheit geworden so geht sie auf irgendeine Weise zu ihrer Quelle zuruumlck und wirkt dann auf die Oberklassen eines Volkes Wohl fuumlhrt letzten Endes die Intelligenz die Welt aber sie fuumlhrt sie wahrlich von weitem Die Schoumlpfer der Ideen sind laumlngst wieder zu Staub geworden wenn als Ergebnis der Vorgaumlnge die ich beschrieben habe ihr Gedanke schlieszliglich triumphiert

sect 3 Der Nimbus (Le prestige)

Eine groszlige Macht verleiht den Ideen die durch Behaup- tung Wiederholung und Uumlbertragung verbreitet wurden zuletzt jene geheimnisvolle Gewalt die Nimbus heiszligtAlles was in der Welt geherrscht hat Ideen oder Men- schen hat sich hauptsaumlchlich durch die unwiderstehliche Kraft die sich Nimbus nennt durchgesetzt Wohl erfassen wir alle die Bedeutung des Ausdrucks Nimbus (prestige) aber man wendet ihn in so mannigfacher Weise an daszlig er nicht ganz leicht zu umschreiben waumlre Der Nimbus ver- traumlgt sich mit gewissen Gefuumlhlen wie Bewunderung oder Furcht er beruht sogar auf ihnen kann aber sehr wohl

92 DIE FUumlHRER UND IHRE UumlBERZEUGUNGSMITTEL

ohne sie bestehen Am meisten Nimbus haben die Totenalso Wesen die wir nicht fuumlrchten wie Alexander Caumlsar Mohammed Buddha Andrerseits erscheinen Wesen oder Gebilde die wir nicht bewundern z B die scheuszliglichen Gottheiten der unterirdischen Tempel Indiens mit starkem Nimbus bekleidetDer Nimbus ist in Wahrheit eine Art Zauber den eine Persoumlnlichkeit ein Werk oder eine Idee auf uns ausuumlbt Diese Bezauberung lahmt alle unsre kritischen Faumlhigkeiten und erfuumlllt unsre Seelen mit Staunen und Ehrfurcht Die Gefuumlhle die so hervorgerufen werden sind unerklaumlrlich wie alle Gefuumlhle aber wahrscheinlich von derselben Art wie die Suggestion der ein Hypnotisierter unterliegt Der Nimbus ist der maumlchtige Quell aller Herrschaft Goumltter Koumlnige und Frauen haumltten ohne ihn niemals herrschen koumlnnenMan kann die verschiedenen Arten des Nimbus auf zwei Grundformen zuruumlckfuumlhren auf den erworbenen und den persoumlnlichen Nimbus Als erworbenen Nimbus bezeichnet man den durch Namen Reichtum und Ansehen entstan- denen Nimbus Er kann vom persoumlnlichen Nimbus unab- haumlngig sein Der persoumlnliche Nimbus ist dagegen etwas Individuelles und kann mit Ansehen Ruhm und Reichtum zusammen bestehen oder durch sie verstaumlrkt werden aber auch sehr wohl unabhaumlngig davon vorhanden seinDer e r w o r b e n e oder kuumlnstliche Nimbus ist am wei- testen verbreitet Die bloszlige Tatsache daszlig jemand eine ge- wisse Stellung einnimmt ein gewisses Vermoumlgen besitzt gewisse Titel hat bildet einen Glorienschein des Einflusses so gering auch sein persoumlnlicher Wert sein mag Ein Soldat in Uniform ein Beamter in der roten Robe haben immer einen Nimbus Pascal hat die Notwendigkeit von Talar und Peruumlcke fuumlr die Richter treffend erklaumlrt ohne sie wuumlrden sie einen groszligen Teil ihrer Macht einbuumlszligen Der grimmigste Sozialist wird durch den Anblick eines Fuumlrsten oder Grafen bewegt und um einen Kaufmann nach Be-

DER NIMBUS 93

lieben zu beschwindeln genuumlgt es einen solchen Titel an- zunehmen Der Nimbus von dem ich eben sprach geht von Personen aus man kann ihm den Nimbus zur Seite stellen den Anschauungen Werke der Literatur oder Kunst usw aus- uumlben Er beruht nur auf angehaumlufter Wiederholung Da die Geschichte die Literatur- und Kunstgeschichte nur die Wiederholung derselben Urteile ist die niemand nachzu- pruumlfen versucht so wiederholt schlieszliglich jeder das was er in der Schule gelernt hat Es gibt gewisse Namen und Dinge an die niemand zu ruumlhren wagt In einem mo- dernen Leser erzeugen die Homerischen Epen unstreitig eine unermeszligliche Langeweile aber wer wagt es das zu sagen Das Parthenon ist in seinem gegenwaumlrtigen Zu- stande eine ziemlich uninteressante Ruine aber es hat solchen Nimbus daszlig man es nur noch mit seinem ganzen Anhang historischer Erinnerungen betrachten kann Es ist die Eigentuumlmlichkeit des Nimbus daszlig er verhindert die Dinge so zu sehen wie sie sind und daszlig er alle unsre Urteile lahmt Die Massen verlangen stets die einzelnen meist nach fertigen Anschauungen Der Erfolg dieser An- schauungen ist unabhaumlngig von der Wahrheit oder dem Irrtum den sie enthalten er beruht einzig und allein auf ihrem Nimbus

Man findet diesen Einfluszlig der Titel Ordensbaumlnder und Uniformen auf die Massen in allen Laumlndern selbst dort wo das Gefuumlhl persoumlnlicher Unab- haumlngigkeit zur staumlrksten Entfaltung kam Um das zu beleuchten fuumlhre ich hier eine interessante Stelle aus dem neuen Buch eines Reisenden an die von dem Einfluszlig gewisser Persoumlnlichkeiten in England handelt bdquoBei verschiedenen Begegnungen konnte ich mich von dem Rausch uumlberzeugen in den die Be- ruumlhrung mit einem Peer von England oder sein Anblick die vernuumlnftigsten Englaumlnder versetztldquo

bdquoVorausgesetzt daszlig sein Aufwind seinem Range entspricht lieben sie ihn von vornherein und ertragen in seiner Gegenwart alles von ihm mit Entzuumlk- ken Man sieht sie vor Vergnuumlgen erroumlten wenn er sich ihnen naumlhert und wenn er mit ihnen spricht so erhoumlht die Freude die sie daruumlber empfinden diese Roumlte und verleiht ihren Augen einen ungewoumlhnlichen Glanz Sie haben den Lord im Blute koumlnnte man sagen wie der Spanier den Tanz der Deutsche die Musik und der Franzose die Revolution Ihre Leidenschaft fuumlr Pferde und fuumlr Shakespeare ist weniger heftig die Befriedigung und der Stolz darauf weniger tief Das Peersbuch hat groszligen Absatz und man findet es wie die Bibel in allen Haumlndenldquo

94 DIE FUumlHRER UND IHRE UumlBERZEUGUNGSMITTEL

Ich komme nun zum p er s oumln l ic hen Nimbus Er ist von ganz andrer Beschaffenheit als der kuumlnstliche oder erwor- bene Er ist unabhaumlngig von allen Titeln allem Ansehen Die wenigen Menschen die ihn besitzen uumlben einen wahr- haft magnetischen Zauber auf ihre Umgebung aus auch auf sozial Gleichgestellte und man gehorcht ihnen wie die wilde Bestie dem Baumlndiger gehorcht den sie so leicht verschlingen koumlnnteDie groszligen Fuumlhrer der Massen wie Buddha Jesus Mo- hammed Jeanne drsquoArc Napoleon besaszligen diese Art des Einflusses in hohem Maszlige und haben sich besonders durch ihn Geltung verschafft Goumltter Helden und Glaubens- lehren setzen sie durch ohne Eroumlrterung zu dulden sobald sie darauf eingehen untergraben sie sich selbstDie groszligen Persoumlnlichkeiten die ich anfuumlhrte besaszligen ihre bezaubernde Macht schon ehe sie beruumlhmt waren und waumlren ohne sie nicht beruumlhmt geworden Es ist z B klar daszlig Napoleon auf dem Gipfel seines Ruhms allein durch seine Macht einen ungeheuren Einfluszlig hatte aber er besaszlig ihn zum Teil schon in der Anfangszeit seiner Laufbahn als er noch keine Macht hatte und voumlllig unbekannt war Als er noch ein unbekannter General durch Fuumlrsprache zum Befehlshaber des italienischen Heeres ernannt worden war trat er unter rauhe Generale die dem jungen vom Direktorium ihnen aufgezwungenen Eindringling einen ab- schreckenden Empfang bereiten wollten Aber von der ersten Minute vom ersten Zusammentreffen an ohne Re- densarten Gesten Drohungen beim ersten Anblick des kuumlnftigen groszligen Mannes waren sie zahm Taine gibt uns nach zeitgenoumlssischen Erinnerungen einen interessanten Be- richt uumlber diese Zusammenkunft

bdquoDie Divisionsgeneraumlle unter anderen Augereau ein tap- ferer grober Haudegen der stolz war auf seine groszlige Figur und seine Tapferkeit kommen voreingenommen gegen den kleinen Emporkoumlmmling den man ihnen aus Paris sendet ins Hauptlager Durch die Beschreibung die man ihnen von ihm gegeben hat ist Augereau in feind-

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seliger Stimmung von vornherein widerspenstig ein Guumlnst- ling von Barras ein General des Vendeacutemiaire ein Straszligen- general den man fuumlr einen eingesponnenen Brummbaumlren haumllt weil er immer nur nachdenkt er soll ein kleines Gesicht haben und steht in dem Ruf ein Mathematiker und Traumlumer zu sein Sie werden empfangen und Bona- parte laumlszligt auf sich warten Endlich erscheint er den Degen umgeschnallt bedeckt sich setzt seine Plaumlne auseinander gibt Ihnen seine Befehle und verabschiedet sie Augereau ist stumm geblieben erst drauszligen faszligt er sich und findet seine gewoumlhnlichen Fluumlche wieder er und Massena sind sich daruumlber einig dieser kleine Teufelskerl von General hat ihm Furcht eingefloumlszligt er kann sich den Einfluszlig nicht erklaumlren von dem er sich durch den ersten Blick uumlberwaumlltigt fuumlhlteldquoAls Napoleon ein groszliger Mann geworden war wuchs sein Einfluszlig mit seinem Ruhm und glich dem Einfluszlig den eine Gottheit auf ihre Anbeter hat General Vandamme ein revolutionaumlrer Haudegen noch brutaler und energischer als Augereau sagte eines Tages 85 als sie zusammen die Tuilerientreppe hinaufstiegen zu Marschall drsquoOrnanobdquoMein Lieber dieser Teufelskerl uumlbt auf mich einen Zau- ber aus den ich nicht begreife Das geht so weit daszlig ich der weder Gott noch Teufel fuumlrchtet in seiner Naumlhe fast wie ein Kind zu zittern beginne und er koumlnnte mich dazu bringen durch ein Nadeloumlhr ins Feuer zu gehenldquoDen gleichen Zauber uumlbte Napoleon auf alle aus die sich ihm naumlherten Der Kaiser kannte seine Wirkung wohl und wuszligte sie noch zu vermehren indem er die groszligen Persoumlnlichkeiten seiner Umgebung zu denen mehrere jener beruumlhmten Konventsmitglieder gehoumlrten die Europa so sehr gefuumlrchtet hatte etwas schlechter als Stallknechte behandelte Die zeitgenoumlssischen Be- richte sind voll von derartigen bezeichnenden Tatsachen Eines Tages fuhr Napoleon im versammelten Staatsrat Beugnot den er wie einen ungeschickten Diener behandelte grob an bdquoNun Sie groszliger Dummkopf haben Sie Ihren Kopf wiedergefundenldquo Darauf verbeugte sich Beugnot der wie ein Regiments- tambour gewachsen war sehr tief und der kleine Mann hebt die Hand und nimmt den groszligen beim Ohr wie Beugnoc schreibt bdquoein Zeichen berauschender Gunst eine vertrauliche Gebaumlrde des leutselig redenden Herrnldquo Solche Bei- spiele geben einen klaren Begriff von dem Grad der Plattheit den Nimbus hervorrufen kann sie machen die ungeheure Verachtung des groszligen Despoten fuumlr die Menschen seiner Umgebung begreiflich

96 DIE FUumlHRER UND IHRE UumlBERZEUGUNGSMITTEL

Davoust sagte als er von Marets und seiner Ergebenheit sprach bdquoWenn der Kaiser uns beiden sagte Die Inter- essen meiner Politik erfordern die Zerstoumlrung von Paris ohne daszlig es jemand erfaumlhrt und die Stadt verlaumlszligt so wuumlrde Maumlret dessen bin ich sicher das Geheimnis wahren er wuumlrde sich aber nicht enthalten koumlnnen es so weit zu verletzen daszlig er seine Familie veranlaszligte die Stadt zu verlassen Ich aber wuumlrde aus Furcht etwas zu verraten mein Weib und meine Kinder darin lassenldquoAn diese erstaunliche Macht der Bezauberung muszlig man denken will man die wunderbare Ruumlckkehr von der Insel Elba begreifen die schnelle Eroberung Frankreichs durch einen alleinstehenden Mann der gegen alle organisierten Kraumlfte eines groszligen Landes zu kaumlmpfen hatte von dem man annehmen muszligte daszlig es seiner Tyrannei muumlde war Er brauchte die ausgesandten Generale die geschworen hatten ihn gefangenzunehmen nur anzublicken Alle unterwarfen sich ihm ohne Widerstand

bdquoNapoleon landet fast allein und als Fluumlchtling der kleinen Insel Elba die sein Koumlnigreich war in Frankreichldquo schreibt General Wolseley bdquound bringt es zuwege in weni- gen Wochen ohne Blutvergieszligen die gesamte Machtorgani- sation Frankreichs unter seinem legitimen Koumlnig umzu- stoszligen hat die persoumlnliche Macht eines Menschen sich je bewunderungswuumlrdiger bekundet Wie erstaunlich ist aber die Macht die er von Anfang bis Ende dieses Feldzuges seines letzten auch uumlber die Verbuumlndeten ausuumlbte indem er sie zwang seine Entschluumlsse anzunehmen und es fehlte nicht viel so haumltte er sie zerschmettertldquoSein Nimbus uumlberlebte ihn und wuchs weiter Er machte seinen unbekannten Neffen zum Kaiser Angesichts der heutigen Erneuerung seiner Legende sieht man wie maumlchtig dieser groszlige Schatten noch ist Miszlighandelt die Menschen schlachtet sie zu Millionen ab fuumlhrt einen feindlichen Ein- bruch nach dem andern herbei alles ist euch gestattet wenn ihr genuumlgend Nimbus besitzt und das Talent ihn aufrechtzuerhalten

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Gewiszlig habe ich hier ein ganz besonderes Ausnahmebeispielherangezogen aber es war geeignet die Entwicklung der groszligen Religionen Lehren und Reiche verstaumlndlich zu machen Ohne die Macht welche der Nimbus auf die Masse ausuumlbt wuumlrde diese Entwicklung unbegreiflich seinAber der Nimbus gruumlndet sich nicht allein auf das per- soumlnliche Ansehen den militaumlrischen Ruhm und die reli- gioumlse Angst er kann auch einen unbedeutenderen Ursprung haben und doch noch betraumlchtlich sein Das neunzehnte Jahrhundert bietet uns mehrere Beispiels dafuumlr Das eine woran die Nachwelt von Zeit zu Zeit erinnert wird ist in der Geschichte des beruumlhmten Mannes gegeben der das Antlitz der Erde und die Handelsbeziehungen der Voumllker aumlnderte indem er zwei Erdteile voneinander trennte Sein Unternehmen gelang ihm durch seinen ungeheuren Willen aber auch durch den Zauber den er auf seine ganze Um- gebung ausuumlbte Um die einstimmige Gegnerschaft die er vorfand zu besiegen brauchte er sich nur zu zeigen einen Augenblick zu sprechen und die Gegner wurden durch den Zauber der von ihm ausging seine Freunde Die Eng- laumlnder bekaumlmpften sein Vorhaben besonders wuumltend er brauchte nur in England zu erscheinen um alle Stimmen fuumlr sich zu gewinnen Als er spaumlter durch Southampton kam laumluteten die Glocken waumlhrend seiner Durchreise Als er alles besiegt hatte Menschen und Dinge glaubte er nicht mehr an Hindernisse und wollte in Panama mit denselben Mitteln Suez wiederholen Aber der Glaube der Berge versetzt versetzt sie nur wenn sie nicht zu hoch sind Die Berge widerstanden und die daraus folgende Katastrophe zerstoumlrte die leuchtende Ruhmesglorie die den Helden um- gab Sein Leben lehrt wie der Einfluszlig wachsen und ver- gehen kann Nachdem er den groumlszligten Helden der Ge- schichte gleichgekommen wurde er von der Obrigkeit sei- nes Landes zum gemeinen Verbrecher gestempelt Nach seinem Tode wurde sein Sarg einsam durch gleichguumlltige

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Massen getragen Nur die Herrscher des Auslandes lieszligen seinem Andenken Ehre widerfahren Jedoch die verschiedenen Beispiele die angefuumlhrt wurden stellen nur Grenzfaumllle dar Zur genauen Begruumlndung der Psychologie des Nimbus muumlszligten sie an das Ende einer Reihe gestellt werden die von den Begruumlndern der Reli- gionen und Staaten bis zum Kleinbuumlrger reicht der durch einen neuen Anzug oder eine Auszeichnung auf seine Nachbarn Eindruck zu machen suchtZwischen den aumluszligersten Gliedern dieser Reihe liegen alle Arten des Nimbus auf den verschiedenen Kulturgebieten der Wissenschaft der Kuumlnste der Literatur usw und es zeigt sich daszlig er den Grundstoff der Uumlberzeugung bildet Das Wesen die Idee oder die Sache von denen der Nimbus ausgeht werden infolge ihrer ansteckenden

Ein auslaumlndisches Blatt die Wiener bdquoNeue Freie Presseldquo hat gelegentlich des Schicksals von Lesseps sehr scharfsinnige psychologische Bemerkungen ge- macht die daher hier mitgeteilt seien

bdquoNach der Verurteilung Ferdinands von Lesseps hat man kein Recht mehr sich uumlber das traurige Ende von Christoph Columbus zu wundern Ist Lesseps ein Gauner dann ist jede edle Taumluschung ein Verbrechen Das Altertum haumltte das Andenken von Lesseps mit einer Ruhmesglorie bekraumlnzt und ihn im Olymp den Nektarbecher leeren lassen denn er hat das Antlitz der Erde veraumlndert und Werke ausgefuumlhrt die die Schoumlpfung vervollkommnen Durch die Ver- urteilung von Lesseps hat sich der Praumlsident des Appellationsgerichtes un- sterblich gemacht denn stets werden die Voumllker den Namen des Mannes ver- langen der nicht fuumlrchtete sein Jahrhundert dadurch zu erniedrigen einen Greis mit Straumlflingsjacke zu bekleiden dessen Leben der Ruhm seiner Zeit- genossen warldquo bdquoMan rede uns hinfort nicht von unbeugsamer Gerechtigkeit dort wo buumlrokratischer Haszlig gegen alle kuumlhnen groszligen Unternehmungen herrscht Die Voumllker beduumlrfen der wagemutigen Maumlnner die an sich selbst glauben und ohne Ruumlcksicht auf ihr eigenes Ich alle Hindernisse bewaumlltigen Das Genie kann nicht vorsichtig sein mit Vorsicht konnte es den Kreis menschlicher Betaumltigung nie erweitern

hellip Ferdinand von Lesseps hat den Rausch des Triumphs und die Bitterkeit der Enttaumluschungen gekannt Suez und Panama Hier empoumlrt sich das Gemuumlt gegen die Moral des Erfolges Als es Lesseps gelang zwei Meere zu ver- binden da erwiesen ihm Fuumlrsten und Voumllker Ehre heute da er an den Felsen der Cordilleren Schiffbruch leidet ist er ein gemeiner Gauner Es ist der Krieg der Gesellschaftsklassen die Unzufriedenheit der Buumlrokraten und Be- amten die sich mittels des Strafgesetzes an denen raumlchen die sich uumlber die andern erheben moumlchten Die modernen Gesetzgeber sind in Verlegenheit an- gesichts dieser gewaltigen Ideen des Menschengeistes das Publikum versteht davon noch weniger und es faumlllt einem Staatsanwalt leicht zu beweisen daszlig Stanley ein Meuchelmoumlrder und Lesseps ein Betruumlger seildquo

99DER NIMBUS

Wirkung sofort nachgeahmt und bestimmen fuumlr ein ganzes Menschenalter die Art des Fuumlhlens und die Form des Gedankenausdrucks Uumlberdies geschieht die Nachahmung meistens unbewuszligt und das macht sie vollkommen Die modernen Maler welche die verwischten Farben und die starre Haltung gewisser Primitiver erneuern haben keine Ahnung von der Quelle ihrer Begeisterung sie glauben so sehr an ihre Urspruumlnglichkeit daszlig man an ihnen auch weiterhin nur die naiven und unfertigen Seiten bemerkt haben wuumlrde wenn nicht ein hervorragender Meister diese Kunstform wiedererweckt haumltte Die welche nach dem Muster eines beruumlhmten Neuerers ihre Leinwand mit vio- letten Schatten bedecken sehen in der Natur nicht mehr Violett als man vor fuumlnfzig Jahren sah aber sie unter- liegen dem besonderen persoumlnlichen Eindruck eines Malers der einen groszligen Nimbus zu erlangen wuszligte Aus allen Gebieten der Kunst lassen sich leicht derartige Beispiele anfuumlhrenMan ersieht aus dem Vorhergehenden daszlig an der Ent- stehung des Nimbus zahlreiche Faktoren beteiligt sein koumln- nen Einer der bedeutendsten war stets der Erfolg Jeder Mensch der Erfolg hat jede Idee die sich durchsetzt wird damit schon anerkanntDer Nimbus verschwindet immer im Augenblick des Miszlig- erfolges Der Held dem die Masse gestern zujubelte wird morgen von ihr angespien wenn das Schicksal ihn schlug Je groumlszliger der Nimbus um so heftiger der Ruumlckschlag Die Masse betrachtet dann den gefallenen Helden als ihres- gleichen und raumlcht sich dafuumlr daszlig sie sich einer Uumlberlegen- heit gebeugt hat die sie nicht mehr anerkennt Als Robespierre seinen Kollegen und einer ganzen Anzahl sei- ner Zeitgenossen den Hals abschneiden lieszlig besaszlig er einen ungeheuren Nimbus Die Verschiebung weniger Stimmen be- raubte ihn augenblicklich dieses Nimbus und die Masse folgte ihm mit ebenso vielen Verwuumlnschungen zur Guillotine wie am Tage zuvor seinen Opfern Die Glaumlubigen zertruumlmmerten stets voll Wut die Bildwerke ihrer fruumlheren Goumltter

100 DIE FUumlHRER UND IHRE UumlBERZEUGUNGSMITTEL

Durch Miszligerfolg aufgehoben ist der Nimbus schnell ver- loren Er kann sich auch abnutzen indem man ihn dis- kutiert das geht langsamer aber sicher Der diskutierte Nimbus ist kein Nimbus mehr Die Goumltter und Menschen die ihren Nimbus lange zu bewahren wuszligten haben Er- oumlrterungen nie geduldet Wer von den Massen bewundert sein will muszlig sie stets in Abstand halten

4 KAPITEL

Grenzen der Veraumlnderlichkeit der Grundanschauungen und Meinungen der Massen

sect Die unveraumlnderlichen Grundanschauungen (croyances fixes)

Es besteht ein enger Parallelismus zwischen den morpho- logischen und psychologischen Merkmalen der Lebewesen Unter den morphologischen Merkmalen finden wir gewisse unveraumlnderliche oder doch so wenig veraumlnderliche Ele- mente daszlig geologische Zeitalter noumltig sind um sie zu ver- aumlndern Neben diesen unveraumlnderlichen unreduzierbaren Elementen finden sich recht bewegliche die durch das Milieu die Kunst des Zuumlchters oder Gaumlrtners leicht so ge- wandelt werden koumlnnen daszlig sich dem oberf laumlchlichen Beobachter die Grundmerkmale verbergenDer gleichen Erscheinung begegnen wir in der sittlichen Welt Neben den unveraumlnderlichen seelischen Bestandteilen einer Rasse sind bewegliche und wechselnde Elemente vor- handen Darum finden wir bei der Untersuchung der An- schauungen und Meinungen eines Volkes stets einen festen Grund auf dem sich Anschauungen angesiedelt haben die ebenso fluumlchtig sind wie der Sand der die Felsen bedecktDie Grundanschauungen und Meinungen der Massen bilden also zwei scharfgetrennte Gruppen Zu der einen gehoumlren die staumlndigen Grundgedanken die mehrere Jahrhunderte

101GRENZEN DER VERAumlNDERLICHKEIT DER GRUNDANSCHAUUNGEN

uumlberdauern und auf denen eine ganze Kultur beruht So z B der feudale Gedanke die Ideen des Christentums und der Reformation und heutzutage die nationalen Grund- gedanken die demokratischen und sozialen Ideen Zur anderen gehoumlren die wechselnden Ansichten des Augen- blicks die meistens aus allgemeinen Gedanken abgeleitet werden und die jedes Zeitalter entstehen und vergehen sieht z B die Theorien die zu bestimmten Zeiten Kunst und Literatur beherrschen und die Romantik den Natura- lismus usw hervorbrachten So wandelbar wie die Mode wechseln sie wie die kleinen Wellen die auf der Ober- flaumlche eines Sees unaufhoumlrlich entstehen und vergehenDie Zahl der allgemeinen Grundanschauungen ist nicht groszlig Ihr Entstehen und Vergehen bilden die Houmlhepunkte in der Geschichte jeder historischen Rasse Sie bilden das eigentliche Geruumlst der KulturEine fluumlchtige Meinung haftet leicht in der Massenseele aber einen festen Glauben in ihr zu verankern ist sehr schwer ebenso schwer aber ist er wieder zu zerstoumlren wenn er sich einmal festgesetzt hat Man kann ihn wohl nur um den Preis gewaltsamer Revolutionen aumlndern und nur wenn der Glaube seine Herrschaft uumlber die Seelen fast ganz eingebuumlszligt hat Die Revolutionen helfen dann dabei die Grundanschauung endguumlltig abzuwerfen die man schon fast aufgegeben hatte deren gaumlnzliche Aufhebung aber durch die Macht der Gewohnheit verhindert wurde Be- ginnende Revolutionen sind in Wahrheit schwindende GrundanschauungenEine groszlige Grundanschauung wird an dem Tage zum Tode verurteilt an dem man anfaumlngt ihren Wert zu be- streiten Da jede allgemeine Grundanschauung nur eine Einbildung ist so kann sie nur bestehen solange sie der Pruumlfung entgehtAber selbst wenn eine Grundanschauung stark erschuumlttert ist bewahren die Einrichtungen die von ihr abgeleitet sind ihre Macht und erloumlschen nur langsam Hat sie schlieszliglich ihre Macht voumlllig eingebuumlszligt dann bricht alles

102 GRENZEN DER VERAumlNDERLICHKEIT DER GRUNDANSCHAUUNGEN

zusammen was von ihr getragen wurde Es war noch keinem Volk vergoumlnnt seine Grundanschauungen zu aumln- dern ohne gleichzeitig dazu verurteilt zu sein alle Be- standteile seiner Kultur umzuwandelnEs wandelt sie so lange um bis es eine neue allgemeine Grundanschauung angenommen hat und lebt bis dahin notgedrungen in Anarchie Die allgemeinen Grundanschau- ungen sind die notwendigen Stuumltzen der Kulturen Sie geben den Ideen ihre Richtung und sie allein erwecken das Gewissen und erschaffen das PflichtgefuumlhlDie Voumllker haben es stets als nuumltzlich empfunden sich allgemeine Glaubensanschauungen zu bilden und instinktiv erfaszligt daszlig ihr Schwinden die Stunde des Niedergangs anzeigen wuumlrde Der fanatische Kultus Roms war fuumlr die Roumlmer der Glaube der sie zu Herren der Welt machte Dieser Glaube starb und Rom ging zugrunde Erst als die Barbaren die Zerstoumlrer der roumlmischen Kultur einige einheitliche Glaubensanschauungen gewonnen hatten er- reichten sie einen gewissen Zusammenhalt und konnten die Anarchie uumlberwindenMit gutem Grund waren also die Voumllker stets unduldsam bei der Verteidigung ihrer Uumlberzeugungen So tadelnswert diese Unduldsamkeit vom philosophischen Standpunkt ist im Leben der Voumllker ist sie als eine Tugend anzusehen Um den Grund zu allgemeinen Glaubensuumlberzeugungen zu legen oder sie aufrechtzuerhalten hat das Mittelalter viele Scheiterhaufen errichtet und so viele Erfinder und Neuerer die der Folter entgangen waren muszligten in Ver- zweiflung sterben Um solche Uumlberzeugungen zu vertei- digen ist die Welt immer wieder umgestuumlrzt worden sind Millionen Menschen auf den Schlachtfeldern gefallen und werden dort noch weiterhin fallenWir haben schon gesagt daszlig sich der Einfuumlhrung einer allgemeinen Grundanschauung groszlige Schwierigkeiten ent- gegenstellen wenn sie aber endguumlltig Fuszlig gefaszligt hat ist ihre Macht lange Zeit unuumlberwindlich und mag sie philo- sophisch noch so falsch sein so draumlngt sie sich doch den

DIE UNVERAumlNDERLICHEN GRUNDANSCHAUUNGEN 103

erleuchtetsten Geistern auf Haben nicht die Voumllker Euro- pas seit fuumlnfzehn Jahrhunderten religioumlse Legenden die bei naumlherer Betrachtung ebenso barbarisch sind wie der Moloch-Mythus als unbestreitbare Wahrheiten betrachtet Der entsetzliche Widersinn des Mythus von einem Gotte der sich fuumlr den Ungehorsam eines seiner Geschoumlpfe durch furchtbare Marter an seinem Sohne raumlcht ist viele Jahr- hunderte nicht bemerkt worden Die groumlszligten Geister wie Galilei Newton Leibniz haben auch nicht einen Augen- blick daruumlber nachgedacht daszlig die Wahrheit solcher Le- genden bezweifelt werden koumlnnte Nichts beweist schla- gender die Hypnose die durch allgemeine Grundanschau- ungen bewirkt wird aber nichts zeigt auch besser die beschaumlmenden Grenzen unseres GeistesSobald der Massenseele eine neue Lehre eingepflanzt wurde beeinfluszligt sie die Einrichtungen die Kuumlnste und die Sitten Ihre Herrschaft uumlber die Seelen ist dann unumschraumlnkt Die Maumlnner der Tat denken nur an ihre Verwirklichung die Gesetzgeber nur an ihre Anwendung Philosophen Kuumlnstler Schriftsteller beschaumlftigen sich nur damit sie in verschiedene Formen zu uumlbertragenDurch die allgemeinen Grundanschauungen haben sich die Menschen jedes Zeitalters mit einem Netz von Uumlberliefe- rungen Meinungen und Gewohnheiten umgeben aus des- sen Maschen sie nicht entwischen koumlnnen und durch die sie einander immer etwas aumlhnlich werden Der unabhaumlngigste Geist denkt nicht daran sich ihnen zu entziehen Die echteste Tyrannei beherrscht die Seelen u nbew u szligt denn sie allein ist nicht zu bekaumlmpfen Tiberius Dschingiskhan Napoleon waren zweifellos furchtbare Tyrannen aber Moses Buddha Jesus Mohammed Luther haben aus ihrem Grabe heraus eine nicht weniger tiefgehende Herr- schaft uumlber die Seelen ausgeuumlbt Ein Tyrann kann durch eine Verschwoumlrung gestuumlrzt werden was vermag sie aber

Barbarisch im philosophischen Sinne wohlverstanden In Wirklichkeit haben sie eine ganz neue Kultur gegruumlndet und Jahrhunderte lang den Menschen be- zaubernde Traum- und Hoffnungsparadiese sehen lassen wie er sie nie mehr kennen wird

GRENZEN DER VERAumlNDERLICHKEIT DER GRUNDANSCHAUUNGEN104

gegen einen wohlgefestigten Glauben In ihrem heftigen Kampf gegen den Katholizismus ist unsere groszlige Revo- lution trotz der scheinbaren Zustimmung der Massen und trotz der Zerstoumlrungsmittel die von ihr ebenso unerbittlich angewandt wurden wie von der Inquisition unterlegen Die einzigen wahren Tyrannen der Menschheit sind immer die Schatten der Toten gewesen oder die Einbildungen die sie sich selbst geschaffen hatIch wiederhole Der philosophische Unsinn gewisser allge- meiner Grundanschauungen war nie ein Hindernis fuumlr ihren Triumph Dieser Triumph scheint sogar nur dann moumlglich zu sein wenn sie irgendwelchen geheimnisvollen Unsinn enthalten Die offenbare geistige Armut der sozia- listischen Lehren der Gegenwart wird nicht verhindern daszlig sie sich der Massenseele einpflanzen Ihre wahre Un- zulaumlnglichkeit im Vergleich zu jedem religioumlsen Glauben besteht einzig darin Da das Gluumlcksideal das der Glaube in Aussicht stellte nur in einem zukuumlnftigen Leben ver- wirklicht werden sollte so konnte niemand diese Ver- wirklichung bestreiten da das sozialistische Gluumlcksideal sich auf Erden verwirklichen soll so wird die Nichtigkeit der Verheiszligungen sogleich bei den ersten Verwirklichungs- versuchen an den Tag treten und der neue Glaube wird jeden Einfluszlig verlieren Seine Macht wird also nur bis zum Tage seiner Verwirklichung wachsen Und deshalb wird die neue Religion wie alle fruumlheren zunaumlchst eine zerstoumlrende Taumltigkeit ausuumlben ohne wie sie spaumlter eine schoumlpferische Rolle uumlbernehmen zu koumlnnen

sect 2 Die veraumlnderlichen Meinungen (opinions mobiles) der Massen

Uumlber den festen Glaubensanschauungen deren Macht wir darlegten liegt eine Schicht von Meinungen Ideen Ge- danken die fortwaumlhrend entstehen und vergehen Manche sind sehr vergaumlnglich und die bedeutendsten uumlberdauern kaum das Leben einer Generation Wir haben bereits fest-

DIE VERAumlNDERLICHEN MEINUNGEN 105

gestellt daszlig die Veraumlnderungen dieser Meinungen zu- weilen mehr an ihrer Oberflaumlche als in ihrem Wesen vor- gehen und immer den Stempel der Rasseneigenschaften tragen Wenn wir beispielsweise die politischen Einrich- tungen unseres Landes betrachten sehen wir daszlig die scheinbar entgegengesetzten Parteien Monarchisten Radi- kale Imperialisten Sozialisten usw voumlllig uumlbereinstim- mende Ideale haben und daszlig diese Ideale sich einzig und allein auf die geistige Verfassung unserer Rasse beziehen denn unter den gleichen Namen finden sich bei andren Rassen ganz entgegengesetzte Ideale Weder durch die Namen der Anschauungen noch durch ihre taumluschenden Anpassungen wird der Kern der Dinge veraumlndert Die Buumlrger der Revolutionszeit die ganz erfuumlllt von der latei- nischen Literatur gebannt von der roumlmischen Republik ihre Gesetze Liktorenbuumlndel Togen uumlbernahmen wurden dadurch noch keine Roumlmer weil sie unter der Herrschaft einer maumlchtigen historischen Taumluschung standenEs ist die Aufgabe des Philosophen zu erforschen was sich unter den scheinbaren Veraumlnderungen von den alten Uumlberzeugungen erhaumllt und in der Flut der Meinungen diejenigen Bewegungen herauszufinden die durch die Grundanschauungen und die Rassenseele bestimmt werden Ohne diesen philosophischen Maszligstab koumlnnte man glau- ben die Massen aumlnderten ihre politischen und religioumlsen Uumlberzeugungen haumlufig und wirklich Die ganze Geschichte der Politik der Religion der Kunst und der Literatur scheint das in der Tat zu bezeugenNehmen wir z B einen kurzen Zeitabschnitt unserer eignen Geschichte etwa von 790 bis 820 also dreiszligig Jahre die Dauer eines Menschenalters Wir sehen innerhalb dieser Zeit wie die Massen die erst monarchistisch sind revo- lutionaumlr dann imperialistisch und schlieszliglich wieder mon- archistisch werden In der Religion wenden sie sich in der gleichen Zeit vom Katholizismus zum Atheismus dann zum Deismus und kehren zu den strengsten Formen des Katho- lizismus zuruumlck Und nicht allein die Massen auch die

106 GRENZEN DER VERAumlNDERLICHKEIT DER GRUNDANSCHAUUNGEN

Fuumlhrer sind denselben Veraumlnderungen unterworfen Man sieht die groszligen Konventsmitglieder die geschworenen Feinde der Koumlnige die von Gott und Teufel nichts wissen wollen ergebene Diener Napoleons werden und unter Ludwig XVIII bei den Prozessionen fromm ihre Kerzen tragenUnd welche Wandlungen dann in den Massenanschau- ungen der folgenden siebzig Jahre Das bdquoperfide Albionldquo vom Beginn dieses Jahrhunderts wird unter den Erben Napoleons Frankreichs Verbuumlndeter Ruszligland das zwei- mal mit uns im Kriege lag und sich uumlber unsere letzten Schicksalsschlaumlge so sehr gefreut hatte wird ploumltzlich als Freund betrachtetIn der Literatur der Kunst der Philosophie geht der Wechsel noch schneller vor sich Romantik Naturalismus Mystizismus usw tauchen auf und verschwinden im raschen Wechsel Die gestern gefeierten Kuumlnstler und Schriftsteller werden morgen aufs tiefste verachtetWas sehen wir aber wenn wir diese scheinbar so tiefen Wandlungen untersuchen Alle Ansichten die im Gegen- satz stehen zu den Grundanschauungen und -gefuumlhlen der Rasse sind nur von sehr kurzer Dauer und der abgelenkte Strom nimmt rasch seinen gewohnten Lauf wieder auf Die Anschauungen die sich an keine Grunduumlberzeugung an kein Gefuumlhl der Rasse knuumlpfen und die also keinen Bestand haben koumlnnen sind allen Zufaumlllen oder wenn man will den geringsten Veraumlnderungen der Verhaumlltnisse preisgegeben Sie sind mit Hilfe von Suggestion und An- steckung entstanden sind stets fluumlchtiger Art und erschei- nen und verschwinden auch oft ebenso schnell wie die Sandduumlnen die der Wind am Meeresstrande bildetDie Anzahl der unbestaumlndigen Meinungen der Massen ist heutzutage groumlszliger als je und zwar aus drei verschiedenen GruumlndenErstens buumlszligen die alten Glaubenslehren nach und nach ihre Herrschaft ein und wirken nicht mehr wie fruumlher richtunggebend auf die Meinungen Das Erloumlschen der

DIE VERAumlNDERLICHEN MEINUNGEN 107

Gesamtuumlberzeugungen gibt Raum fuumlr eine Menge Sonder- anschauungen ohne Vergangenheit und ZukunftZweitens waumlchst die Macht der Massen immer mehr und findet immer weniger Gegengewicht so daszlig sich die auszliger- ordentliche Beweglichkeit der Ideen die wir bei ihnen fanden frei entfalten kannDrittens fuumlhrt die neuerdings so verbreitete Presse unauf- houmlrlich die entgegengesetzten Meinungen vor den Augen der Masse voruumlber Die Wirkungen die jede von ihnen eben hervorzurufen suchte werden bald von widerspre- chenden Einfluumlssen aufgehoben Keine Meinung kann sich richtig verbreiten und alle fuumlhren nur ein vergaumlngliches Dasein Sie sind tot bevor sie bekannt genug sind um allgemein zu werdenAus diesen mannigfachen Ursachen ist eine ganz neue Er- scheinung der Weltgeschichte hervorgegangen die fuumlr die heutige Zeit sehr bezeichnend ist ich meine die Unfaumlhig- keit der Regierungen die oumlffentliche Meinung zu lenkenEinst und dies Einst liegt gar nicht so weit hinter uns wurde die oumlffentliche Meinung von der Tatkraft der Re- gierung dem Einfluszlig einiger Schriftsteller und einer ganz geringen Anzahl von Zeitungen getragen Heutzutage haben die Schriftsteller allen Einfluszlig eingebuumlszligt und die Zeitungen spiegeln nur die oumlffentliche Meinung wider Und was die Staatsmaumlnner anbelangt so denken sie nicht daran sie zu lenken sondern suchen ihr nur zu folgen Ihre Furcht vor der oumlffentlichen Meinung ist fast schon Schrecken und raubt ihrer Haltung jede FestigkeitDie Meinung der Massen zeigt also das Bestreben immer mehr zum entscheidenden Lenker der Politik zu werden Sie bringt es heute schon fertig Buumlndnisse vorzuschreiben wie wir es vor kurzem bei dem russischen Buumlndnis sahen das fast ausschlieszliglich aus einer Volksbewegung hervor- gingEs ist ein sehr eigenartiges Zeichen unserer Zeit daszlig Paumlpste Koumlnige und Kaiser sich dem Brauch der Befragung durch Vertreter der Tageszeitungen unterwerfen um dem

108 GRENZEN DER VERAumlNDERLICHKEIT DER GRUNDANSCHAUUNGEN

Urteil der Massen ihre Gedanken uumlber eine bestimmte Angelegenheit zu unterbreiten Einst konnte man sagen Politik sei nicht Sache des Gefuumlhls Kann man das heute noch wenn man sieht daszlig sie sich von den Einfallen der unbestaumlndigen Massen die keine Vernunft kennen und nur vom Gefuumlhl beherrscht werden leiten laumlszligtDie Presse die einstige Leiterin der oumlffentlichen Meinung hat wie die Regierungen gleichfalls der Macht der Massen weichen muumlssen Gewiszlig besitzt sie noch eine bedeutende Macht aber doch nur weil sie lediglich die Widerspiege- lung der oumlffentlichen Meinung und ihrer unaufhoumlrlichen Schwankungen ist Sie ist zum einfachen Informations- mittel geworden und hat darauf verzichtet irgendwelche Ideen oder Lehren zu verbreiten Sie geht allen Veraumlnde- rungen des oumlffentlichen Geistes nach sie ist dazu verpflich- tet weil sie sonst Gefahr laumluft durch die Maszlignahmen der Konkurrenz ihre Leser zu verlieren Die alten ehrwuumlr- digen und einfluszligreichen Blaumltter von ehedem deren Aus- spruumlche von der vergangenen Generation noch ehrfurchts- voll wie Weissagungen angehoumlrt wurden sind verschwun- den oder zu Nachrichtenvermittlungen geworden die von unterhaltenden Neuigkeiten Gesellschaftsklatsch und ge- schaumlftlichen Anzeigen umrahmt sind Welches Blatt waumlre heute reich genug seinen Schriftleitern eigne Meinungen gestatten zu koumlnnen Und welches Gewicht koumlnnten diese Meinungen bei Lesern haben die nur unterrichtet oder unterhalten werden wollen und hinter jeder Empfehlung Berechnung wittern Die Kritik hat nicht einmal mehr die Macht ein Buch oder ein Theaterstuumlck durchzusetzen Sie kann schaden aber nicht nuumltzen Die Blaumltter sind sich der Nutzlosigkeit jeder Eigenmeinung so bewuszligt daszlig sie all- maumlhlich die literarischen Kritiken eingeschraumlnkt haben und sich damit begnuumlgen den Namen des Buches nebst zwei drei Zeilen Empfehlung zu bringen und in zwanzig Jah- ren wird es sich mit der Theaterkritik wohl ebenso ver- haltenDas Aushorchen der Meinungen ist heute die Hauptsorge

DIE VERAumlNDERLICHEN MEINUNGEN 109

der Presse und der Regierungen Welche Wirkung dies Ereignis jener Gesetzentwurf jene Rede hervorrief ist wissenswert fuumlr sie Das ist nicht leicht denn nichts ist beweglicher und wandelbarer als das Denken der Massen Man kann es erleben daszlig sie das was sie gestern bejubel- ten heute mit dem Bannfluch belegenDas Endergebnis dieses gaumlnzlichen Mangels an Meinungs- richtung und der gleichzeitigen Aufloumlsung der Grunduumlber- zeugungen ist die voumlllige Zerbroumlckelung aller Anschau- ungen und die wachsende Gleichguumlltigkeit der Massen wie der einzelnen gegen alles was ihren unmittelbaren Vorteil nicht greifbar beruumlhrt Wissenschaftliche Lehren wie der Sozialismus haben wirklich uumlberzeugte Anhaumlnger nur in den ungebildeten Schichten z B unter Berg- und Fabrik- arbeitern Der Kleinbuumlrger der halbgebildete Handwerker sind zu miszligtrauisch gewordenDie Entwicklung die seit dreiszligig Jahren so verlaumluft ist uumlberraschend In fruumlheren gar nicht so weit zuruumlckliegen- den Zeiten hatten die Meinungen noch eine allgemeine Richtung Sie wurden von der Annahme einiger Grund- uumlberzeugungen abgeleitet Allein aus der Tatsache daszlig man Monarchist war ergeben sich notwendigerweise auf den Gebieten der Geschichte und der Wissenschaft be- stimmte scharfumgrenzte Ansichten waumlhrend der Repu- blikaner ganz entgegengesetzte fuumlr sich in Anspruch nahm Ein Monarchist wuszligte genau daszlig der Mensch nicht vom Affen abstammt und ein Republikaner wuszligte nicht weni- ger genau daszlig er von ihm abstammt Der Monarchist muszligte mit Abscheu der Republikaner begeistert von der Revolution sprechen Gewisse Namen wie Robespierre Marat muszligten mit andaumlchtiger Miene andre wieder wie Caumlsar Augustus Napoleon nur unter Schmaumlhungen aus- gesprochen werden Bis zu unserer Sorbonne herauf herrschte diese kindliche GeschichtsauffassungHeute verliert jede Meinung durch Eroumlrterung und Zer- gliederung ihren Nimbus ihre Stuumltzpunkte werden schnell unsicher und es bleiben nur wenige Ideen uumlbrig die uns

110 GRENZEN DER VERAumlNDERLICHKEIT DER GRUNDANSCHAUUNGEN

zu leidenschaftlicher Parteinahme bewegen koumlnnten Der moderne Mensch verfaumlllt immer mehr der Gleichguumlltig- keitWir wollen diese allgemeine Erschoumlpfung der Anschau- ungen nicht allzusehr bedauern Daszlig sie eine Entartungs- erscheinung im Voumllkerleben ist laumlszligt sich nicht bestreiten Wohl haben die Seher Apostel Fuumlhrer mit einem Wort die Uumlberzeugten eine ganz andere Gewalt als die Ver- neiner Kritiker und Gleichguumlltigen aber wir duumlrfen nicht vergessen daszlig eine einzige Anschauung die genuumlgend Nimbus gewaumlnne um sich durchzusetzen mit Hilfe der Macht der Massen bald eine so tyrannische Gewalt er- langen wuumlrde daszlig sich alsbald alle vor ihr beugen muumlszligten und die Zeit der freien Meinungsaumluszligerung waumlre dann fuumlr lange Zeit vorbei Zeitweilig sind die Massen friedfertige Herren wie es gelegentlich Heliogabal und Tiberius auch waren aber sie haben auch wilde Launen Ist eine Kultur reif ihnen in die Haumlnde zu fallen so ist sie zu vielen Zufaumlllen ausgesetzt als daszlig sie noch lange Zeit uumlberdauern koumlnnte Wenn irgend etwas die Stunde des Niedergangs aufhalten kann so ist es nur die auszligerordentliche Ver- aumlnderlichkeit der Meinungen und die wachsende Gleich- guumlltigkeit der Massen gegen alle allgemeinen Grund- anschauungen

111DIE VERAumlNDERLICHEN MEINUNGEN

DRITTES BUCH

EINTEILUNG UND BESCHREIBUNG DER VERSCHIEDENEN ARTEN

VON MASSEN

1 KAPITEL

Einteilung der Massen

Wir haben in dieser Arbeit bisher die allgemeinen den Massen gemeinsamen Merkmale festgestellt Es bleiben uns noch die besonderen Merkmale zu erforschen die diesen allgemeinen je nach der Art der Gesamtheiten vorgeord- net sindStellen wir zunaumlchst in aller Kuumlrze eine Einteilung der Massen aufUnser Ausgangspunkt ist die einfache Menge (la simple multitude) Ihre unterste Art ist dann gegeben wenn sie sich aus Einzelwesen verschiedener Rassen zusammensetzt Ihr einziges allgemeines Band ist der mehr oder weniger geachtete Wille eines Anfuumlhrers Als Beispiel fuumlr diese Massenform koumlnnen die Barbaren verschiedener Herkunft dienen die eine Reihe von Jahrhunderten hindurch das Roumlmische Reich verheertenUumlber diesen zusammenhanglosen Massen stehen jene die unter dem Einfluszlig gewisser Faktoren gemeinsame Merk- male angenommen haben und schlieszliglich eine Rasse bilden Sie werden gelegentlich die Sondermerkmale der Massen aufweisen aber immer gemaumlszligigt durch die Eigentuumlmlich- keiten ihrer RasseDie verschiedenen Arten der Massen die bei jedem Volk zu beobachten sind lassen sich folgendermaszligen einteilen

A Ungleichartige Massen (foules heacuteteacuterogegravenes) Namenlose (z B Straszligenansammlungen) 2 Nicht namenlose (z B Geschworenengericht Parla- ment)

B Gleichartige Massen (foules homogegravenes) Sekten (politische religioumlse und andere Sekten) 2 Kasten (militaumlrische Priester- Arbeiterkaste usw) 3 Klassen (Buumlrger Bauern usw)Wir geben kurz die unterscheidenden Merkmale dieser ver- schiedenen Arten von Massen an

sect Ungleichartige Massen

Die Wesenszuumlge dieser Gesamtheiten haben wir bereits studiert Sie setzen sich aus irgendwelchen einzelnen zu- sammen Beruf oder Intelligenz sind unwichtigWir haben in dieser Arbeit gezeigt daszlig die seelische Ver- fassung der Menschen in der Masse wesentlich abweicht von der Seelenverfassung die sie als einzelne haben und daszlig vor dieser Abweichung die Intelligenz nicht rettet Wir sahen daszlig Intelligenz in den Gesamtheiten keine Rolle spielt Nur unbewuszligte Gefuumlhle koumlnnen in ihnen wirksam werdenEin Grundfaktor die Rasse macht es uns moumlglich die ver- schiedenen ungleichartigen Massen ziemlich scharf zu sondern Schon wiederholt kamen wir auf die Bedeutung der Rasse zuruumlck und zeigten daszlig sie der maumlchtigste Faktor ist der die Macht hat die menschlichen Handlungen zu bestim- men Ihre Wirkung zeigt sich auch in den Eigenschaften der Masse Eine Menge die aus irgendwelchen verschie- denen Einzelwesen die aber entweder Englaumlnder oder Chinesen sein muumlssen zusammengesetzt ist unterscheidet sich grundlegend von einer anderen Masse die etwa aus Russen Franzosen oder Spaniern bestehtDie tiefen Unterschiede die durch die ererbte geistige Konstitution in der Gefuumlhls- und Denkweise der Menschen begruumlndet werden treten klar zutage wenn unter gewissen Umstaumlnden die allerdings selten vorkommen einzelne verschiedener Nationalitaumlten zu einer einzigen Masse ver- Einzelheiten uumlber die verschiedenen Arten der Massen findet man in meinen letzten Arbeiten

115UNGLEICHARTIGE MASSEN

einigt werden so gleichartig anscheinend die Interessen sein moumlgen Die Versuche der Sozialisten auf groszligen Zusam- menkuumlnften die Vertreter der Arbeiterschaft aller Laumlnder zu vereinigen endeten stets in heftiger Zwietracht Eine lateinische Masse so revolutionaumlr oder konservativ sie auch sein mag wird sich zur Erfuumlllung ihrer Forderungen stets an den Staat wenden Sie ist stets zentralistisch und mehr oder minder monarchistisch Eine englische und amerikani- sche Masse hingegen kennt den Staat nicht und wendet sich nur an die persoumlnliche Tatkraft Eine franzoumlsische Masse haumllt vor allem viel auf Gleichheit eine englische auf Frei- heit Diese Rassen Verschiedenheiten bringen fast ebenso- viele Abarten der Masse hervor als es Voumllker gibtDie Rassenseele beherrscht also voumlllig die Massenseele Sie ist der maumlchtige Grundstoff der die Schwankungen der Massenseele bestimmt Die niederen Eigenschaften der Masse sind um so weniger betont je staumlrker die Rassenseele ist Das ist ein Grundgesetz Der Staat der Masse und die Herrschaft der Masse bedeuten die Barbarei oder die Ruumlck- kehr zur Barbarei Durch Erwerbung einer festgefuumlgten Seele schuumltzt sich die Rasse immer mehr vor unuumlberlegter Gewalt der Massen und laumlszligt die Barbarei hinter sichDie einzige Einteilung die sich fuumlr die ungleichartigen Massen auszliger ihrer Bestimmung nach Rassen durchfuumlhren laumlszligt ist die Einteilung in namenlose Massen wie die der Straszligen und nicht namenlose Massen wie z B die bera- tenden Ausschuumlsse und die Schwurgerichte Das Fehlen des Verantwortlichkeitgefuumlhls bei den ersteren und sein Vor- handensein bei den letzteren draumlngt ihre Handlungsweise oft in verschiedene Richtung

sect 2 Gleichartige Massen

Die gleichartigen Massen umfassen erstens die Sekten zweitens die Kasten drittens die KlassenDie Sekte bezeichnet den ersten Grad in der Organisation gleichartiger Massen Zu ihr gehoumlren einzelne deren Er-

116 DIE VERSCHIEDENEN ARTEN VON MASSEN

ziehung Beruf und Milieu oft sehr verschieden ist und die nur durch das Band der Uumlberzeugung miteinander verbun- den sind so z B die religioumlsen und politischen SektenDie Kaste stellt den houmlchsten Organisationsgrad dar des- sen die Masse faumlhig ist Waumlhrend die Sekte einzelne um- faszligt deren Beruf Bildung und Milieu oft sehr verschie- den sind und die sich nur durch Gemeinsamkeit der Uumlber- zeugung zusammenschlieszligen gehoumlren zur Kaste nur ein- zelne von gleichem Beruf und folglich auch ziemlich aumlhn- licher Bildung und fast gleichen Lebensverhaumlltnissen So z B die militaumlrische und die PriesterkasteDie Klasse wird von einzelnen verschiedenen Ursprungs gebildet die weder wie die Mitglieder einer Sekte durch die Uumlbereinstimmung der Uumlberzeugung noch durch die Gleichheit des Berufes wie die Mitglieder einer Kaste sondern durch bestimmte Interessen Lebensgewohnheiten und ihre Erziehung einander aumlhnlich sind So z B die Klasse der Buumlrger der Bauern uswDa ich in dieser Arbeit nur die ungleichartigen Massen zu studieren habe so werde ich mich nur mit einigen Arten dieser Gattung der Massen beschaumlftigen die ich als be- zeichnende Beispiele herausgreife

2 KAPITEL

Die sogenannten verbrecherischen Massen

Da nach einer bestimmten Erregungszeit die Massen in den Zustand einfacher unbewuszligter Automaten zuruumlckfallen die von Beeinflussungen abhaumlngig sind so scheint es schwie- rig zu sein sie in irgendeinem Falle als verbrecherisch zu bezeichnen Ich behalte jedoch diese irrige Bezeichnung bei weil sie durch die psychologischen Forschungen uumlblich ge- worden ist Gewisse Handlungen der Masse sind an sich betrachtet sicherlich verbrecherisch aber doch nur in dem- selben Sinne wie die Tat eines Tigers der einen Hindu

117GLEICHARTIGE MASSEN VERBRECHERISCHE MASSEN

verschlingt nachdem er ihn erst von seinen Jungen zu ihrer Unterhaltung hat zerfleischen lassenDie Verbrechen der Massen sind in der Regel die Folge einer starken Suggestion und die einzelnen die daran teil- nahmen sind hinterher davon uumlberzeugt einer Pflicht ge- horcht zu haben Das ist beim gewoumlhnlichen Verbrecher durchaus nicht der FallDie Geschichte der Verbrechen die durch die Massen be- gangen wurden laumlszligt dies klar erkennenAls bezeichnendes Beispiel kann man die Ermordung des Gouverneurs der Bastille du Launay anfuumlhren Nach der Eroberung dieser Festung hagelten von allen Seiten aus der aufs aumluszligerste gereizten Menge die ihn umgab Hiebe auf den Gouverneur Man schlug vor ihn zu haumlngen zu enthaupten oder an den Schweif eines Pferdes zu binden Bei dem Versuch sich zu befreien versetzte er einem der Umstehenden versehentlich einen Fuszligtritt Da machte je- mand den Vorschlag ndash dem die Menge sofort zujauchzte

ndash der Getretene solle dem Gouverneur den Hals ab- schneiden

bdquoDieser ein stellenloser Koch der halb und halb aus Neu- gierde nach der Bastille gegangen war um zu sehen was don vorging glaubt weil dies die allgemeine Ansicht ist die Tat sei patriotisch und glaubt sogar eine Auszeich- nung zu verdienen wenn er ein Ungeheuer toumltet Man gibt ihm einen Saumlbel mit dem er auf den bloszligen Hals losschlaumlgt da aber der schlechtgeschliffene Saumlbel nicht schneidet zieht er ein kleines Messer mit schwarzem Heft aus der Tasche und vollendet (da er als Koch Fleisch zu bearbeiten weiszlig) erfolgreich seine OperationldquoHier zeigt sich klar der fruumlher festgestellte Mechanismus Gehorsam gegen einen Einfluszlig der um so maumlchtiger wirkt weil er einer Gesamtheit entstammt die Uumlberzeugung des Moumlrders damit eine aumluszligerst verdienstvolle Tat getan zu haben eine Uumlberzeugung die um so natuumlrlicher ist da er auf die einmuumltige Zustimmung seiner Mitbuumlrger rechnen kann Eine derartige Tat kann vielleicht gesetzlich aber

118 DIE VERSCHIEDENEN ARTEN VON MASSEN

nicht psychologisch als Verbrechen bezeichnet werden Die allgemeinen Merkmale der sogenannten verbrecherischen Massen sind genau dieselben die wir bei allen Mas- sen festgestellt haben Beeinfluszligbarkeit Leichtglaumlubigkeit Uumlberschwang der guten und schlechten Gefuumlhle das Her- vortreten gewisser Formen der Sittlichkeit uswAlle diese Merkmale finden wir bei der Masse der Sep- tembermaumlnner wieder die in unserer Geschichte das un- seligste Andenken hinterlassen haben Sie zeigen uumlbrigens viel Aumlhnlichkeit mit den Urhebern der Bartholomaumlusnacht Die Einzelheiten des Berichtes entnehme ich Taine der sie aus zeitgenoumlssischen Erinnerungen geschoumlpft hat Es ist nicht genau bekannt wer Befehl oder Veranlassung gege- ben hat die Gefangenen abzuschlachten um die Gefaumlng- nisse zu raumlumen Ob es Danton war wie es wahrscheinlich ist oder ein anderer ist gleichguumlltig wir haben es nur mit dem maumlchtigen Einfluszlig zu tun den die mit dem Blutbade beauftragte Menge empfingDie Schar der Menschenschlaumlchter umfaszligte ungefaumlhr drei- hundert Mitglieder und zeigte vollkommen die Grundform einer ungleichartigen Masse Abgesehen von einer ganz geringen Anzahl gewerbsmaumlszligiger Bettler bestand sie na- mentlich aus Haumlndlern und Handwerkern aller Art aus Schustern Schlossern Peruumlckenmachern Maurern Ange- stellten Dienstmaumlnnern usw Unter dem Einfluszlig der emp- fangenen Suggestion sind sie wie der obenerwaumlhnte Koch voumlllig uumlberzeugt davon eine vaterlaumlndische Pflicht zu er- fuumlllen Sie uumlben ein doppeltes Amt aus das des Richters und das des Henkers und halten sich in keiner Weise fuumlr VerbrecherDurchdrungen von der Wichtigkeit ihrer Aufgabe bilden sie zunaumlchst eine Art Gerichtshof und sofort zeigt sich der beschraumlnkte Geist und das nicht weniger beschraumlnkte Rechtsgefuumlhl der Massen Angesichts der betraumlchtlichen Anzahl der Angeklagten wird zunaumlchst entschieden die Adligen die Priester die Offiziere die Diener des Koumlnigs d h diejenigen deren Beruf in den Augen eines guten

119DIE SOGENANNTEN VERBRECHERISCHEN MASSEN

Patrioten allein schon ein Schuldbeweis ist sollen in Hau- fen niedergemetzelt werden ohne daszlig es eines besonderen Urteils bedarf Im uumlbrigen wird nach Aussehen und An- sehen verurteilt Das unausgebildete Gewissen der Masse ist auf diese Weise befriedigt sie kann rechtmaumlszligig an die Abschlachtung gehen und den Instinkten der Grausamkeit deren Entstehen ich an anderer Stelle behandelt habe und die die Gesamtheiten stets in hohem Maszlige entfalten koumln- nen freien Lauf lassen Sie stehen uumlbrigens ndash das ist die Regel bei den Massen ndash einer gleichzeitigen Offenbarung entgegengesetzter Gefuumlhle nicht im Wege so z B der Empfindsamkeit die oft ebenso wie ihre Grausamkeit bis zum aumluszligersten geht bdquoSie haben das offenherzige Mitge- fuumlhl und die bewegliche Empfindlichkeit der Pariser Ar- beiter Als ein Foumlderierter vernahm daszlig man in der Abtei die Haumlftlinge seit sechsundzwanzig Stunden ohne Wasser gelassen hatte wollte er durchaus den nachlaumlssigen Pfoumlrt- ner umbringen und haumltte es getan wenn nicht die Ge- fangenen selbst fuumlr ihn gebeten haumltten Ist ein Gefangener (von ihrem fliegenden Gerichtshof) freigesprochen so wird er von den Waumlchtern und Henkern kurz von jedermann umarmt und stuumlrmisch begruumlszligtldquo Dann kehrt man zur Ab- schlachtung der uumlbrigen zuruumlck Waumlhrend des Blutbades herrscht andauernd liebenswuumlrdige Froumlhlichkeit Man singt und tanzt um die Leichen herum stellt den bdquoDamenldquo die gluumlcklich daruumlber sind zu sehen daszlig Aristokraten ge- toumltet werden Baumlnke zur Verfuumlgung Auch weiterhin wer- den Proben einer besonderen Houmlflichkeit gegeben Als sich ein Henker in der Abtei beklagt die etwas entfernter sitzenden Damen saumlhen schlecht und nur einige der An- wesenden haumltten das Vergnuumlgen die Aristokraten zu schla- gen gibt man die Richtigkeit dieser Beobachtung zu und bestimmt daszlig man die Opfer langsam zwischen zwei Reihen von Moumlrdern hindurchgehen lasse die zur Ver- laumlngerung der Qualen nur mit dem Saumlbelruumlcken schlagen duumlrfen In der Festung werden die Opfer voumlllig entkleidet eine halbe Stunde lang zerfleischt dann wenn jedermann

120 DIE VERSCHIEDENEN ARTEN VON MASSEN

alles gut gesehen hat erledigt man sie indem man ihnen den Bauch aufschlitzt Die Menschenschlaumlchter sind im uumlbrigen sehr gewissenhaft und bekunden jene Sittlichkeit auf deren Vorhandensein im Herzen der Massen wir be- reits hinwiesen Sie legen das Geld und den Schmuck der Opfer auf dem Tisch des Ausschusses niederIn allen ihren Handlungen finden sich diese unentwickel- ten Formen des Denkens die fuumlr die Massenseele bezeich- nend sind So macht irgend jemand nach einer Abschlach- tung von zwoumllf- bis fuumlnfzehnhundert Volksfeinden darauf aufmerksam ndash und seine Anregung wird sofort angenom- men ndash daszlig in den andern Gefaumlngnissen in denen alte Bettler Landstreicher jugendliche Haumlftlinge sitzen in Wahrheit nur unnuumltze Fresser eingesperrt waumlren deren man sich am besten entledige Uumlbrigens muumlszligten sich unter ihnen auch Volksfeinde befinden wie z B eine gewisse Frau Delarue die Witwe eines Giftmischers bdquoSie soll wuumltend sein im Gefaumlngnis zu sitzen wenn sie koumlnnte wuumlrde sie Paris in Brand stecken das soll sie gesagt haben das hat sie gesagt Fort mit ihrldquo Der Beweis ist uumlber- zeugend und haufenweise wird alles abgeschlachtet Inbe- griffen sogar etwa fuumlnfzig Kinder von zwoumllf bis siebzehn Jahren die ja auch Volksfeinde werden koumlnnten und folg- lich beseitigt werden muszligtenNach einer Woche der Arbeit waren all diese Maszlignahmen ausgefuumlhrt und die Menschenschlaumlchter durften von Ruhe traumlumen Da sie tief davon durchdrungen waren dem Vaterland gut gedient zu haben verlangten sie von den Machthabern eine Belohnung die Eifrigsten forderten so- gar eine AuszeichnungDie Geschichte der Kommune von 870 weist aumlhnliche Tatsachen auf Der wachsende Einfluszlig der Massen und das allmaumlhliche Zuruumlckweichen der Maumlchte vor ihnen wird sicherlich noch viele andre hinzufuumlgen

DIE SOGENANNTEN VERBRECHERISCHEN MASSEN 121

3 KAPITEL

Die Geschworenen bei den Schwurgerichten

Da wir uns hier nicht mit allen Arten der Geschworenen befassen koumlnnen so werde ich mich nur mit den wichtig- sten den Beisitzern der Schwurgerichte beschaumlftigen Sie bieten uns ein vortreffliches Beispiel fuumlr die nicht namen- lose ungleichartige Masse Wir finden hier die Beeinfluszlig- barkeit die Vorherrschaft der unbewuszligten Gefuumlhle die geringe Faumlhigkeit zum Denken den Einfluszlig der Fuumlhrer usw Ihre Beobachtung wird uns Gelegenheit geben be- merkenswerte Proben von Fehlern kennenzulernen die von Leuten begangen werden die mit der Psychologie der Gesamtheiten nicht vertraut sindDie Geschworenen sind zunaumlchst ein Beispiel fuumlr die ge- ringe Bedeutung die den geistigen Voraussetzungen der verschiedenen Wesen aus denen sich eine Masse zusam- mensetzt bei Entscheidungen zukommt Wir haben ge- sehen daszlig in einer beratenden Versammlung die aufge- fordert wird ein Urteil abzugeben die Intelligenz keine Rolle spielt wenn es sich um eine Frage handelt die nicht rein technischer Natur ist und daszlig in einer Versammlung von Gelehrten und Kuumlnstlern uumlber allgemeine Angelegen- heiten Urteile abgegeben werden die sich von denen einer Maurerversammlung kaum wesentlich unterscheiden Zu manchen Zeiten traf die Verwaltung unter den Personen die zu Geschworenen ernannt wurden eine sorgfaumlltige Auswahl sie stammten aus den aufgeklaumlrten Klassen der Lehrer Beamten wissenschaftlich Gebildeten usw Heut- zutage gehoumlren die Geschworenen hauptsaumlchlich den Klein- haumlndlern Handwerksmeistern Angestellten usw an Und zur groszligen Verwunderung der Fachschriftsteller zeigt die Statistik daszlig die Entscheidungen ganz gleich bleiben wie die Geschworenen auch zusammengesetzt sein moumlgen Selbst die Juristen die der Einrichtung der Schwurgerichte so feindlich gegenuumlberstanden muszligten die Richtigkeit dieser

Feststellung anerkennen Ein ehemaliger Schwurgerichts- praumlsident Bernard des Glajeux schreibt in seinen bdquoEr- innerungenldquo daruumlber folgendes

bdquoHeute liegt die Auswahl der Geschworenen in Wirklich- keit in den Haumlnden der Stadtraumlte die nach ihrem Belieben zulassen und ausscheiden und sich in der Hauptsache von politischen Verhaumlltnissen und Wahlsorgen leiten lassen die mit ihrer Stellung verbunden sind hellip Die Mehrzahl der Gewaumlhlten besteht aus Kauf leuten von so geringer Bedeutung daszlig man sie fruumlher nicht zugelassen haumltte und aus Beamten bestimmter Verwaltungsbehoumlrden In der Rolle des Richters vereinigen sich alle Anschauungen mit allen Berufsarten viele zeigen den Eifer der Neulinge und Menschen die den besten Willen haben begegnet man in den einfachsten Staumlnden Der Geist der Geschworenen hat sich nicht geaumlndert ihre Urteile sind sich gleichgebliebenldquoWir wollen aus diesem Satz die ganz richtigen Folgerun- gen nicht aber die recht schwachen Erklaumlrungen beibe- halten Diese Schwaumlche ist besonders erstaunlich denn die Psychologie der Massen und folglich auch der Geschwore- nen scheint meistens den Anwaumllten wie den Richtern un- bekannt gewesen zu sein Den Beweis dafuumlr liefert mir die Tatsache die derselbe Autor anfuumlhrt daszlig einer der be- ruumlhmtesten Rechtsanwaumllte des Schwurgerichts Lachaud ausnahmslos von seinem Recht Gebrauch machte die gebildeten Mitglieder der Geschworenen abzulehnen Die Erfahrung aber ndash und die Erfahrung allein ndash uumlberzeugte ihn schlieszliglich von der Zwecklosigkeit dieser Ablehnung Die Staatsanwaltschaft und die Rechtsanwaumllte haben wenigstens in Paris vollstaumlndig darauf verzichtet und doch haben sich wie des Giajeux bemerkt die Urteile nicht geaumlndert bdquosie sind weder besser noch schlechterldquoWie alle Massen werden die Geschworenen sehr stark durch Gefuumlhle und sehr wenig durch Beweisgruumlnde beeinfluszligt Ein Rechtsanwalt schreibt bdquoSie koumlnnen dem Anblick einer stillenden Frau oder der Vorfuumlhrung der Waisen nicht widerstehenldquo bdquoEine Frau braucht nur angenehm zu seinldquo

123DIE GESCHWORENEN

sagt des Glajeux bdquoso gewinnt sie das Wohlgefallen der GeschworenenldquoGegen Verbrechen von denen sie selbst betroffen werden koumlnnten und die uumlberdies gerade fuumlr die Gesellschaft die furchtbarsten sind zeigen sich die Geschworenen unerbitt- lich andrerseits sind sie gegen die sogenannten Verbrechen der Leidenschaft sehr nachsichtig Selten beurteilen sie Kindesmord unehelicher Muumltter streng und noch weniger das verlassene Maumldchen das seinen Verfuumlhrer mit Vitriol uumlberschuumlttet Sie fuumlhlen instinktiv sehr gut daszlig diese Verbrechen fuumlr die Gesellschaft wenig gefaumlhrlich sind und daszlig in einem Lande wo das Gesetz verlassene Maumldchen nicht schuumltzt ihre Rache mehr Nutzen stiftet indem sie kuumlnftige Verfuumlhrer von vornherein abschreckt Wie alle Massen werden die Geschworenen durch An- sehen stark geblendet und Praumlsident des Glajeux macht mit Recht darauf aufmerksam daszlig sie ihrer Zusammen- setzung nach zwar sehr demokratisch ihren Neigungen nach aber sehr aristokratisch seien bdquoName Geburt Reich- tum Ruhm und die Anwesenheit eines bekannten An- walts alles Auszeichnende und Glaumlnzende sind fuumlr den Angeklagten eine erhebliche UnterstuumltzungldquoEs muszlig die Hauptsorge eines guten Anwalts sein auf die Gefuumlhle der Geschworenen einzuwirken und wie bei allen Massen wenig zu begruumlnden oder Beweisfuumlhrungen nur in andeutender Form zu geben Ein englischer Anwalt der

Nebenbei bemerkt entbehrt diese Unterscheidung zwischen gesellschaftsfeind- lichen und nicht gesellschaftsfeindlichen Verbrechen die mit richtigem Instinkt von den Geschworenen gemacht wird keineswegs der Richtigkeit Das Ziel der Strafgesetze soll doch offenbar der Schutz der Gesellschaft gegen Ver- brechen nicht aber Rache sein Nun sind aber unsere Strafgesetzbuumlcher und besonders unsere Richter voumlllig von dem Rachegeist des alten urspruumlnglichen Gesetzes erfuumlllt und der Ausdruck bdquoSuumlhneldquo (vindicta) wird noch taumlglich gebraucht Der Beweis fuumlr diese Neigung der Richter ist die Weigerung vieler von ihnen das vortreffliche Gesetz Beacuteranger anzuwenden welches die Strafe des Verurteilten aufschiebt bis er ruumlckfaumlllig wird Und doch kann kein Richter daruumlber im unklaren sein ndash denn die Statistik beweist es ja ndash daszlig die Verbuumlszligung der ersten Strafe fast unfehlbar den Ruumlckfall nach sich zieht Die Richter glauben wenn sie einen Schuldigen freisprechen die Gesellschaft sei ungeraumlcht geblieben Ehe sie das zulassen schaffen sie lieber einen gefaumlhr- lichen Ruumlckfaumllligen

124 DIE VERSCHIEDENEN ARTEN VON MASSEN

wegen seiner Erfolge am Schwurgericht beruumlhmt war hat dies Verfahren ausgezeichnet geschildert

bdquoAufmerksam beobachtet er waumlhrend seiner Verteidigungs- rede die Geschworenen Der Augenblick ist guumlnstig Mit Hilfe seines Spuumlrsinnes und auch gewohnheitsmaumlszligig liest der Anwalt die Wirkung jedes Satzes jedes Wortes in den Mienen und zieht seine Schluumlsse daraus Es handelt sich vor allem darum die Mitglieder herauszufinden die im voraus fuumlr den Fall eingenommen sind Der Verteidiger versichert sich ihrer im Handumdrehen dann wendet er sich an die Mitglieder die unguumlnstig gestimmt zu sein scheinen und bemuumlht sich zu erraten warum sie gegen den Angeklagten sind Das ist der schwierigste Teil der Arbeit denn es kann auszliger dem Gerechtigkeitsgefuumlhl noch unzaumlhlige Gruumlnde geben einen Menschen verurteilen zu wollenldquoDiese wenigen Zeilen fassen die Absichten der Redner- kunst treffend zusammen und zeigen uns die Wertlosigkeit der eingelernten Rede weil man jeden Augenblick je nach dem erzielten Eindruck die Ausdrucksweise aumlndern muszlig Der Redner braucht nicht alle Mitglieder des Gerichts auf seine Seite zu bringen sondern nur die tonangebenden die die Gesamtmeinung beeinflussen Wie bei allen Massen gibt es auch hier eine kleine Anzahl von fuumlhrenden ein- zelnen bdquoIch habe die Erfahrung gemachtldquo sagt der oben erwaumlhnte Anwalt bdquodaszlig im Augenblick der Urteilsfaumlllung ein oder zwei energische Maumlnner genuumlgen um die uumlbrigen Geschworenen mitzureiszligenldquo Diese zwei oder drei Maumlnner muszlig man durch geschickte Beeinflussung uumlberzeugen Zu- erst und vor allem muszlig man ihnen gefallen Der Massen- mensch dem man gefaumlllt ist schon beinahe uumlberzeugt und gut vorbereitet alle Gruumlnde die man ihm darlegt fuumlr ausgezeichnet zu halten In einer interessanten Arbeit uumlber Lachaud finde ich folgende Anekdote

bdquoMan weiszlig daszlig Lachaud als er beim Schwurgericht ar- beitete waumlhrend der ganzen Dauer seiner Verteidigungs- reden zwei oder drei Geschworene von denen er wuszligte

DIE GESCHWORENEN 125

oder fuumlhlte daszlig sie einfluszligreich aber unzugaumlnglich waren nicht aus den Augen verlor In der Regel gelang es ihm die Widerspenstigen zu gewinnen Aber einmal fand er in der Provinz einen den er vergebens dreiviertel Stunden lang bearbeitete den ersten auf der zweiten Bank den siebenten Geschworenen Es war zum Verzweifeln Ploumltz- lich mitten im leidenschaftlichen Redefluszlig haumllt Lachaud inne und wendet sich an den Vorsitzenden des Gerichts- hofes mit den Worten Herr Praumlsident koumlnnte man nicht den Vorhang dort vorn herunterlassen den siebenten Herrn Geschworenen blendet die Sonnelsquo Der siebente Ge- schworene erroumltete laumlchelte dankte Er war der Verteidi- gung gewonnenldquoVerschiedene Autoren und zwar sehr namhafte haben in der letzten Zeit die Einrichtung der Schwurgerichte den einzigen Schutz gegen die wirklich sehr haumlufigen Irrtuumlmer einer aufsichtslosen Kaste heftig bekaumlmpft Einige moumlch- ten daszlig die Geschworenen nur aus den gebildeten Staumlnden gewaumlhlt wuumlrden Aber wir haben schon festgestellt daszlig in diesem Falle die Entscheidungen den jetzt gefaumlllten gleichen werden Andre die sich auf die Irrtuumlmer der Geschwore- nen berufen moumlchten sie abschaffen und durch Richter er- setzen Wie koumlnnen sie aber vergessen daszlig die Irrtuumlmer die den Geschworenen so oft vorgeworfen werden stets

Der Richterstand ist in der Tat der einzige Verwaltungszweig dessen Maszlig- nahmen keiner Uumlberwachung unterstellt sind Keine Revolution hat es fertig- gebracht dem demokratischen Frankreich jenes Habeas-corpus-Recht zu errin- gen auf das England so stolz ist Wir haben die Tyrannen verbannt aber in jeder Stadt verfuumlgt eine Obrigkeit nach Belieben uumlber Ehre und Freiheit der Buumlrger Ein unbedeutender Untersuchungsrichter der die Universitaumlt kaum verlieszlig hat die empoumlrende Macht die angesehensten Buumlrger gegen die er den bloszligen Verdacht einer Schuld hegt fuumlr den er niemand Rechenschaft schuldig ist ins Gefaumlngnis zu schicken Er kann sie sechs Monate ja sogar ein Jahr unter dem Vorwande der Untersuchung dort festhalten und sie schlieszliglich ohne Entschaumldigung oder Entschuldigung entlassen Der Vorladungsbefehl ist dem bdquolettre de cachetldquo dem koumlniglichen geheimen Haftbefehl gleichwertig nur mit dem Unterschied daszlig der letztere der mit Recht der alten Monarchie so zum Vorwurf gemacht wird nur sehr bedeutenden Persoumlnlichkeiten zur Verfuumlgung stand waumlhrend er sich heute in den Haumlnden einer ganzen Buumlrger- klasse befindet die keineswegs fuumlr die aufgeklaumlrteste und unabhaumlngigste gelten kann

126 DIE VERSCHIEDENEN ARTEN VON MASSEN

zuerst von den Richtern begangen wurden denn wenn der Angeklagte vor den Geschworenen erscheint so wird er bereits von verschiedenen Richtern fuumlr schuldig gehalten vom Untersuchungsrichter vom Staatsanwalt vom An- klagesenat Und sieht man denn nicht daszlig der Angeklagte seine einzige Aussicht fuumlr unschuldig erklaumlrt zu werden einbuumlszligte wenn er schlieszliglich von Richtern anstatt von Geschworenen abgeurteilt wuumlrde Die Irrtuumlmer der Ge- schworenen sind zuerst stets Irrtuumlmer der Richter gewesen An diese allein muszlig man sich halten wenn man auf be- sonders ungeheuerliche Justizirrtuumlmer wie die Verurtei- lung des Dr Xhellip stoumlszligt der auf die Anzeige eines halb- idiotischen Maumldchens das den Arzt beschuldigte er habe sie fuumlr dreiszligig Franken abortieren lassen von einem wirklich recht beschraumlnkten Untersuchungsrichter verfolgt wurde und der ohne den Entruumlstungsausbruch der Oumlffent- lichkeit der seine sofortige Begnadigung durch das Staats- oberhaupt zur Folge hatte ins Gefaumlngnis gewandert waumlre Die Ehrenhaftigkeit die dem Verurteilten von all seinen Mitbuumlrgern zuerkannt wurde lieszlig die Ungeheuerlichkeit des Irrtums besonders offenbar werden Selbst die Richter erkannten das und doch taten sie aus Kastengeist alles moumlgliche um die Unterzeichnung der Begnadigung zu ver- hindern In allen solchen Faumlllen houmlren die Geschworenen von technischen Einzelheiten die sie nicht verstehen ver- wirrt naturgemaumlszlig auf die Staatsanwaltschaft da sie sich sagen daszlig der Fall schlieszliglich von Richtern die in allen Feinheiten bewandert sind gepruumlft sei Wer sind also die wahren Urheber des Irrtums die Geschworenen oder die Richter Darum wollen wir sorgfaumlltig uumlber unsere Schwur- gerichte wachen Sie bilden vielleicht die einzige Gattung der Masse die durch keinen einzelnen zu ersetzen ist Nur sie koumlnnen die Haumlrten des Gesetzes mildern das fuumlr alle gleich im Prinzip blind sein muszlig und Sonderfaumllle nicht kennen darf Der Richter der nur den Wortlaut des Ge- setzes kennt und fuumlr Mitleid unzugaumlnglich ist wuumlrde mit seiner Berufshaumlrte den Raubmoumlrder zu derselben Strafe

DIE GESCHWORENEN 127

verurteilen wie das arme Maumldchen das zum Kindesmord gedraumlngt wird weil es von seinem Verfuumlhrer verlassen und dem Elend preisgegeben ist waumlhrend die Geschworenen sehr wohl fuumlhlen daszlig das verfuumlhrte Maumldchen viel weniger schuld ist als der Verfuumlhrer der dem Gesetz entschluumlpft und daszlig es all ihre Nachsicht verdientObwohl ich die Psychologie der Kasten so wie die der andern Massen sehr wohl kenne kann ich mir keinen Fall denken der mich wenn ich eines Verbrechens angeklagt waumlre nicht vorziehen lieszlige lieber mit Geschworenen als mit Richtern zu tun zu haben Bei den ersten haumltte ich groszlige Aussicht schuldlos erkannt zu werden bei den letz- teren nur sehr geringe Wir haben die Macht der Massen zu fuumlrchten aber noch mehr die Macht gewisser Kasten Die Massen lassen sich vielleicht uumlberzeugen die Kasten geben niemals nach

4 KAPITEL

Die Waumlhlermassen

Die Waumlhlermassen d h die Gesamtheiten die zur Wahl der Inhaber gewisser Aumlmter berufen sind bilden ungleich- artige Massen da sie aber nur in einer ganz bestimmten Frage ihre Wirksamkeit entfalten naumlmlich bei der Wahl zwischen mehreren Kandidaten so lassen sich bei ihnen nur einige der fruumlher beschriebenen Merkmale beobachten Besonders hervorragend ist die geringe Urteilsfaumlhigkeit dann der Mangel an kritischem Denken die Erregbarkeit Leichtglaumlubigkeit und Einfalt der Massen Auch entdeckt man in ihren Entscheidungen den Einfluszlig der Fuumlhrer und die Wirkung der bereits angefuumlhrten Triebkraumlfte Behaup- tung Wiederholung Nimbus und UumlbertragungSehen wir nun zu wie sie zu gewinnen sind Ihre Psycho- logie laumlszligt sich nach bewaumlhrter Methode klar ableiten Als erste Eigenschaft muszlig der Bewerber einen Nimbus

128 DIE VERSCHIEDENEN ARTEN VON MASSEN

haben Persoumlnlicher Nimbus kann nur durch Reichtum ersetzt werden Talent und selbst Genie sind keine Vor- bedingungen fuumlr den ErfolgFolglich ist der persoumlnliche Nimbus des Bewerbers um sich ohne weitere Eroumlrterungen durchsetzen zu koumlnnen von ausschlaggebender Bedeutung Daszlig die Waumlhler die in der Mehrzahl aus Arbeitern und Bauern bestehen so selten einen ihrer Leute als Vertreter waumlhlen erklaumlrt sich daraus daszlig ihre Standesgenossen keinen Nimbus bei ihnen haben Sie waumlhlen einen ihresgleichen fast nur aus nebensaumlchlichen Gruumlnden etwa um einen hochgestellten Manne einem maumlchtigen Arbeitgeber entgegenzutreten weil der Waumlhler Tag fuumlr Tag die Abhaumlngigkeit von diesem empfindet und sich so einbildet einen Augenblick seiner Herr zu seinAber der Besitz des Nimbus genuumlgt fuumlr den Bewerber nicht zur Sicherung des Erfolges Der Waumlhler haumllt darauf daszlig man seinen Begierden und Eitelkeiten schmeichelt Der Kandidat muszlig uumlbertriebene Schmeicheleien anwenden und darf kein Bedenken tragen die phantastischsten Ver- sprechungen zu machen Vor Arbeitern kann man ihre Arbeitgeber nicht genug beleidigen und schmaumlhen Den gegnerischen Bewerber wiederum muszlig man zu vernichten suchen indem man durch Behauptung Wiederholung und Uumlbertragung zu beweisen sucht er sei der aumlrgste Schuft von dem jeder wisse daszlig er etliche Verbrechen begangen habe Selbstredend ist es unnoumltig etwas vorbringen zu wollen was einem Beweis aumlhnelt Ist der Gegner ein schlechter Kenner der Massenpsychologie so wird er sich durch Beweise zu rechtfertigen suchen anstatt auf verleum- derische Behauptungen einfach mit andern ebenso verleum- derischen zu antworten und wird dann keine Aussicht auf Sieg habenDas geschriebene Programm des Kandidaten darf nicht sehr entschieden sein weil seine Gegner es ihm spaumlter ent- gegenhalten koumlnnten aber sein muumlndliches Programm kann nicht uumlbertrieben genug sein Die auszligerordentlichsten Re-

129DIE WAumlHLERMASSEN

formen duumlrfen in Aussicht gestellt werden Fuumlr den Augen- blick erzielen diese Uumlbertreibungen groszlige Wirkung und fuumlr die Zukunft verpflichten sie zu nichts Der Waumlhler kuumlm- mert sich spaumlter tatsaumlchlich nie darum ob der Gewaumlhlte sein Glaubensbekenntnis dem man begeistert zustimmte und das angeblich die Voraussetzung fuumlr das Zustande- kommen der Wahl war auch wirklich befolgt hatWir erkennen hier alle Mittel der Uumlberredung wieder die oben beschrieben wurden Wir werden sie auch in der Wirkung der Worte und R e d e w e n d u n g e n wieder- finden auf deren maumlchtige Herrschaft wir bereits hinge- wiesen haben Der Redner der die Massen zu behandeln weiszlig fuumlhrt sie nach Belieben Ausdruumlcke wie der verderb- liche Kapitalismus die gemeinen Ausbeuter der bewun- dernswerte Arbeiter die Sozialisierung der Besitztuumlmer u a rufen stets die gleiche schon etwas verbrauchte Wir- kung hervor Der Bewerber aber der eine neue Rede- wendung entdeckt die jeder bestimmten Bedeutung er- mangelt und sich daher den verschiedensten Wuumlnschen an- zupassen vermag erzielt unfehlbar Erfolg Die blutige spanische Revolution von 873 kam durch eins jener magi- schen vieldeutigen Worte zustande das jeder nach seiner Weise deuten kann Ein zeitgenoumlssischer Autor hat uumlber ihre Entstehung in so denkwuumlrdiger Weise berichtet daszlig sie wiedergegeben zu werden verdient

bdquoDie Radikalen hatten entdeckt daszlig eine einheitliche Re- publik eine verkappte Monarchie sei und ihnen zu Ge- fallen hatten die Cortes einstimmig die verbuumlndete Repu- blik ausgerufen ohne daszlig auch nur einer der Abstimmen- den haumltte sagen koumlnnen woruumlber abgestimmt wurde Aber diese Redewendung bezauberte die Welt man war wie im Rausch im Delirium Die Herrschaft der Tugend und des Gluumlcks war auf Erden gegruumlndet worden Ein Repu- blikaner dem von seinem Feind die Bezeichnung eines Verbuumlndeten versagt wurde fuumlhlte sich durch einen toumld- lichen Schimpf beleidigt Auf den Straszligen ging man mit den Worten Salud y republica federallsquo aufeinander zu

130 DIE VERSCHIEDENEN ARTEN VON MASSEN

Dann stimmte man der heiligen Zuchtlosigkeit und Selbst- herrlichkeit der Soldaten Lobeshymnen an Was war die verbuumlndete Republiklsquo Die einen verstanden darunter die Gleichberechtigung der Provinzen Einrichtungen nach dem Muster der Vereinigten Staaten oder Aufhebung der ein- heitlichen Verwaltung andre wieder dachten an die Besei- tigung aller Obrigkeit den baldigen Beginn der groszligen sozialen Abrechnung Die Sozialisten in Barcelona und Andalusien predigten die unumschraumlnkte Selbstaumlndigkeit der Gemeinden und forderten die Bildung von zehntausend unabhaumlngigen Gemeinden in Spanien die sich selbst ihre Gesetze geben und gleichzeitig Polizei und Heer aufheben wuumlrden Bald sah man daszlig sich der Aufstand in den suumld- lichen Provinzen von Stadt zu Stadt von Dorf zu Dorf ausbreitete Sobald eine Gemeinde ihr pronunciamentolsquo er- lassen hatte war ihre erste Sorge Telegraphen und Eisen- bahnen zu zerstoumlren um alle Verbindungen mit der Um- gegend und mit Madrid abzuschneiden Der elendeste Flek- ken wollte in seiner eigenen Kuumlche kochen Der Foumlderalis- mus hatte einem rohen mordbrennerischen und moumlrderi- schen Kantonalismus Platz gemacht und uumlberall wurden blutige Saturnalien gefeiertldquoWas den Einfluszlig der logischen Beweisgruumlnde auf den Geist der Waumlhler anbelangt so duumlrfte man nie den Bericht uumlber eine Wahlversammlung gelesen haben um nicht daruumlber im klaren zu sein Man tauscht dort Behauptungen Be- schimpfungen manchmal auch Puumlffe aus doch niemals Gruumlnde Es wird nur dann einen Augenblick ruhig wenn ein wuumlrdiger Teilnehmer umstaumlndlich ankuumlndigt daszlig er an den Kandidaten eine jener verwickelten Fragen richten wolle die die Zuhoumlrer immer sehr belustigen Die Zu- friedenheit der Gegner dauert aber nicht lange denn die Stimme des Vorredners wird bald von dem Geheul seiner Widersacher uumlbertoumlnt Als Schilderung der Grundform oumlffentlicher Versammlungen sind folgende Berichte anzu- sehen die aus hunderten aumlhnlicher herausgegriffen den Tageszeitungen entnommen sind

DIE WAumlHLERMASSEN 131

bdquoNachdem ein Ordner die Anwesenden ersucht hat einen Vorsitzenden zu waumlhlen bricht der Sturm los Die An- archisten stuumlrzen auf den Schauplatz um sich des Redner- pultes im Sturm zu bemaumlchtigen Die Sozialisten vertei- digen ihn energisch man stoumlszligt einander schimpft sich gegenseitig Spion Bestochener und dergleichen hellip ein Buumlr- ger zieht sich mit einem blauen Auge zuruumlck Endlich ist mitten im Tumult so gut es geht der geschaumlfts- fuumlhrende Ausschuszlig eroumlffnet und die Rednerbuumlhne bleibt dem Genossen XDer Redner geht in scharfem Zug gegen die Sozialisten los die ihn unterbrechen und schreien Trottel Bandit Schurkelsquo usw Genosse X beantwortet diese Schimpfnamen durch Darlegung einer Theorie wonach die Sozialisten Idiotenlsquo oder Possenreiszligerlsquo sindldquobdquoDie Allemanistische Partei hatte gestern abend im Saale der Kaufmannschaft in der Rue Faubourg-du-Temple eine groszlige Versammlung fuumlr das Fest der Arbeiterschaft am Mai einberufen hellip Das Losungswort war Stille und RuheGenosse Ghellip bezeichnet die Sozialisten als Trottellsquo und SchwindlerlsquoDiese Worte veranlassen Redner und Zuhoumlrer zu schimp- fen sie geraten ins Handgemenge Stuumlhle Baumlnke Tische spielen ihre Rolle usw uswldquoMan glaube ja nicht diese Art der Auseinandersetzung sei nur einer bestimmten Art von Waumlhlern eigen und ab- haumlngig von ihrer gesellschaftlichen Stellung In jeder be- liebigen Versammlung und bestuumlnde sie auch nur aus aka- demisch Gebildeten nimmt die Auseinandersetzung leicht dieselben Formen an Ich habe gezeigt daszlig die Menschen als Glieder der Masse zur geistigen Angleichung neigen dafuumlr werden wir jederzeit den Beweis finden Als Beleg diene folgender Auszug aus einem Bericht uumlber eine Ver- sammlung die ausschlieszliglich aus Studenten bestand

bdquoJe weiter der Abend vorschritt um so heftiger wurde der Tumult Ich glaube nicht daszlig ein einziger Redner zwei

132 DIE VERSCHIEDENEN ARTEN VON MASSEN

Saumltze ohne Unterbrechung vorbringen konnte Fortwaumlh- rend ertoumlnten Rufe von der einen oder anderen Seite oder von allen Seiten zugleich man klatschte Beifall man pfiff erregte Auseinandersetzungen entspannen sich zwischen ver- schiedenen Anwesenden Stoumlcke wurden drohend geschwun- gen man stampfte im Takt auf den Boden Wuumlstes Geschrei verfolgte die Stoumlrenfriede Hinaus Auf die TribuumlneHerr Chellip uumlberschuumlttet die Vereinigung mit niedertraumlch- tigen und gehaumlssigen Beiwoumlrtern wie ungeheuerlich ge- mein kaumluflich und rachsuumlchtig und erklaumlrt er wolle sie vernichten uswldquoMan konnte sich fragen wie sich unter solchen Bedingun- gen die Meinung eines Waumlhlers bilden kann Aber um eine derartige Frage zu stellen muumlszligte man sich einer erstaun- lichen Taumluschung uumlber den Grad von Freiheit hingeben dessen sich eine Gesamtheit erfreut Die Massen haben nur eingefloumlszligte nie vernuumlnftige Meinungen Diese Meinungen und Abstimmungen der Waumlhler liegen in den Haumlnden der Wahlausschuumlsse deren Fuumlhrer meistens einige Schankwirte sind die groszligen Einfluszlig auf die Arbeiter haben denen sie Kredit gewaumlhren bdquoWissen Sie was ein Wahlausschuszlig istldquoschreibt Scheacuterer einer der eifrigsten Verteidiger der Demo- kratie bdquoganz einfach der Schluumlssel zu unsren Einrichtungen das Hauptstuumlck der politischen Maschinerie Frankreich wird heute von den Ausschuumlssen regiert ldquoEs ist denn auch nicht allzu schwer die zu beeinflussen wenn der Bewerber nur einigermaszligen annehmbar ist und

Die Ausschuumlsse moumlgen sie nun Klubs Syndikate usw heiszligen bilden viel- leicht die furchtbarste Gefahr die uns durch die Macht der Massen droht Sie sind tatsaumlchlich die unpersoumlnlichste und daher druumlckendste Form der Gewalt- herrschaft Die Leiter der Ausschuumlsse die im Namen einer Gesamtheit zu sprechen und zu handeln scheinen sind aller Verantwortung enthoben und koumlnnen sich alles erlauben Der grausamste Tyrann haumltte niemals gewagt von den Verbannungen auch nur zu traumlumen die vom Revolutionsausschuszlig angeordnet wurden Sie hatten den Konvent verkleinert und regelrecht zuge- schnitten sagt Barras Solange er in ihrem Namen sprechen durfte war Ro- bespierre unumschraumlnkter Herr An dem Tage als sich der schreckliche Diktator selbstsuumlchtig von ihnen trennte schlug die Stunde seines Untergangs Herr- schaft der Massen heiszligt Herrschaft der Ausschuumlsse also der Fuumlhrer Einen haumlrteren Despotismus kann man sich nicht vorstellen

DIE WAumlHLERMASSEN 133

uumlber genuumlgende Mittel verfuumlgt Nach dem Eingestaumlndnis der Geldgeber genuumlgten drei Millionen um die vielfache Wahl des General Boulanger durchzusetzen Das ist die Psychologie der Waumlhlermassen Sie ist die gleiche wie die der andern Massen Weder besser noch schlechterIch will denn auch aus dem Vorstehenden keinen Schluszlig gegen das allgemeine Stimmrecht ziehen Haumltte ich uumlber sein Geschick zu entscheiden so wuumlrde ich es so beibe- halten wie es ist und zwar aus praktischen Gruumlnden die sich eben aus unsrer Untersuchung uumlber die Psychologie der Massen ergeben und die ich auseinandersetzen werde wenn ich erst an seine Nachteile erinnert habeDie Nachteile des allgemeinen Stimmrechts fallen ohne Zweifel zu sehr in die Augen als daszlig man sie verkennen koumlnnte Es ist nicht in Abrede zu stellen daszlig die Kulturen das Werk einer kleinen Minderheit uumlberlegener Geister ge- wesen sind diese bilden die Spitze einer Pyramide deren Stufen nach unten gemaumlszlig der Abnahme des geistigen Wer- tes breiter werden und die tieferen Schichten eines Volkes darstellen Die Groumlszlige einer Kultur darf gewiszlig nicht von dem Stimmrecht untergeordneter Elemente abhaumlngen die nichts als eine Zahl bedeuten Ohne Zweifel sind die Ab- stimmungen der Massen recht oft gefaumlhrlich Sie haben uns bereits mehrere Invasionen gekostet und mit dem Triumph des Sozialismus werden uns die Einfaumllle der Volksherr- schaft gewiszlig noch viel teuerer zu stehn kommen hellipAber diese Einwaumlnde die theoretisch tadellos sind buumlszligen fuumlr die Praxis jede Kraft ein wenn man sich der unuumlber- windlichen Macht der Ideen erinnert die in Glaubenssaumltze umgewandelt wurden Der Glaubenssatz von der Herr- schaft der Massen ist vom philosophischen Standpunkt ebensowenig zu verfechten wie die religioumlsen Glaubenssaumltze des Mittelalters aber er hat heute die unumschraumlnkte Macht Daher ist er ebenso unangreifbar wie einst unsere religioumlsen Ideen Man stelle sich einen modernen Freidenker vor der durch eine magische Gewalt ins tiefste Mittelalter versetzt wuumlrde Glaubt man etwa er wuumlrde wenn er die

134 DIE VERSCHIEDENEN ARTEN VON MASSEN

unumschraumlnkte Macht der religioumlsen Ideen die damals herrschten erkannt haumltte versucht haben sie zu bekaumlmp- fen Haumltte er daran gedacht die Existenz des Teufels und den Hexensabbath zu leugnen wenn er in die Haumlnde eines Richters gefallen waumlre der ihn unter der Anschuldigung einen Pakt mit dem Teufel geschlossen und den Hexen- sabbath besucht zu haben verbrennen lassen wollte Gegen die Uumlberzeugungen der Masse streitet man ebensowenig wie gegen Zyklone Der Glaubenssatz des allgemeinen Stimmrechts hat heute die Macht die einst die Lehren des Christentums besaszligen Redner und Schriftsteller sprechen daruumlber mit einer Achtung und mit Schmeicheleien die Ludwig XIV nicht kennengelernt hat Man muszlig ihm dieselbe Beachtung schenken wie allen religioumlsen Dogmen Die Zeit allein wirkt auf sieEs waumlre uumlbrigens um so zweckloser diese Lehre erschuumlttern zu wollen als sie offensichtliche Gruumlnde fuumlr sich hat bdquoIn Zeiten der Gleichheitldquo sagt Tocqueville treffend bdquotraut einer dem andern nicht weil alle einander aumlhnlich sind aber gerade diese Aumlhnlichkeit gibt ihnen ein fast unbe- grenztes Vertrauen in das Urteil der Allgemeinheit Denn es erscheint nicht wahrscheinlich daszlig da alle die gleiche Einsicht haben die Wahrheit nicht auf der Seite der groumlszlig- ten Zahl zu finden sein sollldquoDarf man nun annehmen die Abstimmungen der Massen wuumlrden durch die Beschraumlnkung des Stimmrechts auf die Faumlhigen ndash wenn man will ndash eine Besserung erfahren Ich kann es keinen Augenblick annehmen und zwar aus Gruumln- den die ich oben bereits angefuumlhrt habe und die in der geistigen Bedeutungslosigkeit aller Gesamtheiten liegen wie sie auch immer zusammengesetzt sein moumlgen Ich wieder- hole in der Masse gleichen sich die Menschen stets ein- ander an und die Abstimmung von vierzig Akademikern uumlber allgemeine Fragen gilt nicht mehr als die von vierzig Wassertraumlgern Ich bin ganz und gar uumlberzeugt daszlig keine der Abstimmungen die dem allgemeinen Stimmrecht so oft vorgehalten werden wie etwa die Erneuerung des Kaiser-

DIE WAumlHLERMASSEN 135

tums anders ausgefallen waumlre wenn man die Abstimmen- den ausschlieszliglich aus dem Kreise der Gelehrten und Ge- bildeten genommen haumltte Man erwirbt durch die Kenntnis des Griechischen oder der Mathematik dadurch daszlig man Architekt Tierarzt Arzt oder Advokat ist keine beson- dere Einsicht in Fragen des Gefuumlhls Alle unsere National- oumlkonomen sind gelehrte Leute in der Mehrzahl Profes- soren und Akademiker Gibt es nun eine einzige allgemeine Frage wie z B das Schutzzollsystem in der sie uumlberein- stimmten Vor den sozialen Fragen die voll sind von vielfachen Unbekannten und der Geheim- und Gefuumlhls- logik unterliegen gleichen sich alle Unwissenheiten ausWenn also auch nur von Gelehrsamkeit strotzende Waumlhler den Wahlkoumlrper bildeten so wuumlrden ihre Abstimmungen doch nicht besser sein als die von heute Sie wuumlrden sich vor allem durch ihre Gefuumlhle und ihren Parteigeist leiten lassen Wir haumltten nicht eine Schwierigkeit weniger als jetzt und obendrein die harte Tyrannei der KastenOb nun das Wahlrecht beschraumlnkt oder allgemein ist ob es in einem republikanischen oder in einem monarchischen Lande herrscht ob es in Frankreich Belgien Griechenland Portugal oder Spanien gilt uumlberall ist das Wahlrecht der Massen aumlhnlich und gibt oft die unbewuszligten Anspruumlche und Beduumlrfnisse der Rasse wieder Der Durchschnitt der Gewaumlhlten stellt fuumlr jedes Volk die Durchschnittsseele seiner Rasse dar die von einer Generation zu andern so ziemlich die gleiche bleibtUnd so kommen wir wiederum auf diesen Grundbegriff der Rasse zuruumlck dem wir schon so oft begegnet sind und auf den anderen daraus abzuleitenden Gedanken daszlig im Voumllkerleben die Einrichtungen und Regierungsformen nur eine sehr unwesentliche Rolle spielen Die Voumllker werden vor allem durch die Rassenseele geleitet d h durch die Ansammlung von Erbmasse deren Summe diese Seele bildet Die Rasse und das Getriebe der taumlglichen Beduumlrf- nisse das sind die geheimnisvollen Maumlchte die unsere Ge- schicke lenken

136 DIE VERSCHIEDENEN ARTEN VON MASSEN

5 KAPITEL

Die Parlamentsversammlungen

Die Parlamentsversammlungen gehoumlren zu den ungleich- artigen nicht namenlosen Massen Obwohl ihre Zusam- mensetzung je nach Zeiten und Voumllkern wechselt gleichen sie einander durch ihre Charaktermerkmale doch sehr Der Rasseneinfluszlig macht sich hier wohl in einer Milderung oder Verstaumlrkung bemerkbar verhindert das Heraustreten dieser Charakterzuumlge jedoch nicht Die Parlamentsver- sammlungen der verschiedenen Laumlnder wie Griechenland Italien Portugal Spanien Frankreich und Amerika wei- sen groszlige Aumlhnlichkeit in ihren Verhandlungen und Ab- stimmungen auf und uumlberlassen die Regierungen dem Kampf mit den gleichen SchwierigkeitenDie parlamentarische Regierung faszligt uumlbrigens das Ideal aller modernen Kulturvoumllker in sich zusammen Es bringt den psychologisch falschen aber allgemein anerkannten Gedanken zum Ausdruck daszlig eine Vereinigung von vie- len Menschen im gegebenen Falle faumlhiger ist eine kluge und unabhaumlngige Entscheidung zu treffen als eine kleine AnzahlIn den Parlamentsversammlungen finden sich die Grund- merkmale der Massen wieder Einseitigkeit der Ideen Erregbarkeit Beeinf luszligbarkeit Uumlberschwenglichkeit der Gefuumlhle uumlberwiegender Einfluszlig der Fuumlhrer Aber infolge ihrer besonderen Zusammensetzung weisen die parlamen- tarischen Massen einige Unterschiede auf Wir werden sie sogleich feststellenDie Einseitigkeit der Anschauungen gehoumlrt zu den aus- gepraumlgtesten Merkmalen dieser Versammlungen Man trifft bei allen Parteien namentlich der lateinischen Voumllker die unveraumlnderliche Neigung die verwickeltsten sozialen Fra- gen durch die einfachsten begrifflichen Grundsaumltze und durch allgemeine Gesetze zu loumlsen die in jedem Falle an- gewandt werden koumlnnen

Natuumlrlich sind die Grundsaumltze bei jeder Partei verschie-den aber allein durch die Tatsache ihrer Vereinigung zu Massen haben die einzelnen stets die Neigung den Wert dieser Grundsaumltze zu uumlberschaumltzen und sie zu den aumluszliger- sten Folgerungen zu treiben Uumlbrigens vertreten die Parla- mente hauptsaumlchlich die aumluszligersten AnsichtenDer vollkommenste Typus der Einseitigkeit der Versamm- lungen wurde durch die Jakobiner der groszligen Franzoumlsi- schen Revolution verwirklicht Da sie alle Dogmatiker und Logiker waren die den Kopf voll verschwommener Ge- meinplaumltze hatten bemuumlhten sie sich unbekuumlmmert um die Tatsachen feste Grundsaumltze anzuwenden und man hat mit Recht behauptet sie haumltten die Revolution erlebt ohne sie zu sehen Sie bildeten sich ein mit einigen Glau- benssaumltzen eine Gesellschaft von Grund auf umgestalten und eine verfeinerte Kultur auf eine laumlngst uumlberschrittene Stufe der gesellschaftlichen Entwicklung zuruumlckbringen zu koumlnnen Die gleiche voumlllige Einseitigkeit praumlgt sich auch in den Mitteln aus die sie zur Verwirklichung ihres Trau- mes anwandten In Wirklichkeit beschraumlnkten sie sich auf die gewaltsame Zerstoumlrung dessen was sie stoumlrte Uumlbrigens beseelte alle Girondisten Bergpartei Thermidorianer usw derselbe GeistDie parlamentarischen Massen sind Einfluumlssen sehr zugaumlng- lich und die Suggestion geht hier wie bei den uumlbrigen Massen von Fuumlhrern aus die ein Nimbus umgibt Doch hat in den Parlamentsversammlungen die Beeinflussung sehr klare Grenzen die wir abstecken muumlssenUumlber alle Fragen lokalen Interesses hat jedes Mitglied einer Versammlung feste unverruumlckbare Ansichten die durch kein Beweismittel zu erschuumlttern sind Nicht einmal das Talent eines Demosthenes koumlnnte die Abstimmung eines Abgeordneten uumlber Fragen des Schutzzollsystems oder das Branntweinprivileg aumlndern ndash worin sich die Forde- rungen einfluszligreicher Waumlhler aumluszligern Die vorangegangene Beeinflussung durch die Waumlhler hat solches Uumlbergewicht

138 DIE VERSCHIEDENEN ARTEN VON MASSEN

daszlig alle andern Einfluumlsse aufgehoben sind und eine unbe- dingte Festigkeit der Meinung aufrechterhalten wird In allgemeinen Fragen aber dem Sturz eines Ministeriums der Auflage einer neuen Steuer usw bestehen keine fest- gelegten Meinungen und die Suggestionen koumlnnen sich auswirken wenn auch nicht ganz so stark wie in einer gewoumlhnlichen Masse Jede Partei hat ihre Fuumlhrer die bis- weilen gleichstarken Einf luszlig ausuumlben Der Abgeordnete befindet sich also zwischen entgegengesetzten Einfluumlssen und es kann nicht ausbleiben daszlig er unsicher wird Daher sieht man ihn zuweilen schon nach einer Viertelstunde in entgegengesetztem Sinne abstimmen und einem Gesetz einen Zusatz beifuumlgen der es aufhebt etwa den Industriellen das Recht der Auswahl und der Entlassung ihrer Arbeiter neh- men und dann diese Maszlignahmen durch einen Zusatz so ziemlich wieder fuumlr unguumlltig erklaumlrenDaher zeigt eine Kammer in jeder Legislaturperiode neben sehr festen Anschauungen andere ganz unbestimmte Da aber im Grunde die allgemeinen Fragen die meisten sind so herrscht Unentschiedenheit vor die durch die staumlndige Furcht vor dem Waumlhler genaumlhrt wird dessen verborgener Einfluszlig dem der Fuumlhrer stets das Gegengewicht zu halten weiszligUnd doch sind in den Auseinandersetzungen wenn die Teilnehmer nicht von vornherein festgelegte Meinungen haben die Fuumlhrer die eigentlichen HerrenFuumlhrer sind offenbar notwendig denn man findet sie als Parteihaumlupter in allen Laumlndern Sie sind die wahren Herren der Versammlungen Die Menschen die in den Massen vereinigt sind wuumlrden ohne Fuumlhrer nicht fertig werden und so zeigen die Abstimmungen im allgemeinen nur die Anschauungen einer kleinen MinderheitIch wiederhole die Fuumlhrer wirken nur sehr wenig durch Auf diese schon im voraus durch die Beduumlrfnisse der Waumlhler festgelegten Ansichten bezieht sich offenbar folgende Bemerkung eines alten englischen Parlamentariers bdquoIn den fuumlnfzig Jahren meiner Anwesenheit in Westminster habe ich Tausende von Reden gehoumlrt und nur wenige haben meine Ansichten veraumlndert aber nicht eine einzige hat auf meine Abstimmung Einfluszlig gehabtldquo

DIE PARLAMENTSVERSAMMLUNGEN 139

ihre Beweisgruumlnde sehr stark aber durch ihren Nimbus Wenn irgendein Umstand ihn aufhebt verlieren sie jeden EinfluszligDieser Fuumlhrernimbus ist persoumlnlich und hat nichts mit Namen und Beruumlhmtheit zu tun Jules Simon gibt uns recht eigenartige Beispiele dafuumlr wenn er uumlber die groszligen Maumlnner der Versammlung von 848 der er beiwohnte sagt

bdquoNoch zwei Monate vor seiner Allgewalt war Louis Na- poleon nichtsVictor Hugo bestieg die Rednertribuumlne Aber er hatte keinen Erfolg Man houmlrte ihn an wie man Felix Pyat anhoumlrte aber er hatte nicht den gleichen Beifall Ich liebe seine Ideen nichtlsquo sagte mir Vaulabelle uumlber Felix Pyat aber er ist einer der groumlszligten Schriftsteller und der groumlszligte Redner Frankreichslsquo Der seltene und maumlchtige Geist eines Edgar Quinet galt nichts Er hatte seinen volkstuumlmlichen Augenblick vor Eroumlffnung der Versammlung gehabt in der Versammlung kam er nicht aufDie politischen Versammlungen sind die Staumltten der Welt wo der Glanz des Genies am wenigsten zur Geltung kommt Man rechnet hier nur mit einer Beredsamkeit die der Zeit und dem Ort angepaszligt ist und mit Diensten die man den Parteien erwiesen hat nicht dem Vaterland Damit Lamartine 848 und Thiers 87 zur Anerkennung gelangten bedurfte es der dringenden unabweisbaren Wichtigkeit als treibender Kraft Als die Gefahr voruumlber war verschwand mit der Furcht auch die DankbarkeitldquoIch habe die Stelle nur der Tatsachen wegen wiedergege- ben die sie enthaumllt nicht wegen der versuchten Erklaumlrun- gen sie zeigen nur eine mittelmaumlszligige Psychologie Eine Masse wuumlrde ihren Charakter als Masse ja sogleich ver- lieren wenn sie den Fuumlhrern ihre Dienste moumlgen sie nun dem Vaterland oder der Partei geleistet worden sein in Anrechnung braumlchte Die Masse unterliegt dem Nimbus des Fuumlhrers ohne daszlig ein Gefuumlhl des Vorteils oder der Dankbarkeit dabei mitspielt

140 DIE VERSCHIEDENEN ARTEN VON MASSEN

Der Fuumlhrer der uumlber genuumlgend Nimbus verfuumlgt besitzt denn auch eine fast unumschraumlnkte Macht Man kennt die ungeheure Wirkung die ein beruumlhmter Abgeordneter dank seines Nimbus den er dann infolge gewisser finanzieller Vorkommnisse augenblicklich einbuumlszligte jahrelang ausgeuumlbt hat Auf ein bloszliges Zeichen von ihm wurden Minister ge- stuumlrzt Ein Schriftsteller hat in folgenden Zeilen die Trag- weite seines Wirkens klar gezeichnet

bdquoHerrn Chellip besonders verdanken wir es daszlig wir Ton- king dreimal so teuer erkaufen muszligten als es haumltte sein duumlrfen daszlig wir auf Madagaskar nur eine unsichere Stel- lung gewonnen haben daszlig wir uns ein ganzes Reich am unteren Niger rauben lieszligen daszlig wir in Aumlgypten unsere Vorherrschaft eingebuumlszligt haben ndash Die Theorien von Herrn Chellip haben uns mehr Gebiet gekostet als die Nie- derlagen Napoleons IldquoWir duumlrfen dem Fuumlhrer deswegen nicht zu sehr zuumlrnen Gewiszlig ist es uns teuer zu stehen gekommen aber ein gro- szliger Teil seines Einflusses hing mit seiner Anschmiegung an die oumlffentliche Meinung zusammen die in kolonialen Fra- gen keineswegs die von heute war Selten schreitet ein Fuumlhrer der oumlffentlichen Meinung voran fast immer be- gnuumlgt er sich damit ihre Irrtuumlmer anzunehmenDie Uuml b e r r e du n g s m i t t e l der Fuumlhrer sind abgesehen von ihrem Nimbus die Faktoren die wir schon wieder- holt aufgezaumlhlt haben Um sie geschickt zu handhaben muszlig der Fuumlhrer wenigstens unbewuszligt die Psychologie der Massen erfaszligt haben und wissen wie man zu ihnen zu sprechen hat Vor allem muszlig er den bezaubernden Ein- fluszlig der Worte Redewendungen und Bilder kennen Er muszlig eine besondere Beredsamkeit besitzen die aus ener- gischen Behauptungen die nicht zu beweisen sind und eindrucksvollen von ganz allgemeinen Urteilen umrahm- ten Bildern zusammengesetzt ist Diese Art Beredsamkeit findet man in allen Versammlungen das englische Parla- ment das ausgeglichenste von allen inbegriffen

bdquoWir koumlnnen bestaumlndig die Verhandlungen im Unterhause

DIE PARLAMENTSVERSAMMLUNGEN 141

verfolgenldquo bemerkt der englische Philosoph Maine bdquowo alle Verhandlungen im Austausch recht schwacher Gemein- plaumltze und grober Anzuumlglichkeiten bestehn Auf die Ein- bildungskraft einer reinen Demokratie uumlbt diese Art allge- meiner Redensarten eine erstaunliche Wirkung aus Es wird immer leicht zu erreichen sein daszlig eine Masse allge- meinen Versicherungen zustimmt die mit packenden Wor- ten vorgebracht werden obwohl sie sich nie bewahrheitet haben und ihre Verwirklichung vielleicht gar nicht moumlg- lich istldquoWie die angefuumlhrte Stelle zeigt kann die Bedeutung der bdquoSchlagworteldquo gar nicht uumlberschaumltzt werden Schon oumlfter haben wir die besondere Macht der Worte und Redewen- dungen betont die so gewaumlhlt wurden daszlig sie nur recht lebhafte Bilder hervorrufen Folgender Satz aus der Rede eines Fuumlhrers in Versammlungen gibt uns eine ausreichende Probe davon

bdquoAn dem Tage da einmal dasselbe Schiff den unlauteren Politiker und den moumlrderischen Anarchisten nach den Fiebergebieten der Verbannung bringt werden sie sich mit- einander unterhalten koumlnnen und werden sich gegenseitig als die beiden komplementaumlren Seiten derselben Gesell- schaftsordnung erscheinenldquoDas so hervorgerufene Bild ist klar und treffend und alle Gegner des Redners fuumlhlen sich dadurch getroffen Sie sehen mit einemmal die Fiebergebiete das Fahrzeug das sie hinfuumlhren koumlnnte denn gehoumlren sie nicht vielleicht zu der recht unbestimmt abgegrenzten Klasse der bedrohten Politiker Es befaumlllt sie also die gleiche dumpfe Furcht wie sie die Konventsmitglieder empfunden haben muumlssen die durch die unbestimmten Reden Robespierres mehr oder weniger mit der Guillotine bedroht wurden und ihm unter dem Druck dieser Furcht stets nachgabenDie Fuumlhrer neigen alle dazu in die unwahrscheinlichsten Uumlbertreibungen zu verfallen Der Redner von dem ich soeben einen Satz anfuumlhrte konnte ohne groszligen Protest hervorzurufen behaupten daszlig die Bankiers und Priester

142 DIE VERSCHIEDENEN ARTEN VON MASSEN

Bombenwerfer bezahlten und die Verwaltungsraumlte der groszligen Finanzgesellschaften die gleiche Strafe verdienten wie die Anarchisten Auf die Massen wirken solche Mittel immer Die Behauptung ist nie zu stark der Ton nie zu drohend Nichts schuumlchtert die Zuhoumlrer mehr ein Durch Widerspruch fuumlrchten sie fuumlr Verraumlter oder Mitschuldige zu geltenDiese besondere Beredsamkeit hat wie gesagt stets alle Versammlungen beherrscht in kritischen Zeiten ist sie nur ausgepraumlgter In dieser Hinsicht ist es interessant die Re- den der groszligen Revolutionsredner zu lesen Sie fuumlhlten sich verpflichtet sich alle Augenblicke zu unterbrechen um das Verbrechen zu verdammen und die Tugend zu preisen dann brachen sie in Verwuumlnschungen gegen die Tyrannen aus und schwuren frei leben oder sterben zu wollen Die Anwesenden erhoben sich klatschten stuumlrmisch Beifall und lieszligen sich dann beruhigt wieder niederZuweilen gibt es einen intelligenten und gebildeten Fuumlh- rer doch das schadet ihm in der Regel mehr als es ihm nuumltzt Die Intelligenz die die Verbundenheit aller Dinge erkennt die Verstehen und Erklaumlren ermoumlglicht macht nachgiebig und vermindert die Kraft und Gewalt der Uumlberzeugungen erheblich die die Apostel noumltig haben Die groszligen Fuumlhrer aller Zeiten die der Revolution hauptsaumlch- lich waren sehr beschraumlnkt und haben deshalb den groumlszlig- ten Einfluszlig ausgeuumlbtDie Reden des beruumlhmtesten unter ihnen Robespierre ver- bluumlffen oft durch ihre Zusammenhanglosigkeit Wenn man sie liest findet man keine annehmbare Erklaumlrung fuumlr die ungeheure Rolle des maumlchtigen Diktators

bdquoGemeinplaumltze und Weitschweifigkeiten paumldagogischer Be- redsamkeit und lateinischer Bildung im Dienste einer eher kindlichen als platten Seele die sich beim Angriff wie bei der Verteidigung auf das komm doch ranlsquo von Schuumllern zu beschraumlnken scheint Nicht ein Gedanke keine Wen- dung kein Einfall ndash es ist die Langeweile in houmlchster Stei- gerung Man houmlrt verdrieszliglich auf zu lesen und hat Lust

DIE PARLAMENTSVERSAMMLUNGEN 143

mit dem liebenswuumlrdigen Camille Desmoulins achlsquo zu seufzenldquoMan erschrickt wenn man bedenkt welche Macht ein Mann der sich mit einem Nimbus zu umgeben weiszlig durch die Verbindung von starker Uumlberzeugung mit auszligerge- woumlhnlicher Beschraumlnktheit des Geistes erlangt Das sind jedoch die notwendigen Vorbedingungen um die Hinder- nisse zu uumlbersehen und um wollen zu koumlnnen Instinktiv erkennen die Massen in diesen kraftvoll Uumlberzeugten die Gebieter die sie brauchenDer Erfolg einer Rede in einer Parlamentsversammlung haumlngt fast ausschlieszliglich vom Nimbus des Redners ab keineswegs von den Gruumlnden die er vorbringtDer unbekannte Redner dessen Rede gute Beweisgruumlnde aber nur Beweisgruumlnde enthaumllt hat keine Aussicht auch nur angehoumlrt zu werden Ein ehemaliger Abgeordneter Herr Descubes hat das Bild des einfluszliglosen Abgeordneten in folgenden Zeilen entworfen

bdquoSobald er die Rednerbuumlhne bestiegen hat nimmt er aus seiner Mappe einen Aktenstoszlig den er planmaumlszligig vor sich ausbreitet und beginnt voll ZuversichtEr schmeichelt sich die Uumlberzeugung die ihn beseelt auf die Gemuumlter der Houmlrer uumlbertragen zu koumlnnen Er hat seine Beweisgruumlnde erwogen steckt uumlbervoll von Zahlen und Beweisen und ist uumlberzeugt recht zu haben Jeder Widerstand wird vor der Klarheit seiner Darlegungen schwinden Er beginnt im Vertrauen auf sein gutes Recht und die Aufmerksamkeit seiner Kollegen die gewiszlig nichts mehr wuumlnschen als sich vor der Wahrheit beugen zu duumlrfenEr spricht ndash und sofort wundert er sich uumlber die Bewe- gung im Saale und den Laumlrm der so entsteht er ist uumlber- rascht und etwas aufgeregtWarum wird es nicht ruhig Weshalb diese allgemeine Un- aufmerksamkeit Was denken denn die die sich miteinan- der unterhalten Welch dringender Grund veranlaszligt einen andern seinen Platz zu verlassen

144 DIE VERSCHIEDENEN ARTEN VON MASSEN

Auf seinem Gesicht zeigt sich Unruhe er runzelt die Stirn haumllt inne Durch den Vorsitzenden ermutigt faumlhrt er mit erhobener Stimme fort Dieselbe Unaufmerksamkeit Er uumlberanstrengt seine Stimme wird unruhig der Laumlrm um ihn herum steigert sich Er houmlrt sich selbst nicht mehr haumllt wieder inne dann spricht er so gut es geht weiter aus Furcht sein Stillschweigen koumlnne den peinlichen Ruf Schluszliglsquo heraufbeschwoumlren Der Laumlrm wird unertraumlglichldquo

In einem gewissen Grade der Erregung gleichen die Parla- mentsversammlungen voumlllig den gewoumlhnlichen ungleich- artigen Massen und ihre Gefuumlhle weisen folglich die Eigentuumlmlichkeit auf stets uumlberschwenglicher Art zu sein Sie lassen sich dann zu den groumlszligten Heldentaten oder zu den aumlrgsten Ausschreitungen hinreiszligen Der einzelne houmlrt auf er selbst zu sein und wird fuumlr Maszlignahmen stimmen die seinen persoumlnlichen Vorteilen ganz entgegengesetzt sindDie Geschichte der Revolution zeigt in welchem Maszlige die Versammlungen unbewuszligt werden und Beeinflussungen unterworfen sein koumlnnen die ihren Vorteilen ganz wider- sprechen Es war fuumlr den Adel ein ungeheures Opfer auf seine Vorrechte zu verzichten und doch geschah es in jener beruumlhmten Nacht der Konstituante Der Verzicht auf ihre Unverletzlichkeit bedeutete fuumlr die Konventsmitglieder eine staumlndige Todesdrohung und doch leisteten sie ihn und fuumlrchteten nicht einander gegenseitig zu dezimieren ob- wohl sie genau wuszligten daszlig das Schafott dem heute ihre Kollegen zugefuumlhrt wurden morgen ihnen selbst bevor- stand Aber da sie jenen Grad von Automatismus erreicht hatten den ich geschildert habe konnte kein Bedenken sie hindern sich den Einfluumlssen hinzugeben die sie be- zwangen Folgende Stelle aus den Erinnerungen Billaud- Varennes der zu ihnen gehoumlrt ist in dieser Hinsicht durch- aus allgemeinguumlltig bdquoDie Entscheidungen die man uns so sehr vorwirft wollten wir noch zwei ja einen Tag vorher meistens selbst nicht die Krise allein rief sie hervorldquo Nichts ist zutreffender

DIE PARLAMENTSVERSAMMLUNGEN 145

Dieselben Erscheinungen des Unbewuszligten traten waumlhrend aller stuumlrmischen Sitzungen des Konvents auf

bdquoSie billigen und beschlieszligen was sie verabscheuenldquo sagt Taine bdquonicht allein Dummheiten und Torheiten auch Ver- brechen Ermordung Unschuldiger Freundesmord Ein- muumltig und unter dem lebhaftesten Beifall schicken die Linke und die Rechte vereint Danton ihr natuumlrliches Oberhaupt den groumlszligten Foumlrderer und Fuumlhrer der Revo- lution aufs Schafott Einmuumltig und unter groumlszligtem Beifall stimmt die Rechte mit der Linken vereint fuumlr die aumlrgsten Beschluumlsse der revolutionaumlren Regierung Einmuumltig und unter Rufen der Bewunderung und Begeisterung unter leidenschaftlichen Zustimmungskundgebungen fuumlr Collot drsquoHerbois Couthon Robespierre haumllt der Konvent durch unvorbereitete vielfache Wiederwahl die moumlrderische Re- gierung aufrecht obwohl die Zentrumspartei sie wegen ihrer Mordtaten haszligt und die Bergpartei sie verabscheut weil ihre Reihen durch sie gelichtet werden Zentrum und Berg Mehr- und Minderheit enden damit ihren eignen Selbstmord zu foumlrdern Am 22 Prairial hat sich der ganze Konvent ergeben am 8 Thermidor waumlhrend der ersten Viertelstunde nach der Rede Robespierres abermalsldquoDas Bild mag duumlster erscheinen dennoch ist es wahrheits- getreu Die genuumlgend erregten und beeinf luszligten Parla- mentsversammlungen weisen dieselben Kennzeichen auf Sie werden zur beweglichen Herde die jedem Antrieb ge- horcht Folgende Schilderung der Versammlung von 848 die wir dem Parlamentarier Spuller verdanken dessen demokratische Gesinnung nicht angezweifelt werden kann ist ganz allgemeinguumlltig ich entnehme sie der bdquoRevue liteacuteraireldquo Man findet darin all die uumlberschwenglichen Ge- fuumlhle der Massen die ich beschrieben habe und die auszliger- ordentliche Beweglichkeit die imstande ist von einem Augenblick zum andern die Stufenleiter verschiedenster Gefuumlhle zu durchlaufen

bdquoZwietracht Eifersucht und Argwohn im Wechsel mit blindem Vertrauen und schrankenlosen Hoffnungen haben

146 DIE VERSCHIEDENEN ARTEN VON MASSEN

die Republikanische Partei ins Verderben gefuumlhrt Ihre Ahnungslosigkeit kann nur mit ihrem Miszligtrauen gegen alles verglichen werden Kein Sinn fuumlr Gesetzlichkeit kein Geist der Ordnung nur Furcht und Illusionen ohne Maszlig Bauer und Kind sind darin gleich Ihre Ruhe wetteifert mit ihrer Ungeduld Ihre Wildheit ist ebenso groszlig wie ihre Folgsamkeit Das ist die Eigentuumlmlichkeit eines un- reifen Temperaments und des Mangels an Erziehung Nichts setzt sie in Erstaunen alles verwirrt sie Zitternd feige und zugleich unverzagt und heldenhaft werden sie sich in die Flammen werfen und doch vor einem Schatten zuruumlckweichenWirkungen und Beziehungen der Dinge sind ihnen unbe- kannt Ebenso schnell entmutigt wie erregt sind sie allen Schrecken ausgesetzt entweder himmelhoch jauchzend oder zu Tode betruumlbt und haben nie den noumltigen Grad und das passende Maszlig Beweglicher als das Wasser spiegeln sie alle Farben wider und nehmen alle Formen an Auf wel- cher Grundlage muumlszligte sich eine Regierung aufbauen von der man hoffen koumlnnte daszlig sie bei ihnen festen Fuszlig fas- sen wuumlrdeldquoZum Gluumlck aumluszligern sich die Eigenschaften die wir schilder- ten nicht staumlndig in den Parlamentsversammlungen Diese sind nur in gewissen Augenblicken Massen In vielen Faumlllen bewahren die einzelnen die ihnen angehoumlren ihre Eigen- art und daher kann auch eine Versammlung vorzuumlgliche sachgemaumlszlige Gesetze ausarbeiten Allerdings sind diese Ge- setze von einem Fachmann im stillen Arbeitszimmer ent- worfen und das angenommene Gesetz ist in Wahrheit das Werk eines einzelnen Nur die Fachleute bewahren die Versammlungen vor allzu sinnlosen unerprobten Maszlig- nahmen Sie werden dann voruumlbergehend Fuumlhrer die Ver- sammlung wirkt nicht auf sie sondern sie wirken auf die VersammlungTrotz aller Schwierigkeiten ihrer Arbeitsweise bilden die Parlamentsversammlungen die beste Regierungsform die die Voumllker bisher gefunden haben um sich vor allem moumlg-

DIE PARLAMENTSVERSAMMLUNGEN 147

lichst aus dem Joch persoumlnlicher Tyrannei zu befreien Sie sind jedenfalls das Ideal einer Regierung wenigstens fuumlr Philosophen Denker Schriftsteller Kuumlnstler und Gelehrte kurz fuumlr alle die den Gipfel einer Kultur bildenSie bergen eigentlich nur zwei ernstliche Gefahren in sich die uumlbermaumlszligige Verschwendung der Finanzen und die zu- nehmende Beschraumlnkung der persoumlnlichen Freiheit Die erste Gefahr ist die notwendige Folge der Anspruumlche und der Kurzsichtigkeit der Waumlhlermassen Wenn ein Parla- mentsmitglied einen Antrag stellt der offensichtlich demo- kratischen Anschauungen entspricht z B auf Altersver- sorgung aller Arbeiter oder Gehaltszulage fuumlr Bahnwaumlrter Lehrer usw so wagen die andern Abgeordneten aus Furcht vor den Waumlhlern nicht sich den Anschein zu geben als ob sie deren Vorteile durch Ablehnung der vorgeschlagenen Maszlignahme geringschaumltzten Sie wissen wohl daszlig dadurch der Staatshaushalt stark belastet und die Auflegung neuer Steuern noumltig werden wird Doch bei der Abstimmung gibt es kein Zoumlgern Waumlhrend die Folgen der Ausgaben- vermehrung in weiter Ferne liegen und fuumlr sie keine unan- genehmen Wirkungen haben koumlnnten sich die Folgen einer ablehnenden Abstimmung schon am naumlchsten Tage wenn sie vor die Waumlhler treten muumlssen bemerkbar machenAn diese erste Ursache fuumlr die Uumlberspannung der Aus- gaben reiht sich eine andre nicht weniger gebieterische die Verpflichtung alle Ausgaben fuumlr rein oumlrtliche Beduumlrf- nisse zu bewilligen Kein Abgeordneter kann sich ihnen widersetzen weil sie ebenfalls Forderungen der Waumlhler darstellen und weil jeder Abgeordnete nur dann das Nouml- tige fuumlr seinen Wahlkreis erlangen kann wenn er den ent- sprechenden Forderungen seiner Kollegen zustimmt Die Die Zeitschrift bdquoLrsquoEconomisteldquo gab in ihrer Nummer vom 6 April 895 einen seltsamen Uumlberblick uumlber die Jahresunkosten die die Interessen der Waumlhler verursachen besonders die Eisenbahnen Um Langayes (Stadt von 3 000 Einwohnern) die auf einem Berge liegt mit Puy zu verbinden be- willigte man eine Bahn die 5 Millionen kostete Um Beaumont (3 500 Ein- wohner) mit Castel-Sarrazin zu verbinden bewilligte man 7 Millionen Die Verbindung des Dorfes Oust (523 Einwohner) mit dem Dorfe Seix ( 200 Ein- wohner) kostete 7 Millionen Um Prades mit dem Marktflecken Olette (747

DIE VERSCHIEDENEN ARTEN VON MASSEN148

zweite der oben erwaumlhnten Gefahren die unvermeidliche Beschraumlnkung der Freiheit durch die Parlamente ist zwar weniger sichtbar aber doch Tatsache Sie ist eine Folge der zahllosen stets einschraumlnkenden Gesetze deren Auswir- kungen die kurzsichtigen Parlamente nicht bemerken und fuumlr die zu stimmen sie sich verpflichtet fuumlhlenDiese Gefahr muszlig wohl unvermeidlich sein denn selbst England wo sich gewiszlig die vollkommenste Art der parla- mentarischen Regierung zeigt und der Abgeordnete am unabhaumlngigsten vom Waumlhler ist vermochte ihr nicht zu entgehen Herbert Spencer hatte in einer fruumlheren Arbeit gezeigt daszlig die Zunahme der scheinbaren die Abnahme der wirklichen Freiheit zur Folge haben muumlsse In einer spaumlteren Schrift bdquoDer Einzelne gegen den Staatldquo nimmt er diese Behauptung wieder auf und sagt uumlber das eng- lische Parlament folgendes

bdquoSeit dieser Zeit hat die Gesetzgebung den Lauf genom- men den ich voraussagte Diktatorische Maszlignahmen die sich rasch vervielfachten haben das staumlndige Bestreben die persoumlnliche Freiheit zu beschraumlnken und zwar in zwei- facher Weise jedes Jahr wird eine immer groumlszligere Anzahl gesetzlicher Forderungen erlassen die der fruumlheren Hand- lungsfreiheit des Buumlrgers Beschraumlnkung auferlegen und ihn zu Handlungen zwingen die er fruumlher nach Belieben be-

Einwohner) zu verbinden gab man 6 Millionen usw Allein das Jahr 895 verbrauchte 90 Millionen fuumlr Eisenbahnschienen fuumlr die nicht das geringste allgemeine Interesse vorhanden ist Andere Ausgaben die ebenfalls Waumlhler- beduumlrfnissen entspringen sind nicht weniger schwerwiegend Das Gesetz uumlber die Altersversorgung der Arbeiter wird nach Aussage des Finanzministers im Jahre die Mindestsumme von 65 Millionen nach Leroy-Beaulieu von der Akademie 800 Millionen kosten Das ununterbrochene Anwachsen solcher Aus- gaben muszlig notwendigerweise zum Bankrott fuumlhren Viele Staaten Europas Portugal Griechenland Spanien die Tuumlrkei sind dabei angelangt andere werden bald soweit sein Aber man braucht sich nicht viel darum zu kuumlm- mern da das Publikum ohne groszligen Widerspruch nach und nach die Kuumlrzung von vier Fuumlnfteln aller Zinszahlungen der verschiedenen Laumlnder angenommen hat Derartige sinnreiche Bankrotte machen es also moumlglich die gefaumlhrdeten Haushaltplaumlne wieder ins Gleichgewicht zu bringen Die Kriege der Sozialis- mus die wirtschaftlichen Kaumlmpfe werden uns uumlbrigens noch genug andre Katastrophen bringen und in einer Zeit allgemeinen Zerfalls muszlig man sich damit begnuumlgen in den Tag hineinzuleben ohne allzusehr an das Morgen zu denken das sich unsrer Macht entzieht

DIE PARLAMENTSVERSAMMLUNGEN 149

gehen oder unterlassen konnte Gleichzeitig haben immer druumlckendere Lasten besonders oumlrtliche Abgaben von vorn- herein die Freiheit beschraumlnkt indem sie den Teil seines Einkommens den er nach Belieben ausgeben konnte ver- minderten und den Teil vergroumlszligerten der ihm weggenom- men wurde um je nach dem guten Willen der Beamten ausgegeben zu werdenldquoDiese immer mehr zunehmende Freiheitsbeschraumlnkung zeigt sich in allen Laumlndern in einer besonderen Weise auf die Spencer nicht hingewiesen hat Die Schaffung jener un- zaumlhligen gesetzlichen Maszlignahmen allgemeinbeschraumlnkender Art fuumlhrt notwendig zur Erhoumlhung der Zahl der Macht und des Einflusses der Beamten die mit ihrer Durchfuumlh- rung beauftragt werden Sie haben also alle Aussicht die wahren Gebieter der Kulturlaumlnder zu werden Ihre Macht ist um so groumlszliger als nur die Beamtenkaste als einzige die unverantwortlich unpersoumlnlich und auf Lebenszeit ange- stellt ist dem unaufhoumlrlichen Machtwechsel entgeht Nun gibt es aber keine Gewaltherrschaft die haumlrter ist als diese die in dieser dreifachen Gestalt auftrittDie fortwaumlhrende Schaffung von Gesetzen und Beschraumln- kungsmaszlignahmen die die unbedeutendsten Lebensaumluszlige- rungen mit byzantinischen Foumlrmlichkeiten umgeben hat das verhaumlngnisvolle Ergebnis den Bereich in dem sich der Buumlrger frei bewegen kann immer mehr einzuengen Als Opfer des Irrtums daszlig durch Vermehrung der Gesetze Freiheit und Gleichheit besser gesichert wuumlrden nehmen die Voumllker nur druumlckendere Fesseln auf sichSie nehmen sie nicht ungestraft auf sich Gewohnt jedes Joch zu tragen kommen sie schlieszliglich dahin es aufzu- suchen und buumlszligen zuletzt alle Urspruumlnglichkeit und Kraft ein Sie sind nur noch wesenlose Schatten Automaten willenlos ohne Widerstand und KraftWenn der Mensch in sich selbst die Spannkraft nicht mehr findet muszlig er sie anderswo suchen Mit der zunehmenden Gleichguumlltigkeit und Ohnmacht der Buumlrger muszlig die Be- deutung der Regierungen nur noch mehr wachsen Sie

GESCHICHTSPHILOSOPHISCHES ERGEBNIS150

muumlssen notgedrungen den Geist der Initiative der Unter- nehmung und Fuumlhrung besitzen den der Buumlrger verloren hat Sie haben alles zu unternehmen zu leiten zu schuumlt- zen So wird der Staat zu einem allmaumlchtigen Gott Die Erfahrung lehrt aber daszlig die Macht solcher Gottheiten weder von Dauer noch sehr stark warDie fortschreitende Einschraumlnkung aller Freiheiten bei ge- wissen Voumllkern trotz einer Ungebundenheit die ihnen Frei- heit vortaumluscht scheint eine Folge ihres Alters und ebenso- sehr der Regierung zu sein Sie ist ein Vorzeichen fuumlr die Entartung der bisher noch keine Kultur entgehen konnteWenn man aus den Lehren der Vergangenheit Schluumlsse zieht und nach den Anzeichen urteilt die uumlberall in Er- scheinung treten so sind mehrere unserer modernen Kul- turen auf dieser Stufe des houmlchsten Greisenalters das der Entartung vorangeht angelangt Bestimmte Entwicklungs- formen scheinen fuumlr alle Voumllker unabwendbar zu sein da sich dieser Verlauf in der Geschichte so oft wiederholt Es ist leicht die Stufen dieser Entwicklung ganz allgemein zu kennzeichnen und mit dieser Zusammenfassung soll unsre Arbeit abgeschlossen werden

Wenn wir in groszligen Zuumlgen die Entstehung der Groumlszlige und des Niedergangs der Kulturen der Vergangenheit be- trachten so sehen wir folgendesBeim Erwachen dieser Kulturen einen zusammengewehten Haufen von Menschen verschiedenster Abstammung zu- faumlllig vereinigt durch Wanderungen Uumlberfaumllle und Er- oberungen Von verschiedenem Blut verschiedener Sprache und ebenso verschiedenen Anschauungen haumllt diese Men- schen kein andres Band zusammen als das halb anerkannte Gesetz eines Haumluptlings In ihrem verworrenen Haufen finden sich die psychologischen Merkmale der Massen im houmlchsten Maszlige Sie zeigen den Zusammenhang fuumlr den Augenblick den Heldenmut die Schwaumlchen die Trieb- handlungen und die Gewalttaumltigkeiten Nichts ist bei ihnen von Dauer Sie sind Barbaren

GESCHICHTSPHILOSOPHISCHES ERGEBNIS 151

Dann vollendet die Zeit ihr Werk Gleichheit der Umgebung wiederholte Kreuzungen das Beduumlrfnis eines Gemeinschafts- lebens fangen langsam an zu wirken Die verschiedenen Bestandteile des Haufens beginnen zu verschmelzen und eine Rasse zu bilden d h ein Aggregat mit gemeinsamen Eigen- schaften und Gefuumlhlen die sich durch Vererbung immer mehr befestigen Die Masse ist ein Volk geworden und dies Volk kann sich aus der Barbarei erhebenEs wird sie aber erst dann voumlllig hinter sich haben wenn es sich nach langen Anstrengungen unaufhoumlrlich wieder- holten Kaumlmpfen und unzaumlhligen Ansaumltzen ein Ideal er- rungen hat Die Beschaffenheit dieses Ideals ist nicht wich- tig Ob es der Kultus Roms die Macht Athens oder der Triumph Allahs ist es wird imstande sein allen einzelnen der Rasse die sich bilden will vollkommene Einheit des Fuumlhlens und Denkens zu verleihenNun kann eine neue Kultur mit ihren Einrichtungen Glaubensformen und Kuumlnsten entstehen Von ihrem Wunschtraum fortgerissen wird die Rasse nach und nach alles gewinnen was Glanz Kraft Groumlszlige verleiht Zu- weilen wird sie zweifellos Masse sein aber hinter den be- weglichen und wechselnden Eigenschaften der Masse wird das feste Gefuumlge die Rassenseele stehen welche die Schwin- gungsweite eines Volkes genau bestimmt und den Zufall regeltNach Vollendung ihrer schoumlpferischen Wirkung aber be- ginnt die Zeit jenes Zerstoumlrungswerk dem weder Goumltter noch Menschen entgehen Ist die Kultur auf einer gewissen Houmlhe der Macht und Mannigfaltigkeit angelangt so houmlrt sie auf zu wachsen und sobald sie zu wachsen aufhoumlrt ist sie zu raschem Niedergang bestimmt Bald schlaumlgt die Stunde des AltersDiese unentrinnbare Stunde ist stets durch das Verblassen des Ideals gekennzeichnet das die Rassenseele erhob In dem Maszlige als dieses Ideal abstirbt beginnen alle von ihm geschaffenen religioumlsen politischen und gesellschaftlichen Gebilde zu wanken

152 DIE VERSCHIEDENEN ARTEN VON MASSEN

Mit dem fortschreitenden Schwinden ihres Ideals verliert die Rasse mehr und mehr alles was ihren Zusammenhalt ihre Einheit und Staumlrke bildete Der einzelne kann an Persoumlnlichkeit und Verstand wachsen gleichzeitig tritt aber an die Stelle des Gemeinschaftsegoismus der Rasse die uumlbermaumlszligige Entfaltung des Einzelegoismus die von einer Schwaumlchung des Charakters und einer Verringerung der Tatkraft begleitet wird Was ein Volk eine Einheit einen Block bildete wird zuletzt ein Haufen zusammen- hangloser einzelner die nur noch kuumlnstlich durch Uumlber- lieferungen und Einrichtungen zusammengehalten werden Dann geschieht es daszlig die Menschen die durch ihre Nei- gungen und Anspruumlche voneinander getrennt sind sich nicht mehr regieren koumlnnen und danach verlangen in den unbedeutendsten Handlungen gefuumlhrt zu werden und daszlig der Staat seinen verzehrenden Einfluszlig ausuumlbtMit dem endguumlltigen Verlust des fruumlheren Ideals verliert die Rasse zuletzt auch ihre Seele sie ist dann nur noch eine Menge alleinstehender einzelner und wird wieder was sie am Ausgangspunkt war eine Masse Sie zeigt all ihre fluumlchtigen unbestaumlndigen und zukunftslosen Eigen- schaften Die Kultur ist ohne jede Festigkeit und allen Zufaumlllen preisgegeben Der Poumlbel herrscht und die Bar- baren dringen vor Noch kann die Kultur glaumlnzend schei- nen weil sie das aumluszligere Ansehen bewahrt das von einer langen Vergangenheit geschaffen wurde tatsaumlchlich aber ist sie ein morscher Bau der keine Stuumltze mehr hat und beim ersten Sturm zusammenbrechen wirdAus der Barbarei von einem Wunschtraum zur Kultur gefuumlhrt dann sobald dieser Traum seine Kraft eingebuumlszligt hat Niedergang und Tod ndash in diesem Kreislauf bewegt sich das Leben eines Volkes

153GESCHICHTSPHILOSOPHISCHES ERGEBNIS

ERLAumlUTERUNGEN

Zu S XXV GOBLET DrsquoALVIELLA Graf Eugegravene belgischer Religionshisto- riker und liberaler Politiker 846ndash925S 7 TARDE Gabriel franzoumlsischer Psychologe und Soziologe urspruumlnglich Kriminalist 843ndash904 n seinen Hauptwerken bdquoDie Gesetze der Nachahmung (89) bdquoDie soziale Logikldquo (894) und bdquoDie sozialen Gesetzeldquo (898) werden Nachahmung Gegensaumltzlichkeit und Anpassung als die entscheidenden Fak- toren des Soziallebens bezeichnetS 7 SIGHELE Scipio italienischer Kriminalist Soziologe und Psychologe 868ndash93 Hauptwerk bdquoDie verbrecherische Masseldquo (892)S 3 SPENCER Herbert englischer Philosoph 820ndash903 vertrat die Auf- fassung daszlig der Weltprozeszlig auf einem dauernden Wechsel zwischen einem zusammenhanglosen und einem zusammenhaumlngenden Zustand beruhe dem so- ziologisch der Wechsel zwischen der Betonung der Individualitaumlt und der Hin- neigung zur Gleichfoumlrmigkeit in der Masse entspreche Hauptwerk bdquoSystem der synthetischen Philosophieldquo (862ndash93 0 Bde)S 20 GENERAL Georges Boulanger (837ndash9) 886 frz Kriegsminister dann Korpskommandeur hatte 887 anlaumlszliglich einer deutsch-franzoumlsischen Spannung versucht Frankreich in einen neuen Krieg mit Deutschland zu treiben 888 dienstentlassen erstrebte er mit Hilfe der von ihm entfachten Volksbewegung (Boulangismus) eine Staatsumwaumllzung und die Errichtung einer Diktatur in Frankreich muszligte jedoch ins Ausland fliehen und endete in Bruumlssel durch Selbstmord nachdem er in Abwesenheit wegen Veruntreuung von Staats- geldern verurteilt worden warS 2 L a n g s on Grenzort in Tongking (Franz Indochina) in dessen Naumlhe die Chinesen nachdem sie uumlberall uumlber die Grenze zuruumlckgeworfen waren 884 in einem Gefecht mit franzoumlsischen Truppen die Oberhand behielten K h a r t u m die Hauptstadt des englisch-aumlgyptischen Sudan wurde 885 von den aufstaumlndischen Madhisten erobert wobei der Kommandeur der eingeschlossenen englischen Expeditionsarmce ermordet wurde Vom t a r p e j i s c he n Fe l s e n am Suumldabhang des kapitolinischen Huumlgels wurden im alten Rom die zum Tode verurteilten Aufruumlhrer und Vaterlandsverraumlter hinabgestuumlrztS 28 WOLSELEY Garnet Joseph engl Feldmarschall 833ndash93 Verfasser mehrerer kriegsgeschichtlicher AbhandlungenS 28 DrsquoHARCOURT Georges 808ndash83 873 frz Botschafter in Wien spaumlter in London urspruumlnglich Offizier hatte an der Schlacht bei dem oberitalieni- schen Dorf Solferino teilgenommen die mit dem Sieg der verbuumlndeten Franzosen und Italiener uumlber die Oumlsterreicher endete (24 6 859)S 37 TAINE Hippolyte bedeutender frz Historiker Philosoph und Kritiker 828ndash93 Seine beruumlhmte bdquoGeschichte Frankreichsldquo (876ndash93 6 Bde unvoll- endet) schrieb er um nachzuweisen daszlig die unter Napoleon durchgefuumlhrte

Zentralisierung der Staatsgewalt und die dadurch bewirkte Ausschaltung derInitiative des einzelnen Staatsbuumlrgers an der Niederlage Frankreichs von 870 7 schuld seiS 48 FUSTEL DE COULANGES Numa Denis frz Historiker 830ndash89 Haupt- werk bdquoDas roumlmische Gallien die germanische Invasion und das fraumlnkische Koumlnigreichldquo (888ndash9 4 Bde)S 49 BOULANGISMUS s d Erlaumluterungen zu 20S 59 LAVISSE Ernest frz Historiker 842ndash922 Herausgeber und Mitver- fasser d groszligen Geschichtspublikation bdquoHistoire geacuteneacuteraleldquo (893ndash90 2 Bde)S 60 MACAULAY Thomas engl Historiker und liberaler Politiker 800ndash59 Verfasser der heute noch viel gelesenen bdquoGeschichte Englands (848ndash59 4 Bde)S 64 CHLOTAR (I) fraumlnkischer Koumlnig aus dem Geschlecht der Merowinger Nach seinem Tode (56) zerfiel das Frankenreich in die Teile N e u s t r i e n von der Scheidemuumlndung bis zur Loire) Au s t r a s i e n (Mosel- und Maas- gebiet) und BurgundS 75 TOCQUEVILLE Alexis de frz Diplomat und Historiker 805ndash59 Sein Hauptwerk bdquoDas Ancien reacutegime und die Franzoumlsische Revolutionldquo (856 2 Bde) enthaumllt viele kritische Bemerkungen uumlber MassenpsychologieS 79 THIERS Adolphe einer der bedeutendsten frz Staatsmaumlnner 797 bis 877 seit 836 mehrmals Ministerpraumlsident 87ndash73 Praumlsident der Republik Politisch liberal aber ohne tieferes Verstaumlndnis fuumlr soziale Probleme verherr- lichte in seinen z T mehrbaumlndigen Geschichtswerken die Ideale der Franz Revolution ebenso wie den NationalismusS 87 Mit dem b e r uuml h mt e n I n g e n i e u r ist Ferdinand Lesseps (805 bis 94) gemeint der aber nicht selbst Ingenieur sondern frz Diplomat gewesen ist Ihm ist der 869 vollendete aber nicht von ihm entworfene Bau des Suez- kanals zu danken Auch an der Gruumlndung der Panama-Gesellschaft war er maszliggebend beteiligt Als dieses Unternehmen 888 zusammenbrach wobei viele Aktionaumlre ruiniert wurden kam es zu einem groszligen Skandalprozeszlig in dem Lesseps 893 wegen Betrugs verurteilt wurde (Vgl auch S 6 f)S 9 RENAN Ernest frz Orientalist und Religionshistoriker 823ndash92 Eines seiner Hauptwerke ist die bdquoGeschichte der Anfaumlnge des Christentumsldquo (866 bis 83 7 Bde) sein bekanntestes bdquoDas Leben Jesuldquo (863)S 33 SCHERER Edmond frz Publizist 85ndash89 Fuumlhrer des liberalen Prote- stantismus in FrankreichS 40 SIMON Jules frz Philosoph und Politiker 84ndash96 848 Mitglied der verfassunggebenden Nationalversammlung 876 77 Ministerpraumlsident Schrieb u a bdquoDie Regierung Thiersldquo (878 2 Bde) ndash PYAT Feacutelix frz linksradikaler Journalist 80ndash89 war 848 Oberst der Pariser Nationalgarde 87 Mitglied der Pariser Kummune ndash VAULABELLE Achille de frz Historiker u Politiker 799ndash864 war 848 Unterrichtsminister ndash VICTOR HUGO der bekannte frz Dichter 802ndash85 war 848 Abgeordneter der Nationalversammlung muszligte nach dem Staatsstreich Louis Napoleons (85) fliehen und schrieb seine be- ruumlhmten sozialen Romane als Emigrant auf den englischen Kanalinseln ndash QUINET Edgar frz Dichter und Publizist 803ndash75 war 848ndash50 Mitglied der Nationalversammlung wurde 852 verbannt und 87 in der Nationalver- sammlung von Bordeaux und Versailles einer der Fuumlhrer der aumluszligersten Linken

ndash LAMARTINE Alphonse de frz Dichter 790ndash869 war unter Karl X und Louis Philippe im diplomatischen Dienst bekannte sich aber offen zur Repu-

ERLAumlUTERUNGEN 157

blikanischen Partei und wurde 848 als Mitglied der vorlaumlufigen RegierungAuszligenministerS 42 MAINE Henry James Summer engl Jurist und Rechtsphilosoph 822 bis 88 hat zahlreiche Werke uumlber Rechtsgeschichte und ihre Beziehung zur all- gemeinen Sozialgeschichte verfaszligtS 45 BILLAUD-VARENNES Jean Nicolas 756ndash89 Advokat Vorsitzender des Jakobinerclubs und Mitglied des Konvents erst Anhaumlnger Robespierres dann an dessen Sturz beteiligt Seine Memoiren erschienen 893S 46 COLLOT DrsquoHERBOIS Jean Marie Schauspieler und Buumlhnenschriftsteller 75ndash96 Als erfolgreicher Volksredner wurde er Mitglied des Konvents dann des Wohlfahrtsausschusses und war insbesondere fuumlr die Massenhinrichtungen in Lyon (793) verantwortlich ndash COUTHON Georges Advokat 755ndash94 Mitglied der Nationalversammlung dann des Konvents mitbeteiligt an der Niederwerfung des Lyoner Aufstandes Als Anhaumlnger Robespierres wurde er nach dessen Tod hingerichtet ndash SPULLER Eugegravene frz Politiker u Journalist 835ndash96 war 870ndash7 Sekretaumlr Gambettas 887 und 893ndash94 Unterrichts- minister 889ndash90 Auszligenminister Schrieb u a eine bdquoParlamentsgeschichte der Zweiten Republikldquo (89)S 49 LEROY-BEAULIEU Pierre Paul frz Nationaloumlkonom 843ndash96 gruumln- dete 873 das Wochenblatt bdquoLrsquoEconomiste franccedilaisraquo

156 ERLAumlUTERUNGEN

ISBN 3-520-09915-2

Das beruumlhmte in alle Weltsprachen uumlbersetzte Buch des franzoumlsischen Arztes und Soziologen uumlber die Seele der Massen und die Gesetze ihrer Beeinflussung und Fuumlhrung hat sich ndash trotz oder auch wegen mancher provozierender These ndash uumlber Jahrzehnte hinweg und bis in die Gegenwart hinein als eine der staumlrksten Anregungen fuumlr Psychologie und Soziologie erwiesen

  • Psychologie der Massen
    • Inhaltsverzeichnis
    • Einfuumlhrung
    • Literatur
    • Vorwort zur ersten Auflage
    • Einleitung Das Zeitalter der Massen
    • Erstes Buch Die Massenseele
      • 1 Kapitel Allgemeine Kennzeichen der Massen Das psychologische Gesetz von ihrer seelischen Einheit
      • 2 Kapitel Gefuumlhle und Sittlichkeit der Massen
        • sect 1 Triebhaftigkeit Beweglichkeit und Erregbarkeit der Massen
        • sect 2 Beeinfluszligbarkeit und Leichtglaumlubigkeit der Massen
        • sect 3 Uumlberschwang (exageacuteration) und Einseitigkeit (simplisme) der Massengefuumlhle
        • sect 4 Unduldsamkeit Herrschsucht (autoritarisme) und Konservatismus der Massen
          • 3 Kapitel Ideen Urteile und Einbildungskraft der Massen
            • sect 1 Die Ideen der Massen
            • sect 2 Die Urteile der Massen
            • sect 3 Die Einbildungskraft der Massen
              • 4 Kapitel Die religioumlsen Formen die alle Uumlberzeugungen der Masse annehmen
                • Zweites Buch Die Meinungen und Glaubenslehren der Massen
                  • 1 Kapitel Entfernte Triebkraumlfte der Glaubenslehren und Meinungen der Massen
                    • sect 1 Die Rasse
                    • sect 2 Die Uumlberlieferungen
                    • sect 3 Die Zeit
                    • sect 4 Die politischen und sozialen Einrichtungen
                    • sect 5 Unterricht und Erziehung
                      • 2 Kapitel Unmittelbare Triebkraumlfte der Anschauungen der Massen
                        • sect 1 Bilder Worte und Redewendungen
                        • sect 2 Die Taumluschungen (illusions)
                        • sect 3 Die Erfahrung
                        • sect 4 Die Vernunft
                          • 3 Kapitel Die Fuumlhrer der Massen und ihre Uumlberzeugungsmittel
                            • sect 1 Die Fuumlhrer der Massen
                            • sect 2 Die Wirkungsmittel der Fuumlhrer Behauptung Wiederholung Uumlbertragung
                            • sect 3 Der Nimbus (Le prestige)
                              • 4 Kapitel Grenzen der Veraumlnderlichkeit der Grundanschauungen und Meinungen der Massen
                                • sect 1 Die unveraumlnderlichen Grundanschauungen (croyances fixes)
                                • sect 2 Die veraumlnderlichen Meinungen (opinions mobiles) der Massen
                                    • Drittes Buch Einteilung und Beschreibung der verschiedenen Arten von Massen
                                      • 1 Kapitel Einteilung der Massen
                                        • sect 1 Ungleichartige Massen
                                        • sect 2 Gleichartige Massen
                                          • 2 Kapitel Die sogenannten verbrecherischen Massen
                                          • 3 Kapitel Die Geschworenen bei den Schwurgerichten
                                          • 4 Kapitel Die Waumlhlermassen
                                          • 5 Kapitel Die Parlamentsversammlungen
                                            • Erlaumluterungen
Page 2: Psychologie der Massen - Alex Brunner

KROumlNERS TASCHENAUSGABE BAND 99

GUSTAVE LE BON

PSYCHOLOGIE DER MASSEN

Mit einer Einfuumlhrung von

Prof Dr PETER R HOFSTAumlTTER

ALFRED KROumlNER VERLAG STUTTGART

Titel der franzoumlsischen Originalausgabe PSYCHOLOGIE DES FOULES

Autorisierte Uumlbersetzung von Rudolf Eisler Bearbeitet von Rudolf Marx

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek

Le Bon Psychologie der Massen ndash 5 Aufl ndash Stuttgart Kroumlner 982 (Kroumlners Taschenausgabe Bd 99) ISBN 3 520 0995 2

copy 9 by Alfred Kroumlner Verlag in StuttgartAlle Rechte vorbehalten Printed in Germany

Druck Omnitypie Stuttgart

INHALTSVERZEICHNIS

Einfuumlhrung von Prof Dr Peter R Hofstaumltter XIII

Literatur XXXVII

Vorwort zur Auflage XXXIX

Einleitung Das Zeitalter der Massen Entwicklung des gegenwaumlrtigen Zeitalters middot Die groszligen Kulturwenden sind die Folge von Wandlungen im Denken der Voumllker middot Der Glaube der Neuzeit an die Macht der Massen middot Er veraumlndert die hergebrachte Politik der Staaten middot Wie sich das Emporkommen der Volksklassen vollzieht und wie sie ihre Macht ausuumlben middot Die Syndikate middot Notwendige Folgen der Macht der Massen middot Sie koumlnnen nur eine zerstoumlrerische Rolle spielen middot Durch sie vollendet sich die Aufloumlsung der zu alt gewordenen Kulturen middot Allgemeine Unkenntnis der Psychologie der Massen middot Wichtigkeit des Studiums der Massen fuumlr Gesetzge- ber und Staatsmaumlnner

Erstes Buch DIE MASSENSEELE

Kapitel Allgemeine Kennzeichen der Massen middot Das psy- chologische Gesetz von ihrer seelischen Einheit 0

Was kennzeichnet eine Masse vom psychologischen Gesichtspunkt middot Eine zahlenmaumlszligige Menge von Einzelnen bildet noch keine Masse middot Besondere Eigentuumlmlichkeiten der psychologischen Massen middot Unveraumlnderliche Richtung der Gedanken und Gefuumlhle der einzelnen die sie bilden und Ausloumlschung ihrer Persoumlnlichkeit middot Die Masse wird stets vom Unbewuszligten beherrscht middot Zuruumlcktreten des Gehirnlebens und Vorherrschen des Ruumlckenmarklebens middot Verminderung des Verstandes und voumlllige Umwandlung der Gefuumlhle middot Die veraumlnderten Gefuumlhle koumlnnen besser oder schlechter sein als die der einzelnen aus denen die Menge besteht middot Die Masse wird ebensoleicht heldenhaft wie verbrecherisch

INHALTSVERZEICHNIS

2 Kapitel Gefuumlhle und Sittlichkeit der Massen 9

sect Triebhaftigkeit Beweglichkeit und Erregbarkeit der Massen middot Die Masse ist der Spielball aller aumluszligeren Reize deren unaufhoumlrliche Schwankungen sie widerspiegelt middot Die Antriebe denen sie gehorchen sind so gebieterisch daszlig der persoumlnliche Vorteil zuruumlcktritt middot Bei den Massen ist nichts vorbedacht middot Wirkungskraft der Rassesect 2 Beeinfluszligbarkeit und Leichtglaumlubigkeit der Massen middot Ihre Empfaumlnglich- keit fuumlr Beeinfluszligungen middot Die in ihrem Gemuumlt hervorgerufenen Bilder werden fuumlr Wirklichkeit gehalten middot Warum diese Bilder fuumlr alle einzelnen aus denen eine Masse besteht gleichartig sind Angleichung der Gelehrten und des Einfaumlltigen in einer Masse middot Verschiedene Beispiele von Taumluschungen denen alle Mitglieder in einer Masse unterliegen middot Unmoumlglichkeit der Zeugenschaft der Massen irgendwelchen Glauben beizumessen middot Die Einmuumltigkeit zahlrei- cher Zeugen ist einer der schlechtesten Beweise den man zur Erhaumlrtung einer Tatsache beibringen kann middot Geringer Wert der Geschichtswerkesect 3 Uumlberschwang und Einseitigkeit der Massengefuumlhle middot Die Massen kennen weder Zweifel noch Ungewiszligheit und ergehen sich stets in Uumlbertreibungen middot Ihre Gefuumlhle sind stets uumlberschwenglichsect 4 Unduldsamkeit Herrschsucht und Konservatismus der Massen middot Ursachen dieser Gefuumlhle Unterwuumlrfigkeit der Massen vor einer starken Macht middot Die augenblicklichen revolutionaumlren Triebe der Massen hindern sie nicht houmlchst ruumlckstaumlndig zu sein middot Sie sind instinktiv Feinde von Veraumlnderung und Fort- schrittsect 5 Sittlichkeit der Massen middot Die Sittlichkeit der Massen kann je nach den Einfluumlssen viel niedriger oder viel houmlher sein als die der einzelnen die sie bilden Erklaumlrung und Beispiele middot Die Massen werden selten durch den Eigennutz geleitet der meist den einzigen Antrieb fuumlr den einzelnen bildet middot Versittlichende Wirkung der Massen

3 Kapitel Ideen Urteile und Einbildungskraft der Massen 38

sect Die Ideen der Massen middot Grundlegende und nebensaumlchliche Ideen middot Wie entgegengesetzte Vorstellungen gleichzeitig bestehen koumlnnen Wandlungen die die houmlheren Ideen durchmachen muumlssen um fuumlr die Massen annehmbar zu werden middot Die soziale Bedeutung der Vorstellungen ist unabhaumlngig von dem Wahrheitsgehalt den sie in sich tragen koumlnnensect 2 Die Urteile der Massen middot Die Massen sind nicht durch Beweisgruumlnde zu beeinflussen middot Die Urteile der Massen sind stets sehr niedriger Art middot Die Vorstellungen die sie assoziieren haben nur den Schein von Analogie und Folgerichtigkeitsect 3 Die Einbildungskraft der Massen middot Macht der Massenphantasie middot Sie denken in Bildern die ohne jegliche Verbindung aufeinander folgen middot Die

VIII

INHALTSVERZEICHNIS

Massen nimmt besonders die wunderbare Seite der Dinge gefangen middot DasWunderbare und das Sagenhafte sind die wahren Traumlger der Kulturen middot Die Volksphantasie war stets der Stuumltzpunkt der Macht aller Staatsmaumlnner middot Auf welche Weise die Tatsachen auf die Einbildungskraft der Massen Eindruck machen koumlnnen

4 Kapitel Die religioumlsen Formen die alle Uumlberzeugungen der Masse annehmen 46

Wodurch das religioumlse Gefuumlhl gebildet wird middot Es ist unabhaumlngig von der Anbetung einer Gottheit middot Seine Merkmale middot Macht der Uumlberzeugungen die religioumlse Formen angenommen haben middot Verschiedene Beispiele middot Die Volksgoumlt- ter sind nie ganz verschwunden middot Neue Formen ihrer Wiedergeburt middot Religioumlse Formen des Atheismus middot Bedeutung dieser Begriffe in historischer Hinsicht middot Die Reformation die Bartholomaumlusnacht die Schreckenstage und alle aumlhnli- chen Ereignisse sind die Folgen der religioumlsen Gefuumlhle der Massen und nicht des Willens einzelner Persoumlnlichkeiten

Zweites BuchDIE MEINUNGEN DER UND GLAUBENSLEHREN

MASSEN

Kapitel Entfernte Triebkraumlfte der Glaubenslehren und Meinungen der Massen 54

Vorbereitende Ursachen der Massenuumlberzeugungen Das Auftreten von Glaubenslehren in den Massen ist die Folge vorangehender Verarbeitung middot Untersuchung der verschiedenen Ursachen dieser Glaubensuumlberzeugungen sect Die Rasse middot Ihr auszligerordentlicher Einfluszlig middot Sie zeigt die Wirkungen der Vorfahrensect 2 Die Uumlberlieferungen middot Sie sind die Zusammenfassung der Rassenseele middot Soziale Bedeutung der Uumlberlieferungen middot Wodurch sie schaumldlich werden nachdem sie notwendig gewesen sind middot Die Massen sind die zaumlhesten Bewah- rer der uumlberlieferten Ideensect 3 Die Zeit Sie bereitet allmaumlhlich die Einfuumlhrung der Glaubenslehren vor dann ihre Zerstoumlrung middot Dank ihrer erhebt sich die Ordnung aus dem Chaossect 4 Die politischen und sozialen Einrichtungen middot Irrige Auffassung von ihrer Aufgabe middot Ihr Einfluszlig ist aumluszligerst gering Sie sind Wirkungen nicht Ursachen middot Die Voumllker koumlnnen sich nicht die Einrichtungen aussuchen die ihnen am besten erscheinen middot Sie sind Etiketten die mit derselben Aufschrift die ver- schiedensten Dinge decken middot Wie die Verfassungen entstehen koumlnnen middot Die

IX

INHALTSVERZEICHNIS

Notwendigkeit gewisser theoretisch schlechter Einrichtungen wie z B derZentralisation fuumlr gewisse Voumllkersect 5 Unterricht und Erziehung middot Irrigkeit der herrschenden Anschauungen uumlber den Einfluszlig des Unterrichts auf die Massen middot Statistische Nachweise middot Entsittlichende Wirkung der klassischen Bildung middot Die Wirkung die der Unterricht ausuumlben koumlnnte middot Beispiele die die verschiedenen Voumllker bieten

2 Kapitel Unmittelbare Triebkraumlfte der Anschauungen der Massen 7

sect Bilder Worte und Redewendungen middot Magische Macht der Worte und Redewendungen Die Macht der Worte knuumlpft sich an Bilder die durch sie hervorgerufen werden und ist unabhaumlngig von ihrem wahren Sinn middot Diese Bilder wechseln mit jedem Zeitalter und mit jeder Rasse middot Abnutzung der Worte middot Beispiele fuumlr die auszligerordentliche Veraumlnderlichkeit der Bedeutung einiger sehr gebraumluchlicher Worte middot Es ist politisch nuumltzlich alte Dinge mit neuen Namen zu taufen wenn die Ausdruumlcke mit denen man sie fruumlher bezeichnete auf die Massen einen unguumlnstigen Eindruck machen middot Der Rasse gemaumlszlige verschiedenartige Bedeutung der Worte middot Verschiedenartiger Sinn des Wortes bdquoDemokratieldquo in Europa und Amerikasect 2 Die Taumluschungen Ihre Wichtigkeit middot Man findet sie in Anfaumlngen jeder Kultur middot Soziale Notwendigkeit der Taumluschungen middot Die Massen ziehen sie stets den Wahrheiten vorsect 3 Die Erfahrung Die Erfahrung allein kann notwendig gewordene Wahr- heiten in der Massenseele befestigen und gefaumlhrlich gewordene Taumluschungen zerstoumlren middot Die Erfahrung wirkt nur bei haumlufiger Wiederholung middot Was die Erfahrungen kosten die noumltig sind um die Massen zu uumlberzeugensect 4 Die Vernunft middot Nichtigkeit ihres Einflusses auf die Massen middot Man wirkt auf sie nur durch Beeinflussung ihrer unbewuszligten Gefuumlhle middot Die Rolle der Logik in der Geschichte middot Die verborgenen Ursachen der unwahrscheinlichen Ereignisse

3 Kapitel Die Fuumlhrer der Massen und ihre Uumlberzeugungs- mittel 83

sect Die Fuumlhrer der Massen middot Urspruumlngliches Beduumlrfnis aller Massen einem Fuumlhrer zu gehorchen middot Psychologie der Fuumlhrer middot Sie allein koumlnnen Vertrauen erwecken und die Massen organisieren middot Notwendige Gewaltherrschaft der Fuumlhrer middot Einteilung der Fuumlhrer middot Die Macht des Willenssect 2 Die Wirkungsmittel der Fuumlhrer middot Behauptung Wiederholung Uumlbertra- gung middot Die verschiedenen Aufgaben dieser Faktoren middot Wie die Uumlbertragung sich von den niederen zu den houmlheren Gesellschaftsschichten fortpflanzen

X

INHALTSVERZEICHNIS

kann middot Eine volkstuumlmliche Anschauung wird bald zur allgemeinen An- schauungsect 3 Nimbus middot Erklaumlrung und Einteilung des Nimbus middot Erworbener und persoumlnlicher Nimbus middot Beispiele middot Verlust des Nimbus

4 Kapitel Grenzen der Veraumlnderlichkeit der Grundanschau- ungen und Meinungen der Massen 0

sect Die unveraumlnderlichen Grundanschauungen Unveraumlnderlichkeit gewisser Gesamtuumlberzeugungen middot Sie sind die Fuumlhrer einer Kultur middot Schwierigkeit sie auszurotten middot Inwiefern Unduldsamkeit bei den Voumllkern eine Tugend ist middot Die philosophische Sinnwidrigkeit einer Gesamtuumlberzeugung schadet ihrer Aus- breitung nichtsect 2 Die veraumlnderlichen Meinungen der Massen Aumluszligerste Veraumlnderlichkeit der Anschauungen die nicht aus altgemeinen Glaubensuumlberzeugungen her- vorgehen middot Scheinbare Veraumlnderungen der Ideen und Uumlberzeugungen in weni- ger als einem Jahrhundert middot Tatsaumlchliche Grenzen dieser Wandlungen Die Elemente auf die sich die Veraumlnderung erstreckt Das Schwinden allgemeiner Glaubensuumlberzeugungen und die auszligerordentliche Verbreitung der Presse heutzutage machen die modernen Ansichten immer veraumlnderlicher middot Wie die Anschauungen der Massen uumlber die meisten Angelegenheiten zur Gleichguumll- tigkeit neigen middot Unfaumlhigkeit der Regierungen wie ehedem die Anschauungen zu lenken middot Die Zersplitterung der Anschauungen verbinden in der heutigen Zeit ihre Tyrannei

Drittes BuchEINTEILUNG UND BESCHREIBUNG DER VERSCHIE-

DENEN ARTEN VON MASSEN

Kapitel Einteilung der Massen 4

sect Ungleichartige Massen middot Ihre Unterscheidungsmerkmale middot Einfluszlig der Rasse middot Die Massenseele ist um so schwaumlcher als die Rassenseele staumlrker ist Die Rassenseele stellt die Stufe der Kultur die Massenseele die Stufe der Barbarei darsect 2 Gleichartige Massen middot Einteilung middot Sekten Kasten Klassen

2 Kapitel Die sogenannten verbrecherischen Massen 7

Die sogenannten verbrecherischen Massen middot Eine Masse kann nur juristisch nicht psychologisch verbrecherisch sein middot Voumlllige Unbewuszligtheit der Massen- handlungen middot Verschiedene Beispiele middot Psychologie der Septembermaumlnner middot Ihre Urteile ihre Empfindsamkeit Grausamkeit und Sittlichkeit

XI

XII INHALTSVERZEICHNIS

3 Kapitel Die Geschworenen bei den Schwurgerichten 22

Die Geschworenen der Schwurgerichte middot Allgemeine Eigenschaften der Ge- schworenen middot Die Statistik zeigt daszlig ihre Entscheidungen unabhaumlngig sind von ihrer Zusammensetzung middot Wie auf die Geschworenen Eindruck gemacht wird middot Geringe Wirkung der Logik middot Art der Verbrechen die von den Geschworenen milde und solcher die streng beurteilt werden middot Uumlberre- dungsweisen beruumlhmter Rechtsanwaumllte middot Nutzen der Geschworenen und die groszlige Gefahr daszlig sie durch Richter ersetzt werden

4 Kapitel Die Waumlhlermassen 28

Allgemeine Eigenschaften der Waumlhlermassen middot Wie man sie uumlberzeugt middot Wel- che Eigenschaften der Wahlkandidat haben muszlig middot Notwendigkeit des Nimbus middot Warum Arbeiter und Bauern so selten ihre Vertreter aus ihrer Mitte waumlhlen middot Macht der Worte und Redewendungen uumlber den Waumlhler middot Allgemeines Bild der Wahlversammlungen middot Wie sich die Anschauungen des Waumlhlers bilden middot Die Macht der Ausschuumlsse middot Sie bilden die schlimmste Form der Tyrannei middot Die Revolutionsausschuumlsse middot Trotz seines geringen psychologischen Wertes ist das allgemeine Stimmrecht unersetzlich middot Warum die Abstimmungen die glei- chen bleiben wuumlrden auch wenn man das Stimmrecht auf eine bestimmte Buumlrgerklasse beschraumlnkte middot Das allgemeine Stimmrecht in allen Laumlndern

5 Kapitel Die Parlamentsversammlungen 37

Die parlamentarischen Massen zeigen die meisten allgemeinen Eigenschaften der nicht namenlosen ungleichartigen Massen middot Einseitigkeit der Anschauun- gen middot Die Beeinfluszligbarkeit und ihre Grenzen middot Unverruumlckbar feste und fluumlch- tige Meinungen middot Warum Unentschiedenheit vorherrscht middot Die Rolle der Fuumlhrer middot Ursache ihres Einflusses middot Sie sind die wahren Leiter einer Versamm- lung deren Abstimmung also nur die einer kleinen Minderheit ist Unum- schraumlnkte Macht der Fuumlhrer middot Die Mittel ihrer Redekunst Worte und Bilder middot Psychologische Notwendigkeit daszlig die Fuumlhrer eine allgemeine Uumlberzeugung haben und beschraumlnkt sind middot Unmoumlglichkeit fuumlr den Fuumlhrer seine Beweis- gruumlnde ohne Nimbus durchzusetzen middot Uumlberschwang sowohl der guten als auch der schlechten Gefuumlhle in den Versammlungen middot Automatismus der sich unter gewissen Umstaumlnden herausbildet middot Die Sitzungen des Konvents middot Ein Fall daszlig eine Versammlung die Massenkennzeichen verliert middot Einfluszlig der Fachleute auf die technischen Fragen middot Vorteile und Gefahren der parlamenta- rischen Regierungsweise in allen Staaten middot Sie hat sich den Beduumlrfnissen der Gegenwart angepaszligt fuumlhrt aber zu wirtschaftlicher Verschwendung und all- maumlhlichen Freiheitsbeschraumlnkungen middot Geschichtsphilosophisches Ergebnis

Erlaumluterungen 54

EINFUumlHRUNG

von Peter R Hofstaumltter

Die Massenpsychologie die der vierundfuumlnfzigjaumlhrige Gustave Le Bon (842ndash93) im Jahr 895 veroumlffentlichte ist wie wenige andere ein Erfolgsbuch dessen Thesen bereits so sehr zum Gemeingut der gebildeten Welt geworden sind daszlig manche es gar nicht mehr fuumlr noumltig halten es auch zu nennen wenn sie ihre eigenen Urteile ganz unwillkuumlrlich in die Worte des franzoumlsischen Autors kleiden Bis- weilen geschieht auch das Umgekehrte daszlig naumlmlich Le Bon eigene Gedanken unterschoben werden Er ist eben zum Begriff geworden Daran hat sich seit dem Jahr 908 in dem die von dem Wiener Philosophen Rudolf Eisler stammende Uumlbersetzung in erster Auflage erschien auch in Deutschland kaum etwas geaumlndert Wer etwas auf sich hielt und darum gesonnen war von der anonymen Masse gebuumlhrenden Abstand zu halten glaubte bei Le Bon jede Art von Unterstuumltzung zu finden Gegebenenfalls konnte man natuumlrlich auch Horaz zitieren mit dessen bdquoodi profanum vulgus et arceoldquo (Oden III ) und damit bekunden daszlig man den uneingeweihten Poumlbel haszligt und sich fern haumlltVielfach hat dabei allerdings der fluumlssige Text zum leichten Daruumlber- Hinweg-Lesen verfuumlhrt Immerhin enthalten ja schon die Worte die hauptsaumlchlichen Aussagen des Buches Die bdquoMasseldquo kommt vom griechischen bdquoBrotteigldquo (maza) den man kneten (massein) muszlig die

bdquofoulesldquo des Originaltextes leiten sich vom lateinischen bdquofulloldquo dem bdquoWalkerldquo oder bdquoTuchmacherldquo her und die englische bdquocrowdldquo ist dem mittelhochdeutschen bdquokrotenldquo stammverwandt das so viel wie

bdquopressenldquo bedeutet In jedem Fall hat man es mit dem Gestaltlosen dem Amorphen zu tun das erst durch aumluszligere Einwirkung geformt wird Dazu haben sich professionelle Gestalter ndash Politiker Propa- gandisten und Demagogen ndash nur allzugern aufgerufen gefuumlhltSo gelesen ist Le Bons Lehre verfuumlhrerisch bzw sogar irrefuumlhrend und wohl auch etwas zu billig Man muszlig genauer zusehen um zu merken daszlig der Autor hier und in den ein Jahr zuvor erschienenen

bdquoLois psychologiques de lrsquoeacutevolution des peuplesldquo in verschluumlsselter Weise die Geschichte von dem Erdenkloszlig erzaumlhlt aus dem Gott den Von A Seiffhart 922 ins Deutsche uumlbertragen und bei S Hirzel Leipzig als bdquoPsycholo- gische Grundgesetze in der Voumllkerentwicklungldquo erschienen

Menschen machte und dem er nach dem Suumlndenfall verhieszlig bdquoDubist Erde und sollst zu Erde werdenldquo ( Mose 3 9) Seine Version lautete Ihr Voumllker seid aus dumpfen Massen hervorgegangen und es liegt an euch ndash eurem Suumlndenfall ndash wie bald ihr wieder in amorphe Massen zerfallen werdet bdquoDie Masse ist das Ende das radikale Nichtsldquo so hat das Oswald Spengler im bdquoUntergang des Abendlan- desldquo (922) ausgedruumlcktDie Sache ist aber womoumlglich noch ernster denn bdquodas radikale Nichtsldquo ist mitten im Leben der Voumllker enthalten und kann als

bdquopsychologische Masseldquo in jedem Moment zum Vorschein kommen Das erinnert an Freuds Todestrieb der in zahllosen Varianten der Aggression der Destruktion und der Selbstzerstoumlrung das Leben gefaumlhrdet Wie Freud darin ein Kennzeichen des bdquoDaumlmonischenldquo sah (920) ist auch fuumlr Le Bon die Masse ein daumlmonisches Wesen bdquoso etwas wie die Sphinx der antiken Sageldquo (S 7) 2

I Der Arzt und das Schicksal

Dr Gustave Le Bon lieszlig sich als Arzt von der Vorstellung leiten daszlig Kulturen wie Lebewesen sich im Aufsteigen entfalten ihren Formenreichtum zeigen dann aber bdquonach Vollendung ihrer schoumlpfe- rischen Wirkung hellip mit dem fortschreitenden Schwinden ihres Ide- als hellip mehr und mehr alles verlieren was ihren Zusammenhalt ihre Einheit und Staumlrke bildeteldquo Sie zerfallen was bleibt ist

bdquohellip nur noch eine Menge alleinstehender Einzelner hellip eine Masse hellip Der Poumlbel herrscht und die Barbaren dringen vor Noch kann die Kultur glaumlnzend scheinen weil sie das aumluszligere Ansehen bewahrt das von einer langen Vergangenheit geschaffen wurde tat- saumlchlich aber ist sie ein morscher Bau der keine Stuumltze mehr hat und beim ersten Sturm zusammenbrechen wirdldquo (S 53)Er betrachtete es als seine Aufgabe diese Entwicklung die er im Prinzip fuumlr unvermeidlich hielt so lange wie moumlglich hinauszuzouml- gern wie eben auch ein Arzt im vollen Wissen um die Sterblichkeit seiner Patienten bestrebt ist deren Leben und Wohlbefinden zu erhalten Wo es sich um Seuchen handelt will ein Hygieniker natuumlr- lich auch sich selbst davor schuumltzen von ihnen befallen zu werden

2 Bei Zitaten aus Le Bons bdquoPsychologie der Massenldquo ist nur die Seitenzahl angegeben bei solchen aus anderen Werken dieses Autors wird jeweils die Jahreszahl vorangesetzt

XIV EINFUumlHRUNG

fuumlr Le Bon bedurfte es dazu der Einsicht in die Funktionsweise derKrankheit bdquoDie Kenntnis der Psychologie der Massen ist heute das letzte Hilfsmittel fuumlr den Staatsmann der hellip nicht allzusehr von ihnen beherrscht werden willldquo (S 6)Als bdquoein Menschheitsziel von houmlchster Invarianzldquo bezeichnete auch der Dichter Hermann Broch (886ndash95) bdquodie gluumlcklichen Normali- taumltsperioden der Menschheit tunlichst zu verlaumlngernldquo obwohl seine im amerikanischen Exil entworfene bdquoMassenwahntheorieldquo ebenfalls ein mit dem Charakter der bdquoUnentrinnbarkeitldquo ausgezeichnetes

bdquoGesetz der psychischen Zyklenldquo enthieltIm Todesjahr Le Bons ndash 93 ndash nahm ein deutscher Arzt der Psychiater und Philosoph Karl Jaspers (883ndash969) das Thema in der Abhandlung uumlber bdquodie geistige Situation der Zeitldquo auf Als Band 000 der hochangesehenen bdquoSammlung Goumlschenldquo war das Buumlchlein so etwas wie eine Jubilaumlumsschrift die fuumlr das Denken der Weimarer Republik in hohem Maszlige als repraumlsentativ galt Seine These lautete

bdquoEs beginnt heute der letzte Feldzug gegen den Adel Statt auf politischem und soziologischem Felde wird er in den Seelen selbst gefuumlhrtldquo indem sich bdquodie Instinkte des Massemenschen hellip wie schon oumlfters gefaumlhrlicher als je mit religioumlskirchlichen und politisch absolutistischen Instinkten (vereinigen) um die universale Nivellie- rung in der Massenordnung mit einer Weihe zu versehenldquo (S 74) Der Adel den er meinte war nicht eine irgendwie privilegierte Schicht sondern so etwas bdquowie die unsichtbare Kirche eines corpus mysticum hellip der selbstseienden Geisterldquo (S 76) die als Minoritaumlt Geschichte machen Somit sei jetzt bdquodas Problem des menschlichen Adels hellip die Rettung der Wirksamkeit der Besten welche die Wenigsten sindldquo (S 73)Jaspers beruft sich ausdruumlcklich auf Le Bon der bdquodie Eigenschaften der Masse hellip als Impulsivitaumlt Suggestibilitaumlt Intoleranz Wandel- barkeit usw trefflich analysiert hatldquo (S 35) Als typische Zuumlge wer- den weiterhin aufgezaumlhlt bdquoEntscheidung durch Majoritaumlten Haszlig gegen jeden hervorragenden Einzelnen Forderung der Gleichheit ruumlcksichtslose Isolierung oder Ausschlieszligung jeder Besonderheit welche nicht repraumlsentativ fuumlr alle ist Verfolgung des Uumlberragen- denldquo (S 73) Allerdings sind bdquoMassemenschen hellip anzuerkennen sofern sie dienen leisten aufblickend den Impuls eines moumlglichen Aufschwungs kennen das heiszligt sofern sie selbst das sind was die Wenigen entschieden sindldquo (S 78)Nach dem zweiten Weltkrieg beurteilte Jaspers die Situation nicht wesentlich anders bdquoDie Verwandlung von Volk in Publikum und

EINFUumlHRUNG XV

Masse ist heute unaufhaltsamldquo heiszligt es 949 in bdquoVom Ursprung undZiel der Geschichteldquo (S 26) denn bdquoMassen entstehen wo Men- schen ohne eigentliche Welt ohne Herkunft und Boden verfuumlgbar und auswechselbar werdenldquo (S 25) Der Philosoph prangerte dabei

bdquodie Minderwertigkeit der Vielen des Durchschnittsldquo an bdquoderen Dasein durch den Massendruck alles bestimmtldquo In diesem Sinne so meinte er ist Masse bdquodie Erscheinung einer geschichtlichen Lage unter bestimmten Bedingungen (und) keineswegs endguumlltig minder- wertigldquo es sei naumlmlich auch moumlglich bdquodaszlig in den Massen selber die vernuumlnftig ringende Arbeit wirklichen Geistes sich entwickleldquo (S 27) Auch hier gewinnt schlieszliglich der Arzt die OberhandNoch einmal zuruumlck zum Jahr 93 in dem Le Bon starb Damals forderte eine Kommission des Voumllkerbundes repraumlsentative Vertreter des internationalen Geisteslebens zu einem brieflichen Meinungsaus- tausch auf bei dem Albert Einstein im Hinblick auf die Moumlglichkeit der Kriegsverhuumltung Freud die Frage stellte bdquoWie ist es moumlglich daszlig sich die Masse hellip bis zur Raserei und Selbstopferung entflam- men laumlszligtldquo Man denkt unwillkuumlrlich an Le Bons These bdquowenn die Massen geschickt beeinflusst werden koumlnnen sie heldenhaft und opferwillig seinldquo (S 3) Freud der sich schon 92 (in bdquoMassen- psychologie und Ich-Analyseldquo) sehr intensiv mit dem franzoumlsischen Autor beschaumlftigt hatte blieb auch seinerseits im Rahmen von dessen Vorstellungen bdquoEs ist ein Stuumlck hellip der angeborenen und nicht zu beseitigenden Ungleichheit der Menschen daszlig sie in Fuumlhrer und in Abhaumlngige zerfallen Die letzteren sind die uumlbergroszlige Mehrheit sie beduumlrfen einer Autoritaumlt welche fuumlr sie Entscheidungen faumlllt denen sie sich meist bedingungslos unterwerfen Hier waumlre anzuknuumlpfen man muumlszligte mehr Sorge als bisher aufwenden um eine Oberschicht selbstaumlndig denkender der Einschuumlchterung unzugaumlnglicher nach Wahrheit ringender Menschen zu erziehen denen die Lenkung der unselbstaumlndigen Massen zufallen wuumlrdeldquo (Ges W XVI S 24) Das war ndash abermals aus aumlrztlicher Sicht ndash ein Vorschlag zur Gesell- schafts-Hygiene der als herrschende Elite bdquoeine Gemeinschaft von Menschenldquo postulierte bdquodie ihr Triebleben der Diktatur der Ver- nunft unterworfen habenldquo Ihnen entsprechen im Konzept von Jas- pers bdquodie selbstseienden Menschenldquo jene bdquoBesten hellip die sie selbst sind im Unterschied von denen die in sich nur eine Leere fuumlhlen keine Sache als ihre kennen sich selber fliehenldquo (93 S 74) Man kennt sie auch aus zahlreichen Publikationen Le Bons z B aus der thesenartigen Zusammenfassung seiner Leitgedanken in den bdquoApho- rismes du temps preacutesentldquo (93) die von der Gesellschaft eine hoch-

XVI EINFUumlHRUNG

qualifizierte Fuumlhrung fuumlr die Massen verlangen damit deren dynami-sche Energie in die fuumlr das allgemeine Wohlergehen erforderliche Aktivitaumlt geleitet werde

II Werke und Tage

Als Arzt so berichtet Le Bon (S 80) habe er im Jahr 870 bei der Belagerung von Paris erstmalig die unheimliche Beeinfluszligbarkeit von Massen beobachtet Der erst 29-jaumlhrige war damals Chefarzt einer Lazarettabteilung fuumlr seine Verdienste wurde er nach dem Krieg zum Offizier der Ehrenlegion ernanntAls Autor hatte er sich bis dahin erst durch eine Arbeit uumlber den Scheintod und uumlber vorzeitige Bestattungen (866) bekannt gemacht Das Thema war fuumlr ihn nicht uncharakteristisch denn in einem gewissen Sinn sind auch die ohne eigenen Willen agierenden Mitglie- der einer Masse bdquoScheintoteldquo Sie erinnern an gehorsame Medien die auf den Befehl eines Hypnotiseurs hin sich regen oder erstarren ohne spaumlter zu wissen warum und wieso Untaten die sie in diesem Zustand begangen haben koumlnnten waumlren bdquovielleicht gesetzlich aber nicht psychologisch als Verbrechenldquo zu bezeichnen (S 8 f) Die Pariser Kommune von 870 7 die Le Bon im Zusammenhang mit revolutionaumlren Greueltaten erwaumlhnt (S 2) forderte Uumlberlegungen dieser Art zweifellos heraus Sie sind uns nach 945 nicht erspart gebliebenAuf das gleiche Problem waren auch schon die Kriminologen Gabriel Tarde (843ndash904) und Scipio Sighele (868ndash93) gesto- szligen in deren Schriften manche Formulierungen aus der bdquoPsycholo- gie des foulesldquo von 895 vorweggenommen sind so z B bei Tarde in bdquoLes lois de lrsquoimitationldquo (890) die Darstellung der Gesellschaft als eine stufenweise herabfallende bdquoKaskade sukzessiver Magnetisatio- nenldquo d h hypnotischer Beeinf lussungen die sie im ganzen zu einem Fall von Somnambulismus (Schlafwandeln) macht bdquoSehr oft war der Fuumlhrer zuerst ein Gefuumlhrter der selbst von der Idee hynoti- siert war deren Apostel er spaumlter wurdeldquo heiszligt es bei Le Bon (S 83) fuumlr den das bdquoil a lui-mecircme eacuteteacute hypnotiseacuteldquo ganz gewiszlig keine bloszlige Phrase war bdquoSorgfaumlltige Beobachtungen scheinen (naumlmlich) zu beweisen daszlig ein einzelner der lange Zeit im Schoszlige einer wirken- den Masse eingebettet war sich hellip in einem besonderen Zustand befindet der sich sehr der Verzauberung naumlhert die den Hypnoti- sierten unter dem Einfluszlig des Hypnotiseurs uumlberkommtldquo (S 6)

EINFUumlHRUNG XVII

Die hypnotischen Phaumlnomene und deren therapeutische Verwertbar-keit faszinierten gerade um diese Zeit durch die Arbeiten von J M Charcot (835ndash893) in Paris und H Bernheim (840ndash99) in Nancy eine breite Oumlffentlichkeit Zwischen 88 und 89 schrieb in Wien der Arzt Arthur Schnitzler seinen bdquoAnatolldquo der mit einer Hypnose-Szene beginnt waumlhrend sich Sigmund Freud ndash ausgeruumlstet mit einem Stipedium seiner Fakultaumlt ndash auf mehreren Reisen in Paris und in Nancy mit den neuen Methoden vertraut machte Viele Jahre spaumlter (92) hat er in bdquoMassenpsychologie und Ich-Analyseldquo den Vergleich umgekehrt bdquoDie Hypnose hat ein gutes Anrecht auf die Bezeichnung eine Masse zu zweitldquo (Ges W XIII S 42)Le Bon selbst scheint die aumlrztliche Praxis weniger gelockt zu haben als einerseits die hygienische Betreuung der Bevoumllkerung insgesamt und andererseits die Forschung die sich ndash dem Geist der Zeit folgend ndash zunaumlchst im Rahmen der phrenologischen Tradition ent- faltete Die von Franz Joseph Gall (758ndash828) aufgestellte Hypo- these daszlig der knoumlcherne Schaumldel Ruumlckschluumlsse auf die staumlrkere und schwaumlchere Ausbildung der darunterliegenden Gehirnpartien und damit auf die Begabungen und Charakterzuumlge eines Menschen zulasse war allerdings im letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts nicht mehr aufrechtzuerhalten Jedoch bemuumlhte man sich mit gro- szligem Eifer um den Nachweis eines Zusammenhanges zwischen Schauml- delvolumen bzw Gehirngroumlszlige und Intelligenz Die Wege die dabei eingeschlagen wurden und die Irrwege auf die viele gerieten schil- dert neuerdings S J Gould (98) sehr anschaulich Den bdquoGroszlig- kopfertenldquo waumlre eine solche ganz objektive Bestaumltigung ihrer Uumlberle- genheit nicht unlieb gewesen Paul Broca (824ndash880) der 86 das motorische Sprachzentrum im Gehirn entdeckt hatte eroumlffnete 867 in Paris ein anthropologisches Laboratorium in dem sich Le Bon laumlngere Zeit mit Schaumldelmessungen beschaumlftigteSeine 879 publizierten bdquoRecherches anatomiques et matheacutematiques sur les variations de volume du cerveau et sur leurs relations avec lrsquointelligenceldquo wurde mit einem Preis der Akademie der Wissenschaf- ten ausgezeichnet Das Hauptergebnis ist von wesentlicher Bedeu- tung fuumlr Le Bonrsquos Theorie der Kultur- und Voumllkerentwicklung bdquoDer Durchschnittsunterschied des Schaumldels bei zwei Voumllkern ist niemals sehr bedeutend hellip Vergleicht man (aber) die Schaumldel der verschie- denen Menschenrassen aus vergangener und gegenwaumlrtiger Zeit so erkennt man die Rassen deren Schaumldelvolumen die groumlszligten indivi- duellen Abweichungen aufweist als die in der Kultur am houmlchsten

XVIII EINFUumlHRUNG

stehenden und bemerkt daszlig in dem Maszlige wie eine Rasse in derKultur fortschreitet die Schaumldel der Individuen aus denen sie besteht sich immer mehr differenzierenldquo (894 S 33)Was die Gruppen voneinander unterscheidet sind somit nicht ndash wie noch Broca zeigen wollte ndash die Durchschnittswerte der Verteilungen sondern deren Streuungsweiten um den gemeinsamen Mittelwert Aus Gruumlnden die mehr mit dem Lebensstandard als mit der Kultur der Voumllker zu tun haben duumlrften ist das nicht unplausibel aber diese Frage braucht hier nicht entschieden zu werden Von grundlegender Bedeutung war jedoch fuumlr Le Bonrsquos Denken der Schluszlig den er aus seinem Ergebnis zog bdquodaszlig (naumlmlich) die Kultur uns nicht zur intel- lektuellen Gleichheit sondern zu einer immer groumlszliger werdenden Ungleichheit fuumlhrtldquo (894 S 33) Das ist der Ansatzpunkt seines Buches uumlber die bdquopsychologischen Grundgesetze der Voumllkerentwick- lungldquoDen in ihrer Eigenart zu maximaler Besonderheit ausgepraumlgten Ein- zelindividuen entsprechen bei Jaspers die bdquoselbstseienden Men- schenldquo deren bdquoNaumlhe das Beste (ist) was heute geschenkt werden kannldquo (S 75)Auch wenn dies Le Bon und Jaspers gleichermaszligen zuruumlckgewiesen haumltten stellt sich angesichts des unverkennbaren Narziszligmus der groszligen Einzelnen ndash bzw ihrer Verkuumlnder ndash die Erinnerung an die kulturelle Pose jener bdquohochmuumltigen Kasteldquo ein die Baudelaire 863 beschrieben hat deren bdquobrennendes Beduumlrfnisldquo darin bestand bdquosich innerhalb der Grenzen des Geziemenden eine Originalitaumlt zu schaf- fen eine Art Kult mit sich selberldquo Die Rede ist vom bdquoDandysmusldquo und dessen bdquoculte de soi-mecircmeldquo jenem bdquoletzten Aufleuchten des Heroismus in Zeiten des Verfallsldquo der bdquohauptsaumlchlich in Uumlbergangs- epochen (erscheint) wenn die Demokratie noch nicht allmaumlchtig ist und die Aristokratie noch nicht gaumlnzlich abgewirtschaftet hatldquoGewiszlig der Dandy ist in unseren Augen ein laumlcherliches Zerrbild des

bdquoHeroismusldquo aber die zeitliche Einordnung dieses bdquoAuf leuchtensldquo stimmt genau bdquoDie furchtbare Dekadenz der lateinischen Rasseldquo beklagte Le Bon in seiner Voumllkerpsychologie von 894 ebenso wie das die Schriftsteller J K Huysmans (bdquoGegen den Strichldquo 884) Paul Bourget (bdquoDer Schuumllerldquo 889) und Maurice Barreacutes (bdquoDie Ent- wurzeltenldquo 898) tatenJ Peacuteladan dessen Roman bdquoFinis Latinorumldquo (898) als 3 Band der 2-baumlndigen Reihe bdquoLa deacutecadence latineldquo (884ndash925) erschien hatte dem Unheil sogar durch die Gruumlndung eines mystischen

EINFUumlHRUNG XIX

Rosenkreuzer-Bundes (888) zu wehren versucht Aumlhnliche Gedan-ken bewegten in Deutschland Stefan George der sich 889 in Paris fuumlr Baudelaires Dandy-Ideal begeistert hatte In den bdquoBlaumlttern fuumlr die Kunstldquo veroumlffentlichte er 902 ein Weihespiel das den Titel traumlgt

bdquoDie Aufnahme in den Ordenldquo Darin verkuumlndet der Groszligmeister dem Juumlngling bdquoDen Voumllkern ungeahnt ist hier in hut hellip Die vor der Allerstarrung wahrt die glut ndash hellip Kein wachtet der vor ihr sein blut erwaumlgeldquoMan schwaumlrmte fuumlr die Gralsritter und fuumlr Wagners bdquoParsivalldquo Nicht einmal Freud widerstand als ihm Ernest Jones die Idee eines geheimen Leitungsgremiums der Psychoanalyse einfluumlsterte jedoch bestand er in seinem Brief vom 26 Dezember 92 ausdruumlcklich darauf bdquodaszlig die Existenz des Bundes und seine Aktionen ein absolu- tes Geheimnis zu bleiben haumlttenldquo So ganz im Verborgenen wirken wollte man aber doch auch wieder nicht und so trug denn jeder der sieben Herren einen goldenen mit einer antiken Gemme gezierten Ring am FingerDie Gefahr wie sie in Paris die Retter sahen schilderte am 0 April 886 die Zeitung bdquoLe Deacutecadentldquo nach Mario Praz wie folgt bdquoEs waumlre der Gipfel des Wahnsinns sich den Stand der Dekadenz den wir erreicht haben nicht klarzumachen Religion Sitten Gerechtig- keit ndash alles verfaumlllt hellip Die Gesellschaft loumlst sich unter der Wirkung einer zersetzenden Zivilisation auf Der moderne Mensch ist uumlbersaumlt- tigt Verfeinerung der Begierden der Empfindungen des Geschmacks des Luxus der Vergnuumlgungen Neurose Hysterie Hypnotismus Morphiumsucht wissenschaftliche Scharlatanerie uumlberspannte Verehrung von Schopenhauers Philosophie sind die Vorboten des sozialen VerfallsldquoAus Wien lieszlig sich 893 mit einem Aufsatz uumlber Gabriele DrsquoAnnun- zio der 29-jaumlhrige Hugo von Hofmannsthal in der gleichen Tonart vernehmen bdquoHeute scheinen zwei Dinge modern zu sein Die Ana- lyse des Lebens und die Flucht aus dem Leben hellip Modern sind alte Moumlbel und junge Nervositaumlten hellip Wir haben nichts als ein senti- mentales Gedaumlchtnis einen gelaumlhmten Willen und die unheimliche Gabe der Selbstverdoppelung Wir schauen unserem Leben zu hellip Wir hellip Ich rede von ein paar tausend Menschen in den groszligen europaumlischen Staumldten verstreut hellip Sie fuumlhlen sich mit schmerzlicher Deutlichkeit als Menschen von heute sie verstehen sich miteinander und das Privilegium dieser geistigen Freimaurerei ist fast das einzige was sie im guten Sinn vor den uumlbrigen voraushaben hellipldquo (Werke

XX EINFUumlHRUNG

VIII S 75 f) Abermals ein Orden der Wenigen im Kontrast zubdquoden uumlbrigenldquoMan sprach in Paris und in Wien vom bdquoFin de siegravecleldquo als ginge es um den bdquoUntergang des Abendlandesldquo jedoch litt man in Frankreich das tonangebend war im wesentlichen unter den Spannungen die der Schweizer Publizist P Seippel 905 auf die Formel bdquoles deux Francesldquo gebracht hatte Die Geister schieden sich am Phaumlnomen der Franzoumlsischen Revolution von 789 in der die einen den hoffnungs- vollen Aufbruch in eine neue Zeit erblickten die anderen aber den Anfang vom Ende In der Tat bedurfte es der schweren Staatskrise von 877 bis der 4 Juli im Gedenken an den Bastille-Sturm zum Staatsfeiertag werden konnteLe Bon stand auf Seiten der Traditionalisten jedoch distanzierte er sich von den bdquoLieblingsschriftstellern der jetzigen Bourgeoisieldquo (S 3)

ndash gemeint waren damit offenbar Huysmans (848ndash907) Barreacutes (862ndash923) und Charles Peacuteguy (873ndash94) ndash jenen bdquoNeubekehr- tenldquo mit ihrem bdquoverzweifeltem Appell an die sittlichen Kraumlfte der Kircheldquo er setzte als Arzt auf die heilende Wirkung der Wissen- schaftWie jene erblickte er aber im Sozialismus den er immer wieder ndash vor allem in der bdquoPsychologie du socialismeldquo (898) ndash angriff die Negation von Kultur bdquoDer Sozialismusldquo heiszligt es in der Voumllkerpsy- chologie bdquoscheint zur Zeit die schwerste Gefahr zu sein von der die europaumlischen Voumllker bedroht werden (er) stellt den neuen Glauben der ungeheuren Menge der Enterbten darldquo (894 S 36) Nicht viel anders klang es in Baudelaires Dandy-Aufsatz von 863 bdquoAber leider erstickt der steigende Schlamm der Demokratie der sich uumlber alles legt und alles gleichmacht Tag um Tag diese letzten Vertreter des menschlichen Stolzesldquo ndash die DandiesObwohl er von den Modenarren die sich selbst bisweilen bdquoles incroyablesldquo ndash die Unglaublichen ndash nannten kaum sehr viel gehal- ten haben duumlrfte war Le Bon im Prinzip der gleichen Ansicht wie sie bdquoSobald der Sozialismus ein Land unterjocht hat besteht seine einzige Aussicht sich einige Zeit zu erhalten darin daszlig er alle die Individuen bis auf das Letzte verschwinden laumlszligt die eine so groszlige Uumlberlegenheit besitzen um sich ndash wenn auch nur in geringem Maszlige

ndash uumlber den niedrigsten Durchschnitt zu erhebenldquo (894 S 30) Voumlllig grundlos waren solche Aumlngste nicht sie konnten sich einerseits auf die Erfahrungen mit der Pariser Kommune von 87 berufen und andererseits auf das anarchistische Programm Bakunins

EINFUumlHRUNG XXI

wie es z B in den bdquoDaumlmonenldquo Dostojewski (87 72) schildern laumlszligtbdquoDas Hauptprinzip ist die Gleichheit Ais erstes wird das gesamte Bildungsniveau gesenkt hellip Wir brauchen keine Hochbegabten hellip wir werden jedes Genie im Keim ersticken Alles wird auf einen Nenner gebracht volle Gleichheit hergestelltldquoFuumlr Le Bon kann Gleichheit jedenfalls bdquonur im Untergeordneten bestehen sie ist der dunkle druumlckende Traum vulgaumlrer Mittelmaumlszligig- keit hellip Sollte Gleichheit in der Welt herrschen so muumlszligte man allmaumlhlich alles was den Wert einer Rasse ausweist auf das Niveau des am tiefsten stehenden was diese Rasse besitzt herabdruumlckenldquo (894 S 23) Genau das aber sind bdquodie Forderungen der Massenldquo die heute bdquonach und nach immer deutlicher (werden sie) laufen auf nichts Geringeres hinaus als auf den gaumlnzlichen Umsturz der gegen- waumlrtigen Gesellschaft um sie jenem primitiven Kommunismus zuzufuumlhren der vor dem Beginn der Kultur der normale Zustand aller menschlichen Gesellschaft warldquo (S 3)Es ist das Hauptresultat seiner Schaumldelmessungen von dem er sich unbeirrt leiten laumlszligt Je differenzierter umso houmlher Gleichheit ist unten bei den Massen bdquoAllein durch die Tatsache Glied einer Masse zu sein steigt der Mensch also mehrere Stufen von der Leiter der Kultur hinabldquo (S 7) Dort wo die Individualitaumlt verschwindet gilt das bdquoGesetz der seelischen Einheit (de lrsquouniteacute mentale) der Massenldquo Oswald Spengler umschrieb es ohne Le Bon auch nur zu nennen im bdquoUntergang des Abendlandesldquo (922) bdquoEine zufaumlllige Menge wird auf der Straszlige zusammengeballt sie hat ein Bewuszligtsein ein Fuumlhlen eine Sprache bis die kurzlebige Seele erlischt und jeder seines Weges gehtldquo (II S 22)Daszlig ein Mensch aus einem vergleichsweise so geringem Anlaszlig sogleich bdquomehrere Stufen von der Leiter der Kulturldquo hinabsteigt ist schwer vorzustellen ndash es sei denn man spraumlche mit Freud von der

bdquoRegression der seelischen Taumltigkeit auf eine fruumlhere Stufe wie wir sie bei Wilden oder bei Kindern zu finden nicht erstaunt sindldquo (92 S 29) Genau das geschieht auch in der Hypnose durch die bdquoder Hypnotiseur beim Subjekt ein Stuumlck von dessen archaischer Erb- schaftldquo weckt bdquoDer unheimliche zwanghafte Charakter der Mas- senbildung der sich in ihren Suggestionserscheinungen zeigt kann also wohl mit Recht auf ihre Abkunft von der Urhorde zuruumlckge- fuumlhrt werdenldquo meinte Freud (92 S 42)Urhorden hat Le Bon so wenig jemals gesehen wie Freud aber er kannte aus eigener Anschauung die Restbestaumlnde sozusagen die Kadaver groszliger Kulturen Nationen oder Rassen Zwischen den drei

XXII EINFUumlHRUNG

Begriffen pflegte er uumlbrigens nicht besonders genau zu unterschei-den in einer romanischen Sprache denkend erschienen ihm ganz unwillkuumlrlich die Rassen als die bdquoWurzelnldquo aus denen sich ndash von einer Nation gepf legt ndash die Kultur wie ein Gewaumlchs entfaltet In die Rolle des Leichenbeschauers geriet der Arzt durch seine voumllkerkundlichen Studien bdquoDer Mensch und die Gesellschaften ihr Ursprung und ihre Geschichteldquo (88) und bdquoDie Kultur der Araberldquo (884) die ihm notwendig erschienen nachdem die Schaumldelmessun- gen zu der Korrelation zwischen kulturellem Niveau und Differen- ziertheit gefuumlhrt hatten Auf Grund dieser Arbeiten erhielt er 884 von der Franzoumlsischen Akademie den Auftrag in Indien die buddhi- stischen Baudenkmaumller zu inventarisieren Hier sah er nun zwischen den Zeugen einer unstreitig groszligen Vergangenheit das Elend der kolonialen Gegenwart Mengen von Menschen denen ihre Geschichte nichts mehr bedeutet und die der Fremde der mit ihnen nicht einmal reden konnte als Individuen kaum voneinander zu unterscheiden vermochte Sie sehen fuumlr ihn alle gleich aus Das ist die Masse schlechthin der Endzustand des Zerfalls bdquoDann geschieht es daszlig die Menschen hellip sich nicht mehr regieren koumlnnen und danach verlangen in den unbedeutensten Handlungen gefuumlhrt zu werden hellip Mit dem endguumlltigen Verlust des fruumlheren Ideals verliert die Rasse zuletzt auch ihre Seeie sie ist dann nur noch eine Menge alleinstehender Einzelnerldquo (S 53)Zunaumlchst fanden diese Beobachtungen ihren Niederschlag in mehre- ren Buumlchern bdquoDie Kulturen Indiensldquo (887) bdquoDie fruumlhen Kulturen des Orients (889) und bdquoDie Kunstdenkmaumller Indiensldquo (89) Ihnen folgten dann aber in schnellem Tempo die Schriften in denen Le Bon mit dem Einsatz allrsquo seiner Uumlberredungskunst den europauml- ischen Nationen und in erster Linie Frankreich das indische Schick- sal ersparen wollte das sich mit der im Fin de siegravecle mancherorts liebend gepflegten Dekadenz bereits anzudeuten schien bdquoDie psy- chologischen Grundgesetze der Voumllkerentwicklungldquo (894) bdquoDie Psychologie der Massenldquo (895) bdquoDie Psychologie des Sozialismusldquo (898) bdquoDie Psychologie der Erziehungldquo (902) bdquoDie politische Psycholgieldquo (902) sowie bdquoDie franzoumlsische Revolution und die Psy- chologie der Revolutionenldquo (903)Nach naturphilosophischen Abhandlungen (bdquoDie Evolution der Materieldquo 905 und bdquoDie Evolution der Kraumlfteldquo 907) wandte sich

bdquoDie Welt des alten Indienldquo uumlbers von H Leonhardt Verlag Herbig Muumlnchen 974

EINFUumlHRUNG XXIII

Le Bon der inzwischen die Leitung der Bibliothegraveque de Philosophiescientifique uumlbernommen hatte waumlhrend des Weltkrieges und nach diesem noch einmal der Politik zu bdquoDie psychologischen Lehren des europaumlischen Kriegesldquo (96) bdquoDie Psychologie der neuen Zeitldquo (920) bdquoDie Welt aus dem Gleichgewichtldquo (923) und bdquoDie gegen- waumlrtige Entwicklung der Weltldquo (927)Die Hektik seines Publizierens hat etwas Unheimliches an sich den Schluumlssel zum Verstaumlndnis enthaumllt eine Bemerkung in der bdquoPsycholo- gie des foulesldquo bdquoDie Massen sind so etwas wie die Sphinx der antiken Sage man muszlig die Fragen die ihre Psychologie uns stellt loumlsen oder darauf gefaszligt sein von ihnen verschlungen zu werdenldquo (S 7)Die Symbolisten haben mit dem Maler Gustave Moreau (826ndash894) an der Spitze bdquodie sinnbildliche Gottheit unzerstoumlrbarer Wollust die Goumlttin der unsterblichen Hysterieldquo (Huysmans 884)

bdquodas unbewuszligte Geschoumlpf ldquo (Moreau) ndash die Sphinx oder auch Salome ndash immer wieder als die groszlige faszinierende Gefahr darge- stellt an der in der dekadenten Hingabe der maumlnnliche Kulturwille scheitern muszlig In Peacuteladans Romanen verfaumlllt von den zur Rettung der Kultur erkorenen Helden einer nach dem anderen diesem Schicksal und in den nachgelassenen Notizen aus Baudelaires letz- tem Lebensjahr (867) wird ganz unumwunden festgestellt bdquoDie Frau ist das Gegenteil des Dandy also muszlig sie Grauen erregenldquo In den romanischen Sprachen ist auch der Tod ndash la mort ndash ein Femi- ninum vielleicht die Ruumlckkehr in den Mutterschoszlig der Erde Le Bon kannte das Grauen aus Indien wo er ndash wie es scheint ndash das Thema seiner Erstlingsschrift den Scheintod uumlberhaupt nicht mehr in Erwaumlgung gezogen hatte Jetzt ndash Freud auch darin verwandt ndash sah er sich zur Uumlbernahme der Oumldipus-Rolle verpflichtet

III Gruppen ndash nicht Massen

Von den Vielen den bdquoPolloildquo deren bloszlige Anzahl fuumlr Stefan George bereits bdquoFrevelldquo ist sprach Platon meist im Ton gnadenloser Gering- schaumltzung Daszlig bdquodie Meisten schlecht sindldquo das Maszlig aber das Beste weiszlig man aus den Merkspruumlchen welche die Sieben Weisen dem abendlaumlndischen Denken mit auf den Weg gegeben haben Diese Thesen stammen wann und wo immer sie auftreten aus dem Kampf um die Demokratie bzw gegen ein allgemeines Wahlrecht Beson-

XXIV EINFUumlHRUNG

ders gern wird mit ihnen auf das Scherbengericht (Ostrakismos)hingewiesen durch das Kleisthenes in Athen seine Reformen (509 507 v Chr) gegen das Wiedererstarken der Adelspartei absichern wollte Es bedurfte dabei bloszlig eines Quorums von 6 000 Buumlrgern um eine missliebige Persoumlnlichkeit binnen zehn Tagen zum Verlassen des Landes zu zwingen ohne daszlig es erforderlich gewesen waumlre ihr irgendwelche Vergehen nachzuweisenDas System bleibt unheimlich auch wenn bdquosoviel man weiszlig hellip der Ostrakismos in Athen erfolgreich nur etwa zehnmal zur Anwendung (kam) ehe man ihn aufgabldquo (Tarkiainen 972) Hier ist deutlich die

bdquoNivellierungldquo am Werk vor der Le Bon warnte Umso erstaunli- cher ist daszlig Aristoteles in seiner bdquoPolitikldquo (284 b) einen sehr milden Vergleich waumlhlte bdquoAuch der Chormeister wird doch den nicht im Chor mitsingen lassen dessen Stimme an Kraft und Schoumln- heit die des ganzen Chores uumlbertrifftldquo Er zog daraus den Schluszlig

bdquodie Idee des Scherbengerichts (habe) bei anerkannten Uumlberlegenhei- ten ein gewisses Recht vom Standpunkt des Staates aus Besser (sei) es freilich wenn der Gesetzgeber von vornherein die ganze Verfas- sung so einrichtet daszlig es eines solchen Heilmittels nicht bedarfldquo Die Nivellierung als bdquoHeilmittelldquo ndash bdquoiatreialdquo heiszligt es im Griechi- schen ndash auch Aristoteles war Arzt (iatros)Man kann sich wenn man Le Bonrsquos Ansichten teilt zwar auf viele Vorlaumlufer berufen ndash insbesondere auf Platon ndash nicht aber auf Aristoteles der nicht nur in der bdquoPolitikldquo sondern auch in der bdquoMetaphysikldquo fuumlr Mitbestimmungsverfahren plaumldierte bdquoObwohl kein einzelner (die Wahrheit) angemessen zu erreichen vermag koumln- nen wir doch nicht alle dabei versagen jeder stellt eine Behauptung auf uumlber die Natur und als einzelner traumlgt er nichts oder nur wenig zur Erkenntnis bei aber aus der Vereinigung aller resultiert etwas Groszliges an Wissenldquo (993 b) bdquoDaher beurteilen ja auch die Vielen die Werke von Musikern und Dichtern am besten naumlmlich der eine diese der andere jene Seite an denselben aile zusammen aber das Ganzeldquo (28 b)Die Diskussion entbrennt immer wieder Niccolograve Macchiavelli (467ndash527) der in Florenz nach dem Sturz der Medici (494) als Republikaner ziemlich bald (489) zu hohen Staatsaumlmtern aufgestie- gen ist die er 52 nach der Ruumlckkehr der Medici auch prompt wieder verliert kennt zwar auch den Spruch bdquoWer dem Volk ver- traut hat auf Sand gebautldquo (Chi fonda in sul populo fonda in sul fango) aber er haumllt ihn fuumlr ein bdquoabgedroschenes Sprichwortldquo (pro-

EINFUumlHRUNG XXV

verbio trito) das nur unter bestimmten Voraussetzungen gilt (IlPrincipe 53 cap IX) Grundsaumltzlich aber meint er bdquodaszlig ein Volk kluumlger und bestaumlndiger und von richtigerem Urteil ist als ein Fuumlrst Nicht ohne Grund sagt man daher Volkes Stimme Gottes Stimme Die oumlffentliche Meinung prophezeit so wunderbar richtig als saumlhe sie vermoumlge einer verborgenen Kraft ihr Wohl und Wehe vorausldquo (Discorsi 53ndash59 I cap 58) Ein wenig wie pro domo gespro- chen klingt der Zusatz bdquoMan sieht auch daszlig das Volk bei der Besetzung der Aumlmter eine viel bessere Wahl trifft als ein Fuumlrstldquo ndash aber im Grunde war das ja auch die aristotelische Lehrmeinung Die nicht weniger plausible Gegenthese findet sich bei Descartes im

bdquoDiscours de la Meacutethodeldquo (II 4) bdquoStimmenmehrheit ist kein Beweis angesichts von schwer zu entdeckenden Wahrheiten denn es ist weit wahrscheinlicher (plus vraisemblable) daszlig ein Mensch allein sie fin- det als ein ganzes Volkldquo Obwohl sich diese Uumlberlegung durch eine einfache Rechnung bestaumltigen laumlszligt fuumlhrt sie auf einen Irrweg Geht man naumlmlich davon aus daszlig jedes Einzelindividuum eine von seiner Begabung Bildung und Motivation abhaumlngige Wahrscheinlichkeit p

fuumlr die Loumlsung eines bestimmten Problems besitzt dann liegt deren Wert zwischen Null und Eins 000 le pi le 00 Die Findewahr- scheinlichkeit einer groszligen Anzahl von n Personen (pn) entspraumlche aber dem Produkt aller Einzelwerte das zweifellos sehr viel kleiner als der einzelne pi-Wert ist pn = pi ∙ pi2 hellip pin lt pi

Zur Veranschaulichung diene eine Untersuchung von P R Laughlin und seinen Mitarbeitern (975) in der amerikanischen College-Stu- denten zuerst einzeln die 5 Aufgaben eines recht schwierigen Tests der verbalen Intelligenz bearbeiteten Die durchschnittliche Loumlsungs- wahrscheinlichkeit belief sich fuumlr Einzelpersonen auf pi = 042 waumlhrend sie fuumlr Dreiergruppen auf p3 = 058 anstieg die Gruppen waren somit im Schnitt erfolgreicher als die Einzelnen Die Empirie spricht fuumlr Aristoteles und Macchiavelli aber gegen Descartes und Le Bon obwohl rechnerisch Descartes natuumlrlich Recht behaumllt das Pro- dukt von 042 ∙ 042 ∙ 042 = 007 ist sehr viel kleiner als die Trefferwahrscheinlichkeit einer EinzelpersonSofern es sich um eine Gruppe handelt ist es freilich auch gar nicht erforderlich daszlig jedes ihrer Mitglieder alle Teilaufgaben loumlst man kann sich die Arbeit ganz im Sinne des Aristoteles so teilen daszlig bdquoder eine diese der andere jene Seite (beurteilt) alle zusammen aber das Ganzeldquo Versagen wuumlrde daher ein Team nur wenn keines seiner Mitglieder einen Treffer erzielt Die Wahrscheinlichkeit dafuumlr belaumluft

EINFUumlHRUNGXXVI

sich auf das Produkt der drei individuellen Nicht-Finde-Wahrschein-lichkeiten von qi = ndash pi = 058 somit auf 058 ∙ 058 ∙ 058 = 020 Gegenuumlber dieser kollektiven Nicht-Finde-Wahrscheinlichkeit hat daher die Dreiergruppe eine kollektive Finde-Wahrscheinlichkeit von p3 = ndash qi

3 = 080Im Experiment sind die Erfolge der Gruppen hinter diesem Wert mit p3 = 058 erheblich zuruumlckgeblieben obwohl sie ndash wie gesagt ndash houmlher lagen als die einzelnen Finde-Wahrscheinlichkeiten von im Schnitt 042 Das ist wenn man den hier vorgestellten Ansatz empi- risch uumlberpruumlft fast immer der Fall denn dieser beschreibt ein Optimum fuumlr dessen Erreichung eine Reihe von noch zu eroumlrtern- den Voraussetzungen besteht Zunaumlchst aber ist festzuhalten daszlig Experimentalgruppen in der Regel bei intellektuellen Suchaufgaben besser abschneiden als die durchschnittliche Einzelperson das schlieszligt jedoch keineswegs die Moumlglichkeit aus daszlig diese oder jene Einzelperson auch die optimale Gruppenleistung weit uumlberbieten kannDas Modell der kollektiven Optimalleistung das in den Fuumlnfziger- jahren von mehreren Autoren fast gleichzeitig formuliert wurde (P R Hofstaumltter 97) laumlszligt sich zu dem Ausdruck verallgemeinern daszlig die Wahrscheinlichkeit des Sucherfolges einer aus n Personen bestehenden Gruppe dem Komplimentaumlrwert der n-ten Potenz der durchschnittlichen Nicht-Finde-Wahrscheinlichkeit (qi) entsprichtpn = ndash qi

n Bedenkt man allerdings wie stark pn mit zunehmender Gruppengroumlszlige (n) selbst bei geringen Ausgangswerten ansteigt ver- liert das Modell einiges an Glaubwuumlrdigkeit Bei einer an sich gerin- gen individuellen Findewahrscheinlichkeit von pi = 00 braumlchten es n = 30 Personen bereits auf eine kollektive Findewahrscheinlichkeit von p30 = 096 der Erfolg waumlre ihnen damit nahezu sicher Im Extrem uumlbersteigert wuumlrde die Maxime daher lauten Man nehme eine genuumlgend groszlige Anzahl von Dummkoumlpfen dann laumlszligt sich jedes Problem nahezu mit Sicherheit loumlsen Das aber ist natuumlrlich barer UnsinnLe Bon haumltte zweifellos seinen Spaszlig gehabt an dieser Utopie demo- kratischer Wunschtraumlume obwohl er von seinen Schaumldelmessungen her durchaus Sinn fuumlr mathematisch-statistische Uumlberlegungen hatte Ernsthaft erwaumlgenswert wird unser Ansatz erst durch die Beruumlck- sichtigung der ihm innewohnenden vier Bedingungen die ndash sieht man genauer zu ndash eine nach der anderen Eigenschaften von Massen ausschlieszligen Was zunaumlchst die bdquoDummkoumlpfeldquo anlangt ist festzu-

EINFUumlHRUNG XXVII

stellen daszlig Personen mit einer absoluten Nicht-Finde-Wahrschein-lichkeit von qi = 00 nichts zur Verringerung des Produkts der q- Werte beitragen Ihre Beteiligung an der gemeinsamen Suchleistung wuumlrde daher bloszlig durch einen uumlberhoumlhten Wert von n den Ansatz verfaumllschen Vorausgesetzt wird daher zunaumlchst daszlig alle individuel- len pi-Werte groumlszliger als Null sindAn zweiter Stelle gilt daszlig die einfache Multiplikation von Wahr- scheinlichkeiten nur dann zulaumlssig ist wenn es sich dabei um unab- haumlngige Wahrscheinlichkeiten handelt Ausgeschaltet werden daher nach den Dummkoumlpfen nun auch die bloszligen Nachahmer die in den Suchvorgang keine eigene d h unabhaumlngige Findewahrscheinlich- keit einbringen Das Modell verlangt somit nicht nur einen gewissen Grad von Intelligenz sondern auch die im Charakter begruumlndete Selbstaumlndigkeit die Bereitschaft auf eigene Faust unter Umstaumlnden auch einen Fehler zu riskieren und bisweilen eine nicht unerhebliche Widerstandskraft gegenuumlber Einfluumlssen aus der Umwelt Bis zu den

bdquoselbstseienden Menschenldquo von Jaspers braucht man diese Forde- rung freilich nicht hinaufzuschraubenAn dritter Stelle wird eine gewisse Gruppenloyalitaumlt in dem Sinn verlangt daszlig der eine der etwas gefunden zu haben glaubt den anderen seinen Befund auch prompt mitteilt Man nennt das die Kommunikations-Bedingung deren Einhaltung bei den Gruppen- mitgliedern eine gemeinsame Sprache ein gemeinsames Ziel und zusaumltzlich die fuumlr Uumlberlegung und Verstaumlndigung erforderliche Zeit voraussetzt In besonderem Maszlige unterliegen dieser Bedingung in unserer Gesellschaft die als bdquoProfessorenldquo bezeichneten Such-Spezia- listen deren Titel sie zwar nicht zu Gestaumlndnissen dafuumlr aber zur Mitteilung ihrer Forschungsergebnisse verpflichtet damit diese in der allgemeinen Diskussion uumlberpruumlft werden koumlnnen Von Kennern der Verhaumlltnisse ist zu erfahren daszlig auch dafuumlr Charaktereigen- schaften erforderlich sind Auch wenn diese vorhanden sind wird es mit zunehmender Personenzahl immer schwieriger und bald sogar unmoumlglich daszlig jeder sich mit jedem austauscht Die Gruppengrouml- szligen die in dem Modell einen so positiven Effekt hat wird auf diese Weise in der Praxis allmaumlhlich zu einem wesentlichen Hindernis fuumlr dessen AnwendungAm schwierigsten ist sowohl zu schildern als auch zu befriedigen die an vierter Stelle in dem Modell enthaltene sog Akzeptierungsbedin- gung die vorsieht daszlig die Gruppe als ganze in der Lage ist jeden echten Fund zu akzeptieren bzw jeden Fehler als solchen abzuleh-

EINFUumlHRUNGXXVIII

nen Akademische Gremien sind ndash wie man aus der Wissenschafts-geschichte weiszlig ndash nicht immer in der Lage gewesen dieser Forde- rung gerecht zu werden da diese ja auf Seiten der Gesamtgruppe so etwas wie Allwissenheit voraussetzt Das waumlre unsinnig Wir muumlssen uns daher ersatzweise mit Regeln und Strategien begnuumlgen wie sie z B fuumlr die Urteilsfindung in Geschworenenprozessen entwickelt wurden bdquoZweier oder dreier Zeugen Mundldquo fordert schon die Bibel (5 Mose 7 6) Wuumlrde man von Geschworenen nur einstimmige Entscheidungen annehmen muumlszligten vergleichsweise viele Verfahren an der Unmoumlglichkeit scheitern ein Urteil zu finden Geringer ist diese Gefahr wenn eine Jury nur mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit (8 von 2 oder 4 von 6 Stimmen) zu entscheiden braucht

Es ist kaum zu vermeiden daszlig sich an dieser Stelle fruumlher oder spaumlter die Frage nach den Qualifikationen erhebt die eine Person besitzen muszlig oder wenigstens sollte um an kollektiven Such- und Entscheidungsprozessen mitwirken zu koumlnnen Die Erinnerung an den bisweilen mit mehr Brutalitaumlt als Sachverstand gefuumlhrten Streit um die Zusammensetzung akademischer Gremien der bei uns noch kaum ein Jahrzehnt zuruumlckliegt zeigt erschreckend deutlich wie leicht eine fuumlr rationale Leistung bestimmte Gruppe zur Masse im Sinn Le Bons degenerieren kann Auf jeden Fall ist man nun wieder in der Politik wo Machtkonstellationen uumlber Mitbestimmungsrechte zu entscheiden pflegenMacchiavelli der sich in den bdquoDiscorsildquo mit dem roumlmischen Histori- ker Livius auseinandersetzte hat dessen These zuruumlckgewiesen es sei bdquodie Natur der Menge daszlig sie entweder sklavisch dient oder uumlbermuumltig herrschtldquo (XXIV 25) Haec natura multitudinis est aut servit humiliter aut superbe dominatur bdquoWas unsere Geschichts- schreiber von der Natur der Menge sagen gilt nicht fuumlr eine durch Gesetze gezuumlgelte Menge wie die roumlmische sondern fuumlr eine zuumlgel- lose wie die syrakusanische welche die Verbrechen rasender und zuumlgelloser Menschen beging hellip Denn ein Volk mit guter Verfas- sung wird bestaumlndig klug und dankbar sein so gut wie ein Fuumlrst ja mehr als ein Fuumlrstldquo (I cap 58)Der hier vorgenommenen Einschraumlnkung auf bdquodurch Gesetze gezuuml- gelte Mengenldquo entsprechen im Teilbereich der intellektuellen Such- leistungen die Voraussetzungen fuumlr das Wahrscheinlichkeitsmodell Da ihnen gerecht zu werden an sich schon schwierig ist und mit zunehmender Gruppengroumlszlige immer schwieriger wird liegt die empirisch ermittelte Erfolgswahrscheinlichkeit von Gruppen wie in

EINFUumlHRUNG XXIX

dem vorhin geschilderten Beispiel fast immer deutlich unter demtheoretischen Optimalwert z B also bei p3 = 058 statt bei 080 Daran knuumlpft sich sofort die empirische Frage nach den situativen Bedingungen welche fuumlr die Erfuumlllung der rationalen Voraussetzun- gen guumlnstig bzw schaumldlich sind Als eher schaumldlich erweist sich wie der amerikanische Psychologe I L Janis (972) gezeigt hat das

bdquoGruppendenkenldquo (groupthink) d h der intellektuelle Gruppen- zwang fuumlr den es eine Reihe von Symptomen gibt ein uumlbersteigertes Selbstvertrauen der Gruppe das emotional bedingte Pochen auf die Gemeinsamkeit des Denkens Fuumlhlens und Urteilens sowie die Angst einzelner Gruppenmitglieder davor sie koumlnnten als illoyal erscheinen Wenn die Dinge in einem Team so liegen ndash und das ist besonders leicht dort der Fall wo an der Spitze eine Persoumlnlichkeit mit hohem Prestige steht ndash versagt die gruppeninterne Kritik an den Plaumlnen leicht es herrscht dann zuviel EintrachtZur Veranschaulichung wird in der Fachliteratur gerne das Kuba- Unternehmen von Praumlsident Kennedy im April 96 herangezogen das mit der Landung in der Schweinebucht klaumlglich scheiterte Es laumlszligt sich zeigen daszlig zum Zeitpunkt der geplanten Invasion zahlrei- che Tatsachen bekannt waren die in ihrer Gesamtheit das Vorhaben als viel zu riskant haumltten erscheinen lassen muumlssen Sie wurden aber von dem Stab zu dem Kennedy das Praumlsidialamt umgestaltet hatte und der unter seinem Vorsitz tagte nicht in ausreichender Weise beachtet Man wollte Entschluszligkraft zeigen nachdem der vorherge- gangenen Eisenhower-Administration deren Zaudern zum Vorwurf gemacht worden war Das Ergebnis war ndash ganz nuumlchtern betrachtet

ndash ein Verstoszlig gegen die Voraussetzungen des Suchmodells die Mitglieder des Stabes verstanden nicht ihre Unabhaumlngigkeit zu wah- ren einzelne verzichteten auf die Kommunikation abweichender Ansichten und insgesamt wurde daher eine falsche Loumlsung akzep- tiertEtwas Aumlhnliches scheint 980 Praumlsident Carter bei dem Versuch passiert zu sein die amerikanischen Geiseln aus Teheran herauszu- holen Es faumlllt auf daszlig in beiden Faumlllen die Amtsinhaber eine Auf- bruchsstimmung erzeugt hatten von der auch die Kabinettsrunde erfaszligt wurde bdquoIn gewissen historischen Augenblicken kann ein hal- bes Dutzend Menschen eine psychologische Masse ausmachenldquo heiszligt es bei Le Bon (S ) nach dessen Meinung bdquosich in der Masse die Menschen stets einander angleichen (weshalb) die Abstimmung von vierzig Akademiemitgliedern uumlber allgemeine Fragen nicht mehr gilt als die von vierzig Wassertraumlgernldquo (S 35)

XXX EINFUumlHRUNG

Eine Gruppe ndash und das trifft auch fuumlr Regierungsmannschaften zundash die nicht zur bdquopsychologischen Masseldquo werden will muszlig daher auf die Erhaltung von Distanz zwischen ihren Mitgliedern achten obwohl sich mit dem Gefuumlhl menschlicher Naumlhe ein Erlebnis der Geborgenheit einzustellen pflegt in dem manche Autoren ndash Elias Canetti z B ndash eine bdquoEntladungldquo von Angst und damit das Haupt- motiv fuumlr den Anschluszlig an eine Masse erblickenDie Staumlrke dieses Gefuumlhls der menschlichen Naumlhe bzw der Aurakti- vitaumlt eines Du haumlngt dabei ndash wie wir aus Experimenten von D Byrne (974) wissen ndash sehr erheblich vom Vorhandensein gemeinsa- mer Ansichten und Uumlberzeugungen abJe bedrohlicher eine Situation erscheint umso staumlrker wird das Beduumlrfnis nach der Naumlhe von Gleichgesinnten (S Schachter 959) bzw das Bestrebenldquo die Last der Freiheit loszuwerdenldquo (bdquoEscape from freedomldquo E Fromm 94) bdquoDie Massen hellip scheinen dazu verurteilt zu sein unaufhoumlrlich von der wildesten Anarchie zum druumlckendsten Despotismus zu taumelnldquo meinte Le Bon (894 S 33) bdquoSie scheinen inbruumlnstig die Freiheit zu lieben in Wirklich- keit weisen sie diese immer von sich und verlangen staumlndig vom Staat ihnen Ketten zu schmiedenldquoDas war nicht mehr als eine Variation uumlber die These des Livius mit der sich Macchiavelli auseinandergesetzt hat bdquoaut servit humiliter aut superbe dominaturldquo ndash wobei in Erinnerung zu bringen ist daszlig

bdquodominorldquo trotz seiner Passivform bdquoich herrscheldquo heiszligt Beide ndash Livius und Le Bon uumlbersehen allerdings die Abhaumlngigkeit ihrer Behauptung von bestimmten Rahmenbedingungen bei deren Fehlen ihre These schlicht falsch wird obwohl es natuumlrlich nicht wenige Beispiele fuumlr ihre Richtigkeit gibt vornehmlich in Epochen der groszligen Arbeitslosigkeit der Kriegsangst und der wirtschaftlichen RezessionWas seine Forschungsstrategie anlangt hat Le Bon einen wichtigen Vorschlag des Francis Bacon aus dem bdquoNovum organum scien- tiarumldquo (620) unberuumlcksichtigt gelassen naumlmlich die Sammlung der negativen Instanzen d h der Faumllle in denen ein Effekt nicht in Erscheinung tritt obwohl er auf Grund der Erfahrung mit aumlhnlichen Faumlllen erwartet wird Bei der Erforschung des Wesens der Waumlrme gehoumlrten fuumlr Bacon in die bdquoTable of Deviationldquo unter anderem z B die Beobachtungen daszlig die Strahlen des Mondes und der Sterne sowie das Licht der Gluumlhwuumlrmchen nicht warm sind Sein systemati- sches Vorgehen fuumlr das die eben angedeutete Trennung von Licht

EINFUumlHRUNG XXXI

und Waumlrme nur ein kleines Beispiel ist wurde immerhin mit derseiner Zeit weit vorauseilenden Erkenntnis belohnt daszlig Waumlrme eine Form der Bewegung kleinster Partikel ist (Nov Org II 20)Haumltte Le Bon die Situationen genauer betrachtet in denen aus meh- reren Menschen keine bdquopsychologische Masseldquo wird waumlre er wahr- scheinlich zum Begruumlnder der Gruppendynamik geworden So aber trifft ihn Bacons Vorwurf der zugleich eine interessante sozial- und denk-psychologische Erkenntnis enthaumllt bdquoWenn der Verstand von Anfang an bejahend (d h unter ausschlieszliglicher Beruumlcksichtigung von positiven Instanzen) vorzugehen versucht ndash und das geschieht immer wenn er sich selber uumlberlassen ist ndash so entspringen daraus phantasievolle Meinungen und Vermutungen ungenuumlgend definierte Begriffe und Grundannahmen die jeden Tag revidiert werden muumls- senldquo (II 5) Um gedanklich mit dem Nichtvorhandensein an sich erwarteter Erscheinung zu operieren bedarf es in der Tat erheblicher Selbstdisziplin Daszlig sie in Massensituationen fehlt macht Massen fuumlr propagandistische Behauptungen und fuumlr Klischeevorstellungen so anfaumlllig

IV Risiko und Verantwortung

Was Le Bon berichtet wirkt uumlber weite Strecken so uumlberaus plausi- bel weil in Gruppen fast immer zahlreiche Prozesse ablaufen die deren Bestand gefaumlhrden indem sie aus ihnen bdquopsychologische Mas- senldquo werden lassen Typisch dafuumlr ist ein Versuchsergebnis das 962

ndash im Jahr nach dem Kuba-Desaster ndash aumluszligerst beunruhigend wirkte ndash so sehr daszlig dem Phaumlnomen mittlerweile mehr als vierhundert Einzeluntersuchungen gewidmet wurdenEs ging in der Diplomarbeit die der bis dahin voumlllig unbekannte Herr Stoner der Management-Hochschule des Massachusetts Insti- tute of Technology vorlegte um den sog bdquoRisiko-Schubldquo der zustande kommt wenn sich eine Gruppe auf die Voraussetzungen einigen soll die erfuumlllt sein muumlssen damit eine bestimmte Entschei- dung getroffen oder empfohlen werden kann Bei den einschlaumlgigen Versuchen werden Situationen geschildert in denen jeweils zwei Alternativen zur Auswahl stehen Ein Ingenieur kann z B bei der groszligen Firma fuumlr die er schon seit mehreren Jahren arbeitet in einer relativ bescheidenen Position bleiben oder er kann in einem neuen Unternehmen eine interessantere und besser bezahlte Stellung uumlber-

XXXII EINFUumlHRUNG

nehmen Wie verlockend das Angebot ist haumlngt u a von der wirt-schaftlichen Soliditaumlt der neuen Firma ab Zu beantworten haben die Versuchspersonen daher ndash zunaumlchst einzeln und dann nach einer Diskussion als Gruppe ndash die Frage wie groszlig die Chancen fuumlr eine gedeihliche Entwicklung der neuen Firma sein muumlszligten damit fuumlr den Ingenieur ein Stellenwechsel in Betracht kaumlme Zur Auswahl stehen fuumlr die Antwort die Proportionen 0 bis 9 0 Wer nur wenig an Sicherheit beansprucht wird vielleicht schon bei einem Chancenverhaumlltnis von 3 0 den Wechsel in Erwaumlgung ziehen er gilt damit als besonders risikobereit waumlhrend ein anderer der lieber auf bdquoNummer Sicherldquo setzt ein Chancenverhaumlltnis von 8 0 verlan- gen koumlnnteDas Ergebnis Nach der Diskussion liegt der Sicherheitsanspruch auf den sich die Mitglieder einigen in der Regel niedriger als der Mittelwert ihrer individuellen Schaumltzungen vor der Diskussion Das heiszligt aber ihre Risikobereitschaft hat zugenommen es ist ein

bdquoRisiko-Schubldquo erfolgtDas ist deshalb so beunruhigend weil wir im allgemeinen damit rechnen daszlig Gruppen ndash Expertengremien oder politische Koumlrper- schaften ndash bedachtsamer urteilen als Einzelpersonen und daszlig sie sich weder von den bdquoFalkenldquo noch von den bdquoTaubenldquo zu einem allzugro- szligen Risiko hinreiszligen lassen Genau das aber trifft nicht zu Die Gruppenentscheidung ist fast immer extremer als die mittlere Indivi- dualentscheidung Man spricht allerdings heute lieber von einem Polarisations-Effekt weil Diskussionen nicht immer zu einem ver- ringerten Sicherheitsanspruch fuumlhren (E Witte 979) Ihr Resultat kann auch in umgekehrter Richtung ein uumlberhoumlhter Sicherheitsan- spruch sein durch den unter Umstaumlnden reale Chancen verpaszligt werden koumlnnen Auch das ndash die Untaumltigkeit angesichts von Moumlg- lichkeiten ndash kann gefaumlhrlich bzw bdquoriskantldquo sein Ein nicht geringer Teil der gegenwaumlrtig in der Bundesrepublik ablaufenden Diskussio- nen hat genau dieses Problem zum Gegenstand das Risiko naumlmlich das ein etwaiger Verzicht auf Kernkraftwerke mit sich bringen koumlnnteGruppen diskutieren um zu einer Entscheidung zu gelangen und um handeln zu koumlnnen In diesem Sinn duumlrfte der Polarisations- Effekt durchaus zweckmaumlszligig sein da er ihnen das sprichwoumlrtliche Schicksal des buridanischen Esels erspart Erreicht wird die erhoumlhte Entscheidungsfaumlhigkeit bisweilen allerdings mit Hilfe einer gefaumlhrli- chen Illusion bei der Erinnerungen an die Massenpsychologie

EINFUumlHRUNG XXXIII

anklingen Gemeint ist die ungemein entlastende Vorstellung eslieszlige sich im Fall eines Misserfolges einer Kollektiventscheidung die Gesamtschuld unter den Beteiligten so aufteilen daszlig auf jeden ein- zelnen im Sinne einer bdquoDiffusion der Verantwortungldquo nur ein gerin- ger Bruchteil kommt Eine solche Vorstellung wirkt enthemmendWas alle in einer bestimmten Situation tun kann man schlieszliglich niemandem vorwerfen Es muszlig so heiszligt es fuumlr ein solches Verhal- ten daher aumluszligere in den Umstaumlnden gelegene Gruumlnde geben nicht aber innere Gruumlnde des eigenen Wesens deren man sich spaumlter einmal vielleicht schaumlmen muumlszligte Das ist der Inhalt der in den letzten Jahren entwickelten Theorie der Kausalitaumlts-Zuschreibung (bdquoAttributionldquo H H Kelley u a 980 W Herkner 980) die zwischen bdquoexternalerldquo und bdquoinfernalerldquo Zuschreibung unterscheidet Verantwortung uumlbernehmen heiszligt das eigene Tun bdquointernalldquo aus der eigenen Persoumlnlichkeit deren Faumlhigkeiten Erfahrungen und Motiven ableiten Massen interpretieren dagegen in der Regel bdquoexter- nalldquo Sie sind in ihrem Selbstbild fast immer unschuldig bzw sogar

bdquoOpferldquo der vorherrschenden Verhaumlltnisse Man frage nur randalie- rende Demonstranten Nicht selten berufen sich Massen wenn etwas schiefgegangen ist auf einen Fuumlhrer der dann schnell zum Suumlndenbock wird bdquoDer Nimbus verschwindet immer im Augen- blick des Miszligerfolges Der Held dem die Masse gestern zujubelte wird morgen von ihr angespien hellipldquo meinte Le Bon (S 00)Die Massen mit ihrem bdquounstillbaren Beduumlrfnis regiert zu werdenldquo (894 S 7) zeigen bdquosich selbst uumlberlassen daszlig sie ihrer Zuumlgellosig- keit uumlberdruumlssig instinktiv der Knechtschaft zusteuernldquo (S 34) Beschrieben wird hier einerseits die bdquoautoritaumlre Persoumlnlichkeitldquo im Sinne T W Adornos (950) andererseits bdquodie einsame Masseldquo David Riesmans (950) deren Angehoumlrige sich der Auszligenlenkung uumlberlassen indem sie ihr Tun an dessen Resonanz ruumlckkoppeln Finden sie in der Umwelt Zustimmung machen sie weiter stoszligen sie auf Ablehnung oder Widerstand drehen sie blitzschnell um In beiden Faumlllen wird das auf Unselbstaumlndigkeit oder auch auf Gehor- sam programmierte Individuum dem innengelenkten Menschen gegenuumlbergestellt der sich in erster Linie seinem persoumlnlichen Gewissen verpflichtet fuumlhlt und der es aushaumllt bisweilen sogar mit sich selbst uneins zu seinDiese Begriffsbildungen zu denen man noch den von der Psycho- analyse entwickelten bdquoanalen Typusldquo (908) hinzunehmen kann weisen samt und sonders auf den von Le Bon und den meisten

XXXIV EINFUumlHRUNG

Autoren des Fin de siegravecle befuumlrchteten Untergang des eigenstaumlndigenIndividuums in der Masse hin Im Sinne Heinrich Manns wird es da zum bloszligen bdquoUntertanldquo (96) In dem Aufsatz bdquoReichstagldquo (9) hat ihn der Dichter vorwegnehmend wie folgt beschrieben bdquodieser widerwaumlrtig interessante Typus des imperialistischen Untertanen des Chauvinisten ohne Mitverantwortung des in der Masse ver- schwindenden Machthabers des Autoritaumltsglaumlubigen wider besseres WissenldquoBei Le Bon sind es um die gleiche Zeit ndash in den bdquoLehren aus dem europaumlischen Kriegldquo (96) ndash ebenfalls ganz speziell die Deutschen denen er Autoritaumltsglaumlubigkeit vorwirft bdquoZu den allgemeinen Cha- rakterzuumlgen die man fast bei jedem Deutschen heutzutage findet gehoumlrt neben der Unterwuumlrfigkeit gegenuumlber jeder offiziellen Auto- ritaumlt und ihrer Kameraderie ein hochmuumltiges Gefuumlhl der kollektiven Uumlberlegenheitldquo (96 S 7) Das freilich ist eine recht genaue Uumlber- setzung der Massenformel des Livius bdquoaut servit humiliter aut superbe dominaturldquo Jedoch weiszlig Le Bon noch mehr bdquoMan beob- achtet bei den Intellektuellen ebenso wie beim einfachen Volk den Mangel an Erziehung die Brutalitaumlt und das voumlllige Fehlen ritterli- chen Geistesldquo (96 S 72) bdquoDer Theorie nach ist Deutschland zwar christlich aber der friedfertige Jesus der Bibel ist dort zu einer ebenso wilden Gottheit geworden wie der altertuumlmliche Odin der pausenlos von Eroberungen und Massakern traumlumtldquo (96 S 47) Immerhin einen bdquoArchetypus Wotanldquo hat C G Jung bei den Deutschen 935 auch festgestellt er schreibt ihm zu daszlig er bdquoals autonomer Faktor kollektive Wirkungen erzeugt und dadurch ein Bild seiner eigenen Natur entwirft In Ruhezeiten dagegen (sei) einem die Existenz des Archetyps Wotan unbewuszligt wie eine latente Epilepsieldquo Derlei Gehaumlssigkeiten muumlssen ertragen werden Noch heute sehr bitter zu lesen ist aber Le Bons Resuumlmee aus dem ersten Weltkrieg bdquoEin Volk von Gott dazu auserwaumlhlt die Welt zu erobern und zu beherrschen gibt eine solche Mission nicht so leicht auf Deutschland wird darauf nicht verzichten bevor es nicht meh- rere Male (plusieurs fois) besiegt worden istldquo (96 S 353)Der Autor der Massenpsychologie hat selbst Propaganda getrieben

ndash auf deutscher Seite taten das ebenfalls nicht wenige Schriftsteller und Gelehrte ndash Thomas Mann unter ihnen Im Wiener Kriegsarchiv widmeten sich zur gleichen Zeit Stefan Zweig und Alfred Polgar neben anderen einer Taumltigkeit die Hofmannsthal wenig respektvoll als bdquoHeldenfrisierenldquo bezeichnete ndash man bereitete die Kriegsberichte

EINFUumlHRUNG XXXV

fuumlr den Genuszlig des Publikums entsprechend zu Es besteht somitkein Grund sich gegenseitig etwas nachzutragen freilich ist auch dafuumlr keiner ersichtlich daszlig die linke Antibougeoisie der Weimarer Zeit und weit daruumlber hinaus so gerne bereit war die schon im Altertum formulierten Massenattribute ganz speziell den Deutschen so zuzuschreiben als handelte es sich um die Ergebnisse neuester ForschungAn einige ihrer Angehoumlrigen wandte sich 935 der kurz zuvor aus der orthodoxen Schule ausgeschlossene Psychoanalytiker Wilhelm Reich bdquoSie vernachlaumlssigen die hilflose fuumlhrungsbeduumlrftige ja oft autoritaumltssuumlchtige Struktur der Masse Sie sehen nur deren Freiheits- sehnsucht doch diese Sehnsucht darf mit der Faumlhigkeit frei zu sein hellip nicht verwechselt werdenldquo (935 S 7) Den Schluszlig aus solchen und aumlhnlichen Beobachtungen hatte Lenin schon 902 in Muumlnchen gezogen indem er sich vornahm nicht auf die Spontanei- taumlt der Arbeitermassen sondern auf eine Geheimorganisation streng ausgelesener und sorgfaumlltig geschulter bdquoBerufsrevolutionaumlreldquo zu set- zen bdquoWas den Appell an die Masse zur Aktion betrifft so wird das von selbst kommen sobald es eine energische politische Agitation lebendige und aufruumlttelnde Enthuumlllungen geben wirdldquo denn bdquodas politische Klassenbewuszligtsein kann dem Arbeiter nur von auszligen gebracht werdenldquo heiszligt es in bdquoWas tunldquo (S 08 u 7)Der Zeitgeist der vor Grotesken nicht zuruumlckschreckt will es daszlig genau im gleichen Jahr und ebenfalls in Muumlnchen Stefan George

bdquoDie Aufnahme in den Ordenldquo als Weihespiel entwarf der Juumlngling antwortet darin dem Groszligmeister bdquoDer von den dunklen maumlchten fast verwirrte hellip Dankt dem geboumlte das genesung bringt hellip Zu welchem joch ihr seinen nacken zwingt hellip Um eure ruhe bittet der verirrteldquoIm gleichen Jahr 902 lieszlig in Paris der Neo-Rosenkreuzer Peacuteladan unter dem Titel bdquoPereatldquo den 5 Band der bdquoDeacutecadence Latineldquo erscheinen waumlhrend Le Bon seine bdquoPolitische Psychologieldquo veroumlf- fentlichteKein Zweifel die Diktatoren kannten ob sie nun auf einen nationa- len oder auf einen internationalen Sozialismus zusteuerten den Autor nur zu gut der 894 gemeint hatte bdquoder Sozialismus wird uumlbrigens ein viel zu druumlckendes Regime sein als daszlig er von Dauer sein koumlnnteldquo (894 S 38) Man muszlig hinzusetzen Sie die Diktato- ren hatte Le Bon sich als Leser uumlberhaupt nicht gewuumlnscht

XXXVI EINFUumlHRUNG

LITERATUR

ADORNO T W u a The authoritarian personality New York 950 (dt Studien zum autoritaumlren Charakter Frankfurt 973)BAUDELAIRE CH Der Dandy (863) in Ausgewaumlhlte Werke hgb v Franz Blei Muumlnchen o JBROCH H Massenwahntheorie hgb v P M Luumltzeler Frankfurt 979BYRNE D An introduction to personality Englewood Cliffs 974CANETTI E Masse und Macht Duumlsseldorf 978 2DE MAN H Vermassung und Kulturverfall Bern 950FREUD S Jenseits des Lustprinzips (920) Ges W XIIIFREUD S Massenpsychologie und Ichanalyse (92) Ges W XIIIFREUD S Warum Krieg (932) Ges W XVIFROMM E Escape from freedom New York 94 (dt Die Furcht vor der Freiheit Zuumlrich 945)GOULD S J The mismeasure of man New York 98HAGEMANN W Der Mythos der Masse Beitr z Publizistik Bd 4 Heidel- berg 95HERKNER W (Hgb) Attribution Psychologie der Kausalitaumlt Bern 980HOFSTAumlTTER P R Gruppendynamik Kritik der Massenpsychologie Rein- bek 97 2HOFSTAumlTTER P R Einfuumlhrung in die Sozialpsychologie Stuttgart 973 5 Kroumlner TA Nr 295HOFSTAumlTTER P R Individuum und Gesellschaft Berlin 973JANIS I L Victims of group think Boston 972JASPERS K Die geistige Situation der Zeit Berlin 93JASPERS K Vom Ursprung und Ziel der Geschichte Frankfurt 955 2JUNG C G Wotan Neue Schweiz Rundschau 3 93536KELLEY H H u a Attribution theory and research in Ann Rev Psy- chol 3 980KRONER B Massenpsychologie und kollektives Verhalten in C F Grau- mann (Hgb) Sozialpsychologie Handbuch d Psychol Bd 7 Goumlttin- gen 972LAUGHLIN P R u a Group size member activity and social decision schemes on a intellective task in J personality and social Psychol 3 975LENIN W Was tun (902) Berlin (Ost) 97MACCHIAVELLI N Discorsi sopra la prima Deca di Tito Livio uumlbers v F v Oppeln-Bronikowski Koumlln 965MACCHIAVELLI N Der Fuumlrst uumlbers von R Zorn Stuttgart 955 Kroumlner TA Nr 235MAC DOUGALL The group mind Cambridge 920MILGRAM S u TOCH H Collective behavior crowds and social move- ments in Handbook of social Psychol vol 4 Reading 969MOEDE W Experimentelle Massenpsychologie Leipzig 920

ORTEGA Y GASSET J Der Aufstand der Massen (930) Stuttgart 957PICARD E Gustave Le Bon et son œuvre Paris 909PRAZ M Liebe Tod und Teufel die schwarze Romantik (948) Muumlnchen 98REICH W Masse und Staat (935) enthalten in Massenpsychologie des Faschismus Koumlln 97 2REIWALD P Vom Geist der Massen Zuumlrich 948 3RIESMAN D u a The lonely crowd New Haven 950 (dt Die einsame Masse Reinbek 958)SCHACHTER S The psychology of affiliation Stanford 959SCHICKEDANZ H J (Hgb) Der Dandy Texte und Bilder aus dem 9 Jahrhundert Dortmund 980SCHONAUER F Stefan George Reinbek 960SHAW M E Groupdynamics the psychology of small group behavior New York 976 2SMELSER N J Theorie des kollektiven Verhaltens Koumlln 972SPENGLER O Der Untergang des Abendlandes Muumlnchen 9822SUCHANEK-FROumlHLICH S Kulturgeschichte Frankreichs Stuttgart 968 Kroumlner TA Nr 358TARKIAINEN T Die athenische Demokratie Muumlnchen 972WITTE E H Das Verhalten in Gruppensituationen Goumlttingen 979

LITERATURXXXVIII

VORWORT ZUR ERSTEN AUFLAGE

Meine fruumlhere Arbeit war der Darstellung der Rassenseele gewid- met Hier wollen wir die Massenseele untersuchenDer Inbegriff der gemeinsamen Merkmale die allen Angehoumlrigen einer Rasse durch Vererbung zuteil wurden macht die Seele dieser Rasse aus Wenn sich jedoch eine gewisse Anzahl solcher einzelnen massenweise zur Tat vereinigt so zeigt sich daszlig sich aus dieser Vereinigung bestimmte neue psychologische Eigentuumlmlichkeiten ergeben die zu den Rassenmerkmalen hinzukommen und sich zuweilen erheblich von ihnen unterscheidenDie organisierten Massen haben zu allen Zeiten eine wichtige Rolle im Voumllkerleben gespielt niemals aber in solchem Maszlige wie heute Die unbewuszligte Wirksamkeit der Massen die an die Stelle der bewuszligten Tatkraft der einzelnen tritt bildet ein wesentliches Kenn- zeichen der Gegenwart Ich habe versucht das schwierige Problem der Massen in streng wissenschaftlicher Weise zu behandeln also methodisch und unbekuumlmmert um Meinungen Theorien und Dok- trinen Nur so glaube ich kommt man zur Erkenntnis der Wahr- heit besonders wenn es sich wie hier um eine Frage handelt die die Geister lebhaft erregt Der Forscher der sich um die Erklaumlrung einer Erscheinung bemuumlht hat sich um die Interessen die durch seine Untersuchung beruumlhrt werden koumlnnen nicht zu kuumlmmern Ein ausgezeichneter Denker Goblet drsquoAlviella hat in einer seiner Schrif- ten gesagt ich gehoumlre keiner zeitgenoumlssischen Kritik an und traumlte zuweilen in Gegensatz zu gewissen Folgerungen aller Schulen Hof- fentlich verdient die vorliegende Arbeit das gleiche Urteil Zu einer Schule gehoumlren heiszligt deren Vorurteile und Standpunkte teilen muumlssenIch muszlig jedoch dem Leser erklaumlren warum ich aus meinen Studien Schluumlsse ziehe welche von denen abweichen die sich auf den ersten Blick daraus ergeben z B wenn ich den auszligerordentlichen geisti- gen Tiefstand der Massen feststelle und doch behaupte es sei unge-

Psychologische Gesetze der Voumllkerentwicklung

XXXIX

achtet dieses Tiefstandes gefaumlhrlich die Organisation der MassenanzutastenSorgfaumlltige Beobachtung der geschichtlichen Tatsachen hat mir naumlm- lich stets gezeigt daszlig es ganz und gar nicht in unserer Macht steht die sozialen Organismen die ebenso kompliziert sind wie andere Organisationen jaumlh tiefgehenden Umwandlungen zu unterwerfen Zuweilen ist die Natur radikal doch nicht so wie wir es verstehen daher gibt es nichts Traurigeres fuumlr ein Volk als die Leidenschaft der groszligen Umgestaltungen so vortreff lich sie theoretisch scheinen moumlgen Nuumltzlich waumlren sie nur dann wenn es moumlglich waumlre die Seelen der Voumllker ploumltzlich zu aumlndern Die Zeit allein hat diese Macht Die Menschen werden von Ideen Gefuumlhlen und Gewohn- heiten geleitet von Eigenschaften die in ihnen selbst stecken Ein- richtungen und Gesetze sind Offenbarungen unserer Seele der Aus- druck ihrer Beduumlrfnisse Da die Einrichtungen und Gesetze von der Seele ausgehen wird sie von ihnen nicht beeinfluszligtDas Studium der sozialen Erscheinungen laumlszligt sich nicht von dem der Voumllker trennen bei denen sie sich gebildet haben Philosophisch betrachtet koumlnnen diese Erscheinungen unbedingten Wert haben praktisch aber sind sie nur von bedingtem WertMan muszlig also beim Studium einer sozialen Erscheinung dieselbe Sache nacheinander von zwei ganz verschiedenen Gesichtspunkten aus betrachten Wir sehen demnach daszlig die Lehren der reinen Vernunft sehr oft denen der praktischen entgegengesetzt sind Es gibt keine Tatsachen auch nicht auf physischem Gebiet auf die sich diese Unterscheidung nicht anwenden lieszlige Vom Gesichtspunkt der unbedingten Wahrheit aus sind ein Wuumlrfel ein Kreis unveraumlnderli- che geometrische Figuren die mittels feststehender Formeln genau zu bestimmen sind Fuumlr den Gesichtssinn koumlnnen diese geometri- schen Figuren sehr mannigfache Formen annehmen In der Wirk- lichkeit kann die Perspektive den Wuumlrfel in eine Pyramide oder in ein Quadrat den Kreis in eine Ellipse oder Gerade verwandeln Und diese angenommenen Formen sind von viel groumlszligerer Bedeutung als die wirklichen denn sie sind die einzigen die wir sehen und die sich photographisch oder zeichnerisch wiedergeben lassen Das Unwirk- liche ist in gewissen Faumlllen wahrer als das Wirkliche Es hieszlige die Natur umformen und unkenntlich machen wollte man sich die Dinge in ihren streng geometrischen Formen vorstellen In einer Welt deren Bewohner die Dinge nur abbilden oder photographieren koumlnnten jedoch nicht beruumlhren wuumlrde man nur sehr schwer zu

VORWORT ZUR ERSTEN AUFLAGEXL

einer genauen Vorstellung ihrer Form gelangen und die Kenntnisdieser Form die nur einer geringen Zahl von Gelehrten zugaumlnglich waumlre wuumlrde nur schwaches Interesse weckenDer Philosoph der die sozialen Erscheinungen studiert muszlig sich vor Augen halten daszlig sie neben ihrem theoretischen auch prakti- schen Wert haben und daszlig dieser vom Gesichtspunkt der Kulturent- wicklung der einzig bedeutsame ist Das muszlig ihn sehr vorsichtig machen gegen die Folgerungen welche die Logik ihm zunaumlchst einzugeben scheint Auch andere Gruumlnde veranlassen ihn zur Zuruumlckhaltung Die sozialen Tatsachen sind so verwickelt daszlig man sie in ihrer Gesamtheit nicht umfassen und die Wirkungen ihrer wechselseitigen Beeinflussung nicht voraussagen kann Auch schei- nen sich hinter den sichtbaren Tatsachen oft Tausende von unsicht- baren Ursachen zu verbergen Die sichtbaren sozialen Tatsachen scheinen die Folgen einer riesigen unbewuszligten Wirkungskraft zu sein die nur zu oft unserer Untersuchung unzugaumlnglich ist Die wahrnehmbaren Erscheinungen lassen sich den Wogen vergleichen welche der Oberflaumlche des Ozeans die unterirdischen Erschuumltterun- gen mitteilen die in seinen Tiefen vorgehen und die wir nicht kennen In den meisten Faumlllen zeigt die Handlungsweise der Massen eine auszligerordentlich niedrige Geistigkeit aber in anderen Handlun- gen scheinen sie von jenen geheimnisvollen Kraumlften gelenkt zu wer- den welche die Alten Schicksal Natur Vorsehung nannten die wir als die Stimmen der Toten bezeichnen und deren Macht wir nicht verkennen koumlnnen so unbekannt uns auch ihr Wesen ist Oft scheint es als ob die Voumllker in ihrem Schoszlig verborgene Kraumlfte tragen von denen sie gefuumlhrt werden Kann etwas verwickelter logischer wunderbarer sein als eine Sprache Und entspringt nicht dies wohlgeordnete und feine Gebilde der unbewuszligten Massenseele Die gelehrtesten Hochschulen verzeichnen nur die Regeln dieser Sprachen waumlren aber nicht imstande sie zu schaffen Wissen wir sicher ob die genialen Ideen der groszligen Maumlnner ausschlieszliglich ihr eigenes Werk sind Zweifellos sind sie stets Schoumlpfungen einzelner Geister aber die unzaumlhligen Koumlrnchen die den Boden fuumlr den Keim dieser Ideen bilden hat die Massenseele sie nicht erzeugtGewiszlig uumlben die Massen ihre Wirkungskraft stets unbewuszligt aus Aber vielleicht ist gerade dies Unbewuszligte das Geheimnis ihrer Kraft In der Natur gibt es Wesen die nur aus Instinkt handeln und Taten vollbringen deren wunderbare Mannigfaltigkeit wir anstaunen Der Gebrauch der Vernunft ist fuumlr die Menschheit nochraquo zu neu und zu

VORWORT ZUR ERSTEN AUFLAGE XLI

unvollkommen um die Gesetze des Unbewuszligten enthuumlllen zu koumln-nen und besonders um es zu ersetzen Der Anteil des Unbewuszligten an unseren Handlungen ist ungeheuer und der Anteil der Vernunft sehr klein Das Unbewuszligte ist eine Wirkungskraft die wir noch nicht erkennen koumlnnen Wollen wir uns also in den engen aber sicheren Grenzen der wissenschaftlich erkennbaren Dinge halten und nicht auf dem Felde unbestimmter Vermutungen und nichtiger Vor- aussetzungen umherirren so duumlrfen wir nur die Erscheinungen fest- stellen die uns zugaumlnglich sind und muumlssen uns damit begnuumlgen Jede Folgerung die wir aus unseren Beobachtungen ziehen ist mei- stens voreilig denn hinter den wahrgenommenen Erscheinungen gibt es solche die wir undeutlich sehen und hinter diesen wahr- scheinlich noch andere die wir uumlberhaupt nicht erkennen

Le Bon

XLII VORWORT ZUR ERSTEN AUFLAGE

EINLEITUNG

DAS ZEITALTER DER MASSEN

Die groszligen Erschuumltterungen welche den Kulturwenden vorangehen scheinen auf den ersten Blick durch bedeut- same politische Veraumlnderungen bestimme zu sein durch Voumllkerinvasion oder durch den Sturz von Herrscherhaumlu- sern Eine aufmerksame Untersuchung dieser Ereignisse enthuumlllt jedoch hinter ihren scheinbaren Ursachen als wahre Ursache eine tiefgehende Veraumlnderung in den Anschauun- gen der Voumllker Das sind nicht die wahren historischen Erschuumltterungen die uns durch ihre Groumlszlige und Heftigkeit verwundern Die einzigen Veraumlnderungen von Bedeutung

ndash die einzigen aus welchen die Erneuerung der Kulturen hervorgeht ndash vollziehen sich innerhalb der Anschauungen der Begriffe und des Glaubens Die bemerkenswerten Er- eignisse der Geschichte sind die sichtbaren Wirkungen der unsichtbaren Veraumlnderungen des menschlichen Denkens Wenn diese groszligen Ereignisse so selten sind so hat das seinen Grund darin daszlig es nichts Bestaumlndigeres in einer Rasse gibt als das Erbgut ihrer GefuumlhleDas gegenwaumlrtige Zeitalter bildet einen jener kritischen Zeitpunkte in denen das menschliche Denken im Begriff ist sich zu wandelnDa die Ideen der Vergangenheit obwohl halb zerstoumlrt noch sehr maumlchtig und die Ideen die sie ersetzen sollen erst in der Bildung begriffen sind so ist die Gegenwart eine Periode des Uumlberganges und der AnarchieWas aus diesem notwendig etwas chaotischen Zeitraum einmal hervorgehen wird ist im Augenblick nicht leicht zu sagen Auf welchem Grundgedanken wird sich die kuumlnf-

tige Gesellschaft aufbauen Wir wissen es noch nicht Schon jetzt aber kann man voraussehen daszlig sie bei ihrer Or- ganisation mit einer neuen Macht der juumlngsten Herrscherin der Gegenwart zu rechnen haben wird mit der Macht der Massen Auf den Ruinen so vieler einst fuumlr wahr gehal- tener und jetzt toter Ideen so vieler Maumlchte die durch Revolutionen nach und nach gebrochen worden sind hat diese Macht allein sich erhoben und scheint bald die aumln- dern aufsaugen zu wollen Waumlhrend alle unsre alten An- schauungen schwanken und verschwinden und die alten Gesellschaftsstuumltzen eine nach der andern einstuumlrzen ist die Macht der Massen die einzige Kraft die durch nichts be- droht wird und deren Ansehen immer mehr waumlchst Das Zeitalter in das wir eintreten wird in Wahrheit das Z eit a lter der Ma ssen seinVor kaum einem Jahrhundert bestanden die Haupttrieb- kraumlfte der Ereignisse in der uumlberlieferten Politik der Staaten und dem Wettstreit der Fuumlrsten Die Meinung der Massen galt in den meisten Faumlllen gar nichts Heute gelten die politischen Uumlberlieferungen die persoumlnlichen Bestre- bungen der Herrscher und deren Wettstreit nur noch wenig Die Stimme des Volkes hat das Uumlbergewicht er- langt Sie schreibt den Koumlnigen ihr Verhalten vor In der Seele der Massen nicht mehr in den Fuumlrstenberatungen bereiten sich die Schicksale der Voumllker vorDer Eintritt der Volksklassen in das politische Leben ihre fortschreitende Umwandlung zu fuumlhrenden Klassen ist eines der hervorstechendsten Kennzeichen unsrer Uumlber- gangszeit Dieser Eintritt wird nicht durch das allgemeine Stimmrecht gekennzeichnet das lange Zeit so wenig ein- fluszligreich und anfangs so leicht zu lenken war Die Geburt der Macht der Masse entstand zuerst durch die Verbrei- tung gewisser Gedankengaumlnge die langsam von den Gei- stern Besitz ergriffen sodann durch die allmaumlhliche Ver- einigung der einzelnen zur Verwirklichung der bisher theo- retischen Anschauungen Die Vereinigung ermoumlglichte es den Massen sich wenn auch nicht sehr richtige so doch

2 DAS ZEITALTER DER MASSEN

wenigstens ganz bestimmte Ideen von ihren Interessen zu bilden und das Bewuszligtsein ihrer Kraft zu erlangen Sie gruumlnden Syndikate denen sich alle Machthaber unterwer- fen Arbeitsboumlrsen die allen Wirtschaftsgesetzen zum Trotz die Bedingungen der Arbeit und des Lohnes zu regeln suchen Sie entsenden in die Parlamente Abgeordnete denen aller Unternehmungsgeist alle Selbstaumlndigkeit fehlt und die oft nur zu Wortfuumlhrern der Ausschuumlsse die sie gewaumlhlt hatten herabgewuumlrdigt wurdenHeute werden die Forderungen der Massen nach und nach immer deutlicher und laufen auf nichts Geringeres hinaus als auf den gaumlnzlichen Umsturz der gegenwaumlrtigen Gesell- schaft um sie jenem primitiven Kommunismus zuzufuumlhren der vor dem Beginn der Kultur der normale Zustand aller menschlichen Gemeinschaft war Begrenzung der Arbeits- zeit Enteignung von Bergwerken Eisenbahnen Fabriken und Boden gleiche Verteilung aller Produkte Abschaffung aller oberen Klassen zugunsten der Volksklassen usw ndash das sind ihre ForderungenJe weniger die Masse vernuumlnftiger Uumlberlegung faumlhig ist um so mehr ist sie zur Tat geneigt Die Organisation hat ihre Kraft ins Ungeheure gesteigert Die Glaubenslehren die wir auftauchen sehen werden bald die Macht der alten Glaubenslehren besitzen d h die tyrannische und herrische Kraft welche sich aller Auseinandersetzung entzieht Das goumlttliche Recht der Massen wird das goumlttliche Recht der Koumlnige ersetzenDie Lieblingsschriftsteller der jetzigen Bourgeoisie die am besten deren etwas beschraumlnkte Ideen ihre kurzsichtigen Anschauungen ihren allgemeingehaltenen Skeptizismus und oft uumlbermaumlszligigen Egoismus schildern geraten vor der neuen Macht die sie heranwachsen sehen voumlllig auszliger Fassung und richten um die Verwirrung der Geister zu bekaumlmpfen einen verzweifelten Appell an die sittlichen Kraumlfte der Kirche die sie einst so gering schaumltzten Sie sprechen vom Bankrott der Wissenschaft und erinnern uns an die Leh- ren der geoffenbarten Wahrheiten Aber diese Neubekehr-

3ENTWICKLUNG DES GEGENWAumlRTIGEN ZEITALTERS

ten vergessen daszlig die Gnade wenn sie sie wirklich be- ruumlhrte doch nicht die gleiche Macht uumlber jene Seelen hat die sich wenig um das Jenseits kuumlmmern Die Massen wol- len heute die Goumltter nicht mehr die ihre ehemaligen Her- ren gestern noch verleugneten und zerstoumlren halfen Die Fluumlsse flieszligen nicht zu ihren Quellen zuruumlckDie Wissenschaft hat mitnichten Bankrott gemacht und hat nichts mit der gegenwaumlrtigen Anarchie der Geister oder mit der neuen Macht zu tun die in ihrem Schoszlige empor- waumlchst Sie hat uns die Wahrheit verheiszligen oder wenig- stens die Erkenntnis der Zusammenhaumlnge die unsrem Ver- stande zugaumlnglich sind sie hat uns niemals den Frieden und das Gluumlck versprochen In uumlberlegener Gleichguumlltigkeit gegen unsre Gefuumlhle houmlrt sie unsre Klagen nicht und nichts ver- mag uns die Taumluschungen wiederzugeben die sie vertriebAllgemeine Symptome die bei allen Nationen erkennbar sind zeigen uns das reiszligende Anwachsen der Macht der Massen Was es auch bringen mag wir werden es ertragen muumlssen Alle Anschuldigungen sind nur nutzloses Gerede Vielleicht bedeutet der Aufstieg der Massen eine der letzten Etappen der Kulturen des Abendlandes die Ruumlckkehr zu jenen Zeiten verworrener Anarchie die stets dem Auf- bluumlhen einer neuen Gesellschaft voranzugehen scheinen Aber wie waumlre er zu verhindernBisher bestand die Aufgabe der Massen offenbar in diesen groszligen Zerstoumlrungen der alten Kulturen Die Geschichte lehrt uns daszlig in dem Augenblick da die moralischen Kraumlfte das Ruumlstzeug einer Gesellschaft ihre Herrschaft verloren haben die letzte Aufloumlsung von jenen unbewuszlig- ten und rohen Massen welche recht gut als Barbaren ge- kennzeichnet werden herbeigefuumlhrt wird Bisher wurden die Kulturen von einer kleinen intellektuellen Aristokratie geschaffen und geleitet niemals von den Massen Die Mas- sen haben nur Kraft zur Zerstoumlrung Ihre Herrschaft bedeutet stets eine Stufe der Aufloumlsung Eine Kultur setzt feste Regeln Zucht den Uumlbergang des Triebhaften zum Vernuumlnftigen die Vorausberechnung der Zukunft uumlber-

DAS ZEITALTER DER MASSEN4

haupt einen hohen Bildungsgrad voraus ndash Bedingungen fuumlr welche die sich selbst uumlberlassenen Massen voumlllig unzu- gaumlnglich sind Vermoumlge ihrer nur zerstoumlrerischen Macht wirken sie gleich jenen Mikroben welche die Aufloumlsung geschwaumlchter Koumlrper oder Leichen beschleunigen Ist das Gebaumlude einer Kultur morsch geworden so fuumlhren die Massen seinen Zusammenbruch herbei Jetzt tritt ihre Hauptaufgabe zutage Ploumltzlich wird die blinde Macht der Masse fuumlr einen Augenblick zur einzigen Philosophie der GeschichteWird es sich mit unsrer Kultur ebenso verhalten Es ist zu befuumlrchten aber wir wissen es noch nichtWir muumlssen uns damit abfinden die Herrschaft der Massen zu ertragen da unvorsichtige Haumlnde allmaumlhlich alle Schran- ken die jene zuruumlckhalten konnten niedergerissen haben Wir kennen diese Massen von denen man jetzt so viel spricht Die Psychologen von Fach die nicht in ihrer Naumlhe leben haben sie stets ignoriert und sich mit ihnen nur in bezug auf die Verbrechen beschaumlftigt zu denen sie faumlhig sind Zweifellos gibt es verbrecherische Massen aber es gibt auch tugendhafte heroische und noch viele anders- artige Massen Die Massenverbrechen bilden lediglich einen Sonderfall ihres Seelenlebens und lassen ihre geistige Be- schaffenheit nicht besser erkennen als die eines Einzel- wesens von dem man nur seine Laster kenntDoch offen gestanden Alle Herren der Erde alle Reli- gions- und Reichsstifter die Apostel aller Glaubensrichtun- gen die hervorragenden Staatsmaumlnner und in einer be- scheideneren Sphaumlre die einfachen Haumlupter kleiner mensch- licher Gemeinschaften waren stets unbewuszligte Psychologen mit einer instinktiven und oft sehr sicheren Kenntnis der Massenseele weil sie diese gut kannten wurden sie so leicht Machthaber Napoleon erfaszligte wunderbar das Seelen- leben der franzoumlsischen Massen aber er verkannte oft voumlllig die Massenseele fremder Rassen Diese Unkenntnis Uumlbrigens verstanden sich seine kluumlgsten Ratgeber nicht besser darauf Tal- leyrand schrieb ihm Spanien wuumlrde seine Soldaten als Befreier empfangen Es empfing sie wie Raubtiere Ein mit den Erbinstinkten der Rasse vertrauter Psychologe haumltte diesen Empfang leicht voraussehen koumlnnen

DIE MASSEN ALS ZERSTOumlRERINNEN DER KULTUR 5

veranlaszligte ihn namentlich in Spanien und Ruszligland Kriege zu fuumlhren die seinen Sturz vorbereiteten

Die Kenntnis der Psychologie der Massen ist heute das letzte Hilfsmittel fuumlr den Staatsmann der diese nicht etwa beherrschen ndash das ist zu schwierig geworden ndash aber wenig- stens nicht allzusehr von ihnen beherrscht werden willDie Massenpsychologie zeigt wie auszligerordentlich wenig Einfluszlig Gesetze und Einrichtungen auf die urspruumlngliche Natur der Massen haben und wie unfaumlhig diese sind Mei- nungen zu haben auszliger jenen die ihnen eingefloumlszligt wur- den Regeln welche auf rein begrifflichem Ermessen be- ruhen vermoumlgen sie nicht zu leiten Nur die Eindruumlcke die man in ihre Seele pflanzt koumlnnen sie verfuumlhren Darf z B ein Gesetzgeber der eine neue Steuer auflegen will die theoretisch gerechteste waumlhlen Keinesfalls Die unge- rechteste kann praktisch fuumlr die Massen die beste sein wenn sie am unauffaumllligsten und leichtesten in Erscheinung tritt Auf diese Weise wird eine noch so hohe indirekte Steuer allezeit von der Masse angenommen werden Wenn sie taumlglich pfennigweise fuumlr Konsumartikel entrichtet wird stoumlrt sie die Gewohnheiten nicht und beeinfluszligt sie wenig Man lege an ihrer Stelle eine proportionale auf einmal zu entrichtende Steuer auf die Loumlhne oder anderen Einkom- men mag sie auch theoretisch zehnmal weniger hart sein als die andre so wird sie heftigen Widerspruch erregen An Stelle der taumlglichen Pfennige die man nicht spuumlrt tritt naumlmlich eine verhaumlltnismaumlszligig hohe Geldsumme die am Zahl- tag riesig groszlig erscheint und sehr nachdruumlcklich empfunden wird Sie waumlre nur dann unbemerkt verbraucht worden wenn sie Pfennig fuumlr Pfennig zur Seite gelegt worden waumlre aber ein so wirtschaftliches Gebaren wuumlrde ein Maszlig von Voraus- sicht beweisen dessen die Massen unfaumlhig sindDies Beispiel enthuumlllt sonnenklar ihre geistige Verfassung Einem Psychologen wie Napoleon ist sie nicht entgangen aber die Gesetzgeber weiche die Massenseele nicht beachten wuumlr- den sie nicht verstehen Die Erfahrung hat ihnen noch nicht

6 DAS ZEITALTER DER MASSEN

genuumlgend bewiesen daszlig die Menschen sich niemals von den Vorschriften der reinen Vernunft leiten lassenSo lieszlige sich die Massenpsychologie noch auf vieles andere anwenden Ihre Kenntnis wirft hellstes Licht auf zahlreiche historische und oumlkonomische Erscheinungen die ohne sie voumlllig unverstaumlndlich bleibenSelbst wenn es lediglich das Interesse unsrer Neugier be- friedigte verdiente das Studium der Massenpsychologie in Angriff genommen zu werden denn es ist ebenso inter- essant die Triebkraumlfte der menschlichen Handlungen zu entraumltseln wie die eines Minerals oder einer PflanzeUnser Studium der Massenseele wird nur einen kurzen Uumlberblick eine bloszlige Zusammenfassung unsrer Unter- suchungen bieten koumlnnen Man darf von ihr nicht mehr als einige anregende Gesichtspunkte verlangen Andere werden das Gebiet besser bearbeiten Heute ist es noch jungfraumlulicher Boden den wir beackern

Die wenigen Autoren die sich mit dem Studium der Psychologie der Massen abgeben haben ihre Untersuchungen nur hinsichtlich der Verbrechen ange- stellt Da ich diesem Stoffgebiet nur ein kurzes Kapitel gewidmet habe so verweise ich den Leser auf die Arbeiten von Tarde und die Schrift von Sighele bdquoDie verbrecherische Masseldquo Die letztere Arbeit enthaumllt keinen ein- zigen neuen Gedanken des Autors gibt aber eine Zusammenstellung von Tat- sachen die der Psychologe verwerten kann uumlbrigens sind meine Schluszlig- folgerungen betreffs der Kriminalitaumlt und Moralitaumlt der Massen denen der beiden Autoren die ich nannte ganz entgegengesetztMan wird in meinen verschiedenen Arbeiten besonders in meiner Schrift bdquoDie Psychologie des Sozialismusldquo einige Ergebnisse aus den Gesetzen finden welche die Massenpsychologie beherrschen Diese Gesetze Sassen sich auszligerdem auf den verschiedensten Gebieten anwenden Der Direktor des Koumlnigl Konservatoriums in Bruumlssel A Gevaert hat von den Gesetzen die ich in einer Abhandlung uumlber Musik darlegte welche er treffend als bdquoMassenkunstldquo bezeichnete eine bemerkenswerte Anwendung gemacht bdquoIhre beiden Schriftenldquo schrieb mir dieser ausgezeichnete Lehrer bei Uumlbersendung seiner Abhandlung bdquohaben mir die Loumlsung eines von mir fruumlher als unloumlslich betrachteten Problems gebracht die erstaunliche Eignung jeder Masse ein neues oder altes ein einheimisches oder fremdes ein einfaches oder zusammengesetztes Tonstuumlck zu empfinden vorausgesetzt daszlig es schoumln gespielt wird und daszlig die Musiker einen begei- sterten Dirigenten habenldquo Herr Gevaert zeigt vortrefflich warum bdquoein Werk welches ausgezeichneten Musikern bei Durchsicht der Partitur in der Einsam- keit ihres Zimmers unverstaumlndlich blieb oft von einem jeder technischen Bil- dung ermangelnden Auditorium ohne weiteres erfaszligt wirdldquo Ebenso ausge- zeichnet erklaumlrt er weshalb diese aumlsthetischen Eindruumlcke keinerlei Spuren hinterlassen

DIE MASSEN UND DER STAATSMANN 7

ERSTES BUCH

DIE MASSENSEELE

1 KAPITEL

Allgemeine Kennzeichen der Massen Das psychologische Gesetz von ihrer seelischen Einheit

Im gewoumlhnlichen Wortsinn bedeutet Masse eine Vereinigung irgendwelcher einzelner von beliebiger Nationalitaumlt belie- bigem Beruf und Geschlecht und beliebigem Anlaszlig der Ver- einigungVom psychologischen Gesichtspunkt bedeutet der Ausdruck bdquoMasseldquo etwas ganz anderes Unter bestimmten Umstaumlnden und nur unter diesen Umstaumlnden besitzt eine Versammlung von Menschen neue von den Eigenschaften der einzelnen die diese Gesellschaft bilden ganz verschiedene Eigentuumlm- lichkeiten Die bewuszligte Persoumlnlichkeit schwindet die Ge- fuumlhle und Gedanken aller einzelnen sind nach derselben Richtung orientiert Es bildet sich eine Gemeinschaftsseele die wohl veraumlnderlich aber von ganz bestimmter Art ist Die Gesamtheit ist nun das geworden was ich mangels eines besseren Ausdrucks als organisierte Masse oder wenn man lieber will als psychologische Masse bezeichnen werde Sie bildet ein einziges Wesen und unterliegt dem Gesetz der see- lischen Einheit der Massen (loi de lrsquouniteacute mentale des foules) Die Tatsache daszlig viele Individuen sich zufaumlllig zusammen- finden verleiht ihnen noch nicht die Eigenschaften einer organisierten Masse Tausend zufaumlllig auf einem oumlffentlichen Platz ohne einen bestimmten Zweck versammelte einzelne bilden keineswegs eine Masse im psychologischen Sinne Da- mit sie die besonderen Wesenszuumlge der Masse annehmen be- darf es des Einflusses gewisser Reize deren Wesensart wir zu bestimmen haben

Das Schwinden der bewuszligten Persoumlnlichkeit und die Orien- tierung der Gefuumlhle und Gedanken nach einer bestimmten Richtung die ersten Vorstoumlszlige der Masse auf dem Weg sich zu organisieren erfordern nicht immer die gleich- zeitige Anwesenheit mehrerer einzelner an einem einzigen Ort Tausende von getrennten einzelnen koumlnnen im ge- gebenen Augenblick unter dem Einfluszlig gewisser heftiger Gemuumltsbewegungen etwa eines groszligen nationalen Ereig- nisses die Kennzeichen einer psychologischen Masse an- nehmen Irgendein Zufall der sie vereinigt genuumlgt dann daszlig ihre Handlungen sogleich die besondere Form der Massenhandlungen annehmen In gewissen historischen Augenblicken kann ein halbes Dutzend Menschen eine psychologische Masse ausmachen waumlhrend hunderte zu- faumlllig vereinigte Menschen sie nicht bilden koumlnnen Anderer- seits kann bisweilen ein ganzes Volk ohne sichtbare Zu- sammenscharung unter dem Druck gewisser Einfluumlsse zur Masse werdenHat sich eine psychologische Masse gebildet so erwirbt sie vorlaumlufige aber bestimmbare allgemeine Merkmale Diesen allgemeinen Merkmalen gesellen sich besondere Kennzeichen veraumlnderlicher Art hinzu je nach den Ele- menten aus denen die Masse sich zusammensetzt und durch die ihre geistige Struktur zu veraumlndern istDie psychologischen Massen lassen sich also einteilen Das Studium dieser Einteilung wird uns zeigen daszlig eine hete- rogene d h aus ungleichartigen Elementen zusammen- gesetzte Masse mit homogenen d h aus mehr oder minder aumlhnlichen Elementen zusammengesetzten Massen (Sekten Kasten Klassen) allgemeine Kennzeichen gemein hat und auszligerdem noch Besonderheiten aufweist durch die sie sich voneinander unterscheiden lassenBevor wir uns aber mit den verschiedenen Arten der Masse befassen muumlssen wir zuerst die allgemeinen Kenn- zeichen untersuchen Wir werden gleich dem Naturforscher vorgehen der mit der Beschreibung der allgemeinen Merk- male der Mitglieder einer Familie beginnt bevor er sich

WAS IST EINE MASSE 11

mit den besonderen Merkmalen befaszligt welche die Unter- scheidung der Gattungen und Arten dieser Familie ermoumlg- lichenDie genaue Schilderung der Massenseele ist nicht leicht weil ihre Organisation nicht bloszlig nach Rasse und Zu- sammensetzung der Gesamtheit sondern auch nach der Natur und dem Grade der Anreize schwankt denen diese Gesamtheit unterliegt Aber dieselbe Schwierigkeit besteht fuumlr das psychologische Studium jedes beliebigen Wesens Nur in Romanen aber nicht im wirklichen Leben haben die einzelnen einen bestaumlndigen Charakter aufzuweisen Allein die Gleichfoumlrmigkeit der Umgebung schafft die sicht- bare Gleichartigkeit der Charaktere Ich habe anderwaumlrts gezeigt daszlig alle geistigen Beschaffenheiten Charaktermoumlg- lichkeiten enthalten die sich unter dem Einf luszlig eines jaumlhen Umgebungswechsels offenbaren koumlnnen So befanden sich unter den wildesten grausamsten Konventmitgliedern gutmuumltige Buumlrger die unter normalen Verhaumlltnissen fried- liche Notare oder ehrsame Beamte geworden waumlren Als der Sturm voruumlber war nahmen sie ihren Normalcharakter als friedliche Buumlrger wieder an Unter ihnen fand Napo- leon seine willigsten DienerDa wir hier nicht alle Stufen der Massenbildung studieren koumlnnen werden wir sie besonders in dem Zustand ihrer vollendeten Organisation ins Auge fassen Wir werden auf diese Weise sehen was sie werden koumlnnen aber nicht was sie immer sind Allein in diesem fortgeschrittenen Organisationszustand bauen sich auf dem unveraumlnderlichen und vorherrschenden Rassenuntergrunde gewisse neue und besondere Merkmale auf und es vollzieht sich die Wen- dung aller Gefuumlhle und Gedanken der Gesamtheit nach einer uumlbereinstimmenden Richtung So allein offenbart sich was ich oben das psychologische Gesetz der seelischen Einheit der Massen genannt habeVerschiedene psychische Kennzeichen der Massen haben sie gemein mit alleinstehenden Individuen waumlhrend andere im Gegenteil nur bei Gesamtheiten anzutreffen sind Wir

12 ALLGEMEINE KENNZEICHEN DER MASSEN

wollen zunaumlchst die besonderen Merkmale studieren um ihre Bedeutung recht aufzuzeigenDas Uumlberraschendste an einer psychologischen Masse ist welcher Art auch die einzelnen sein moumlgen die sie bilden wie aumlhnlich oder unaumlhnlich ihre Lebensweise Beschaumlfti- gungen ihr Charakter oder ihre Intelligenz ist durch den bloszligen Umstand ihrer Umformung zu Masse besitzen sie eine Art Gemeinschaftsseele vermoumlge deren sie in ganz andrer Weise fuumlhlen denken und handeln als jedes von ihnen fuumlr sich fuumlhlen denken und handeln wuumlrde Es gibt gewisse Ideen und Gefuumlhle die nur bei den zu Massen verbundenen einzelnen auftreten oder sich in Handlungen umsetzen Die psychologische Masse ist ein unbestimmtes Wesen das aus ungleichartigen Bestandteilen besteht die sich fuumlr einen Augenblick miteinander verbunden haben genau so wie die Zellen des Organismus durch ihre Ver- einigung ein neues Wesen mit ganz anderen Eigenschaften als denen der einzelnen Zellen bildenIn Widerspruch zu einer Anschauung die sich befremd- licherweise bei einem so scharfsinnigen Philosophen wie Herbert Spencer findet gibt es in dem Haufen der eine Masse bildet keineswegs eine Summe und einen Durch- schnitt der Bestandteile sondern Zusammenfassung und Bildung neuer Bestandteile genau so wie in der Chemie sich bestimmte Elemente wie z B die Basen und Saumluren bei ihrem Zustandekommen zur Bildung eines neuen Koumlr- pers verbinden dessen Eigenschaften von denen der Koumlr- per die an seinem Zustandekommen beteiligt waren voumll- lig verschieden sindEs ist leicht festzustellen inwieweit sich der einzelne in einer Masse vom alleinstehenden einzelnen unterscheidet weniger leicht aber ist die Aufdeckung der Ursachen dieser VerschiedenheitUm diesen Ursachen wenigstens einigermaszligen naumlherzu- kommen muszlig man sich zunaumlchst an die Feststellung der modernen Psychologie erinnern daszlig nicht nur im orga- nischen Leben sondern auch in den Vorgaumlngen des Ver-

GESETZ VON DER SEELISCHEN EINHEIT DER MASSEN 13

standes die unbewuszligten Erscheinungen eine ausschlagge- bende Rolle spielen Das bewuszligte Geistesleben bildet nur einen sehr geringen Teil im Vergleich zum unbewuszligten Seelenleben Der geschickteste Analytiker der schaumlrfste Beobachter kann nur eine sehr kleine Anzahl bewuszligter Triebfedern die ihn fuumlhren entdecken Unsere bewuszligten Handlungen entspringen einer unbewuszligten Grundlage die namentlich durch Vererbungseinfluumlsse geschaffen wird Diese Grundlage enthaumllt die zahllosen Ahnenspuren aus denen sich die Rassenseele aufbaut Hinter den eingestandenen Ursachen unserer Handlungen gibt es zweifellos geheime Gruumlnde die wir nicht eingestehen hinter diesen aber liegen noch gehei- mere die wir nicht einmal kennen Die Mehrzahl unserer taumlglichen Handlungen ist nur die Wirkung verborgener Triebkraumlfte die sich unserer Kenntnis entziehenDurch die unbewuszligten Bestandteile die der Rassenseele zugrunde liegen aumlhneln sich alle einzelnen dieser Rasse durch ihre bewuszligten Anlagen dagegen ndash Fruumlchte der Erziehung vor allem aber einer besonderen Erblichkeit ndash unterscheiden sie sich voneinander Menschen von ver- schiedenartigster Intelligenz haben aumluszligerst aumlhnliche Triebe Leidenschaften und Gefuumlhle In allem was Gegenstand des Gefuumlhls ist Religion Politik Moral Sympathien und Antipathien usw uumlberragen die ausgezeichnetsten Men- schen nur selten das Niveau der gewoumlhnlichen einzelnen Zwischen einem groszligen Mathematiker und seinem Schuster kann verstandesmaumlszligig ein Abgrund klaffen aber hinsicht- lich des Charakters ist der Unterschied oft nichtig oder sehr geringEben diese allgemeinen Charaktereigenschaften die vom Unbewuszligten beherrscht werden und der Mehrzahl der normalen Angehoumlrigen einer Rasse ziemlich gleichmaumlszligig eigen sind werden in den Massen vergemeinschaftlicht In der Gemeinschaftsseele verwischen sich die Verstandes- faumlhigkeiten und damit auch die Persoumlnlichkeit der einzel- nen Das Ungleichartige versinkt im Gleichartigen und die unbewuszligten Eigenschaften uumlberwiegen

14 ALLGEMEINE KENNZEICHEN DER MASSEN

Eben die Vergemeinschaftlichung der gewoumlhnlichen Eigen- schaften erklaumlrt uns warum die Massen niemals Hand- lungen ausfuumlhren koumlnnen die eine besondere Intelligenz beanspruchen Die Entscheidungen von allgemeinem In- teresse die von einer Versammlung hervorragender aber verschiedenartiger Leute getroffen werden sind jenen welche eine Versammlung von Dummkoumlpfen treffen wuumlrde nicht merklich uumlberlegen Sie koumlnnen in der Tat nur die mittelmaumlszligigen Allerweltseigenschaften vergemeinschaft- lichen Die Masse nimmt nicht den Geist sondern nur die Mittelmaumlszligigkeit in sich auf Es hat nicht wie man so oft wiederholt die bdquoganze Welt mehr Geist als Voltaireldquo sondern Voltaire hat zweifellos mehr Geist als die bdquoganze Weltldquo wenn man unter dieser die Massen verstehtBeschraumlnkten sich aber die Individuen der Masse auf Ver- schmelzung ihrer allgemeinen Eigenschaften so ergaumlbe sich daraus nur ein Durchschnitt aber nicht wie wir sagten eine Schoumlpfung neuer Eigentuumlmlichkeiten Wie bilden sich diese neuen Eigentuumlmlichkeiten Das haben wir jetzt zu untersuchenDas Auftreten besonderer Charaktereigentuumlmlichkeiten der Masse wird durch verschiedene Ursachen bestimmt Die erste dieser Ursachen besteht darin daszlig der einzelne in der Masse schon durch die Tatsache der Menge ein Gefuumlhl unuumlberwindlicher Macht erlangt welches ihm gestattet Trieben zu froumlnen die er fuumlr sich allein notwendig gezuumlgelt haumltte Er wird ihnen um so eher nachgeben als durch die Namenlosigkeit und demnach auch Unverantwortlichkeit der Masse das Verantwortungsgefuumlhl das die einzelnen stets zuruumlckhaumllt voumlllig verschwindetEine zweite Ursache die geistige Uumlbertragung (contagion mentale) bewirkt gleichfalls das Erscheinen der besonderen Wesenszuumlge der Masse und zugleich ihre Richtung Die Uumlbertragung ist leicht festzustellen aber noch nicht zu er- klaumlren man muszlig sie den Erscheinungen hypnotischer Art zuordnen mit denen wir uns sogleich beschaumlftigen werden In der Masse ist jedes Gefuumlhl jede Handlung uumlbertragbar

DIE MASSE VOM UNBEWUSSTEN BEHERRSCHT 15

und zwar in so hohem Grade daszlig der einzelne sehr leicht seine persoumlnlichen Wuumlnsche den Gesamtwuumlnschen opfert Diese Faumlhigkeit ist seiner eigentlichen Natur durchaus ent- gegengesetzt und nur als Bestandteil einer Masse ist der Mensch dazu faumlhigNoch eine dritte und zwar die wichtigste Ursache ruft in den zur Masse vereinigten einzelnen besondere Eigenschaf- ten hervor welche denen der alleinstehenden einzelnen voumlllig widersprechen ich rede von der Beeinfluszligbarkeit (suggestibilite) von der die obenerwaumlhnte geistige Uumlbertra- gung uumlbrigens nur eine Wirkung istUm diese Erscheinung zu verstehen muumlssen wir uns ge- wisse neue Entdeckungen der Physiologie vergegenwaumlrti- gen Wir wissen heute daszlig ein Mensch in einen Zustand versetzt werden kann der ihn seiner bewuszligten Persoumln- lichkeit beraubt und ihn allen Einfluumlssen des Hypnotiseurs der ihm sein Bewuszligtsein genommen hat gehorchen und Handlungen begehen laumlszligt die zu seinem Charakter und seinen Gewohnheiten in schaumlrfstem Gegensatz stehen Sorg- faumlltige Beobachtungen scheinen nun zu beweisen daszlig ein einzelner der lange Zeit im Schoszlige einer wirkenden Masse eingebettet war sich alsbald ndash durch Ausstroumlmungen die von ihr ausgehen oder sonst eine noch unbekannte Ur- sache ndash in einem besonderen Zustand befindet der sich sehr der Verzauberung naumlhert die den Hypnotisierten unter dem Einfluszlig des Hypnotiseurs uumlberkommt Da das Verstandesleben des Hypnotisierten lahmgelegt ist wird er der Sklave seiner unbewuszligten Kraumlfte die der Hypnoti- seur nach seinem Belieben lenkt Die bewuszligte Persoumlnlich- keit ist voumlllig ausgeloumlscht Wille und Unterscheidungsver- moumlgen fehlen alle Gefuumlhle und Gedanken sind in die Sinne verlegt die durch den Hypnotiseur beeinfluszligt werdenUngefaumlhr in diesem Zustand befindet sich der einzelne als Glied einer Masse Er ist sich seiner Handlungen nicht mehr bewuszligt Waumlhrend bei ihm wie beim Hypnotisierten gewisse Faumlhigkeiten aufgehoben sind koumlnnen andere auf einen Zustand houmlchster Uumlberspannung getrieben werden

16 ALLGEMEINE KENNZEICHEN DER MASSEN

Unter dem Einfluszlig einer Suggestion wird er sich mit un- widerstehlichem Ungestuumlm auf gewisse Taten werfen Und dies Ungestuumlm ist in den Massen noch unwiderstehlicher als bei den Hypnotisierten weil die fuumlr alle einzelnen gleiche Suggestion durch Gegenseitigkeit waumlchst Die ein- zelnen in einer Masse die eine hinreichend starke Persoumln- lichkeit haben um dem Einfluszlig zu widerstehen sind in zu geringer Anzahl vorhanden und der Strom reiszligt sie mit Houmlchstens koumlnnen sie vermittels eines anderen Einflusses eine Ablenkung versuchen Ein gluumlcklicher Ausdruck ein im rechten Augenblick angewandter bildlicher Vergleich hat oft die Massen von den blutigsten Taten abgehaltenDie Hauptmerkmale des einzelnen in der Masse sind also Schwinden der bewuszligten Persoumlnlichkeit Vorherrschaft des unbewuszligten Wesens Leitung der Gedanken und Gefuumlhle durch Beeinflussung und Uumlbertragung in der gleichen Rich- tung Neigung zur unverzuumlglichen Verwirklichung der ein- gefloumlszligten Ideen Der einzelne ist nicht mehr er selbst er ist ein Automat geworden dessen Betrieb sein Wille nicht mehr in der Gewalt hatAllein durch die Tatsache Glied einer Masse zu sein steigt der Mensch also mehrere Stufen von der Leiter der Kultur hinab Als einzelner war er vielleicht ein gebildetes Indivi- duum in der Masse ist er ein Triebwesen also ein Barbar Er hat die Unberechenbarkeit die Heftigkeit die Wildheit aber auch die Begeisterung und den Heldenmut urspruumlng- licher Wesen denen er auch durch die Leichtigkeit aumlhnelt mit der er sich von Worten und Vorstellungen beeinflussen und zu Handlungen verfuumlhren laumlszligt die seine augenschein- lichsten Interessen verletzen In der Masse gleicht der ein- zelne einem Sandkorn in einem Haufen anderer Sand- koumlrner das der Wind nach Belieben emporwirbeltAus diesem Grunde sprechen Schwurgerichte Urteile aus die jeder Geschworene als einzelner miszligbilligen wuumlrde Parlamente nehmen Gesetze und Vorlagen an die jedes Mitglied einzeln ablehnen wuumlrde Einzeln genommen waren die Maumlnner des Konvents aufgeklaumlrte Buumlrger mit fried-

UMWANDLUNG DER GEFUumlHLE DES EINZELNEN 17

lichen Gewohnheiten Zur Masse vereinigt zauderten sie nicht unter dem Einfluszlig einiger Fuumlhrer die offenbar un- schuldigsten Menschen aufs Schafott zu schicken brachen unter Auszligerachtlassung ihres eignen Vorteils deren Un- verletzlichkeit und verringerten ihre ScharNicht nur in seinen Handlungen weicht das Glied der Masse von seinem normalen Ich ab Schon bevor es jede Unabhaumlngigkeit einbuumlszligte haben sich seine Gedanken und Gefuumlhle umgeformt und zwar so daszlig der Geizige zum Verschwender der Zweif ler zum Glaumlubigen der Ehren- mann zum Verbrecher der Hasenfuszlig zum Helden wird Der Verzicht auf alle seine verbrieften Vorrechte den der Adel in einem Augenblick der Begeisterung in der be- ruumlhmten Nacht vom 4 August 789 leistete waumlre sicher- lich von seinen Mitgliedern als einzelnen niemals ange- nommen wordenAus den vorstehenden Beobachtungen ist zu schlieszligen daszlig die Masse dem alleinstehenden Menschen intellektuell stets untergeordnet ist Hinsichtlich der Gefuumlhle aber und der durch sie bewirkten Handlungen kann sie unter Umstaumln- den besser oder schlechter sein Es haumlngt alles von der Art des Einflusses ab unter dem die Masse steht Das haben die Schriftsteller die die Masse nur vom kriminellen Ge- sichtspunkt studiert haben vollstaumlndig verkannt Gewiszlig ist die Masse oft verbrecherisch oft aber auch heldenhaft Man bringt sie leicht dazu sich fuumlr den Triumph eines Glaubens oder einer Idee in den Tod schicken zu lassen begeistert sie fuumlr Ruhm und Ehre daszlig sie sich wie im Zeitalter der Kreuzzuumlge fast ohne Brot und Wasser zur Befreiung des goumlttlichen Grabes von den Unglaumlubigen oder wie im Jahre 793 zur Verteidigung des vaterlaumlndi- schen Bodens fortreiszligen laumlszligt Gewiszlig ein unbewuszligtes Hel- dentum aber durch solche Heldentaten vollzieht sich die Geschichte Wollte man nur die mit kalter Uumlberlegung ausgefuumlhrten Groszligtaten auf das Aktivkonto der Voumllker schreiben so wuumlrden in den Weltannalen nur wenige ver- zeichnet sein

18 ALLGEMEINE KENNZEICHEN DER MASSEN

2 KAPITEL

Gefuumlhle und Sittlichkeit der Massen

Nach diesem allgemeinen Hinweis auf die Hauptkenn- zeichen der Massen kommen wir nun zur Untersuchung der EinzelheitenVerschiedene besondere Eigenschaften der Massen wie Triebhaftigkeit (impulsiviteacute) Reizbarkeit (irritabiliteacute) Un- faumlhigkeit zum logischen Denken Mangel an Urteil und kritischem Geist Uumlberschwang der Gefuumlhle (exageacuteration des sentiments) und noch andere sind bei Wesen einer nied- rigeren Entwicklungsstufe wie beim Wilden und beim Kinde ebenfalls zu beobachten Ich streife diese Uumlberein- stimmung nur im Voruumlbergehen denn ihre Ausfuumlhrung wuumlrde uumlber den Rahmen dieser Arbeit hinausgehen Sie waumlre unnoumltig fuumlr alle mit der Psychologie der Primitiven Vertrauten und fuumlr jene die nichts von ihr wissen ohne rechte UumlberzeugungskraftIch gehe nun die verschiedenen Merkmale die sich bei der Mehrzahl der Massen leicht beobachten lassen der Reihe nach durch

sect Triebhaftigkeit Beweglichkeit und Erregbarkeit der Massen

Bei der Untersuchung ihrer grundlegenden Charakterzuumlge sagten wir daszlig die Masse beinahe ausschlieszliglich vom Un- bewuszligten geleitet wird Ihre Handlungen stehen viel oumlfter unter dem Einfluszlig des Ruumlckenmarks als unter dem des Gehirns Die vollzogenen Handlungen koumlnnen ihrer Aus- fuumlhrung nach vollkommen sein da sie aber nicht vom Ge- hirn ausgehen so handelt der einzelne nach zufaumllligen Reizen Die Masse ist der Spielball aller aumluszligeren Reize deren unaufhoumlrlichen Wechsel sie widerspiegelt Sie ist also die Sklavin der empfangenen Anregungen Der allein- stehende einzelne kann ja denselben Reizen unterliegen

wie die Masse da ihm aber sein Gehirn die unangenehmen Folgen des Nachgebens zeigt so gehorcht er ihnen nicht Physiologisch laumlszligt es sich so erklaumlren daszlig der alleinste- hende einzelne die Faumlhigkeit zur Beherrschung seiner Emp- findungen hat die Masse aber nicht dazu imstande istDie mannigfachen Triebe denen die Massen gehorchen koumlnnen je nach dem Anreiz edel oder grausam heldenhaft oder feige sein stets aber sind sie so unabweisbar daszlig der Selbsterhaltungstrieb vor ihnen zuruumlcktrittDa die Reize die auf eine Masse wirken sehr wechseln und die Massen ihnen immer gehorchen so sind sie natuumlr- lich aumluszligerst wandelbar Daher sehen wir sie auch in dem- selben Augenblick von der blutigsten Grausamkeit zum unbedingtesten Heldentum oder Edelmut uumlbergehen Die Masse wird leicht zum Henker ebenso leicht aber auch zum Maumlrtyrer Aus ihrem Herzen floumlssen die Stroumlme von Blut die fuumlr den Triumph jedes Glaubens notwendig sind Man braucht nicht zu den Zeitaltern der Helden zuruumlck- zugehen um zu erkennen wozu die Massen faumlhig sind Nie markten sie bei einem Aufstand um ihr Leben und erst vor wenigen Jahren haumltte ein General der ploumltzlich volkstuumlmlich geworden war wenn er es verlangt haumltte leicht hunderttausend Menschen gefunden bereit sich fuumlr seine Sache toumlten zu lassenNichts ist also bei den Massen vorbedacht Sie koumlnnen unter dem Einfluszlig von Augenblicksreizen die ganze Folge der entgegengesetzten Gefuumlhle durchlaufen Sie gleichen den Blaumlttern die der Sturm aufwirbelt nach allen Rich- tungen verstreut und wieder fallen laumlszligt Die Betrachtung gewisser revolutionaumlrer Massen wird uns einige Beispiele fuumlr die Veraumlnderlichkeit ihrer Gefuumlhle gebenDiese Veraumlnderlichkeit macht sie schwer regierbar beson- ders wenn ein Teil der oumlffentlichen Gewalt in ihre Haumlnde gefallen ist Wuumlrden die Notwendigkeiten des Alltags- lebens nicht eine Art unsichtbarer Regelung der Ereignisse herausbilden so koumlnnten die Demokratien nicht bestehen Wenn auch die Massen die Dinge leidenschaftlich be-

20 GEFUumlHLE UND SITTLICHKEIT DER MASSEN

gehren so wollen sie sie doch nicht fuumlr lange Zeit Sie sind ebenso unfaumlhig zu ausdauerndem Wollen wie zum DenkenDie Masse ist nicht nur triebhaft und wandelbar Gleich dem Wilden laumlszligt sie nicht zu daszlig sich zwischen ihre Be- gierde und die Verwirklichung dieser Begierde ein Hinder- nis erhebt um so weniger als ihre Uumlberzahl ihr das Ge- fuumlhl unwiderstehlicher Macht gewaumlhrt Fuumlr den einzelnen in der Masse schwindet der Begriff des Unmoumlglichen Der alleinstehende einzelne ist sich klar daruumlber daszlig er allein keinen Palast einaumlschern keinen Laden pluumlndern koumlnnte und die Versuchung dazu kommt ihm kaum in den Sinn Als Glied einer Masse aber uumlbernimmt er das Machtbe- wuszligtsein das ihm die Menge verleiht und wird der ersten Anregung zu Mord und Pluumlnderung augenblicklich nach- geben Ein unerwartetes Hindernis wird wuumltend zertruumlm- mert Wenn der menschliche Organismus dauernde Wut zulieszlige so koumlnnte man die Wut als den normalen Zustand der gehemmten Masse bezeichnenDie Erregbarkeit Triebhaftigkeit und Veraumlnderlichkeit der Massen sowie das gesamte Empfinden des Volkes das wir zu untersuchen haben werden stets durch die grundlegen- den Rasseeigenschaften abgewandelt Sie bilden den festen Boden in dem alle unsere Gefuumlhle wurzeln Ohne Zweifel sind die Massen reizbar und triebhaft aber in den mannig- fachsten Abstufungen Der Unterschied zwischen einer la- teinischen und einer angelsaumlchsischen Masse z B ist auf- fallend Die juumlngsten Ereignisse unserer Geschichte geben ein sprechendes Bild davon Im Jahre 870 hat die Ver- oumlffentlichung eines einfachen Telegramms mit dem Bericht uumlber eine angeblich einem Botschafter zugefuumlgte Beleidigung genuumlgt einen Wutausbruch zu entfachen der zur unmittel- baren Ursache eines furchtbaren Krieges wurde Einige Jahre spaumlter erzeugte die telegraphische Anzeige einer un- bedeutenden Schlappe bei Langson einen neuen Ausbruch der den sofortigen Sturz der Regierung herbeifuumlhrte Zu gleicher Zeit erregte die viel schwerere Niederlage einer

TRIEBHAFTIGKEIT BEWEGLICHKEIT ERREGBARKEIT 21

englischen Expedition bei Khartum nur eine sehr schwache Bewegung in England und kein Ministerium fiel Uumlberall sind die Massen weibisch die weibischsten aber sind die lateinischen Massen Wer sich auf sie stuumltzt kann sehr hoch und sehr schnell steigen aber stets in der Naumlhe des tarpeji- schen Felsens und mit der Gewiszligheit eines Tages hinunter- gestuumlrzt zu werden

sect 2 Beeinfluszligbarkeit und Leichtglaumlubigkeit der Massen

Als einen der allgemeinen Charakterzuumlge bezeichneten wir die uumlbermaumlszligige Beeinf luszligbarkeit und wiesen nach wie ansteckend eine Beeinflussung in jeder Menschenansamm- lung ist woraus sich die blitzschnelle Gerichtetheit der Gefuumlhle in einem bestimmten Sinne erklaumlrt So parteilos man sich die Masse auch vorstellt so befindet sie sich doch meistens in einem Zustand gespannter Erwartung der die Beeinflussung beguumlnstigt Die erste klar zum Ausdruck gebrachte Beeinflussung teilt sich durch Uumlbertragung augen- blicklich allen Gehirnen mit und gibt sogleich die Gefuumlhls- richtung an Bei allen Beeinfluszligten draumlngt die fixe Idee danach sich in eine Tat umzuformen Ob es sich darum handelt einen Palast in Brand zu stecken oder sich zu opfern die Masse ist mit der gleichen Leichtigkeit dazu bereit Alles haumlngt von der Art des Anreizes ab nicht mehr wie beim alleinstehenden einzelnen von den Bezie- hungen zwischen der eingegebenen Tat und dem Maszlig der Vernunft das sich ihrer Verwirklichung widersetzen kann So muszlig die Masse die stets an den Grenzen des Unbe- wuszligten umherirrt allen Einfluumlssen unterworfen ist von der Heftigkeit ihrer Gefuumlhle erregt wird welche allen Wesen eigen ist die sich nicht auf die Vernunft berufen koumlnnen alles kritischen Geistes bar von einer uumlbermaumlszligigen Leichtglaumlubigkeit sein Nichts erscheint ihr unwahrschein- lich und das darf man nicht vergessen wenn man begrei-

22 GEFUumlHLE UND SITTLICHKEIT DER MASSEN

fen will wie leicht die unwahrscheinlichsten Legenden und Berichte zustande kommen und sich verbreiten Die Entstehung von Legenden die so leicht in den Massen umlaufen ist nicht nur die Folge vollkommener Leicht- glaumlubigkeit sondern auch der ungeheuerlichen Entstellun- gen welche die Ereignisse in der Phantasie der Menschen- ansammlungen erfahren Der einfachste Vorfall von der Masse gesehen ist sofort ein entstelltes Geschehnis Sie denkt in Bildern und das hervorgerufene Bild loumlst eine Folge anderer Bilder aus ohne jeden logischen Zusammen- hang mit dem ersten Diesen Zustand verstehen wir leicht wenn wir bedenken welche sonderbaren Vorstellungs- reihen zuweilen ein Erlebnis in uns hervorruft Die Ver- nunft beweist die Zusammenhanglosigkeit dieser Bilder aber die Masse beachtet sie nicht und vermengt die Zusaumltze ihrer entstellenden Phantasie mit dem Ereignis Die Masse ist unfaumlhig das Persoumlnliche von dem Sachlichen zu unter- scheiden Sie nimmt die Bilder die in ihrem Bewuszligtsein auftauchen und sehr oft nur eine entfernte Aumlhnlichkeit mit der beobachteten Tatsache haben fuumlr WirklichkeitDie Entstellungen mit denen eine Masse ein Ereignis um- formt dessen Zeuge sie gewesen ist scheinen unzaumlhlig und von verschiedener An zu sein da die Menschen aus denen die Masse besteht von sehr verschiedenem Temperament sind Aber so ist es nicht Infolge der Uumlbertragung sind die Entstellungen durch die einzelnen einer Gemeinschaft alle von gleicher Art und gleichem Wesen Die erste Ent- stellung die ein Glied der Gesamtheit vorbringt formt den Kern des ansteckenden Einflusses Bevor der heilige Georg allen Kreuzfahrern auf den Mauern von Jerusalem er- schien war er sicher zuerst nur von einem von ihnen wahrgenommen worden Durch Beeinflussung und Uumlber-

Wer noch die Belagerung von Paris mitgemacht hat erlebte viele Faumllle dieser Leichtglaumlubigkeit der Massen an die unwahrscheinlichsten Dinge Ein brennendes Wachslicht in einem houmlheren Stockwerk galt sofort fuumlr ein Zeichen das man den Belagerern geben wollte Zwei Sekunden Uumlberlegung wuumlrden bewiesen haben daszlig man unmoumlglich aus einer Entfernung von mehreren Meilen dieses Kerzenlicht sehen kann

BEEINFLUSSBARKEIT UND LEICHTGLAumlUBIGKEIT 23

tragung wurde das gemeldete Wunder sofort von allen angenommenSo vollzieht sich der Vorgang von Kollektivhalluzina- tionen die in der Geschichte so haumlufig sind und alle klas- sischen Merkmale der Echtheit zu haben scheinen da es sich hier um Erscheinungen handelt die von Tausenden von Menschen festgestellt wurdenDie geistige Beschaffenheit der einzelnen aus denen die Masse besteht widerspricht nicht diesem Grundsatz Denn diese Eigenschaften sind bedeutungslos In dem Augenblick da sie zu einer Masse gehoumlren werden der Ungebildete und der Gelehrte gleich unfaumlhig zur BeobachtungDiese Behauptung mag widersinnig klingen Um sie zu beweisen muumlszligte man auf eine groszlige Anzahl historischer Tatsachen zuruumlckgreifen und dazu wuumlrden mehrere Baumlnde nicht genuumlgenDa ich aber den Leser doch nicht unter dem Eindruck un- bewiesener Behauptungen lassen moumlchte so will ich einige Beispiele anfuumlhren die ich auf gut Gluumlck aus der groszligen Anzahl die man zitieren koumlnnte herausgreifeDer folgende Fall wurde gewaumlhlt weil er besonders all- gemeinguumlltig fuumlr Kollektivhalluzinationen ist Er wirkte sich auf eine Menge aus die aus den verschiedensten ein- zelnen ndash unwissenden und gebildeten ndash bestand Er wird von dem Schiffsleutnant Julien Feacutelix in seinem Buch uumlber die Meeresstroumlmungen nebenher berichtet und ist auch in die bdquoRevue Scientifiqueldquo aufgenommen wordenDie Fregatte bdquoLa Belle-Pouleldquo kreuzte auf See um die Korvette bdquoLe Berceauldquo wiederzufinden von der sie durch einen heftigen Orkan getrennt worden war Es war am hellen lichten Tage Ploumltzlich signalisiert die Wache ein Schiff in Seenot Die Mannschaft richtet ihre Blicke auf die bezeichnete Stelle und alle Offiziere und Matrosen sehen deutlich ein menschenbeladenes Wrack welches von kleinen Fahrzeugen auf denen Notsignale flatterten ge- schleppt wurde Admiral Desfosseacutes lieszlig ein Boot bemannen um den Schiffbruumlchigen zu Hilfe zu eilen Waumlhrend sie sich

24 GEFUumlHLE UND SITTLICHKEIT DER MASSEN

naumlherten sahen die im Boot befindlichen Matrosen und Offiziere bdquoMassen von Menschen sich hin und her bewegen die Haumlnde ausstrecken und vernahmen den dumpfen und verworrenen Laumlrm einer groszligen Anzahl Stimmenldquo Als das Boot angekommen war fand man nichts weiter vor als einige mit Blaumlttern bedeckte Baumaumlste die sich von der benachbarten Kuumlste losgerissen hatten Vor einem so hand- greiflichen Beweis schwindet die TaumluschungDies Beispiel enthuumlllt ganz klar den Verlauf der Kollektiv- taumluschungen wie wir ihn beschrieben haben Auf der einen Seite eine Masse im Zustand gespannter Aufmerksamkeit auf der andern eine Suggestion die von der Wache ausgeht die ein schiffbruumlchiges Fahrzeug auf dem Meer signalisiert eine Suggestion die durch Uumlbertragung von allen Anwesen- den Offizieren wie Matrosen aufgenommen wirdEine Masse braucht nicht zahlreich zu sein um die Faumlhig- keit richtigen Sehens zu verlieren und die wirklichen Tat- sachen durch davon abweichende Taumluschungen zu ersetzen Die Versammlung einiger einzelner bildet eine Masse und selbst wenn es hervorragende Gelehrte waumlren so wuumlrden sie doch alle fuumlr die Dinge die auszligerhalb ihres Faches liegen die Massenkennzeichen annehmen Das Be- obachtungsvermoumlgen und der kritische Geist eines jeden von ihnen schwinden sofortEin scharfsinniger Psychologe Davey liefert uns dafuumlr ein recht merkwuumlrdiges Beispiel welches vor kurzem in den

bdquoAnnales des Sciences psychiquesldquo mitgeteilt wurde und es verdient hier berichtet zu werden Davey berief eine Versammlung ausgezeichneter Beobachter ein unter ihnen den hervorragenden englischen Forscher Wallace und fuumlhrte ihnen nachdem er sie die Gegenstaumlnde untersuchen und beliebig hatte versiegeln lassen alle klassischen Phauml- nomene des Spiritismus vor Materialisation von Geistern Schiefertafelschrift usw Nachdem er hierauf von diesen beruumlhmten Beobachtern schriftliche Berichte erhalten hatte in welchen erklaumlrt wurde die beobachteten Erscheinungen seien nur auf uumlbernatuumlrlichem Wege moumlglich gewesen ent-

BEEINFLUSSBARKEIT UND LEICHTGLAumlUBIGKEIT 25

huumlllte er ihnen daszlig sie das Ergebnis sehr einfacher Kniffe waren bdquoDas Erstaunliche an diesem Versuch Daveysldquo schreibt der Verfasser des Berichts bdquoist nicht die Bewun- derung der Kunststuumlcke als solcher sondern die auszliger- ordentliche Geistlosigkeit der Berichte welche die unein- geweihten Zeugen daruumlber abgaben Denn die Zeugen haben zahlreiche und genaue Berichte geliefert die voumlllig irrig sind die aber wenn man ihre Schilderungen fuumlr richtig haumllt zu dem Ergebnis fuumlhren daszlig die geschilderten Vorgaumlnge durch Betrug nicht zu erklaumlren sind Die von Davey ersonnenen Methoden waren so einfach daszlig man sich uumlber die Kuumlhnheit wundert mit der er sie anwandte er besaszlig aber eine solche Macht uumlber den Geist der Masse daszlig er ihr das was sie nicht sah als gesehen aufzwingen konnteldquo Diese Macht hat der Hypnotiseur immer uumlber den Hypnotisierten Sieht man aber wie sie sich auf uumlber- legene von vornherein miszligtrauische Geister auswirkt dann begreift man mit welcher Leichtigkeit die gewoumlhn- lichen Massen zu taumluschen sindEs gibt unzaumlhlige aumlhnliche Beispiele Vor einigen Jahren gaben die Zeitungen die Geschichte von zwei kleinen er- trunkenen Maumldchen wieder die aus der Seine gezogen wurden Diese Kinder wurden zuerst in bestimmtester Weise von einem Dutzend Zeugen erkannt Vor so uumlber- einstimmenden Aussagen schwand auch der leiseste Zweifel des Untersuchungsrichters er lieszlig den Totenschein aus- fertigen In dem Augenblick aber da man sich zur Beerdi- gung anschickte entdeckte man durch Zufall daszlig die mit den Opfern Identifizierten noch voumlllig lebendig waren und kaum eine entfernte Aumlhnlichkeit mit den ertrunkenen Klei- nen besaszligen Wie in mehreren der fruumlher angefuumlhrten Beispiele hatte die Behauptung des ersten Zeugen der das Opfer einer Taumluschung war zur Beeinflussung aller an- deren genuumlgtIn solchen Faumlllen ist der Ausgangspunkt fuumlr die Beein- flussung stets die Taumluschung die durch mehr oder weniger unbestimmte Erinnerungen in einem einzelnen erzeugt

26 GEFUumlHLE UND SITTLICHKEIT DER MASSEN

wird auszligerdem die Uumlbertragung durch Mitteilung dieses ersten Irrtums Ist der erste Beobachter leicht erregbar so genuumlgt es oft daszlig der Leichnam den er zu erkennen glaubt abgesehen von aller wirklichen Aumlhnlichkeit eine Besonderheit etwa eine Narbe oder ein Bekleidungsmerk- mal aufzuweisen hat wodurch bei ihm die Vorstellung einer andern Person ausgeloumlst werden kann Die einge- bildete Vorstellung kann dann zum Kern einer Art Kri- stallisation werden welche den Bereich des Verstandes er- greift und allen kritischen Geist lahmt Der Beobachter sieht dann nicht mehr die Sache selbst sondern das Bild das in seiner Seele aufgetaucht ist Auf diese Weise erklaumlrt sich das vermeintliche Wiedererkennen von Kinderleichen durch die Muumltter wie in dem folgenden schon alten Fall an dem sich die beiden Arten von Beeinflussung deren Ab- lauf ich erklaumlrt habe deutlich offenbaren

bdquoDas Kind wurde von einem anderen Kinde erkannt ndash das sich irrte Die Reihe des unrichtigen Wiedererkennens lief nun ab Und nun geschah etwas sehr Merkwuumlrdiges An dem Tage nachdem die Leiche durch einen Schuumller wiedererkannt worden war schrie eine Frau auf Ach mein Gott das ist mein Kindlsquo Man fuumlhrte sie zur Leiche sie untersucht die Kleider und stellt eine Narbe an der Stirn fest Gewiszliglsquo sagte sie es ist mein armer Junge der seit Ende Juli vermiszligt wird Man wird ihn mir ent- fuumlhrt und getoumltet habenlsquo Die Frau war Hausmeisterin in der Rue de Four und hieszlig Chavandret Man lieszlig ihren Schwager kommen und dieser sagte ohne Zoumlgern Das ist der kleine Philibertlsquo Mehrere Bewohner der Straszlige ganz abgesehen von seinem Lehrer fuumlr den die Schulmedaille ausschlaggebend war erkannten in dem Kinde von la Villette Philibert Chavandret Nun Nachbarn Schwager Lehrer und Mutter hatten sich geirrt Sechs Wochen spaumlter war die Identitaumlt des Kindes festgestellt Es war ein Knabe aus Bordeaux der dort getoumltet und mit der Post nach Paris gebracht worden war ldquo bdquoEclairldquo vom 2 April 895

BEEINFLUSSBARKEIT UND LEICHTGLAumlUBIGKEIT 27

Wir koumlnnen wieder feststellen daszlig dies bdquoErkennenldquo meistens bei Frauen und Kindern also gerade bei den erregbarsten Wesen vorkommt Es zeigt gleichzeitig wie wenig Wert solche Zeugnisse vor Gericht haben koumlnnen Besonders Kinderaus- sagen sollten nie herangezogen werden Die Richter wieder- holen immer man luumlge in diesem Alter nicht das ist ein Gemeinplatz Besaumlszligen sie eine etwas tiefere psychologische Bildung so wuumlszligten sie ganz im Gegenteil in diesem Alter luumlgt man stets Gewiszlig ist die Luumlge harmlos sie bleibt aber dennoch eine Luumlge Besser wuumlrde die Verurteilung eines An- geklagten nach dem Spiel bdquoKopf oder Schriftldquo erfolgen als wie so oft geschehen nach dem Zeugnis eines KindesUm aber auf die Beobachtungen zuruumlckzukommen die von den Massen gemacht werden so koumlnnen wir daraus schlieszligen daszlig die Kollektivbeobachtungen die verfehltesten von allen sind und daszlig sie meistens nur die einfache Taumluschung eines einzelnen sind die durch Uumlbertragung alle andern beeinfluszligt hat Unzaumlhlige Faumllle beweisen daszlig man gegen die Zeugenschaft der Masse das groumlszligte Miszligtrauen hegen muszlig Tausende von Menschen erlebten den beruumlhmten Reiterangriff der Schlacht bei Sedan und doch ist es unmoumlg- lich aus den widersprechenden Berichten von Augenzeugen festzustellen von wem er kommandiert wurde Der englische General Wolseley hat in einem neuen Buch den Beweis er- bracht daszlig man bis jetzt uumlber die wichtigsten Ereignisse der Schlacht bei Waterloo obwohl Hunderte von Zeugen sie beglaubigt hatten in groumlszligtem Irrtum befangen war

Wissen wir auch nur von einer einzigen Schlacht wie sie sich wirklich ab- gespielt hat Ich zweifle sehr daran Wir kennen Sieger und Besiegte aber wahrscheinlich weiter nichts Was drsquoHarcourt uumlber die Schlacht von Solferino berichtet die er teils mitgemacht und teils gesehen hat laumlszligt sich auf alle Schlachten anwenden bdquoDie Generaumlle (natuumlrlich durch Hunderte von Aussagen unterrichtet) setzen ihre offiziellen Berichte auf die mit der Verbreitung der Berichte betrauten Offiziere aumlndern diese Schriftstuumlcke und setzen die end- guumlltige Fassung fest der Generalstabschef kritisiert und erneuert sie nochmals Man bringt sie zum Feldmarschall er ruft Sie befinden sich in einem voumllli- gen Irrtumlsquo und nimmt eine neue Uumlberarbeitung vor Von dem urspruumlnglichen Bericht bleibt fast nichts stehenldquo DrsquoHarcourt erzaumlhlt dies als Beweis der Un- moumlglichkeit die Wahrheit uumlber das packendste und aufs genaueste beobachtete Ereignis festzustellen

28 GEFUumlHLE UND SITTLICHKEIT DER MASSEN

All diese Beispiele zeigen ich wiederhole es wie wenig Wert die Zeugenschaft der Massen hat Die Lehrbuumlcher der Logik zaumlhlen die Uumlbereinstimmung zahlreicher Zeugen zur Klasse der sichersten Beweise die man zur Erhaumlrtung einer Tatsache erbringen kann Aber was wir von der Psychologie der Massen wissen zeigt wie sehr sie sich in diesem Punkte taumluschen Die Ereignisse die von der groumlszlig- ten Anzahl von Personen beobachtet wurden sind sicher am zweifelhaftesten Zu erklaumlren eine Tatsache sei von Tausenden von Zeugen gleichzeitig festgestellt worden heiszligt erklaumlren daszlig das wirkliche Ereignis von dem ange- nommenen Bericht im allgemeinen erheblich abweichtAus dem Vorstehenden folgt klar daszlig die Geschichtswerke als reine Phantasiegebilde zu betrachten sind Es sind Phantasieberichte schlecht beobachteter Ereignisse nebst nachtraumlglich ersonnenen Erklaumlrungen Haumltte uns die Ver- gangenheit nicht ihre Literaturdenkmaumller ihre Kunst- und Bauwerke hinterlassen so wuumlszligten wir nicht die geringste Tatsache von ihr Kennen wir ein einziges wahres Wort uumlber das Leben der groszligen Maumlnner die in der Menschheit eine hervorragende Rolle spielten Houmlchstwahrscheinlich nicht Im Grunde hat uumlbrigens ihr tatsaumlchliches Leben recht wenig Interesse fuumlr uns Die legendaumlren Helden nicht die wirklichen Helden haben Eindruck auf die Massen ge- machtLeider sind die Legenden selbst nicht von Dauer Die Phantasie der Massen formt sie je nach den Zeiten und den Rassen um Vom grausamen Jehova der Bibel bis zum Gott der Liebe der heiligen Therese ist ein groszliger Schritt und der in China verehrte Buddha hat mit dem in Indien angebeteten keinen Zug gemeinEs bedarf nicht des Ablaufs von Jahrhunderten damit sich die Heldenlegende in der Phantasie der Massen wandelt diese Wandlung erfolgt oft innerhalb weniger Jahre Wir haben in unsern Tagen erlebt wie sich die Legende eines der groumlszligten Helden der Geschichte in weniger als fuumlnfzig Jahren wiederholt veraumlndert hat Unter den Bourbonen

BEEINFLUSSBARKEIT UND LEICHTGLAumlUBIGKEIT 39

wurde Napoleon zu einer idyllischen menschenfreundlichen und freisinnigen Persoumlnlichkeit einem Freunde der Armen die wie der Dichter sagt sein Andenken in ihrer Huumltte fuumlr lange Zeit bewahren wuumlrden Dreiszligig Jahre spaumlter war der gutmuumltige Held zu einem grausamen Despoten gewor- den zu einem Usurpator von Macht und Freiheit der drei Millionen Menschen nur zur Befriedigung seines Ehrgeizes geopfert hatte Gerade jetzt wandelt sich die Legende wieder Wenn einige Dutzend Jahrhunderte daruumlber hin- gegangen sind werden die zukuumlnftigen Forscher angesichts dieser widersprechenden Berichte vielleicht das Dasein des Helden bezweifeln wie wir bisweilen das Dasein Buddhas bezweifeln und werden dann in ihm nur einen Sonnen- mythus oder eine Fortentwicklung der Herkulessage er- blicken Zweifellos werden sie sich uumlber diese Ungewiszligheit leicht troumlsten denn da sie eine bessere psychologische Er- kenntnis haben werden als wir heutzutage so werden sie wissen daszlig die Geschichte nur Mythen zu verewigen vermag

sect 3 Uumlberschwang (exageacuteration) und Einseitigkeit (simplisme) der Massengefuumlhle

Alle Gefuumlhle gute und schlechte die eine Masse aumluszligert haben zwei Eigentuumlmlichkeiten sie sind sehr einfach und sehr uumlberschwenglich Wie in so vielen andern naumlhert sich auch in dieser Beziehung der einzelne der einer Masse angehoumlrt den primitiven Wesen Gefuumlhlsabstufungen nicht zugaumlnglich sieht er die Dinge grob und kennt keine Uumlber- gaumlnge Der Uumlberschwang der Gefuumlhle in der Masse wird noch dadurch verstaumlrkt daszlig er sich durch Suggestion und Uumlbertragung sehr rasch ausbreitet und daszlig Anerkennung die er erfaumlhrt seinen Spannungsgrad erheblich steigertDie Einseitigkeit und Uumlberschwenglichkeit der Gefuumlhle der Massen bewahren sie vor Zweifel und Ungewiszligheit Den Frauen gleich gehen sie sofort bis zum Aumluszligersten Ein aus- gesprochener Verdacht wird sogleich zu unumstoumlszliglicher

30 GEFUumlHLE UND SITTLICHKEIT DER MASSEN

Gewiszligheit Ein Keim von Abneigung und Miszligbilligung den der einzelne kaum beachten wuumlrde waumlchst beim Ein- zelwesen der Masse sofort zu wildem HaszligDie Heftigkeit der Gefuumlhle der Massen wird besonders bei den ungleichartigen Massen durch das Fehlen jeder Verantwortlichkeit noch gesteigert Die Gewiszligheit der Straflosigkeit die mit der Groumlszlige der Menge zunimmt und das Bewuszligtsein einer bedeutenden augenblicklichen Ge- walt bedingt durch die Masse ermoumlglichen der Gesamtheit Gefuumlhle und Handlungen die dem einzelnen unmoumlglich sind In den Massen verlieren die Dummen Ungebildeten und Neidischen das Gefuumlhl ihrer Nichtigkeit und Ohn- macht an seine Stelle tritt das Bewuszligtsein einer rohen zwar vergaumlnglichen aber ungeheuren KraftUngluumlcklicherweise ruft der Uumlberschwang schlechter Ge- fuumlhle bei den Massen den vererbten Rest der Instinkte des Urmenschen herauf die beim alleinstehenden und verant- wortlichen einzelnen durch die Furcht vor Strafe gezuumlgelt werden So erklaumlrt sich die Neigung der Massen zu schlim- men AusschreitungenWenn die Massen geschickt beeinfluszligt werden koumlnnen sie heldenhaft und opferwillig sein Sie sind es sogar in viel houmlherem Maszlige als der einzelne Wir werden beim Studium der Massenmoral bald Gelegenheit haben auf diesen Punkt zuruumlckzukommenDa die Masse nur durch uumlbermaumlszligige Empfindungen erregt wird muszlig der Redner der sie hinreiszligen will starke Aus- druumlcke gebrauchen Zu den gewoumlhnlichen Beweismitteln der Redner in Volksversammlungen gehoumlrt Schreien Be- teuern Wiederholen und niemals darf er den Versuch machen einen Beweis zu erbringenDie gleiche Uumlbertreibung der Gefuumlhle verlangt die Masse von ihren Helden Ihre Eigenschaften und hervorragenden Tugenden muumlssen stets vergroumlszligert werden Im Theater fordert die Masse von dem Helden des Dramas Tugenden einen Mut und eine Moral wie sie im Leben niemals vor- kommen

UumlBERSCHWANG UND EINSEITIGKEIT 31

Man spricht mit Recht von der besonderen Optik des Thea- ters Zweifellos ist sie vorhanden aber ihre Gesetze haben nichts mit dem gesunden Menschenverstand und der Logik zu tun Die Kunst zur Masse zu sprechen ist von unter- geordnetem Rang erfordert jedoch ganz besondere Faumlhig- keiten Beim Lesen gewisser Stuumlcke kann man sich ihren Erfolg oft nicht erklaumlren Im allgemeinen sind die Theater- direktoren selbst uumlber den Erfolg sehr im Ungewissen wenn ihnen die Stuumlcke eingereicht werden denn um ur- teilen zu koumlnnen muumlszligten sie sich in eine Masse verwan- deln Wenn wir uns mit Einzelheiten befassen koumlnnten waumlre es leicht auch noch den bedeutenden Einfluszlig der Rasse aufzuzeigen Das Drama das in dem einen Lande die Masse begeistert hat oft in einem andern keinen oder nur einen durchschnittlichen Achtungserfolg weil es nicht die Kraumlfte spielen laumlszligt die das neue Publikum bewegen koumlnntenIch brauche nicht besonders zu betonen daszlig der Uumlber- schwang der Massen sich nur auf die Gefuumlhle und in keiner Weise auf den Verstand erstreckt Die Tatsache der bloszligen Zugehoumlrigkeit des einzelnen zur Masse bewirkt wie ich bereits zeigte eine betraumlchtliche Senkung der Voraussetzun- gen seines Verstandes In seinen Untersuchungen uumlber die Massenverbrechen hat Tarde das gleichfalls festgestellt

Dadurch erklaumlrt es sich auch daszlig gewisse Theaterstuumlcke die von allen Direktoren zuruumlckgewiesen wurden zuweilen auszligerordentliche Erfolge er- zielen wenn ihre Auffuumlhrung doch zufaumlllig zustande kommt Der Erfolg des Coppeacuteeschen Stuumlckes bdquoPour la Couronneldquo das zehn Jahre lang trotz des Namens seines Autors von allen Direktoren der ersten Theater abgelehnt wurde ist bekannt bdquoCharleys Tanteldquo wurde nach einer ganzen Reihe von Ablehnungen auf Kosten eines Boumlrsenmaklers aufgefuumlhrt und erzielte in Frank- reich zweihundert in England uumlber tausend Auffuumlhrungen Ohne die ge- nannte Erklaumlrung daszlig sich die Theaterdirektoren nicht in die Seele der Masse versetzen koumlnnen waumlre es unbegreiflich daszlig maszliggebende Einzelne die Wert darauf legen sich nicht durch schwere Irrtuumlmer bloszligzustellen solche Fehlurteile faumlllen koumlnnen

32 GEFUumlHLE UND SITTLICHKEIT DER MASSEN

sect 4 Unduldsamkeit Herrschsucht (autoritarisme) und Konservatismus der Massen

Die Massen kennen nur einfache und uumlbertriebene Gefuumlhle Meinungen Ideen Glaubenssaumltze die man ihnen einfloumlszligt werden daher nur in Bausch und Bogen von ihnen ange- nommen oder verworfen und als unbedingte Wahrheiten oder ebenso unbedingte Irrtuumlmer betrachtet So geht es stets mit Uumlberzeugungen die auf dem Wege der Beeinflussung nicht durch Nachdenken erworben wurden Jedermann weiszlig wie unduldsam die religioumlsen Glaubenssaumltze sind und welche Gewaltherrschaft sie uumlber die Seelen ausuumlbenDa die Masse in das was sie fuumlr Wahrheit oder Irrtum haumllt keinen Zweifel setzt andererseits ein klares Bewuszligt- sein ihrer Kraft besitzt so ist sie ebenso eigenmaumlchtig wie unduldsam Der einzelne kann Widerspruch und Ausein- andersetzung anerkennen die Masse duldet sie niemals In den oumlffentlichen Versammlungen wird der leiseste Wider- spruch eines Redners sofort mit Wutgeschrei und groben Schmaumlhungen beantwortet und wenn der Redner beharr- lich ist folgen leicht Taumltlichkeiten und der Redner wird hinausgeworfen Ohne die einschuumlchternde Anwesenheit der Sicherheitsbehoumlrde wuumlrde man oft den Gegner lynchen Herrschsucht und Unduldsamkeit finden sich bei allen Ar- ten der Massen aber in ganz verschiedenen Graden und hier kommt wieder der Grundbegriff der Rasse zur Gel- tung die alles Fuumlhlen und Denken der Menschen beherrscht Herrschsucht und Unduldsamkeit sind besonders bei den lateinischen Massen ausgebildet und zwar in solchem Maszlige daszlig es ihnen fast gelungen ist das Gefuumlhl der per- soumlnlichen Unabhaumlngigkeit das bei den Angelsachsen so maumlchtig ist bei ihnen voumlllig zu vernichten Die lateinischen Massen haben nur Gefuumlhl fuumlr die Gesamt-Unabhaumlngigkeit ihrer Sekte und bezeichnend fuumlr diese Unabhaumlngigkeit ist das Beduumlrfnis alle Andersglaumlubigen sofort und gewaltsam fuumlr ihren eigenen Glauben zu gewinnen Von der Inquisi- tion angefangen konnten sich bei den lateinischen Voumllkern

die Jakobiner aller Zeiten niemals zu einem andern Frei- heitsbegriff aufschwingenHerrschsucht und Unduldsamkeit sind fuumlr die Massen sehr klare Gefuumlhle die sie ebenso leicht ertragen wie sie sie in die Tat umsetzen Die Massen erkennen die Macht an und werden durch Guumlte die sie leicht fuumlr eine Art Schwauml- che halten nur maumlszligig beeinfluszligt Niemals galten ihre Sym- pathien den guumltigen Herren sondern den Tyrannen von denen sie kraftvoll beherrscht wurden Ihnen haben sie stets die groumlszligten Denkmaumller errichtet Wenn sie den ge- stuumlrmten Despoten gern mit Fuumlszligen treten so geschieht das weil er seine Macht eingebuumlszligt hat und in die Reihe der Schwachen eingereiht wird die man verachtet und nicht fuumlrchtet Das Urbild des Massenhelden wird stets Caumlsaren- charakter zeigen Sein Helmbusch verfuumlhrt sie seine Macht floumlszligt ihnen Achtung ein und sein Schwert fuumlrchten sieStets bereit zur Auflehnung gegen die schwache Obrigkeit beugt sich die Masse knechtisch vor einer starken Herr- schaft Ist die Haltung der Obrigkeit schwankend so wen- det sich die Masse die stets ihren aumluszligersten Gefuumlhlen folgt abwechselnd von der Anarchie zur Sklaverei von der Sklaverei zur AnarchieUumlbrigens wuumlrde man die Psychologie der Massen ganz miszligverstehen wenn man an die Vorherrschaft ihrer revo- lutionaumlren Triebe glaubte Nur ihre Gewalttaten taumluschen uns uumlber diesen Punkt Die Ausbruumlche der Empoumlrung und Zerstoumlrung sind immer nur von kurzer Dauer Die Massen werden zu sehr vom Unbewuszligten geleitet und sind also dem Einfluszlig uralter Vererbung zu sehr unterworfen als daszlig sie nicht aumluszligerst beharrend sein muumlszligten Wenn sie sich selbst uumlberlassen werden erlebt man bald daszlig sie ihrer Zuumlgellosigkeit uumlberdruumlssig instinktiv der Knecht- schaft zusteuern Die kuumlhnsten und schroffsten Jakobiner stimmten Bonaparte entschieden zu als er alle Freiheiten aufhob und seine eiserne Hand schwer fuumlhlen lieszligDie Geschichte der Voumllkerrevolutionen ist fast unverstaumlnd- lich wenn man die von Grund aus beharrenden Trieb-

34 GEFUumlHLE UND SITTLICHKEIT DER MASSEN

kraumlfte der Massen verkennt Sie wuumlnschen zwar die Namen ihrer Einrichtungen zu wechseln und um diesen Wechsel zu vollziehen machen sie zuweilen sogar groszlige Revolu- tionen durch aber der Kern dieser Einrichtungen ist zu sehr Ausdruck der erblichen Beduumlrfnisse der Rasse als daszlig sie nicht immer wiederkehren muumlszligten Die unauf- houmlrliche Veraumlnderlichkeit der Massen erstreckt sich nur auf ganz aumluszligerliche Dinge In Wahrheit haben sie nicht weiter erklaumlrbare Beharrungsinstinkte und wie alle Primitiven eine fetischistische Ehrfurcht vor den Uumlberlieferungen einen unbewuszligten Abscheu vor allen Neuerungen die ihre realen Lebensbedingungen aumlndern koumlnnten Haumltte die De- mokratie in der Zeit der Erfindung der mechanischen Web- stuumlhle der Dampfmaschine der Eisenbahnen die Macht besessen uumlber die sie heute verfuumlgt so waumlre die Verwirk- lichung dieser Erfindungen unmoumlglich gewesen Es ist ein Gluumlck fuumlr den Fortschritt der Kultur daszlig die Uumlbermacht der Massen erst dann geboren wurde als die groszligen Ent- deckungen der Wissenschaft und der Industrie vollendetwaren

sect 5 Sittlichkeit der Massen

Wenn wir mit dem Begriff Sittlichkeit den Sinn fuumlr die Achtung vor gewissen sozialen Gebraumluchen und die be- staumlndige Unterdruumlckung eigennuumltziger Antriebe verbinden dann liegt es auf der Hand daszlig die Massen zu triebhaft und veraumlnderlich sind um fuumlr Sittlichkeit empfaumlnglich zu sein Wenn wir aber unter dem Begriff der Sittlichkeit das augenblickliche Auftreten gewisser Eigenschaften wie Ent- sagung Ergebenheit Uneigennuumltzigkeit Selbstaufopferung Rechtsgefuumlhl verstehen so koumlnnen wir sagen die Massen sind oft eines sehr hohen Maszliges von Sittlichkeit faumlhigDie wenigen Psychologen die sich mit dem Studium der Massen befaszligt haben taten es nur in bezug auf ihre ver- brecherischen Handlungen Und in Anbetracht der Haumlufig- keit solcher Taten haben sie die Massen als sittlich sehr tiefstehend beurteilt

SITTLICHKEIT 35

Gewiszlig erbringen sie oft den Beweis dafuumlr aber wie kommtdas Nur weil die Triebe zerstoumlrerischer Wildheit Uumlber- reste aus der Urzeit sind die in jedem von uns schlum- mern Fuumlr den einzelnen waumlre es zu gefaumlhrlich diese Triebe zu befriedigen waumlhrend ihm sein Untertauchen in einer unverantwortlichen Masse durch die ihm Straflosig- keit gesichert ist voumlllige Freiheit der Triebbefriedigung gewaumlhrt Da wir diese Zerstoumlrungstriebe gewoumlhnlich nicht an unseren Mitmenschen ausuumlben koumlnnen so beschraumlnken wir uns darauf sie an Tieren auszulassen Derselben Quelle entspringen die Jagdleidenschaft und die Grausamkeit der Massen Die Masse die ein wehrloses Opfer langsam zu Tode quaumllt gibt den Beweis feiger Grausamkeit fuumlr den Philosophen aber ist sie in hohem Maszlige mit der Grausam- keit der Jaumlger verwandt die dutzendweise zusammen- kommen um mit Vergnuumlgen zu sehen daszlig ihre Hunde einem ungluumlcklichen Hirsch den Bauch aufreiszligenWenn nun die Masse imstande ist Mordtaten Brandstif- tungen und Verbrechen aller Art zu begehen so ist sie ebenso zu Taten der Hingabe Aufopferung und Uneigen- nuumltzigkeit faumlhig sogar in houmlherem Maszlige als der einzelne Besonders wirkt man auf den einzelnen in der Masse wenn man sich auf die Gefuumlhle fuumlr Ruhm und Ehre Re- ligion und Vaterland beruft Die Geschichte ist voller Bei- spiele dieser Art wie sie die Kreuzzuumlge bieten und die Freiwilligen von 793 Nur die Gesamtheiten sind groszliger Uneigennuumltzigkeit und Aufopferung faumlhig Wie viele Mas- sen haben sich fuumlr Uumlberzeugungen und Ideen die sie kaum verstanden heldenhaft hinschlachten lassen Massen die in Streik treten streiken oft wohl mehr um einem Kampfruf zu folgen als um einen Lohnzuschlag zu erlangen Das persoumlnliche Interesse ist bei den Massen selten eine maumlch- tige Triebkraft waumlhrend es bei dem einzelnen fast den ausschlieszliglichen Antrieb bildet Es ist wahrlich nicht der Eigennutz der die Massen in so viele Kriege fuumlhrte die fuumlr ihren Verstand unbegreiflich waren und in denen sie

36 GEFUumlHLE UND SITTLICHKEIT DER MASSEN

sich so leicht niedermetzeln lieszligen wie die Lerchen die durch den Spiegel des Jaumlgers hypnotisiert werdenSelbst die ausgemachtesten Schufte nehmen oft allein durch die Tatsache der Vereinigung in einer Masse sehr strenge moralische Grundsaumltze an Taine zeigt daszlig die Menschen- schlaumlchter der Septembertage [792] die bei ihren Opfern vorgefundenen Brieftaschen und Schmuckstuumlcke die sie leicht an sich nehmen konnten auf den Tisch der Ausschuumlsse nieder- legten Die heulende wimmelnde elende Volksmasse die in der Revolution vom Jahre 848 in die Tuilerien eindrang nahm nichts von den Gegenstaumlnden die sie blendeten und von denen ein jeder Brot fuumlr viele Tage bedeutet haumltteDiese Versittlichung des einzelnen durch die Masse ist ge- wiszlig keine feste Regel aber sie ist haumlufig zu beobachten und selbst unter viel weniger ernsten Umstaumlnden als den von mir angefuumlhrten Wie ich bereits sagte verlangt die Masse im Theater von dem Helden des Dramas uumlbertrie- ben hohe Tugenden und selbst eine Zuhoumlrerschaft die aus niedrigen Elementen zusammengesetzt ist erweist sich oft- mals als sehr pruumlde Der berufsmaumlszligige Lebemann der Zu- haumllter der Bummler und Sportvogel murrt oft bei einer etwas gewagten Szene oder einer schluumlpfrigen Rede die doch im Vergleich zu ihren uumlbrigen Unterhaltungen recht harmlos istFroumlnen die Massen also oft niedrigen Instinkten so bieten sie manchmal auch wieder Beispiele hochsittlicher Hand- lungsweise Wenn Uneigennuumltzigkeit Entsagung bedin- gungslose Hingabe an ein eingebildetes oder wirkliches Ideal sittliche Tugenden sind dann kann man sagen daszlig die Massen diese Tugenden oft in einem so hohen Grade besitzen wie ihn die weisesten Philosophen selten erreicht haben Gewiszlig uumlben sie diese Tugenden unbewuszligt aus aber darauf kommt es nicht an Haumltten die Massen zuweilen nachgedacht und ihren eigenen Vorteil wahrgenommen dann haumltte sich vielleicht keine Kultur auf der Oberflaumlche unseres Planeten entfaltet und die Menschheit waumlre ohne Geschichte geblieben

SITTLICHKEIT 37

3 KAPITEL

Ideen Urteile und Einbildungskraft der Massen

sect Die Ideen der Massen

Die Untersuchungen einer fruumlheren Arbeit von mir uumlber die Bedeutung der Ideen fuumlr die Entwicklung der Voumllker haben bewiesen daszlig sich jede Zivilisation aus einer ge- ringen Anzahl selten erneuter Grundideen entwickelt Ich habe dort dargelegt wie sich diese Ideen in der Seele der Massen festsetzen wie muumlhsam sie in sie eindringen und welche Macht sie dann gewinnen Ich zeigte wie die gro- szligen historischen Umwaumllzungen meistens aus der Veraumln- derung dieser Grundideen entstehenDa ich diesen Gegenstand hinreichend behandelt habe so moumlchte ich nicht darauf zuruumlckkommen und will mich dar- auf beschraumlnken einige Worte uumlber die Ideen zu sagen die den Massen zugaumlnglich sind und unter welchen Formen sie sie erfassenMan kann sie in zwei Klassen einteilen Zu der einen zaumlhlen wir die zufaumllligen und fluumlchtigen Ideen die unter dem Einfluszlig des Augenblicks entstehen z B die Vorliebe fuumlr eine Person oder eine Lehre Zu der anderen die Grundideen denen Umgebung Vererbung Glaube groszlige Dauerhaftigkeit verleihen wie z B die religioumlsen Glau- benssaumltze von ehemals die demokratischen und sozialen Ideen von heuteMan kann sich die Grundideen als die Wassermasse eines langsam dahinstroumlmenden Flusses die fluumlchtigen Ideen als die kleinen immer wechselnden Wellen vorstellen die seine Oberflaumlche erregen und obwohl ohne wirkliche Be- deutung sichtbarer sind als der Fluszliglauf selbstIn unseren Tagen geraten die Grundanschauungen von denen unsere Vaumlter lebten immer mehr ins Wanken und gleichzeitig erweisen sich die Einrichtungen die auf ihnen beruhen als voumlllig erschuumlttert Taumlglich bilden sich viele

jener kleinen fluumlchtigen Ideen von denen ich eben sprach aber nur wenige von ihnen scheinen uumlberwiegenden Ein- fluszlig gewinnen zu sollenWelche Ideen den Massen auch suggeriert werden moumlgen zur Wirkung koumlnnen sie nur kommen wenn sie in sehr einfacher Form aufzunehmen sind und sich in ihrem Geist in bildhafter Erscheinung widerspiegeln Kein Band logi- scher Uumlbereinstimmung oder Folgerichtigkeit verbindet diese Vorstellungsbilder miteinander sie koumlnnen einander vertreten wie die Glaumlser der Laterna magica die der Vor- fuumlhrer der Schachtel entnimmt in der sie uumlbereinander- geschichtet lagen Man wird also einsehen daszlig in der Masse die entgegengesetztesten Vorstellungen einander fol- gen Unter dem Einfluszlig einer der verschiedenen in ihrem Verstand aufgespeicherten Ideen folgt die Masse dem Zu- fall des Augenblicks und wird infolgedessen die verschie- denartigsten Taten begehen Der voumlllige Mangel an kriti- schem Geist laumlszligt sie die Widerspruumlche nicht sehenDiese Erscheinung tritt uumlbrigens nicht nur bei den Massen auf Man trifft sie auch bei vielen einzelnen nicht nur bei Primitiven Ich habe es bei gelehrten Hindus die an unse- ren europaumlischen Universitaumlten studierten und promovier- ten beobachtet Ohne die feste Grundlage ihrer ererbten religioumlsen oder sozialen Ideen im geringsten zu beeintraumlch- tigen hatte sich daruumlber eine Schicht abendlaumlndischer mit jenen nicht verwandter Anschauungen gelegt Bei zufaumllligen Gelegenheiten kamen nun bald diese bald jene in Worten oder Taten zum Vorschein und derselbe Mensch zeigte so die offensichtlichsten Widerspruumlche Freilich Wider- spruumlche mehr scheinbarer als wirklicher Art denn nur die ererbten Vorstellungen sind beim einzelnen maumlchtig genug um zu Triebkraumlften seines Verhaltens zu werden Nur dann wenn der Mensch infolge von Kreuzungen aus ver- schiedenen Erbmassen beeinfluszligt wird koumlnnen sich seine Handlungen wirklich von einem Augenblick zum anderen voumlllig widersprechen Es ist unnoumltig diese Erscheinungen hier besonders zu betonen obwohl sie von wesentlicher

DIE IDEE DER MASSEN 39

psychologischer Bedeutung sind Meiner Meinung nach be- darf es zu ihrem Verstaumlndnis wenigstens zehnjaumlhriger Rei- sen und BeobachtungenDa die Ideen den Massen nur in sehr einfacher Gestalt zu- gaumlnglich sind muumlssen sie sich um volkstuumlmlich zu werden oft voumlllig umformen Wenn es sich um hochwertige philo- sophische oder wissenschaftliche Ideen handelt kann man die grundlegenden Veraumlnderungen feststellen deren sie beduumlrfen um von Stufe zu Stufe bis zum Standort der Massen hinabzusteigen Diese Veraumlnderungen sind beson- ders abhaumlngig von der Rasse der die Masse angehoumlrt doch sie verkleinern oder vereinfachen stets Daher gibt es in Wahrheit vorn sozialen Gesichtspunkt keine Rangordnung der Ideen d h mehr oder weniger hohe Anschauungen Schon durch die Tatsache daszlig eine Idee zu den Massen gelangt und hier zu wirken vermag wird sie beinahe all dessen entkleidet was ihre Groumlszlige und Erhabenheit aus- machteDer Wert einer Idee ihrer Rangordnung nach ist uumlbrigens bedeutungslos nur die von ihr erzeugten Wirkungen sind zu beachten Die christlichen Ideen des Mittelalters die demokratischen Ideen des 8 Jahrhunderts die sozialisti- schen Ideen der Gegenwart stehen gewiszlig nicht besonders hoch man kann sie in philosophischer Beziehung als ziem- lich armselige Irrtuumlmer betrachten aber ihre Bedeutung war und ist ungeheuer und noch lange werden sie die wesentlichsten Mittel zur Fuumlhrung der Staaten bleibenAber selbst wenn die Idee die Veraumlnderung durchgemacht hat durch die sie fuumlr die Massen annehmbar wurde wirkt sie nur wenn sie ndash durch verschiedene Vorgaumlnge die noch zu erforschen sind ndash in das Unbewuszligte eingedrungen und zu einem Gefuumlhl geworden ist Diese Umwandlung dauert im allgemeinen sehr langeMan darf nicht glauben eine Idee koumlnne durch den Beweis ihrer Richtigkeit selbst bei gebildeten Geistern Wirkungen erzielen Man wird davon uumlberzeugt wenn man sieht wie wenig Einfluszlig die klarste Beweisfuumlhrung auf die Mehrzahl

40 IDEEN URTEILE UND EINBILDUNGSKRAFT DER MASSEN

der Menschen hat Der unumstoumlszligliche Beweis kann von einem geuumlbten Zuhoumlrer angenommen worden sein aber das Unbewuszligte in ihm wird ihn schnell zu seinen ur- spruumlnglichen Anschauungen zuruumlckfuumlhren Sehen wir ihn nach einigen Tagen wieder wird er aufs neue mit genau denselben Worten seine Einwaumlnde vorbringen Er steht tatsaumlchlich unter dem Einfluszlig fruumlherer Anschauungen die aus Gefuumlhlen gewachsen sind und nur sie wirken auf die Motive unserer Worte und TatenHat sich aber eine Idee endlich in die Seele der Massen eingegraben dann entwickelt sie eine unwiderstehliche Macht und es ergibt sich eine ganze Reihe von Wirkungen Die philosophischen Ideen die zur Franzoumlsischen Revolu- tion fuumlhrten brauchten fast ein Jahrhundert um in der Volksseele Wurzel zu fassen Man weiszlig welche unwider- stehliche Gewalt sie dann entfalteten Der Ansturm eines ganzen Volkes zur Eroberung der sozialen Gleichheit zur Verwirklichung begrifflicher Rechte und idealer Freiheiten erschuumltterte die abendlaumlndische Welt bis auf den Grund Zwanzig Jahre lang fielen die Voumllker uumlbereinander her und Europa lernte Hekatomben kennen die mit denen des Dschingiskhan und Tamerlan zu vergleichen sind Nie trat so klar zutage was die Leidenschaft der Ideen die die Faumlhigkeit haben die Richtung der Gefuumlhle zu aumlndern her- vorbringen kannIdeen brauchen lange Zeit um sich in der Masse festzu- setzen und sie brauchen nicht weniger Zeit um wieder daraus zu verschwinden Auch sind die Massen in bezug auf Ideen immer mehrere Generationen hinter den Wissen- schaftlern und Philosophen zuruumlck Alle Staatsmaumlnner wis- sen heute wieviel Irrtum in den Grundideen steckt die ich soeben anfuumlhrte da aber ihr Einfluszlig noch sehr stark ist so sind sie genoumltigt nach Grundsaumltzen zu regieren an deren Wahrheit sie nicht mehr glauben

DIE IDEE DER MASSEN 41

sect 2 Die Urteile der Massen

Man kann nicht mit unbedingter Bestimmtheit sagen daszlig Massen durch Schluszligfolgerungen nicht zu beeinf lussen waumlren Aber die Beweise die sie anwenden und die wel- che auf sie wirken scheinen vom Standpunkt der Logik so untergeordneter Art daszlig man sie allein mit Hilfe der Analogie als Schluumlsse gelten lassen kannDie untergeordneten Schluszligfolgerungen beruhen ebenso wie die houmlherentwickelten auf Ideenverbindungen aber die von den Massen in Verbindung gebrachten Ideen sind nur durch Aumlhnlichkeit und Aufeinanderfolge verknuumlpft Sie verketten sich wie die des Eskimo der aus Erfahrung weiszlig daszlig das Eis ein durchsichtiger Koumlrper im Munde schmilzt und der daraus schlieszligt daszlig Glas ebenfalls ein durch- sichtiger Koumlrper auch im Munde schmelzen muumlsse oder wie die des Wilden der sich einbildet wenn er das Herz eines tapferen Feindes verzehre erwerbe er dessen Tapfer- keit oder auch wie die des Arbeiters der von seinem Arbeitgeber ausgebeutet wurde und daraus schlieszligt daszlig alle Unternehmer Ausbeuter seienVerknuumlpfung aumlhnlicher Dinge wenn sie auch nur ober- flaumlchliche Beziehungen zueinander haben und vorschnelle Verallgemeinerung von Einzelfaumlllen das sind die Merk- male der Massenlogik Schluszligfolgerungen solcher Art wer- den den Massen durch geschickte Redner immer wieder vorgesetzt Von ihnen allein lassen sie sich beeinflussen Eine logische Kette unumstoumlszliglicher Urteile wuumlrde fuumlr die Massen voumlllig unfaszligbar sein und deshalb darf man sagen daszlig sie gar nicht oder falsch urteilen und durch Logik nicht zu beeinflussen sind Oft staunen wir beim Lesen uumlber die Schwaumlche gewisser Reden die ungeheuren Ein- druck auf ihre Zuhoumlrer gemacht haben aber man vergiszligt daszlig sie dazu bestimmt waren Massen hinzureiszligen und nicht dazu von Philosophen gelesen zu werden Der Red- ner der mit der Masse in inniger Verbindung steht weiszlig die Bilder hervorzurufen durch die sie verfuumlhrt wird

Gelingt ihm das so ist sein Ziel erreicht und ein Band voll Reden wiegt die wenigen Phrasen nicht auf durch die es gelang die Seelen so zu verfuumlhren daszlig sie sich uumlber- zeugen lieszligenEs ist uumlberfluumlssig zu bemerken daszlig die Unfaumlhigkeit der Massen richtig zu urteilen ihnen jede Moumlglichkeit kriti- schen Geistes raubt das heiszligt die Faumlhigkeit Wahrheit und Irrtum voneinander zu unterscheiden und ein scharfes Urteil abzugeben Die Urteile die die Massen annehmen sind nur aufgedraumlngte niemals gepruumlfte Urteile Viele einzelne erheben sich in dieser Beziehung nicht uumlber die Masse Die Leichtigkeit mit der gewisse Meinungen all- gemein werden haumlngt vor allem mit der Unfaumlhigkeit der meisten Menschen zusammen sich auf Grund ihrer beson- deren Schluumlsse eine eigne Meinung zu bilden

sect 3 Die Einbildungskraft der Massen

Die auffallende Einbildungskraft der Massen ist wie bei allen Wesen fuumlr die logisches Denken nicht in Frage kommt leicht aufs tiefste zu erregen Die Bilder die in ihrem Geist durch eine Person ein Ereignis einen Un- gluumlcksfall hervorgerufen werden sind fast so lebendig wie die wirklichen Dinge Die Massen befinden sich ungefaumlhr in der Lage eines Schlaumlfers dessen Denkvermoumlgen im Augenblick aufgehoben ist so daszlig in seinem Geist Bilder von aumluszligerster Heftigkeit aufsteigen die sich aber schnell verfluumlchtigen wuumlrden wenn die Uumlberlegung mitzureden haumltte Fuumlr die Massen die weder zur Uumlberlegung noch zum logischen Denken faumlhig sind gibt es nichts Unwahrschein- liches Vielmehr die unwahrscheinlichsten Dinge sind in der Regel die auffallendstenDaher werden die Massen stets durch die wunderbaren und legendaumlren Seiten der Ereignisse am staumlrksten er- griffen Das Wunderbare und das Legendaumlre sind tatsaumlch- lich die wahren Stuumltzen einer Kultur Der Schein hat in der Geschichte stets eine groumlszligere Rolle gespielt als das

DIE EINBILDUNGSKRAFT DER MASSEN 43

Sein Das Unwirkliche hat stets den Vorrang vor dem WirklichenDie Massen koumlnnen nur in Bildern denken und lassen sich nur durch Bilder beeinflussen Nur diese schrecken oder verfuumlhren sie und werden zu Ursachen ihrer Taten Darum haben auch Theatervorstellungen die das Bild in seiner klarsten Form geben stets einen ungeheuren Einfluszlig auf die Massen Fuumlr den roumlmischen Poumlbel bildeten einst Brot und Spiele das Gluumlcksideal Dies Ideal hat sich im Laufe der Zeiten wenig geaumlndert Nichts erregt die Phantasie des Volkes so stark wie ein Theaterstuumlck Alle Versammelten empfinden gleichzeitig dieselben Gefuumlhle und wenn sie sich nicht sofort in Taten umsetzen so geschieht das nur weil auch der unbewuszligte Zuschauer nicht im Zweifel sein kann daszlig er das Opfer einer Taumluschung ist und uumlber ein- gebildete Abenteuer geweint oder gelacht hat Manchmal jedoch sind die Gefuumlhle die durch diese Bilder suggeriert werden stark genug um wie die gewoumlhnlichen Suggestio- nen danach zu streben sich in Taten umzusetzen Man hat schon oft die Geschichte von jenem Volkstheater erzaumlhlt das den Schauspieler der den Verraumlter spielte nach Schluszlig der Vorstellung schuumltzen muszligte um ihn den Angriffen der uumlber seine vermeintlichen Verbrechen empoumlrten Zuschauer zu entziehen Das ist meiner Meinung nach eins der tref- fendsten Beispiele fuumlr den geistigen Zustand der Massen und besonders fuumlr die Leichtigkeit mit der man sie beein- f luszligt Das Unwirkliche ist in ihren Augen fast ebenso wichtig wie das Wirkliche Sie haben eine auffallende Nei- gung keinen Unterschied zu machenIn der Phantasie des Volkes ist die Macht der Eroberer und die Kraft der Staaten begruumlndet Wenn man auf sie Ein- druck macht reiszligt man die Massen mit Alle bedeutenden geschichtlichen Ereignisse die Entstehung des Buddhismus des Christentums des Islams der Reformation der Revolu- tion und in unserer Zeit das drohende Hereinbrechen des Sozialismus sind die unmittelbaren oder mittelbaren Folgen starker Eindruumlcke auf die Phantasie der Massen

44 IDEEN URTEILE UND EINBILDUNGSKRAFT DER MASSEN

Auch die groszligen Staatsmaumlnner aller Zeiten und Laumlnder die unumschraumlnkten Gewaltherrscher einbegriffen haben die Volksphantasie als Stuumltze ihrer Macht betrachtet Nie- mals haben sie versucht gegen sie zu regieren bdquoIch habe den Krieg in der Vendeacutee beendigt indem ich katholisch wurdeldquo sagte Napoleon im Staatsrat bdquoin Aumlgypten habe ich dadurch Fuszlig gefaszligt daszlig ich mich zum Mohammedaner machte und die italienischen Priester gewann ich indem ich ultramontan wurde Wenn ich uumlber ein juumldisches Volk herrschte wuumlrde ich den Salomonischen Tempel wieder aufbauen lassenldquo Seit Alexander und Caumlsar hat es viel- leicht niemals ein groszliger Mann besser verstanden Ein- druck auf die Massenseele zu machen es war Napoleons staumlndige Sorge sie zu beeinflussen Von ihr traumlumte er bei seinen Siegen in seinen Reden seinen Abhandlungen bei all seinen Taten ndash und noch auf seinem Totenbett traumlumte er davonWie macht man Eindruck auf die Phantasie der Massen Wir werden es gleich sehen Einstweilen sei nur gesagt daszlig dieser Zweck nie durch den Versuch erreicht wird auf Geist und Vernunft zu wirken Antonius brauchte keine ge- lehrte Rhetorik um das Volk gegen Caumlsars Moumlrder aufzu- wiegeln Er las ihnen Caumlsars Testament vor und zeigte ihnen seinen LeichnamAlles was die Phantasie der Massen erregt erscheint in der Form eines packenden klaren Bildes das frei ist von jedem Deutungszubehoumlr und nur durch einige wunderbare Tatsachen gestuumltzt einen groszligen Sieg ein groszliges Wunder ein groszliges Verbrechen eine groszlige Hoffnung Sie pflegt die Dinge in Bausch und Bogen aufzunehmen und ohne jemals ihre Entwicklung zu beachten Hundert kleine Verbrechen oder hundert kleine Unfaumllle werden auf die Phantasie der Massen oft nicht die geringste Wirkung ausuumlben wohl aber wird sie durch ein einziges unerhoumlrtes Verbrechen ein einziges groszliges Ungluumlck tief erschuumlttert wenn es auch viel weniger blutig ist als die hundert kleinen Unfaumllle zu- sammengenommen Die groszlige Grippe-Epidemie an der

45DIE EINBILDUNGSKRAFT DER MASSEN

vor einigen Jahren in Paris fuumlnftausend Menschen inner- halb weniger Wochen starben machte auf die Volksphan- tasie wenig Eindruck Freilich wandelte sich diese Heka- tombe im wahrsten Sinne nicht in einige sichtbare Bilder sondern nur in die taumlglichen statistischen Berichte um Ein Ungluumlcksfall der statt fuumlnftausend nur fuumlnfhundert Men- schenleben kostet aber an einem einzigen Tage auf einem oumlffentlichen Platz in einem sichtbaren Geschehnis eintraumlte z B der Einsturz des Eiffelturms wuumlrde einen ungeheuren Eindruck auf die Einbildungskraft gemacht haben Der mutmaszligliche Verlust eines Ozeandampfers von dem man irrtuumlmlich glaubte er sei auf hoher See untergegangen erregte die Massenphantasie acht Tage lang auszligerordent- lich Die Statistik zeigt nun aber daszlig in demselben Jahre tausend groszlige Schiffe Schiffbruch erlitten Aber um diese allmaumlhlichen Verluste die auf andre Art recht erhebliche Opfer an Menschenleben und Handelswerten forderten kuumlmmerten sich die Massen keinen AugenblickAlso nicht die Tatsachen als solche erregen die Volksphan- tasie sondern die Art und Weise wie sie sich vollziehen Sie muumlssen durch Verdichtung ndash wenn ich so sagen darf ndash ein packendes Bild hervorbringen das den Geist erfuumlllt und ergreift Die Kunst die Einbildungskraft der Massen zu erregen ist die Kunst sie zu regieren

4 KAPITEL

Die religioumlsen Formen die alle Uumlberzeugungen der Masse annehmen

Wir haben gesehen daszlig die Massen nicht uumlberlegen daszlig sie Ideen in Bausch und Bogen annehmen oder verwerfen weder Auseinandersetzung noch Widerspruch dulden und daszlig die Einfluumlsse die auf sie wirken den Bereich ihrer Vernunft gaumlnzlich erfuumlllen und danach streben sich so- gleich in die Tat umzusetzen Wir haben gezeigt daszlig die

46 DIE RELIGIOumlSEN FORMEN DER MASSENUumlBERZEUGUNGEN

entsprechend beeinfluszligten Massen bereit sind sich fuumlr das Ideal zu opfern das man ihnen suggeriert hat Wir haben schlieszliglich festgestellt daszlig sie nur heftige und extreme Gefuumlhle kennen Die Zuneigung wird bei ihnen schnell zur Anbetung und kaum geborene Abneigung wandelt sich in Haszlig Diese allgemeinen Merkmale lassen uns die Art ihrer Uumlberzeugungen ahnenDie naumlhere Untersuchung der Uumlberzeugungen der Masse sowohl in den Zeiten des Glaubens als in den groszligen politischen Erhebungen wie etwa im vorigen Jahrhundert ergibt daszlig diese Uumlberzeugungen stets eine besondere Form aufweisen die ich nicht besser zu bezeichnen weiszlig als mit dem Namen religioumlsen GefuumlhlsDies Gefuumlhl besitzt sehr einfache Kennzeichen Anbetung eines vermeintlichen houmlheren Wesens Furcht vor der Ge- walt die ihm zugeschrieben wird blinde Unterwerfung unter seine Befehle Unfaumlhigkeit seine Glaubenslehren zu untersuchen die Bestrebung sie zu verbreiten die Neigung alle als Feinde zu betrachten die sie nicht an- nehmen Ob sich ein derartiges Gefuumlhl auf einen unsicht- baren Gott auf ein steinernes Idol auf einen Helden oder auf eine politische Idee richtet ndash sobald es die angefuumlhrten Merkmale aufweist ist es immer religioumlser Art Das Uumlber- natuumlrliche und das Wunderbare sind uumlberall darin wieder- zuerkennen Die Massen umkleiden das politische Bekennt- nis oder den siegreichen Anfuumlhrer der sie fuumlr den Augen- blick zur Schwaumlrmerei hinreiszligt mit derselben geheimnis- vollen MachtNicht nur dann ist man religioumls wenn man eine Gottheit anbetet sondern auch dann wenn man alle Kraumlfte seines Geistes alle Unterwerfung seines Willens alles Gluten des Fanatismus dem Dienst einer Macht oder eines Wesens weiht das zum Ziele und Fuumlhrer der Gedanken und Handlungen wirdMit dem religioumlsen Gefuumlhl sind gewoumlhnlich Unduldsamkeit und Fanatismus verbunden Sie sind unausbleiblich bei allen die das Geheimnis des irdischen und himmlischen

DIE RELIGIOumlSEN FORMEN DER MASSENUumlBERZEUGUNGEN 47

Gluumlckes zu besitzen glauben Die beiden Eigenschaften sind bei allen in einer Gruppe vereinigten Menschen wiederzu- finden wenn irgendein Glaube sie erhebt Die Jakobiner der Schreckenstage waren ebenso tief religioumls wie die Ka- tholiken der Inquisition und ihr grausamer Eifer ent- sprang der gleichen QuelleDie Uumlberzeugungen der Massen nehmen die Eigenschaften der blinden Unterwerfung der grausamen Unduldsamkeit und des Beduumlrfnisses nach Verbreitung an die mit dem religioumlsen Gefuumlhl verbunden sind so daszlig man also sagen kann alle ihre Uumlberzeugungen haben eine religioumlse Form Der Held dem die Masse zujubelt ist in der Tat ein Gott fuumlr sie Napoleon war es fuumlnfzehn Jahre lang und keine Gottheit hat eifrigere Anbeter gehabt auch sandte keine die Menschen leichter in den Tod Die Heiden- und Chri- stengoumltter uumlbten niemals eine vollkommenere Herrschaft uumlber die Seelen ausAlle Stifter religioumlser und politischer Glaubensbekenntnisse haben sie nur dadurch begruumlndet daszlig sie es verstanden den Massen jene Gefuumlhle des religioumlsen Fanatismus ein- zufloumlszligen die bewirken daszlig der Mensch sein Gluumlck in der Anbetung findet und ihn dazu treiben sein Leben fuumlr sein Idol zu opfern So war es zu allen Zeiten In seinem schouml- nen Buch uumlber das roumlmische Gallien macht Pustel de Cou- langes darauf aufmerksam daszlig das roumlmische Kaiserreich sich keineswegs durch seine Kraft sondern durch die reli- gioumlse Bewunderung erhielt die es einfloumlszligte bdquoEs waumlre in der Geschichte ohne Beispielldquo sagt er mit Recht bdquodaszlig eine Regierung die von der Bevoumllkerung verabscheut wird fuumlnf Jahrhunderte gewaumlhrt haumltte hellip Es waumlre unerklaumlrlich daszlig dreiszligig Legionen des Kaiserreichs hundert Millionen Menschen zum Gehorsam zwingen konntenldquo Sie gehorch- ten aber nur weil der Kaiser der die Groumlszlige Roms ver- koumlrperte einmuumltig als Gott verehrt wurde Im kleinsten Flecken des Reiches besaszlig der Kaiser seine Altaumlre bdquoIn jener Zeit sah man von einem Ende des Reiches bis zum andern in den Seelen eine neue Religion entstehen deren

48 DIE RELIGIOumlSEN FORMEN DER MASSENUumlBERZEUGUNGEN

Gottheiten die Kaiser selbst waren Einige Jahre vor dem christlichen Zeitalter errichtete ganz Gallien welches durch sechzig Staumldte vertreten wurde dem Augustus gemeinsam einen Tempel bei Lyon hellip Seine Priester die von der Gesamtheit der gallischen Staumldte gewaumlhlt wurden waren die ersten Persoumlnlichkeiten des Landes hellip Man kann un- moumlglich dies alles der Furcht und der knechtischen Unter- werfung zuschreiben Ganze Voumllker sind nicht knechtisch und sind es nicht drei Jahrhunderte lang Nicht allein die Houmlflinge verehrten den Fuumlrsten sondern Rom und nicht Rom allein auch Gallien Spanien Griechenland und AsienldquoHeutzutage besitzen die meisten groszligen Seeleneroberer keine groszligen Altaumlre mehr wohl aber Statuen oder Bilder und der Kultus den man mit ihnen treibt ist von dem fruumlheren nicht erheblich verschieden Man faumlngt an die Philosophie der Geschichte ein wenig zu verstehen wenn man diesen Angelpunkt der Psychologie der Massen recht begriffen hat Fuumlr die Massen muszlig man entweder ein Gott sein oder man ist nichtsDas sind nicht nur aberglaumlubische Anschauungen einer anderen Zeit die die Vernunft endguumlltig verscheucht hat In seinem ewigen Kampf mit der Vernunft wurde das Ge- fuumlhl nie besiegt Zwar wollen die Massen die Worte Gott- heit und Religion von denen sie so lange beherrscht wur- den nicht mehr houmlren aber zu keiner Zeit sah man sie so viele Bildwerke und Altaumlre errichten wie seit einem Jahr- hundert Die Volksbewegung die unter dem Namen Bou- langismus bekannt wurde hat bewiesen wie leicht die religioumlsen Instinkte der Massen der Erneuerung faumlhig sind Damals gab es kein Dorfwirtshaus in dem nicht das Bild des Helden zu finden war Man schrieb ihm die Macht zu allen Ungerechtigkeiten allen Uumlbeln abzuhelfen und Tau- sende von Menschen haumltten ihr Leben fuumlr ihn hingegeben Welchen Platz haumltte er in der Geschichte eingenommen wenn sein Charakter mit der Legende Schritt gehalten haumltte

49MACHT DER RELIGIOumlS GEWORDENEN UumlBERZEUGUNGEN

Auch ist es eine uumlberfluumlssige Banalitaumlt zu wiederholen die Massen beduumlrften einer Religion Denn alle politischen religioumlsen und sozialen Glaubenslehren finden bei ihnen nur Aufnahme unter der Bedingung daszlig sie eine religioumlse Form angenommen haben die sie jeder Auseinandersetzung entzieht Wenn es moumlglich waumlre die Massen zu bewegen den Atheismus anzunehmen so wuumlrde er ganz zum un- duldsamen Eifer eines religioumlsen Gefuumlhls und in seinen aumluszligeren Formen bald zu einem Kultus werden Ein merk- wuumlrdiges Beispiel bietet uns die Entwicklung der kleinen positivistischen Sekte Sie gleicht jenem Nihilisten dessen Geschichte der tiefgruumlndige Dostojewskij uns erzaumlhlt Vom Geiste erleuchtet zerbrach er eines Tages die Bildwerke der Gottheiten und Heiligen die den Altar seiner Kapelle schmuumlckten loumlschte die Kerzen aus und ersetzte ohne einen Augenblick zu zoumlgern die zerstoumlrten Bilder durch die Werke einiger atheistischer Philosophen dann zuumlndete er pietaumltvoll die Kerzen wieder an Der Gegenstand seines religioumlsen Glaubens war ein andrer geworden aber kann man behaupten daszlig sich seine religioumlsen Gefuumlhle geaumlndert hattenIch wiederhole noch einmal gewisse historische Ereignisse und zwar gerade die wichtigsten kann man nur verstehen wenn man die Form welche die Uumlberzeugungen der Mas- sen stets annehmen in Rechnung stellt Viele soziale Er- scheinungen sollten lieber von Psychologen als von Natur- forschern studiert werden Unser groszliger Historiker Taine hat die Revolution nur als Naturforscher studiert und so ist ihm die wirkliche Entwicklung der Ereignisse recht oft verborgen geblieben Er hat die Tatsachen vorzuumlglich be- obachtet aber da er die Massenpsychologie nicht genuumlgend erforscht hatte konnte sie der beruumlhmte Schriftsteller nicht immer aus den Ursachen erklaumlren Da die Tatsachen ihn durch ihre Blutigkeit und Wildheit und ihren Anarchismus erschreckten so erschienen ihm die Helden in dem groszligen Epos nur als eine Horde epileptischer Wilder die sich zuumlgellos ihren Trieben hingaben Die Gewalttaten der Re-

50 DIE RELIGIOumlSEN FORMEN DER MASSENUumlBERZEUGUNGEN

volution ihre Metzeleien ihr Beduumlrfnis nach Verbreitung ihre Kriegserklaumlrung an alle Koumlnige sind nur zu erklaumlren wenn man bedenkt daszlig sie zur Befestigung eines neuen religioumlsen Glaubens dienten Die Reformation die Bartho- lomaumlusnacht die Religionskriege die Inquisition die Schreckenstage sind Erscheinungen derselben Art unter dem Einfluszlig dieser religioumlsen Gefuumlhle die notwendig dazu fuumlh- ren mit Feuer und Schwert alles auszurotten was sich der Einfuumlhrung des neuen Glaubens entgegenstellt Das Ver- fahren der Inquisition und der Schreckenstage ist das aller wahrhaft Uumlberzeugten sie waumlren keine Glaumlubigen wenn sie anders verfuumlhrenUmwaumllzungen gleich jenen die ich erwaumlhnte sind nur moumlglich wenn die Massenseele sie ins Leben ruft Die un- umschraumlnktesten Gewaltherrscher koumlnnten sie nicht ent- fesseln Die Historiker die uns die Bartholomaumlusnacht als das Werk eines Koumlnigs zeigen kennen die Psychologie der Massen ebensowenig wie die der Koumlnige Solche Kund- gebungen koumlnnen nur der Massenseele entspringen Die unumschraumlnkteste Macht des eigenmaumlchtigsten Herrschers reicht kaum weiter als zu einer geringen Beschleunigung oder Verzoumlgerung des Zeitpunktes Nicht die Koumlnige haben die Bartholomaumlusnacht die Religionskriege verursacht und nicht Robespierre Danton oder Saint-Just waren die Ur- heber der Schreckenstage Hinter solchen Ereignissen findet man immer wieder die Seele der Massen

RELIGION OHNE GOTT ATHEISMUS 51

ZWEITES BUCH

DIE MEINUNGEN UND GLAUBENSLEHREN DER MASSEN

1 KAPITEL

Entfernte Triebkraumlfte der Glaubenslehren und Meinungen der Massen

Wir haben bisher den geistigen Zustand der Massen stu- diert Wir kennen die Art ihres Fuumlhlens Denkens Schlie- szligern Nun wollen wir sehen auf welche Weise ihre Mei- nungen und Glaubenslehren entstehen und sich befestigen Zwei verschiedene Arten von Triebkraumlften bestimmen diese Meinungen und Glaubenslehren mittelbare und unmittel- bare TriebkraumlfteDie mittelbaren Triebkraumlfte befaumlhigen die Massen zur An- nahme gewisser Uumlberzeugungen und verhindern das Ein- dringen anderer Sie bereiten den Boden auf dem man ploumltzlich neue Ideen hervorsprieszligen sieht deren Kraft und Wirkung Staunen erregen die aber nur scheinbar ploumltzlich sind Der Ausbruch und die Verwirklichung gewisser Ideen bei den Massen zeigen oft eine blitzartige Ploumltzlichkeit Doch das ist nur die oberflaumlchliche Wirkung hinter der man meistens eine lange Vorarbeit suchen muszligDieser langen Arbeit ohne die sie wirkungslos bleiben wuumlrden uumlbergeordnet sind die unmittelbaren Antriebe die die lebendige Uumlberzeugung der Massen hervorrufen ndash also der Idee ihre Gestalt geben und sie mit all ihren Folgen entfesseln Diese unmittelbaren Triebkraumlfte sind der An- laszlig fuumlr das Auftauchen der Entschluumlsse die eine Gesamt- heit zu einer jaumlhen Erhebung fuumlhren ndash durch sie bricht ein Aufruhr los oder wird ein Streik beschlossen sie brin- gen durch riesige Stimmenmehrheit einen Menschen zur Macht oder stuumlrzen eine Regierung Bei allen groszligen Ge- schehnissen der Geschichte kann man die ununterbrochene

Wirkung dieser beiden Arten von Triebkraumlften feststellen Als eins der klarsten Beispiele koumlnnte man die Franzoumlsische Revolution anfuumlhren deren mittelbare Antriebe die Kri- tiken der Schriftsteller und die Erpressungen des Adels waren Die so vorbereitete Massenseele war infolgedessen leicht aufzuruumltteln durch unmittelbare Antriebe wie die Ansprachen der Redner und den Widerstand des Hofes gegen unbedeutende ReformenZu den mittelbaren Triebkraumlften gehoumlren allgemeine Fak- toren die allen Glaubensbekenntnissen und Anschauungen zugrunde liegen das sind die Rasse die Uumlberlieferungen die Zeit die Einrichtungen und die ErziehungWir wollen ihre jeweilige Aufgabe untersuchen

sect Die Rasse

Als ein Antrieb ersten Ranges ist die Rasse zu betrachten denn sie ist allein schon viel bedeutender als alle uumlbrigen Ich habe sie in einer andern Schrift genuumlgend untersucht und brauche hier nicht ausfuumlhrlich darauf zuruumlckzukom- men Ich zeigte in jener Schrift was eine geschichtliche Masse ist und daszlig wenn sich ihre Charaktermerkmale ge- bildet haben ihre Glaubenslehren ihre Einrichtungen ihre Kunst kurz alle ihre Kulturelemente den aumluszligeren Aus- druck ihrer Seele bilden Die Kraft der Rasse ist so groszlig daszlig kein Element von einem Volk zum andern uumlbergehen koumlnnte ohne die tiefgehendsten Umwandlungen zu er- fahren Die Umgebung die Umstaumlnde die Ereignisse spie- geln die augenblicklichen sozialen Einfluumlsse wider Sie koumln- nen von bedeutender Wirkung sein aber dieser Einfluszlig ist stets nur ein augenblicklicher wenn er im Gegensatz zu den Rasseneinfluumlssen d h zu der ganzen Ahnenreihe steht

Da diese Lehre noch sehr neu ist und ohne sie die Geschichte voumlllig un- verstaumlndlich bleibt so habe ich ihrer Darlegung mehrere Kapitel meines Wer- kes bdquoDie psychologischen Gesetze der Voumllkerentwicklungldquo gewidmet Der Leser wird daraus ersehen daszlig obwohl der Schein truumlgt weder die Sprache noch die Religion noch die Kuumlnste noch irgendein Kulturelement uumlberhaupt un- veraumlndert von einem Volk zum andern uumlbergehen kann

DIE RASSE 51

Wir werden noch in mehreren Kapiteln dieser Arbeit Gelegenheit haben auf den Einfluszlig der Rasse zuruumlckzu- kommen und zu zeigen daszlig er stark genug ist die Sonder- merkmale der Massenseele zu beherrschen Daraus ergibt sich der Umstand daszlig die Massen der verschiedenen Laumln- der in ihrem Glauben und Verhalten sehr betraumlchtliche Unterschiede aufweisen und nicht auf die gleiche Weise zu beeinflussen sind

sect 2 Die Uumlberlieferungen

Die Uumlberlieferungen umfassen die Ideen Beduumlrfnisse und Gefuumlhle der Vorzeit Sie bilden die Einheit der Rasse und lasten mit ihrem ganzen Gewicht auf unsSeit die Embryologie den ungeheuren Einf luszlig der Ver- gangenheit auf die Entwicklung der Wesen gezeigt hat haben sich die biologischen Wissenschaften gewandelt und die historischen werden es auch tun wenn dieser Gedanke weiter verbreitet sein wird Noch ist er nicht hinreichend bekannt und viele Staatsmaumlnner sind damit auf dem Standpunkt der Theoretiker des vergangenen Jahrhunderts stehengeblieben daszlig sie glauben eine Gesellschaft koumlnne mit ihrer Vergangenheit brechen und allein durch die Kraft der Vernunft von Grund auf erneuert werdenEin Volk ist ein Organismus der durch die Vergangenheit geschaffen wurde Wie alle Organismen kann er sich nur durch langsame Anhaumlufung von Erbmasse veraumlndernDie wahren Fuumlhrer der Voumllker sind die Uumlberlieferungen und wie ich schon mehrmals wiederholte nur die aumluszligeren Formen veraumlndern sich leicht Ohne Uumlberlieferung d h ohne Volksseele ist keine Kultur moumlglich So bestanden denn auch die beiden groszligen Aufgaben des Menschen seit er auf der Welt ist in der Schaffung eines Netzes von Uumlberlieferungen und in ihrer Zerstoumlrung nach Verbrauch ihrer nuumltzlichen Wirkungen Keine Kultur ohne beharrende Uumlberlieferungen ohne ihre langsame Ausschaltung kein Fortschritt Die Schwierigkeit besteht darin das richtige

ENTFERNTE TRIEBKRAumlFTE DES GLAUBENS DER MASSEN56

Gleichgewicht zwischen Beharrung und Veraumlnderlichkeit zu finden Diese Schwierigkeit ist ungeheuer Hat ein Volk durch viele Geschlechter seine Gewohnheiten zu sehr er- starren lassen so kann es sich nicht mehr aumlndern und wird wie China unfaumlhig zur Vervollkommnung Selbst gewalt- same Veraumlnderungen bleiben wirkungslos denn dann wer- den entweder die zerrissenen Glieder der Kette wieder zusammengeschweiszligt und die Vergangenheit nimmt ihre Herrschaft unveraumlndert wieder auf oder die Bruchstuumlcke bleiben getrennt und dann folgt der Anarchie bald die EntartungEs ist also die Aufgabe eines Volkes die Einrichtungen der Vergangenheit zu bewahren indem es sie nur nach und nach veraumlndert Die Roumlmer im Altertum und die Eng- laumlnder in der Neuzeit sind fast die einzigen die sie ver- wirklicht habenGerade die Massen und namentlich die Massen aus denen sich die Klassen zusammensetzen sind die zaumlhesten Be- wahrer der uumlberlieferten Ideen und widersetzen sich am hartnaumlckigsten ihrem Wechsel Ich habe bereits auf den konservativen Geist der Massen hingewiesen und gezeigt daszlig viele Revolten nur auf eine Veraumlnderung von Worten hinauslaufen Gegen Ende des 8 Jahrhunderts konnte man angesichts der zerstoumlrten Kirchen der verjagten oder guillotinierten Priester der allgemeinen Verfolgung des katholischen Kultus glauben die alten religioumlsen Ideen haumltten alle Macht eingebuumlszligt und doch muszligte nach einigen Jahren infolge allgemeiner Forderungen der abgeschaffte Kultus wieder eingesetzt werden Der Bericht des alten Konventsmitgliedes Fourcroy den Taine anfuumlhrt ist in dieser Hinsicht sehr klar bdquoWas man uumlberall von der Feier des Sonntags und dem Kirchenbesuch sieht beweist daszlig die Masse der Franzosen zu den alten Gebraumluchen zuruumlckkehren will und es ist nicht mehr an der Zeit sich diesem nationalen Hang zu widersetzen Die groszlige Masse der Menschen braucht Religion einen Kultus und Priester Es ist ein Irrtum einiger moder- ner Philosophen dem ich selbst verfallen war an die Moumlglichkeit einer Bil- dung zu glauben die verbreitet genug waumlre um die religioumlsen Vorurteile zu zerstoumlren sie sind fuumlr die gruumlszlige Anzahl der Ungluumlcklichen eine Quelle des Trostes hellip Man muszlig daher der Masse des Volkes ihre Priester ihre Altaumlre und ihren Kultus lassenldquo

DIE UumlBERLIEFERUNGEN 57

Kein Beispiel koumlnnte besser die Macht der Gewohnheit uumlber die Menschenseele zeigen Die furchtbarsten Idole werden nicht in den Tempeln beherbergt und die gewalt- taumltigsten Tyrannen wohnen nicht in den Palaumlsten Sie wauml- ren leicht zu stuumlrzen Aber die unsichtbaren Herren die unsere Seelen beherrschen entziehen sich jedem Angriff und geben nur der langsamen Abnutzung durch die Jahr- hunderte nach

sect 3 Die Zeit

Einer der wirksamsten Faktoren in den gesellschaftlichen wie in den sozialen Fragen ist die Zeit Sie ist der wahre Schoumlpfer und der groszlige Zerstoumlrer Sie hat die Berge aus Sandkoumlrnern aufgebaut und die winzige Zelle der geo- logischen Urzeit zur menschlichen Wuumlrde erhoben Die Einwirkung der Jahrhunderte genuumlgt um jede beliebige Erscheinung umzuformen Mit Recht sagt man daszlig eine Ameise die Zeit genug haumltte den Montblanc abtragen koumlnnte Ein Wesen das die magische Gewalt besaumlszlige die Zeit nach Belieben zu veraumlndern haumltte die Macht die von den Glaumlubigen ihren Goumlttern zugeschrieben wirdAber wir haben uns hier nur mit dem Einfluszlig der Zeit auf die Entstehung der Anschauungen der Massen zu be- schaumlftigen Unter diesem Gesichtspunkt ist ihre Wirkung ebenfalls ungeheuer Sie haumllt die groszligen Kraumlfte wie die der Rasse die sich nicht ohne sie bilden koumlnnen in ihrer Abhaumlngigkeit Sie laumlszligt alle Glaubenslehren entstehen und absterben Von ihr empfangen sie ihre Macht und sie ent- zieht sie ihnen auch wiederDie Zeit bereitet die Meinungen und Glaubensbekenntnisse der Massen vor d h den Boden auf dem sie keimen Daraus folgt daszlig gewisse Ideen nur zu einer bestimmten Zeit dann nicht mehr zu verwirklichen sind Die Zeit haumluft unermeszligliche Uumlberreste von Glaubensbekenntnissen und Gedanken an denen die Ideen eines Zeitalters ent- springen Sie keimen nicht durch Zufall und Ungefaumlhr Ihre Wurzeln reichen tief in die Vergangenheit Wenn sie

58 ENTFERNTE TRIEBKRAumlFTE DES GLAUBENS DER MASSEN

bluumlhen so hatte die Zeit ihre Bluumlte vorbereitet und um ihren Ursprung zu erfassen muszlig man stets zuruumlckgehen Sie sind Toumlchter der Vergangenheit und Muumltter der Zu- kunft stets aber Sklavinnen der ZeitSo ist denn die Zeit unsere wahre Meisterin und man braucht sie nur walten zu lassen um zu sehen wie alle Dinge sich wandeln Heute beunruhigen uns die bedroh- lichen Anspruumlche der Massen und die Zerstoumlrungen und Umwaumllzungen die sie ahnen lassen Die Zeit allein wird es auf sich nehmen das Gleichgewicht wieder herzustellen

bdquoKeine Ordnungldquo schreibt treffend Lavisse bdquowurde an einem Tage gegruumlndet Die politischen und sozialen Orga- nisationen sind Werke die Jahrhunderte erfordern der Feudalismus bestand Jahrhunderte lang formlos und chao- tisch bevor er seine Richtlinien fand die absolute Mon- archie bestand ebenfalls durch Jahrhunderte bis sie regel- rechte Herrschaftsmittel herausbildete und es gab groszlige Verwirrungen in diesen Uumlbergangszeitenldquo

sect 4 Die politischen und sozialen Einrichtungen

Der Gedanke Einrichtungen koumlnnten den Uumlbeln der Ge- sellschaft abhelfen der Fortschritt der Nationen sei die Folge der Vervollkommnung der Verfassungen und Regie- rungen und die sozialen Umwandlungen koumlnnten sich durch Erlasse vollziehen dieser Gedanke ist noch ganz allgemein verbreitet Die Franzoumlsische Revolution nahm ihn zum Ausgangspunkt und die sozialen Lehren der Gegenwart stuumltzen sich auf ihnUnunterbrochene Erfahrungen konnten diesen fuumlrchter- lichen Wahn nicht ernstlich erschuumlttern Vergebens haben die Philosophen und Historiker versucht seine Sinnlosig- keit zu beweisen Immerhin war es ein Leichtes fuumlr sie zu zeigen daszlig alle Einrichtungen Toumlchter der Ideen Ge- fuumlhle und Sitten sind und daszlig diese Ideen Gefuumlhle und Sitten nicht dadurch umgestaltet werden daszlig man die Gesetze umgestaltet Ein Volk waumlhlt die meisten Einrich-

DIE ZEIT 59

tungen nicht nach Belieben ebensowenig wie es die Farbe seiner Augen oder Haare waumlhlt Einrichtungen und Regie- rungsformen sind ein Rasseerzeugnis Weit entfernt davon die Schoumlpfer einer Epoche zu sein sind sie deren Geschoumlpfe Die Voumllker werden nicht nach ihren augenblicklichen Lau- nen sondern ihrem Charakter gemaumlszlig regiert Die Bildung einer Staatsordnung erfordert Jahrhunderte und Jahr- hunderte braucht es zu ihrer Wandlung Die Einrichtungen haben keinen unmittelbaren Wert sie sind an sich weder gut noch schlecht Zu einer bestimmten Zeit koumlnnen sie fuumlr ein bestimmtes Volk gut und fuumlr ein anderes grund- schlecht seinEin Volk hat also keineswegs die Macht seine Einrich- tungen wirklich zu veraumlndern Gewiszlig kann es um den Preis gewaltsamer Revolutionen ihre Namen aumlndern aber der Kern bleibt derselbe Die Namen sind nur leere Eti- ketten die ein Historiker der sich mit dem wahren Wert der Dinge befaszligt nicht in Rechnung zu ziehen braucht So ist England das demokratischste Land der Welt ob- wohl es eine monarchistische Regierung hat waumlhrend in den spanisch-amerikanischen Republiken trotz ihrer demokrati- schen Verfassung die haumlrteste Despotie herrscht Nicht die Regierung sondern der Charakter der Voumllker bestimmt ihre Schicksale Diese Wahrheit habe ich in einer fruumlhe- ren Arbeit mit Hilfe bestimmter Beispiele zu begruumlnden versuchtEs ist also ein kindisches Unterfangen eine zwecklose rhetorische Uumlbung die Zeit mit der Anfertigung von Ver- fassungen zu vergeuden Die Notwendigkeit und die Zeit uumlbernehmen ihre Ausarbeitung wenn man sie nur walten laumlszligt Der groszlige Historiker Macaulay zeigt in einem Satz der von den Politikern aller lateinischen Laumlnder auswendig

Das erkennen selbst in den Vereinigten Staaten die entschiedensten Repu- blikaner Die amerikanische Zeitung bdquoForumldquo gibt dieser Meinung die ich nach der bdquoReview of Reviewsldquo vom Dezember 894 wiedergebe bestimmten Ausdruck bdquoSelbst die gluumlhendsten Feinde der Aristokratie duumlrfen nie ver- gessen daszlig heute England das demokratischste Land der Erde ist in dem die Rechte des einzelnen am meisten geachtet werden und die einzelnen die meiste Freiheit besitzenldquo

60 ENTFERNTE TRIEBKRAumlFTE DES GLAUBENS DER MASSEN

gelernt werden muumlszligte daszlig die Angelsachsen es so mach- ten Nachdem er die scheinbaren Wohltaten der Gesetze vom Standpunkt der reinen Vernunft ein Chaos von Un- sinnigkeiten und Widerspruumlchen angefuumlhrt hat vergleicht er die Dutzende von Verfassungen die in den Erschuumltte- rungen der lateinischen Voumllker Europas und Amerikas untergegangen sind mit der Verfassung Englands und zeigt daszlig diese sich nur aumluszligerst langsam stuumlckweise unter dem Einfluszlig unmittelbarer Notwendigkeit veraumlnderte aber niemals durch berechnete Vernunftgruumlnde bdquoSich nie um die Anordnung wohl aber um die Nuumltzlichkeit kuumlmmern nie eine Ausnahme beseitigen nur weil es eine Ausnahme ist nie eine Neuerung einfuumlhren es sei denn es mache sich eine Unzutraumlglichkeit fuumlhlbar und auch dann nur gerade so viel erneuern daszlig diese Unzutraumlglichkeit abgestellt wird nie einen Antrag stellen der uumlber den Einzelfall den man behandelt hinausgeht Das sind die Regeln die seit den Zeiten Johannes bis zum Zeitalter Viktorias unsere 250 Parlamente allgemein geleitet habenldquoMan muumlszligte die Gesetze und Einrichtungen eines jeden Volkes eins nach dem andern vornehmen um zu zeigen in welchem Maszlige sie der Ausdruck der Beduumlrfnisse ihrer Rasse und deshalb nicht gewaltsam umzuwandeln sind Man kann sich mit den Vorteilen und Uumlbelstaumlnden der Zentralisation philosophisch auseinandersetzen wenn wir aber sehen wie ein Volk das aus verschiedenen Rassen besteht tausendjaumlhrige Anstrengungen macht um Schritt fuumlr Schritt diese Zentralisation zu erreichen wenn wir feststellen daszlig eine groszlige Revolution deren Ziel die Zer- truumlmmerung aller Einrichtungen der Vergangenheit war sich genoumltigt sah diese Zentralisation nicht allein anzu- erkennen sondern sogar zu uumlbertreiben so koumlnnen wir sagen sie ist das Ergebnis gebieterischer Notwendigkeiten eine unmittelbare Folge des Daseins und koumlnnen nur den Mangel an Weitblick bei den Politikern die von ihrer Aufhebung reden beklagen Wenn durch einen Zufall ihre Meinung siegte so waumlre dieser Erfolg das Signal zu einer

DIE POLITISCHEN UND SOZIALEN EINRICHTUNGEN 61

tiefgreifenden Anarchie die obendrein zu einer viel druumlk- kenderen Zentralisation als der fruumlheren fuumlhren wuumlrdeAus dem Vorstehenden ist zu schlieszligen daszlig man in den Einrichtungen nicht das Mittel zu suchen hat die Seelen der Massen nachhaltig zu bewegen Gewisse Laumlnder mit demokratischen Einrichtungen wie die Vereinigten Staaten bluumlhen wunderbar auf waumlhrend andre wie die spanisch- amerikanischen Republiken trotz durchaus aumlhnlicher Ein- richtungen in der traurigsten Anarchie dahinleben Diese Einrichtungen haben ebensowenig mit der Groumlszlige der einen wie mit dem Niedergang der andern zu tun Die Voumllker werden immer von ihrem Charakter beherrscht und alle Einrichtungen die sich diesem Charakter nicht innig an- schmiegen sind nichts als ein ausgeliehenes Gewand eine voruumlbergehende Verkleidung Gewiszlig hat es blutige Kriege und gewaltige Revolutionen gegeben um Einrichtungen einzufuumlhren denen man wie den Reliquien der Heiligen die uumlbernatuumlrliche Macht zuschreibt das Gluumlck hervorzu- zaubern In gewissem Sinne koumlnnte man sagen Einrich- tungen wirken auf die Massenseele da sie solche Erhebun- gen verursachen In Wahrheit sind es nicht die Einrich- tungen die so wirken denn wir wissen daszlig sie siegend oder besiegt an sich keinerlei Wert besitzen Wenn wir ihren Siegeszug verfolgen verfolgen wir nur Taumluschungen

sect 5 Unterricht und Erziehung

An erster Stelle unter den herrschenden Gedanken unsrer Zeit steht die Idee der Unterricht habe den bestimmten Wenn man die tiefgehenden religioumlsen und politischen Uneinigkeiten welche die verschiedenen Gebiete Frankreichs trennen mit den separatistischen Ten- denzen vergleicht die in der Revolutionszeit auftraten und sich von neuem gegen Ende des deutsch-franzoumlsischen Krieges zeigten so sieht man daszlig die verschiedenen Rassen die auf unserem Boden leben noch lange nicht mit- einander verschmolzen sind Die kraftvolle Zentralisation und die Schaffung kuumlnstlicher Departements zum Zweck der Vermischung der fruumlheren Provin- zen waren gewiszlig das nuumltzlichste Werk der Revolution Koumlnnte die Dezen- tralisation von der heute kurzsichtige Geister so viel reden bewerkstelligt werden so wuumlrde sie unfehlbar zu den blutigsten Kaumlmpfen fuumlhren Das zu verkennen heiszligt unsre Geschichte voumlllig vergessen

62 ENTFERNTE TRIEBKRAumlFTE DES GLAUBENS DER MASSEN

Erfolg die Menschen zu bessern und sogar einander aumlhn- lich zu machen Nur durch seine Wiederholung ist dieser Satz schlieszliglich zu einem der unerschuumltterlichsten Saumltze der Demokratie geworden Er ist ebenso unantastbar ge- worden wie einst die Dogmen der KircheAber in diesem Punkt wie in so vielen anderen stehen die Ideen der Demokratie in schaumlrfstem Gegensatz zu den Ergebnissen der Psychologie und der Erfahrung Mehrere hervorragende Philosophen besonders Herbert Spencer konnten leicht beweisen daszlig der Unterricht den Men- schen weder sittlicher noch gluumlcklicher macht daszlig er die Instinkte und Leidenschaften des Menschen nicht aumlndert und schlecht geleitet oft mehr Schaden als Nutzen bringt Die Statistiker bestaumltigen diese Ansicht indem sie zeigen daszlig die Kriminalitaumlt mit der Verbreitung des Unterrichts oder wenigstens einer gewissen Art des Unterrichts zu- nimmt daszlig die aumlrgsten Feinde der Gesellschaft die Anar- chisten oft aus den Besten der Schule hervorgehen Ein hoher Justizbeamter Adolphe Guillot berichtet daszlig man jetzt dreitausend gebildete auf tausend ungebildete Ver- brecher rechnen kann und daszlig innerhalb fuumlnfzig Jahren das Verbrechertum von 227 auf 552 von hunderttausend Einwohnern gestiegen ist was einen Zuwachs von 33 Pro- zent bedeutet Er hat auch in Uumlbereinstimmung mit seinen Kollegen festgestellt daszlig die Kriminalitaumlt besonders bei den jungen Leuten zunimmt bei denen die unentgeltliche Pflichtschule an die Stelle des Lehrherrn getreten istGewiszlig hat niemals jemand behauptet daszlig gut geleiteter Unterricht keine praktischen sehr nuumltzlichen Ergebnisse haben koumlnnte wenn auch nicht in sittlicher Hinsicht so doch in bezug auf die Entfaltung der beruflichen Faumlhig- keiten Leider haben besonders seit dreiszligig Jahren die lateinischen Voumllker ihre Unterrichtsformen auf ganz falschen Voraussetzungen aufgebaut und beharren trotz der Beobach- tungen der hervorragendsten Koumlpfe in ihren bedauerlichen Irrtuumlmern Ich selbst habe in verschiedenen Schriften ge- Vgl bdquoPsychologie des Sozialismusldquo bdquoPsychologie der Erziehungldquo

UNTERRICHT UND ERZIEHUNG 63

zeigt daszlig unsere gegenwaumlrtige Erziehung die Mehrzahl derer denen sie zuteil wurde in Feinde der Gesellschaft verwandelt die vielfach die Gefolgschaft der schlimmsten Formen des Sozialismus bildenDie erste Gefahr dieser Erziehung die treffend als latei- nisch gekennzeichnet wird beruht auf einem psychologi- schen Grundirrtum sich einzubilden die Intelligenz ent- wickle sich durch Auswendiglernen von Lehrbuumlchern Ferner bemuumlht man sich soviel als moumlglich zu lehren und von der Volksschule bis zur Doktor- oder Staatspruumlfung hat der junge Mann sich nur mit dem Inhalt von Buumlchern voll- zustopfen ohne jemals sein Urteil oder seine Entschluszlig- kraft zu uumlben Der Unterricht besteht fuumlr ihn im Hersagen und Gehorchen bdquoAufgaben lernen eine Grammatik oder einen Abriszlig auswendig wissen gut wiederholen gut nach- machenldquo schreibt der ehemalige Unterrichtsminister Jules Simon bdquodas ist eine komische Erziehung bei der jede An- strengung nur ein Beweis des Glaubens an die Unfehl- barkeit des Lehrers ist und dazu fuumlhrt uns herabzusetzen und unfaumlhig zu machenldquoWaumlre diese Erziehung nur nutzlos so koumlnnte man sich damit begnuumlgen die ungluumlcklichen Kinder zu bedauern denen man statt vieler notwendiger Dinge lieber die Genealogie der Soumlhne Chlotars die Kaumlmpfe zwischen Neu- strien und Austrasien oder zoologische Einteilungen bei- bringt aber sie bildet eine viel ernstere Gefahr sie be- wirkt bei dem der sie genossen hat einen heftigen Wider- willen gegen die Verhaumlltnisse in denen er geboren ist und den nachdruumlcklichen Wunsch aus ihnen herauszukommen Der Arbeiter will nicht mehr Arbeiter der Bauer nicht mehr Bauer bleiben und der letzte Kleinbuumlrger sieht fuumlr seine Soumlhne keine andere Moumlglichkeit als die Laufbahn eines festbesoldeten Staatsbeamten Anstatt die Menschen fuumlr das Leben vorzubereiten bereitet die Schule sie nur fuumlr oumlffentliche Aumlmter vor in denen man ohne einen Schim- mer von Tatkraft Erfolg haben kann Sie erzeugt am Fuszlige der sozialen Leiter die proletarischen Heere die mit ihrem

64 ENTFERNTE TRIEBKRAumlFTE DES GLAUBENS DER MASSEN

Los unzufrieden und stets zum Aufstand bereit sind oben aber unsere leichtfertige zugleich skeptische und glaumlubige Bourgeoisie mit ihrem uumlbertriebenen Vertrauen zur Staats- vorsehung die sie gleichwohl unaufhoumlrlich beschimpft weil sie stets ihre eigenen Fehler der Regierung zuschiebt und unfaumlhig ist ohne die Vermittlung der Obrigkeit etwas zu unternehmenDer Staat kann nur eine kleine Anzahl der Anwaumlrter verwenden die er mit Hilfe von Handbuumlchern fabriziert und dafuumlr auszeichnet und laumlszligt die andern ohne Beschaumlf- tigung Er muszlig sich also dareinfinden die ersten zu er- naumlhren und die andern zu Feinden zu haben Von der Spitze bis zum Fuszlig der sozialen Pyramide belagert heute das riesige Heer der Anwaumlrter die verschiedenen Aumlmter Ein Kaufmann findet schwer einen Stellvertreter in den Kolonien aber es gibt Tausende von Kandidaten die sich um die bescheidensten oumlffentlichen Stellungen bemuumlhen Das Seinedepartement allein zaumlhlt zwanzigtausend be- schaumlftigungslose Lehrer und Lehrerinnen die Feld und Werkstatt verachten und sich an den Staat wenden um leben zu koumlnnen Da die Zahl der Auserwaumlhlten be- schraumlnkt ist so muszlig notwendigerweise die der Unzufrie- denen ungeheuer groszlig sein Sie sind zu allen Revolutionen bereit gleichguumlltig unter weichem Fuumlhrer und zu welchen Zielen Der Erwerb unnuumltzer Kenntnisse ist ein sicheres Mittel einen Menschen zum Empoumlrer zu machen

Uumlbrigens ist dies nicht nur eine besondere Erscheinung bei den lateinischen Voumllkern man kann sie auch in China feststellen das ebenfalls von einer festen Hierarchie von Mandarinen geleitet wird und wo das Mandarinat wie bei uns auf dem Wege von Pruumlfungen erlangt wird deren einziges Erfordernis das fehlerlose Hersagen dicker Lehrbuumlcher ist Das Heer beschaumlftigungsloser Gelehrter wird heute in China fuumlr ein wahres Nationalungluumlck gehalten Auch in Indien hat sich seitdem die Englaumlnder dort Schulen gegruumlndet um die Eingeborenen zu belehren nicht um sie zu erziehen eine besondere Klasse von Gelehrten die der Babus gebildet die zu unversoumlhnlichen Feinden der eng- lischen Macht werden wenn es ihnen nicht gelingt eine Anstellung zu er- halten Die erste Wirkung des Unterrichts bei alten Babus ob angestellt oder ohne Beschaumlftigung war ein auszligerordentliches Sinken ihrer Sittlichkeit Ich habe diesen Punkt in meinem Buch bdquoDie Kulturen Indiensldquo ausfuumlhrlich be- handelt Alle Autoren die die Halbinsel besuchten haben das ebenfalls fest- gestellt

UNTERRICHT UND ERZIEHUNG 65

Es ist offenbar zu spaumlt sich einer solchen Stroumlmung ent- gegenzustemmen Die Erfahrung allein die letzte Lehr- meisterin der Voumllker wird es uumlbernehmen uns unsern Irrtum zu zeigen Sie allein wird maumlchtig genug sein uns die Notwendigkeit des Ersatzes unserer abscheulichen Lehr- buumlcher unserer klaumlglichen Pruumlfungen durch einen berufs- maumlszligigen Unterricht zu beweisen der die Jugend befaumlhigt zu den Feldern zu den Werkstaumltten zu den kolonialen Unternehmungen zuruumlckzukehren die heute verlassen sind Diesen berufsmaumlszligigen Unterricht den alle aufgeklaumlrten Geister jetzt fordern empfingen einst unsere Vaumlter und die Voumllker die heute die Welt durch ihren Willen ihre Tatkraft ihren Unternehmungsgeist beherrschen haben ihn sich zu bewahren gewuszligt Auf bemerkenswerten Seiten seiner Buumlcher deren wesentlichste Stellen ich spaumlter an- fuumlhren werde hat Taine klar gezeigt daszlig unsere Erzie- hung einst ungefaumlhr so war wie heute die englische oder amerikanische Erziehung und er hat durch einen bedeuten- den Vergleich zwischen dem lateinischen und angelsaumlch- sischen System die Folgen der beiden Erziehungsmethoden ins hellste Licht geruumlckt Vielleicht koumlnnte man noch alle Unzutraumlglichkeiten unserer klassischen Bildung hinnehmen selbst wenn sie nur Entwurzelte und Unzufriedene heran- bildete wenn nur der oberf laumlchliche Erwerb so vieler Kenntnisse und das luumlckenlose Hersagen so vieler Lehr- buumlcher die Voraussetzungen der Intelligenz heben wuumlrde Ist das aber wirklich der Fall Ach nein Urteil Erfah- rung Tatkraft und Charakter sind die Bedingungen des Erfolges im Leben sie sind nicht aus Buumlchern zu lernen Buumlcher sind nuumltzliche Nachschlagewerke aber es ist durchaus unnuumltz lange Teilstuumlcke daraus im Kopf aufzu- speichernDaszlig der berufsmaumlszligige Unterricht die Intelligenz in einem Maszlige entwickelt das der klassische Unterricht nie erreicht hat Taine sehr gut in folgenden Zeilen gezeigt bdquoDie Ideen bilden sich nur in ihrer natuumlrlichen und regelrechten Um- gebung Ihre Keime werden durch die unzaumlhligen Wahr-

66 ENTFERNTE TRIEBKRAumlFTE DES GLAUBENS DER MASSEN

nehmungseindruumlcke genaumlhrt die der junge Mensch taumlglich in der Werkstatt im Bergwerk beim Gericht im Arbeits- zimmer auf der Schiffswerft im Krankenhaus beim An- blick der Werkzeuge Betriebsstoffe und Unternehmungen in Gegenwart der Kunden der Arbeiter der Arbeit des gut oder schlecht ausgefuumlhrten kostspieligen oder gewinn- bringenden Unternehmens empfaumlngt Das sind die kleinen Sonderwahrnehmungen der Augen des Ohres der Haumlnde und sogar des Geruchs die unwillkuumlrlich empfangen und unbewuszligt verarbeitet werden und sich in ihm ordnen so daszlig sie ihm fruumlher oder spaumlter die und die neue Ver- bindung Vereinfachung Ersparnis Vervollkommnung oder Erfindung eingeben All dieser wertvollen Verbindungen all dieser fuumlr seine Entwicklung foumlrderlichen unentbehr- lichen Moumlglichkeiten ist der junge Franzose beraubt und zwar gerade im fruchtbaren Alter sieben oder acht Jahre ist er in einer Schule eingesperrt fern von unmittelbarer eigener Erfahrung die ihm einen genauen und lebendigen Begriff von den Dingen den Menschen und den verschie- denen Umgangsformen gegeben haumltteldquo

bdquohellip Wenigstens neun von zehn haben ihre Zeit und ihre Muumlhe mehrere Jahre ihres Lebens und zwar fruchtbare wichtige ja entscheidende Jahre verloren man rechne zunaumlchst die Haumllfte oder zwei Drittel derer die zur Pruuml- fung gehen ab ich meine die Abgewiesenen ferner von den Zugelassenen Gepruumlften und Ausgezeichneten noch die Haumllfte oder zwei Drittel naumlmlich die Uumlberarbeiteten Man hat ihnen zu viel zugemutet wenn man von ihnen ver- langte an einem bestimmten Tage auf einem Stuhl oder vor einer Tafel zwei Stunden lang fuumlr eine Menge von Wissenschaften zum lebenden Nachschlagewerk alles menschlichen Wissens zu dienen Tatsaumlchlich sind sie es an diesem Tage zwei Stunden lang wirklich oder beinahe gewesen aber einen Monat spaumlter sind sie es nicht mehr Sie koumlnnten die Pruumlfung nicht wieder bestehen ihre Ge- daumlchtnis-Errungenschaften sind zu zahlreich und druumlckend und entgleiten unaufhoumlrlich ihrem Geist und sie machen

UNTERRICHT UND ERZIEHUNG 67

keine neuen Ihre Geisteskraft hat nachgelassen der be- fruchtende Saft ist vertrocknet der erwachsene Mensch kommt zum Vorschein und oft ist es der fertige Mensch Ist der in seinem Beruf und verheiratet so ergibt er sich drein sich im Kreise und fuumlr unabsehbare Zeit immer in demselben Kreise zu bewegen er verschanzt sich hinter seinem beschraumlnkten Amt das er fehlerlos ausfuumlllt ohne das Geringste daruumlber hinaus zu tun Das ist das Durch- schnittsergebnis der Ertrag wiegt die Unkosten bestimmt nicht auf In England und Amerika wo man wie ehemals vor 789 auch bei uns in Frankreich den umgekehrten Prozeszlig durchmachte ist der Ertrag ebenso groszlig oder groumlszligerldquoDer hervorragende Historiker zeigt uns dann den Unter- schied zwischen unserm und dem angelsaumlchsischen System Dort geschieht die Belehrung nicht durch das Buch sondern durch die Sache selbst Der Techniker z B bildet sich in einer Fabrik nie in einer Schule jeder kann genau den Grad erreichen der seiner Intelligenz entspricht als Ar- beiter oder Werkmeister wenn er nicht weiterkann als Ingenieur wenn es seine Faumlhigkeiten zulassen Das Ver- fahren ist fuumlr die ganze Gesellschaft demokratischer und nuumltzlicher als wenn man die Laufbahn eines Menschen von einer mehrstuumlndigen Pruumlfung abhaumlngig macht die er im Alter von achtzehn bis zwanzig Jahren abzulegen hatbdquoIm Krankenhaus im Bergwerk in der Fabrik beim Architekten beim Anwalt macht der in jungen Jahren zu- gelassene Schuumller seine Lehr- und Probezeit durch unge- faumlhr wie bei uns ein Schreiber in einem Buumlro oder ein Malerlehrling in der Werkstatt Vorher und bis zu seinem Eintritt konnte er nur ein paar allgemeine kurzgefaszligte Kurse besuchen um einen geeigneten Rahmen zu haben dem er die Beobachtungen die er jeden Augenblick macht einfuumlgen kann Je nach Faumlhigkeit hat er in seiner freien Zeit meist Gelegenheit einige technische Kurse zu besuchen um seine taumlglichen Erfahrungen je nach deren Stand zu verknuumlpfen Bei einer derartigen Ausbildung waumlchst und

68 ENTFERNTE TRIEBKRAumlFTE DES GLAUBENS DER MASSEN

entwickelt sich die praktische Faumlhigkeit von selbst bis zu dem Grade den die Anlagen des Schuumllers erreichen koumln- nen und in der Richtung die seine kuumlnftige Taumltigkeit die besondere Arbeit der er sich von nun an widmen will er- fordert Auf diese Weise kommt in England und in den Vereinigten Staaten der junge Mann rasch dazu alles was in ihm ist aus sich herauszuholen Mit fuumlnfundzwanzig Jahren und wenn ihm die Voraussetzungen dazu nicht fehlen noch fruumlher ist er ein nuumltzlicher Arbeiter oder sogar ein selbstaumlndiger Unternehmer nicht nur ein Ge- triebe sondern noch mehr ein Antrieb ndash In Frankreich wo der umgekehrte Ausbildungsgang geherrscht hat und mit jeder Generation chinesischer wird ist die Summe der verlorenen Kraumlfte unermeszliglich groszligldquoUnd der bedeutende Philosoph gelangt zu folgendem Er- gebnis uumlber das zunehmende Miszligverhaumlltnis zwischen un- serer lateinischen Erziehung und dem Leben

bdquoAuf allen drei Stufen des Unterrichts der der Kindheit des Knaben- und des Juumlnglingsalters ist die theoretische Vorbereitung auf der Schulbank und aus Buumlchern verlaumln- gert und uumlberbuumlrdet worden im Hinblick auf die Pruumlfung den akademischen Grad das Diplom und das Patent und durch die schlechten Mittel die Anwendung eines unnatuumlr- lichen und antisozialen Bildungsganges die uumlbermaumlszligige Hinausschiebung der praktischen Lehre durch das Internat den kuumlnstlichen Drill und die mechanische Gedaumlchtnis- uumlberfuumlllung durch Uumlberarbeitung ohne Ruumlcksicht auf die Zukunft das Mannesalter und die Pflichten des Mannes die er bald uumlben muszlig durch Vernachlaumlssigung der wirk- lichen Welt in die der junge Mensch bald eintreten wird der Gesellschaft die ihn umgibt der er sich anpassen muszlig will er nicht von vornherein verzichten des menschlichen Daseinskampfes fuumlr den er zu seiner Verteidigung und um sich zu halten im voraus geruumlstet und gewappnet geuumlbt abgehaumlrtet sein muszlig Diese unentbehrliche Aus- ruumlstung diese Errungenschaft die wichtiger ist als alle anderen diese Tuumlchtigkeit des gesunden Menschenverstan-

UNTERRICHT UND ERZIEHUNG 69

des des Willens und der Nerven in unseren Schulen wird sie nicht gewonnen ganz im Gegenteil statt den Menschen tuumlchtiger zu machen machen sie ihn untuumlchtig fuumlr seine naumlchste und kuumlnftige Stellung Daher sind nach dem Ver- lassen der Schule sein Eintritt in die Welt und seine ersten Schritte auf dem Felde des praktischen Wirkens nichts als eine Reihe schmerzlicher Niederlagen aus denen er ver- wundet und fuumlr lange Zeit zermuumlrbt verkruumlppelt hervor- geht Es ist eine harte und gefaumlhrliche Probe bei der das geistige und sittliche Gleichgewicht erschuumlttert wird und Gefahr laumluft nicht wiederhergestellt zu werden Die Ent- taumluschung kam zu jaumlh und zu vollstaumlndig der Betrug war zu groszlig und der Ekel zu stark Sind wir im vorstehenden von der Massenpsychologie ab- gewichen Gewiszlig nicht Wenn wir die Ideen und Glau- bensmeinungen die heute in ihr keimen und morgen auf- gehen werden verstehen wollen so muumlssen wir wissen wie der Boden dafuumlr vorbereitet wurde Der Unterricht den die Jugend eines Landes genieszligt erlaubt uns die Schicksale dieses Landes ein wenig vorauszusehen Die Er- ziehung die der heutigen Generation zuteil wird recht- fertigt die duumlstersten Ahnungen Hand in Hand mit dem Unterricht und der Erziehung veredelt sich die Massenseele oder verdirbt Es war daher notwendig zu zeigen wie das gegenwaumlrtige System sie geformt hat und wie die Masse der Unbeteiligten und Gleichguumlltigen allmaumlhlich zu einem riesigen Heer Unzufriedener wurde das bereit ist allen Einfluumlssen der Weltverbesserer und Redner zu folgen Die Schule bildet heute Unzufriedene und Anarchisten und bereitet fuumlr die lateinischen Voumllker die Zeiten des Nieder- gangs vor

Taine Le reacutegime moderne II 894 ndash Es sind fast die letzten Seiten die Taine schrieb Sie fassen die Ergebnisse der langen Erfahrungen des groszligen Denkers ausgezeichnet zusammen Die Erziehung ist unser einziges Mittel die Seele eines Volkes ein wenig zu beeinflussen und der Gedanke ist tief- traurig daszlig es fast niemand in Frankreich gibt der zu begreifen vermag daszlig unser gegenwaumlrtiger Unterricht eine furchtbare Ursache der Entartung ist Anstatt die Jugend zu erheben erniedrigt und verdirbt er sie

70 ENTFERNTE TRIEBKRAumlFTE DES GLAUBENS DER MASSEN

2 KAPITEL

Unmittelbare Triebkraumlfte der Anschauungen der Massen

Wir haben die mittelbaren und vorbereitenden Triebkraumlfte festgestellt die der Massenseele besondere Empfaumlnglichkeit verleihen indem sie das Aufbluumlhen gewisser Gefuumlhle und Ideen bei den Massen ermoumlglichen Jetzt haben wir noch die Triebkraumlfte zu untersuchen die eine unmittelbare Handlung bewirken koumlnnen Im naumlchsten Kapitel werden wir dann sehen wie diese Triebkraumlfte zu benutzen sind damit sie all ihre Wirkungen erzielen koumlnnenDer erste Teil dieses Werkes behandelte die Gefuumlhle Ideen und Uumlberzeugungen von Gesamtheiten (collectiviteacutes) Aus ihrer Kenntnis kann man offenbar die Mittel die Massen- seele zu beeinflussen in allgemeiner Weise feststellen Wir wissen bereits was auf die Einbildungskraft der Massen Eindruck macht kennen die Macht der Uumlbertragung von Beeinflussungen besonders jenen die in bildhafter Form auftreten Da aber die moumlglichen Beeinflussungen ganz ver- schiedenen Ursprung haben so koumlnnen auch die Faktoren die auf die Massen zu wirken vermoumlgen recht verschieden sein man muszlig sie daher gesondert untersuchen Die Mas- sen sind so etwas wie die Sphinx der antiken Sage man muszlig die Fragen die ihre Psychologie uns stellt loumlsen oder darauf gefaszligt sein von ihnen verschlungen zu werden

sect Bilder Worte und Redewendungen

Beim Studium der Einbildungskraft der Massen fanden wir daszlig sie namentlich durch Bilder erregt wird Diese Bilder stehen einem nicht immer zur Verfuumlgung aber man kann sie durch geschickte Anwendung von Worten und Redewendungen hervorrufen Werden sie kunstgerecht an- gewandt so besitzen sie wirklich die geheimnisvolle Macht die ihnen einst die Adepten der Magie zuschrieben Sie rufen in der Massenseele die furchtbarsten Stuumlrme hervor

und koumlnnen sie auch besaumlnftigen Man koumlnnte allein aus den Knochen der Menschen die der Macht der Worte und Redewendungen zum Opfer fielen eine houmlhere Pyramide als die des alten Cheops erbauen Die Macht der Worte ist mit den Bildern verbunden die sie hervorrufen und voumlllig unabhaumlngig von ihrer wahren Bedeutung Worte deren Sinn schwer zu erklaumlren ist sind oft am wirkungs- vollsten So z B die Ausdruumlcke Demokratie Sozialismus Gleichheit Freiheit u a deren Sinn so unbestimmt ist daszlig dicke Baumlnde nicht ausreichen ihn festzustellen Und doch knuumlpft sich eine wahrhaft magische Macht an ihre kurzen Silben als ob sie die Loumlsung aller Fragen ent- hielten In ihnen ist die Zusammenfassung der verschie- denen unbewuszligten Erwartungen und der Hoffnung auf ihre Verwirklichung lebendigMit Vernunft und Beweisgruumlnden kann man gewisse Worte und Redewendungen nicht bekaumlmpfen Man spricht sie mit Andacht vor den Massen aus und sogleich werden die Mienen ehrfurchtsvoll und die Koumlpfe neigen sich Viele sehen in ihnen Naturkraumlfte oder uumlbernatuumlrliche Maumlchte Sie rufen in den Seelen groszligartige und unbestimmte Bilder hervor aber eben das Unbestimmte das sie verwischt ver- mehrt ihre geheimnisvolle Macht Sie lassen sich mit jenen furchtbaren Gottheiten vergleichen die hinter dem Alier- heiligsten verborgen sind und denen der Andaumlchtige nur mit Zittern nahtDa die Bilder die durch die Worte hervorgerufen werden unabhaumlngig sind von ihrem Sinn so wandeln sie sich von Zeitalter zu Zeitalter von Volk zu Volk waumlhrend die Formeln dafuumlr die gleichen bleiben Mit bestimmten Wor- ten verbinden sich zeitweilig bestimmte Bilder das Wort ist nur der Klingelknopf der sie hervorruftNicht alle Worte und Redewendungen besitzen die Macht Bilder hervorzurufen und es gibt solche die sich danach abnutzen und in der Seele nichts mehr hervorrufen Sie bleiben dann leerer Schall dessen Hauptnutzen darin be- steht allen die von ihnen Gebrauch machen das Denken

72 UNMITTELBARE TRIEBKRAumlFTE DER MASSEN-ANSCHAUUNG

zu ersparen Mit einem kleinen Vorrat von Redewen- dungen und Gemeinplaumltzen die wir in der Jugend erlern- ten besitzen wir alles Noumltige um ohne die ermuumldende Notwendigkeit nachdenken zu muumlssen durchs Leben zu gehenBetrachtet man eine bestimmte Sprache so sieht man daszlig sich die Worte aus denen sie sich zusammensetzt im Laufe der Zeit nur ziemlich langsam veraumlndern aber un- aufhoumlrlich veraumlndern sich die Bilder die sie hervorrufen oder der Sinn den man ihnen unterlegt Und in einer anderen Arbeit bin ich daher zu dem Schluszlig gekommen daszlig die genaue Uumlbersetzung einer Sprache besonders einer toten Sprache voumlllig unmoumlglich ist Was tun wir denn in Wirklichkeit wenn wir einen franzoumlsischen Ausdruck ins Lateinische Griechische oder Sanskrit uumlbertragen wollen oder selbst wenn wir nur versuchen ein Buch zu ver- stehen das vor einigen Jahrhunderten in unserer eigenen Sprache geschrieben wurde Wir uumlbertragen einfach die Bilder und Vorstellungen die das moderne Leben in un- serem Verstand erzeugt hat auf die voumlllig verschiedenen Begriffe und Bilder die das antike Leben in der Seele von Rassen hervorbrachte deren Lebensbedingungen keine Aumlhn- lichkeit mit den unsrigen zeigen Die Menschen der Revo- lutionszeit glaubten die Griechen und Roumlmer nachzuahmen und gaben nur den alten Worten einen Sinn den sie nie- mals gehabt hatten Welche Aumlhnlichkeit koumlnnte zwischen den Einrichtungen der Griechen und solchen bestehen die heute mit gleichlautenden Worten bezeichnet werden Was war eine Republik damals anderes als eine wesentlich aristokratische aus einer Vereinigung kleiner Despoten gebildete Einrichtung die eine versklavte in voumllliger Ab- haumlngigkeit gehaltene Masse beherrschte Diese kommunalen Aristokratien die sich auf Sklaverei gruumlndeten haumltten nicht einen Augenblick ohne sie bestehen koumlnnenUnd wie koumlnnte das Wort Freiheit fuumlr ein Zeitalter das die Gedankenfreiheit noch nicht einmal ahnte und keinen groumlszligeren und uumlberdies seltneren Frevel kannte als uumlber

BILDER WORTE UND REDEWENDUNGEN 73

die Goumltter die Gesetze und die Sitten der Buumlrgerschaft zu streiten dieselbe Bedeutung haben wie fuumlr uns Das Wort Vaterland bedeutete in der Seele eines Atheners oder Spar- taners die Verehrung Athens oder Spartas keineswegs aber Griechenlands das aus vielen Stadtstaaten bestand die sich fortwaumlhrend bekriegten und miteinander wetteiferten Welche Bedeutung hatte dasselbe Wort bei den wetteifern- den Staumlmmen von verschiedener Rasse Sprache und Reli- gion des alten Galliens die Caumlsar so leicht besiegte weil er unter ihnen stets Verbuumlndete hatte Rom allein verlieh Gallien ein Vaterland indem es ihm die politische und religioumlse Einheit gab Doch man braucht gar nicht so weit zuruumlckzugehen knapp zwei Jahrhunderte genuumlgen glaubt man das Wort Vaterland sei von den franzoumlsischen Prin- zen die sich wie der groszlige Condeacute mit dem Feinde gegen ihren eigenen Herrscher verbanden in seiner jetzigen Be- deutung verstanden worden Und hatte dasselbe Wort fuumlr die Emigranten nicht noch einen ganz andern Sinn als heutzutage Sie glaubten den Gesetzen der Ehre zu gehor- chen wenn sie Frankreich bekaumlmpften und gehorchten ihnen damit tatsaumlchlich von ihrem Gesichtspunkt aus da das Lehnsgesetz den Vasallen dem Lehnsherrn verband und nicht dem Lande und dort wo sich der Herr befand auch das wahre Vaterland warUnzaumlhlige Worte haben so ihre Bedeutung im Laufe der Zeit entscheidend geaumlndert Wir koumlnnen nur noch mit groszliger Muumlhe ihre fruumlhere Bedeutung verstehen Man muszlig viel lesen hat man mit Recht gesagt um nur zu begreifen was in den Augen unsrer Groszligeltern Worte wie bdquoder Koumlnigldquo und bdquodie koumlnigliche Familieldquo bedeuteten Wie steht es da erst mit schwierigeren AusdruumlckenDie Worte haben also nur veraumlnderliche und vergaumlngliche Bedeutungen die mit den Zeiten und Voumllkern wechseln Wollen wir durch sie auf die Massen wirken so muumlssen wir den Sinn kennen den sie fuumlr die Massen im gege- benen Augenblick haben nicht aber jenen den sie einst besaszligen oder den sie fuumlr Persoumlnlichkeiten von ganz be-

74 UNMITTELBARE TRIEBKRAumlFTE DER MASSEN-ANSCHAUUNG

sonderer geistiger Beschaffung haben koumlnnen Worte sind ebenso lebendig wie IdeenWenn also die Massen infolge politischer Umwaumllzungen oder nach einem Glaubenswechsel einen tiefen Widerwillen gegen die Bilder haben die durch bestimmte Worte aus- geloumlst werden so ist es die erste Aufgabe des wahren Staatsmannes die Bezeichnungen zu aumlndern ohne ndash wohl- gemerkt ndash an die Dinge selbst zu ruumlhren da diese zu sehr an eine ererbte Geistesverfassung gebunden sind als daszlig man sie aumlndern koumlnnte Der geistreiche Tocqueville hat darauf aufmerksam gemacht daszlig die Arbeit des Konsulats und des Kaisertums vor allen Dingen darin bestand die Mehrzahl der Einrichtungen der Vergangenheit mit neuen Bezeichnungen zu versehen folglich die Ausdruumlcke die in der Phantasie der Massen verhaszligte Bilder hervorriefen durch andre zu ersetzen deren Neuheit das unmoumlglich machte Die

bdquoTailleldquo wurde zur Grundsteuer die bdquoGabelleldquo zur Salz- steuer die Verbrauchssteuer zu indirekten Steuern und Zoumll- len die Meister- und Zunfttaxe zur Gewerbesteuer uswEine der wichtigsten Aufgaben der Staatsmaumlnner besteht also darin die Dinge die die Massen unter ihren alten Bezeichnungen verabscheuen mit volkstuumlmlichen oder we- nigstens bedeutungslosen Namen zu taufen Die Macht der Worte ist so groszlig daszlig gutgewaumlhlte Bezeichnungen genuuml- gen um den Massen die verhaszligtesten Dinge annehmbar zu machen Taine bemerkt ganz richtig daszlig die Jakobiner durch Berufung auf die damals sehr volkstuumlmlichen Worte

bdquoFreiheitldquo und bdquoBruumlderlichkeitldquo einen Despotismus der des Koumlnigreichs Dahomey wuumlrdig gewesen waumlre ein Tri- bunal wie die Inquisition und Menschenhekatomben gleich denen des alten Mexiko heraufbeschwoumlren konnten Die Regierungskunst besteht wie die der Rechtsanwaumllte darin daszlig man die Worte zu meistern versteht Eine schwierige Kunst denn in derselben Gesellschaft haben die gleichen Worte fuumlr die verschiedenen sozialen Schichten oft ganz verschiedene Bedeutung Sie gebrauchen anscheinend diesel- ben Worte sprechen aber nicht dieselbe Sprache

BILDER WORTE UND REDEWENDUNGEN 75

In den vorstehenden Beispielen haben wir als Haupt- ursache fuumlr den Bedeutungswandel der Worte besonders die Zeit in Betracht gezogen Wollten wir auch die Rasse heranziehen so wuumlrden wir sehen daszlig zu gleicher Zeit bei Voumllkern von gleicher Kultur aber verschiedener Rasse die gleichen Worte oft ganz verschiedenartigen Vorstellungen entsprechen Diese Unterschiede kann man ohne zahlreiche Reisen nicht kennenlernen und verstehen und ich will sie daher nicht hervorheben Ich beschraumlnke mich auf die Be- merkung daszlig gerade die gebraumluchlichsten Worte bei den verschiedenen Voumllkern die verschiedenste Bedeutung haben So z B die Ausdruumlcke bdquoDemokratieldquo und bdquoSozialismusldquo die heute soviel gebraucht werdenSie entsprechen in Wirklichkeit fuumlr die lateinische und die angelsaumlchsische Seele inhaltlich und bildlich voumlllig ent- gegengesetzten Vorstellungen Bei den lateinischen Voumllkern bedeutet das Wort Demokratie vor allem die Ausloumlschung des Willens und der Tatkraft des einzelnen vor dem Staat Dem Staat wird immer mehr aufgeladen er soll fuumlhren zentralisieren monopolisieren fabrizieren An ihn wenden sich bestaumlndig alle Parteien ohne Ausnahme Radikale Sozialisten Monarchisten Bei den Angelsachsen nament- lich bei den Amerikanern bedeutet dasselbe Wort im Gegenteil die angespannteste Entfaltung des Willens und der Persoumlnlichkeit das moumlglichste Zuruumlcktreten des Staates den man mit Ausnahme der Polizei des Heeres und der diplomatischen Beziehungen nichts leiten laumlszligt nicht einmal den Unterricht Dasselbe Wort hat also bei diesen beiden Voumllkern einen voumlllig entgegengesetzten Sinn

sect 2 Die Taumluschungen (illusions)

Seit der Morgenroumlte der Kultur sind die Voumllker immer dem Einfluszlig von Taumluschungen ausgesetzt gewesen Den

In den bdquoPsychologischen Gesetzen der Voumllkerentwicklungldquo habe ich klar auf den Unterschied hingewiesen der das lateinische Ideal der Demokratie von dem angelsaumlchsischen Ideal der Demokratie unterscheidet

76 UNMITTELBARE TRIEBKRAumlFTE DER MASSEN-ANSCHAUUNG

Schoumlpfern von Taumluschungen haben sie die meisten Tempel Bildwerke und Altaumlre errichtet Fruumlher waren es religioumlse heute sind es philosophische Taumluschungen ndash aber immer findet man diese furchtbaren Herrscherinnen an der Spitze aller Kulturen die nacheinander auf unserm Planeten bluumlhten In ihrem Namen stiegen die Tempel Chaldaumlas und Aumlgyptens die Kirchenbauten des Mittelalters empor in ihrem Namen wurde ganz Europa vor einem Jahr- hundert umgewaumllzt Es gibt nicht eine einzige unserer kuumlnstlerischen politischen oder sozialen Anschauungen die nicht ihren maumlchtigen Stempel truumlge Oft schuumlttelt sie der Mensch um den Preis furchtbarer Umwaumllzungen ab aber er scheint dazu verdammt zu sein sie immer wieder auf- zurichten Ohne sie haumltte er die primitive Barbarei nicht hinter sich lassen koumlnnen und ohne sie wuumlrde er ihr bald wieder verfallen Zweifellos sind es leere Schatten aber diese Toumlchter unserer Traumlume haben die Voumllker gezwun- gen all das zu schaffen was den Glanz der Kuumlnste und die Groumlszlige der Kultur ausmacht

bdquoWenn man alle Kunstwerke und Denkmaumller in den Mu- seen und Bibliotheken die dem Einfluszlig der Religion ihr Dasein verdanken zerstoumlren und auf den Steinen ihrer Vorhoumlfe zertruumlmmern koumlnnte was bliebe von den groszligen Traumlumen der Menschheit uumlbrigldquo schreibt ein Autor der die Summe unseres Wissens zieht bdquoDie Daseinsberech- tigung der Goumltter Helden und Dichter besteht darin den Menschen ihren Anteil an Hoffnungen und Taumluschungen zu geben ohne die sie nicht leben koumlnnen Eine Zeitlang schien die Wissenschaft diese Aufgabe zu uumlbernehmen Sie hat sich aber bei den idealhungrigen Gemuumltern um ihr Ansehen gebracht weil sie nicht mehr genug zu verspre- chen wagt und nicht genug zu luumlgen weiszligldquoDie Philosophen des vergangenen Jahrhunderts widmeten sich mit Eifer der Zerstoumlrung der religioumlsen politischen und sozialen Taumluschungen von denen unsere Vaumlter viele Jahrhunderte lang gelebt hatten Diese Zerstoumlrung lieszlig die Quellen der Hoffnung und Ergebung versiegen Hinter den

DIE TAumlUSCHUNGEN 77

geopferten Chimaumlren fanden sie die blinden Naturkraumlfte die unerbittlich sind gegen Schwaumlche und kein Mitleid kennenTrotz all ihrer Fortschritte hat die Philosophie nicht ver- mocht den Massen ein Ideal zu bieten das sie bezaubern koumlnnte Da ihnen aber Taumluschungen unentbehrlich sind so wenden sie sich unwillkuumlrlich wie die Motte dem Licht den Rednern zu die sie ihnen bieten Die groszlige Trieb- kraft der Voumllkerentwicklung war niemals die Wahrheit sondern der Irrtum Und wenn heute der Sozialismus seine Macht wachsen sieht so erklaumlrt es sich daraus daszlig er die einzige Taumluschung darstellt die noch lebendig ist Wissen- schaftliche Beweisfuumlhrungen koumlnnen seine Entwicklung nicht aufhalten Seine Hauptstaumlrke liegt darin daszlig er von Koumlpfen verteidigt wird die die Tatsachen der Wirklichkeit genuumlgend verkennen um es zu wagen den Menschen kuumlhn das Gluumlck zu versprechen Die soziale Taumluschung herrscht heute auf allen Ruinen die die Vergangenheit auftuumlrmte und ihr gehoumlrt die Zukunft Nie haben die Massen nach Wahrheit geduumlrstet Von den Tatsachen die ihnen miszlig- fallen wenden sie sich ab und ziehen es vor den Irrtum zu vergoumlttern wenn er sie zu verfuumlhren vermag Wer sie zu taumluschen versteht wird leicht ihr Herr wer sie aufzu- klaumlren sucht stets ihr Opfer

sect 3 Die Erfahrung

Die Erfahrung ist so ziemlich das einzige wirksame Mittel um der Massenseele eine Wahrheit fest einzupflanzen und zu gefaumlhrlich gewordene Taumluschungen zu zerstoumlren Dazu muszlig die Erfahrung auf einer breiten Grundlage ruhen und oft wiederholt werden Die von einer Generation gesam- melten Erfahrungen sind im allgemeinen fuumlr die folgende nutzlos darum hat es keinen Zweck geschichtliche Ereig- nisse als Beweise anzufuumlhren Ihr einziger Nutzen ist daszlig sie zeigt in welchem Maszlige die Erfahrungen in jedem Zeit- alter wiederholt werden muumlssen um irgendwelchen Einfluszlig

78 UNMITTELBARE TRIEBKRAumlFTE DER MASSEN-ANSCHAUUNG

zu gewinnen und den Erfolg zu haben auch nur einen Irrtum der mit der Massenseele verwachsen ist auszu- rottenUnser Jahrhundert und das vorhergehende werden von den Historikern der Zukunft zweifellos als eine Zeit merk- wuumlrdiger Erfahrungen bezeichnet werden Kein anderes Zeitalter hat so viele aufzuweisenDie gewaltigste Erfahrung war die Franzoumlsische Revo- lution Um zu entdecken daszlig man eine Gesellschaft nicht mit den Mitteln der reinen Vernunft von Grund auf er- neuern kann muszligten einige Millionen Menschen hinge- schlachtet und ganz Europa zwanzig Jahre lang erschuumlttert werden Um uns durch die Erfahrung zu beweisen daszlig Caumlsaren den Voumllkern die ihnen zujauchzen teuer zu stehen kommen waren innerhalb fuumlnfzig Jahren zwei vernich- tende Erfahrungen noumltig die trotz ihrer Verstaumlndlichkeit nicht uumlberzeugend genug gewesen zu sein scheinen Gleich- wohl kostete die erste drei Millionen Menschen und einen feindlichen Einmarsch die zweite eine Zerreiszligung des Lan- des und die Notwendigkeit stehender Heere Eine dritte waumlre beinahe vor kurzem gemacht worden und wird eines Tages sicherlich gemacht werden Um uns zu beweisen daszlig das riesige deutsche Heer nicht wie man uns vor 870 lehrte eine Art harmloser Nationalgarde ist war der schreckliche Krieg noumltig der uns so viel gekostet hat Um zu der Erkenntnis zu kommen daszlig das Schutzzollsystem

Die Anschauung der Massen bildete sich in diesem Fall durch die groben Verbindungen unaumlhnlicher Dinge deren Mechanik ich fruumlher erklaumlrt habe Weil damals unsere Nationalgarde aus friedlichen Kleinbuumlrgern ohne jede straffe Zucht bestand und nicht ernst zu nehmen war erweckte alles was einen aumlhnlichen Namen trug dieselben Bilder und wurde folglich fuumlr ebenso harmlos gehalten Der Irrtum der Massen wurde damals wie es bei allge- meinen Anschauungen so oft der Fall ist von den Fuumlhrern geteilt In einer Rede die Herr Thiers am 3 Dezember 867 in der Deputiertenkammer hielt wiederholte er ein Staatsmann der der Massenanschauung oft gefolgt ist Preuszligen besitze auszliger einem aktiven Heere an Zahl dem unsrigen fast gleich nur eine Nationalgarde die von derselben Art wie wir sie einmal besessen und demnach ohne Bedeutung sei ndash eine ebenso richtige Behauptung wie die beruumlhmte Prophezeiung desselben Staatsmannes uumlber die Zukunfts- losigkeit der Eisenbahnen

DIE ERFAHRUNG 79

die Voumllker die es anwenden endguumlltig zugrunde richtet werden noch unheilvolle Erfahrungen noumltig sein Diese Beispiele lieszligen sich ins Unendliche vermehren

sect 4 Die Vernunft

Bei der Aufzaumlhlung der Faktoren die imstande sind die Massenseele zu erregen koumlnnten wir uns die Erwaumlhnung der Vernunft ersparen wenn man nicht den negativen Wert ihres Einflusses aufzeigen muumlszligteWir haben bereits festgestellt daszlig die Massen durch logi- sche Beweise nicht zu beeinflussen sind und nur grobe Ideenverbindungen begreifen Daher wenden sich auch die Redner die Eindruck auf sie zu machen verstehen an ihr Gefuumlhl und niemals an ihre Vernunft Die Gesetze der Logik haben keinerlei Einfluszlig auf sie Um die Massen zu uumlberzeugen muszlig man sich zunaumlchst genau Rechenschaft geben uumlber die Gefuumlhle die sie beseelen muszlig den An- schein erwecken daszlig man sie teilt dann versuchen sie zu veraumlndern indem man mittels angedeuteter Ideenverbin- dungen gewisse zwingende Bilder hervorruft ferner muszlig man im Notfall sein Vorhaben aufgeben koumlnnen und vor

Meine ersten Beobachtungen uumlber die Kunst der Massenbeeinflussung und die schwachen Hilfsmittel die die Logik in dieser Beziehung bietet machte ich waumlhrend der Belagerung von Paris an dem Tage an dem ich den Mar- schall Vhellip nach dem Louvre dem Sitz der damaligen Regierung bringen sah weil eine wuumltende Volksmenge ihn dabei uumlberrascht haben wollte als er den Festungsplan entwendete um ihn den Preuszligen zu verkaufen Ein Re- gierungsmitglied G P hellip ein beruumlhmter Redner trat heraus um eine Ansprache an die Massen zu halten die die unverzuumlgliche Hinrichtung des Gefangenen verlangten Ich erwartete der Redner werde die Unsinnigkeit der Beschuldigung durch die Feststellung beweisen daszlig der angeklagte Marschall ausgerechnet einer der Konstrukteure der Befestigung sei deren Plan man uumlbrigens in allen Buchhandlungen kaufen konnte Zu meiner groszligen Verbluumlf- fung ndash ich war damals noch sehr jung ndash lautete die Rede ganz anders bdquoDem Recht wird Genuumlge geschehenldquo rief der Redner indem er auf den Gefangenen zuging bdquowird in unerbittlicher Weise Genuumlge geschehen Laszligt die Regierung der nationalen Verteidigung eure Sache durchfuumlhren einstweilen werden wir den Angeklagten einsperrenldquo Durch diese scheinbare Genugtuung besaumlnftigt zerstreute sich die Menge und der Marschall konnte schon nach Verlauf einer Viertelstunde seine Wohnung aufsuchen Sicherlich waumlre er totgeschlagen wor- den wenn sein Verteidiger der wuumltenden Menge die logischen Beweisgruumlnde vorgehalten haumltte die meine groszlige Jugend sehr uumlberzeugend fand

80 UNMITTELBARE TRIEBKRAumlFTE DER MASSEN-ANSCHAUUNG

allen Dingen jeden Augenblick die Gefuumlhle erraten die man erweckt Diese Notwendigkeit seine Ausdrucksweise je nach dem erzielten Erfolg im Augenblick zu veraumlndern verurteilt jede vorbereitete und eingelernte Rede von vorn- herein zur Wirkungslosigkeit Der Redner folgt seinen eignen Gedanken nicht denen seiner Zuhoumlrer und verliert schon allein durch diese Tatsache jeden EinfluszligDie logischen Koumlpfe die an die ziemlich knappen Schluszlig- ketten der Vernunft gewoumlhnt sind koumlnnen sich nicht ent- halten ihre Zuflucht zu dieser Uumlberzeugungsweise zu neh- men wenn sie sich an die Massen wenden und sind immer wieder uumlber das Fehlschlagen ihrer Beweise uumlberrascht

bdquoDie gewoumlhnlichen mathematischen Schluumlsse die sich auf den Syllogismus d h auf Identitaumltsketten gruumlnden sind notwendigldquo schreibt ein Logiker hellip bdquoIhre Notwendigkeit wuumlrde selbst die Zustimmung einer anorganischen Masse erzwingen wenn sie den Identitaumltsketten folgen koumlnnteldquo Gewiszlig aber die Menge ist ebensowenig imstande ihnen zu folgen oder sie auch nur zu verstehen wie die anorganische Masse Man mache z B den Versuch primitive Wesen Wilde oder Kinder durch ein logisches Urteil zu uumlber- zeugen und man wird einsehen wie wenig Wirkung diese Beweisfuumlhrung hatMan braucht nicht einmal bis zu den primitiven Wesen hinabzusteigen um die voumlllige Ohnmacht der Logik im Kampf gegen Gefuumlhle festzustellen Erinnern wir uns nur daran wie hartnaumlckig sich viele Jahrhunderte hindurch die religioumlsen Vorurteile gehalten haben die der einfachsten Logik widersprechen Fast zweitausend Jahre lang beugten sich die aufgeklaumlrtesten Geister unter ihre Gesetze und erst in der modernen Zeit war es uumlberhaupt moumlglich ihre Wahrheiten anzuzweifeln Das Mittelalter und die Renais- sance hatten genug aufgeklaumlrte Koumlpfe aber nicht ein ein- ziger war darunter dem die Vernunft die kindischen Seiten seines Aberglaubens enthuumlllt und auch nur einen leisen Zweifel an den Bosheiten des Teufels oder an der Not- wendigkeit der Hexenverbrennungen wachgerufen haumltte

DIE VERNUNFT 81

Ist es zu bedauern daszlig die Massen nie von der Vernunft geleitet werden Wir wagen es nicht zu behaupten Der menschlichen Vernunft waumlre es wahrscheinlich nicht ge- lungen die Menschheit mit derselben Glut und Kuumlhnheit die Bahnen der Kultur zu fuumlhren zu der ihre Trugbilder sie fortgerissen haben Die Trugbilder waren Erzeugnisse des Unbewuszligten von dem wir geleitet werden und sie waren wahrscheinlich notwendig Jede Rasse birgt in ihrer geistigen Verfassung die Gesetze ihres Schicksals und viel- leicht gehorcht sie diesen Gesetzen infolge eines untruumlg- lichen Instinktes auch dann wenn ihre unvernuumlnftigsten Aumluszligerungen in Erscheinung treten Es scheint manchmal als ob die Voumllker geheimen Kraumlften unterworfen waumlren gleich jenen die die Eichel in eine Eiche umwandeln oder den Kometen zwingen seine Bahn einzuhaltenDas wenige was wir uumlber diese Kraumlfte erforschen koumlnnen muszlig in dem allgemeinen Entwicklungsgang der Voumllker ge- sucht werden und nicht in den einzelnen Tatsachen aus denen sich diese Entwicklung zu ergeben scheint Wuumlrde man nur diese einzelnen Tatsachen in Betracht ziehen so schiene es als sei die Geschichte von ungereimten Zufaumlllen beherrscht Es war unglaubhaft daszlig ein unwissender Zim- mermann aus Galilaumla zweitausend Jahre hindurch zu einem allmaumlchtigen Gott werden konnte in dessen Namen die bedeutendsten Kulturen gegruumlndet wurden unglaubhaft war es auch daszlig einige arabische Horden die ihre Wuumlste ver- lieszligen den groumlszligten Teil der alten griechisch-roumlmischen Welt erobern konnten unglaubhaft war es endlich daszlig in einem sehr gealterten und in Rangordnungen festgelegten Europa ein einfacher Artillerieleutnant es zuwege brachte uumlber eine groszlige Anzahl von Voumllkern und Koumlnigen zu herrschenUumlberlassen wir also die Vernunft den Philosophen aber ver- langen wir nicht von ihr daszlig sie sich allzuviel in die Re- gierung der Menschen einmische Nicht vermoumlge sondern oft trotz der Vernunft bildeten sich Gefuumlhle wie Ehre Ent- sagung religioumlser Glaube Ruhmes- und Vaterlandsliebe die bis heute die groszligen Triebfedern aller Kultur gewesen sind

82 UNMITTELBARE TRIEBKRAumlFTE DER MASSEN-ANSCHAUUNG

3 KAPITEL

Die Fuumlhrer der Massen und ihre Uumlberzeugungsmittel

Die Geistesverfassung der Massen ist uns jetzt bekannt und wir wissen nun auch welche Kraumlfte auf sie wirken Jetzt haben wir zu untersuchen wie diese Kraumlfte angewandt wer- den muumlssen und durch wen sie nutzbringend in Taumltigkeit umgesetzt werden

sect Die Fuumlhrer der Massen

Sobald eine gewisse Anzahl lebender Wesen vereinigt ist einerlei ob eine Herde Tiere oder eine Menschenmenge unterstellen sie sich unwillkuumlrlich einem Oberhaupt d h einem FuumlhrerIn den menschlichen Massen spielt der Fuumlhrer eine hervor- ragende Rolle Sein Wille ist der Kern um den sich die An- schauungen bilden und ausgleichen Die Masse ist eine Herde die sich ohne Hirten nicht zu helfen weiszligSehr oft war der Fuumlhrer zuerst ein Gefuumlhrter der selbst von der Idee hypnotisiert war deren Apostel er spaumlter wurde Sie hat ihn so sehr erfuumlllt daszlig neben ihr alles verschwand und daszlig ihm nun jede gegenteilige Anschauung als Irrtum und Aberglaube erscheint So z B Robespierre der von seinen wunderlichen Ideen so hypnotisiert war daszlig er sich zu ihrer Verbreitung der Mittel der Inquisition bedienteMeistens sind die Fuumlhrer keine Denker sondern Maumlnner der Tat Sie haben wenig Scharfblick und koumlnnten auch nicht anders sein da der Scharfblick im allgemeinen zu Zweifel und Untaumltigkeit fuumlhrt Man findet sie namentlich unter den Nervoumlsen Reizbaren Halbverruumlckten die sich an der Grenze des Irrsinns befinden So abgeschmackt auch die verfochtene Idee oder das verfolgte Ziel sein mag gegen ihre Uumlberzeugung wird alle Logik zunichte Ver- achtung und Verfolgung stoumlrt sie nicht oder erregt sie nur noch mehr Persoumlnliches Interesse Familie alles wird ge-

opfert Sogar der Selbsterhaltungstrieb ist bei ihnen aus- geschaltet und zwar in solchem Maszlige daszlig die einzige Be- lohnung die sie oft anstreben das Martyrium ist Die Staumlrke ihres Glaubens verleiht ihren Worten eine groszlige suggestive Macht Die Menge houmlrt immer auf den Men- schen der uumlber einen starken Willen verfuumlgt Die in der Masse vereinigten Einzelnen verlieren allen Willen und wenden sich instinktiv dem zu der ihn besitztAn Fuumlhrern hat es den Voumllkern nie gefehlt aber sie besit- zen nicht alle die starken Uumlberzeugungen die den Apostel machen Oft sind es geschickte Redner die nur ihre eigenen Interessen verfolgen und durch Schmeicheln niedriger In- stinkte zu uumlberreden suchen Der Einf luszlig den sie aus- uumlben bleibt stets nur aumluszligerlich Die groszligen Uumlberzeugten die die Massenseele erhoben haben wie Peter von Amiens Luther Savonarola die Revolutionsmaumlnner begeisterten erst nachdem sie selbst durch einen Glauben begeistert waren Dann freilich konnten sie in den Seelen jene furcht- bare Macht erzeugen die Glaube heiszligt und den Menschen zum voumllligen Sklaven seines Traumes machtGlauben erwecken sei es religioumlser politischer oder sozialer Glaube Glaube an eine Person oder an eine Idee das ist die besondere Rolle des groszligen Fuumlhrers Von allen Kraumlf- ten die der Menschheit zur Verfuumlgung stehen war der Glaube stets eine der bedeutendsten und mit Recht schreibt ihm das Evangelium die Macht zu Berge zu versetzen Dem Menschen einen Glauben schenken heiszligt seine Kraft verzehnfachen Die groszligen geschichtlichen Ereignisse wur- den oft von unbekannten Glaumlubigen verwirklicht die nichts als ihren Glauben besaszligen Nicht die Gelehrten und Philo- sophen vor allem nicht die Skeptiker haben die groszligen Religionen geschaffen die die Welt und die riesigen Reiche die sich von der einen Erdhaumllfte bis zur andern erstreckten beherrscht habenDoch solche Beispiele passen nur fuumlr die groszligen Fuumlhrer und die sind so selten daszlig die Geschichte ihre Zahl leicht feststellen koumlnnte Sie bilden den Gipfel einer absteigenden

84 DIE FUumlHRER UND IHRE UumlBERZEUGUNGSMITTEL

Reihe von den Fuumlhrernaturen angefangen bis hinunter zum Arbeiter der in einer rauchigen Kneipe seine Genos- sen nach und nach begeistert indem er fortwaumlhrend ein paar kaum verstandene Redensarten wiederholt die nach seiner Meinung alle Traumlume und Hoffnungen verwirk- lichen wuumlrdenIn allen sozialen Schichten von der houmlchsten bis zur nied- rigsten geraumlt der Mensch sobald er nicht mehr allein- steht leicht unter die Herrschaft eines Fuumlhrers Die meisten Menschen besonders in den Massen des Volkes haben von nichts auszligerhalb ihres Berufsfaches eine klare und richtige Vorstellung Sie sind nicht imstande sich selbst zu leiten so dient ihnen der Fuumlhrer als Wegweiser Er kann zur Not aber nur sehr unzureichend durch Zeitungen ersetzt wer- den die ihren Lesern Meinungen anfertigen und Redens- arten bieten welche alles Denken ersparenDie Herrschaft der Fuumlhrer ist aumluszligerst gewaltsam und ver- dankt nur dieser Gewalt ihre Geltung Man kann oft er- leben wie leicht sie sich in unruhigsten Arbeiterschichten Gehorsam verschaffen ohne ein anderes Mittel als ihr Ansehen anzuwenden Sie bestimmen die Zahl der Arbeits- stunden die Lohntarife beschlieszligen die Streiks lassen sie zu einer bestimmten Stunde beginnen und endenHeute haben es die Fuumlhrer darauf abgesehen nach und nach die oumlffentlichen Gewalten zu ersetzen soweit man sie eroumlrtern und schwaumlchen kann Durch ihre Gewaltherrschaft erreichen diese neuen Herren daszlig die Massen ihnen viel leichter folgen als irgendeiner Regierung Verschwindet durch einen Zufall der Fuumlhrer und ist nicht sofort Ersatz da so wird die Masse wieder eine Menge ohne Zusammen- hang und Widerstandskraft Waumlhrend eines Streiks der Pariser Omnibusangestellten genuumlgte die Verhaftung der beiden Anfuumlhrer die ihn leiteten um ihm sofort ein Ende zu bereiten Nicht das Freiheitsbeduumlrfnis sondern der Diensteifer herrscht stets in der Massenseele Ihr Drang zu gehorchen ist so groszlig daszlig sie sich jedem der sich zu ihrem Herrn erklaumlrt instinktiv unterordnen

DIE FUumlHRER DER MASSEN 85

Innerhalb der Klasse der Fuumlhrer laumlszligt sich eine ziemlich scharfe Einteilung vornehmen Zu der einen Art gehoumlren die energischen willensstarken aber nicht ausdauernden Menschen zur andern viel selteneren die Menschen mit einem starken ausdauernden Willen Die ersteren sind heftig tapfer kuumlhn Sie taugen besonders dazu einen Handstreich durchzufuumlhren die Massen trotz der Gefahr mitzureiszligen und die jungen Rekruten in Helden zu ver- wandeln So waren z B im ersten Kaiserreich Ney und Murat So war auch noch zu unserer Zeit Garibaldi ein talentloser aber energischer Abenteurer dem es gelang mit einer Handvoll Menschen sich des ehemaligen Koumlnigreichs Neapel zu bemaumlchtigen obwohl es von einem regelrechten Heer verteidigt wurdeAber wenn die Energie solcher Fuumlhrer auch gewaltig ist so ist sie doch nur voruumlbergehend und uumlberdauert kaum den Aufschwung den sie erzeugten Sind die Helden in den Strom des gewoumlhnlichen Lebens zuruumlckgetaucht so geben sie die fruumlher so feurig waren Beweise von er- staunlicher Schwaumlche Sie scheinen unfaumlhig zum Nach- denken und koumlnnen sich in den einfachsten Verhaumlltnissen nicht zurechtfinden nachdem sie doch vorher die andern so gut zu leiten verstanden Diese Fuumlhrer koumlnnen ihre Aufgabe nur dann erfuumlllen wenn sie selbst unausgesetzt gefuumlhrt und angetrieben werden stets einen Menschen oder eine Idee uumlber sich fuumlhlen und genauen Verhaltungsregeln folgen muumlssenDie zweite Fuumlhrerklasse die der Menschen mit ausdauern- dem Willen uumlbt trotz ihres weniger glaumlnzenden Auftretens einen viel bedeutenderen Einfluszlig aus Zu ihnen gehoumlren die wahren Begruumlnder von Religionen oder groszligen Wer- ken Paulus Mohammed Kolumbus Lesseps Moumlgen sie intelligent beschraumlnkt oder unbedeutend sein stets wird die Welt fuumlr sie eintreten Der beharrliche Wille den sie besitzen ist eine unendlich seltene und unendlich maumlchtige Eigenschaft die sich alles unterwirft Man ist sich nicht immer klar genug daruumlber was ein starker und stetiger

86 DIE FUumlHRER UND IHRE UumlBERZEUGUNGSMITTEL

Wille vermag Nichts widersteht ihm weder die Natur noch die Goumltter noch die MenschenDas juumlngste Beispiel hat uns der beruumlhmte Ingenieur ge- geben der zwei Erdteile voneinander trennte und den Versuch durchfuumlhrte den dreitausend Jahre hindurch die groumlszligten Herrscher vergeblich unternommen hatten Er scheiterte spaumlter an einem gleichartigen Unternehmen aber dann war er alt und im Alter erlischt alles auch der WilleUm die Macht des Willens zu beweisen braucht man nur die Geschichte der Schwierigkeiten die bei dem Durch- stich des Suezkanals zu uumlberwinden waren mit allen Ein- zelheiten zu erzaumlhlen Ein Augenzeuge Doktor Cazalis hat die Ausfuumlhrung dieses Riesenwerkes in einige ergrei- fende Zeilen zusammengefaszligt wie sie dessen unsterblicher Urheber schilderte bdquoEr erzaumlhlte Tag fuumlr Tag in einzelnen Abschnitten das Gedicht vom Kanal Er erzaumlhlte von allem was er zu uumlberwinden hatte von allem Unmoumlg- lichen das er moumlglich gemacht hatte von allen Wider- staumlnden den Buumlndnissen gegen ihn den Bitterkeiten Un- faumlllen Schlappen die ihn aber nie entmutigen und lahmen konnten er dachte an England das ihn bekaumlmpfte ihn unablaumlssig angriff erinnerte an Aumlgypten und Frankreich die zoumlgerten an den franzoumlsischen Konsul der sich mehr als die andern den ersten Arbeiten widersetzte und wie man sich ihm entgegenstellte indem man die Arbeiter durch den Durst zu beeinflussen suchte und ihnen das Trinkwasser verweigerte dann sprach er vom Marine- ministerium und von den Ingenieuren von all den ernsten erfahrenen Kennern ihrer Wissenschaft die naturgemaumlszlig alle feindlich gesinnt und theoretisch von dem Fehlschlag uumlberzeugt waren den sie berechneten und in Aussicht stell- ten wie man eine Sonnenfinsternis fuumlr einen bestimmten Tag oder eine bestimmte Stunde voraussagtldquo Das Buch in dem das Leben all dieser groszligen Fuumlhrer zu schildern waumlre wuumlrde nicht viele Namen enthalten aber diese Na- men standen an der Spitze der wichtigsten Ereignisse der Kultur und Geschichte

DIE FUumlHRER DER MASSEN 87

sect 2 Die Wirkungsmittel der Fuumlhrer Behauptung Wiederholung Uumlbertragung

Wenn es sich darum handelt eine Masse fuumlr den Augen- blick mitzureiszligen und sie zu bestimmen irgend etwas zu tun etwa einen Palast zu pluumlndern sich bei der Verteidi- gung eines befestigten Platzes oder einer Barrikade toumlten zu lassen so muszlig man durch raschen Einfluszlig auf sie wir- ken Der erfolgreichste ist das Beispiel Doch ist dann not- wendig daszlig die Masse schon durch gewisse Umstaumlnde vorbereitet ist und besonders daszlig der der sie mitreiszligen will die Eigenschaft besitzt die ich spaumlter als Einf luszlig untersuchen werdeHandelt es sich jedoch darum der Massenseele Ideen und Glaubenssaumltze langsam einzufloumlszligen z B die modernen so- zialen Lehren so wenden die Fuumlhrer verschiedene Verfah- ren an Sie benutzen hauptsaumlchlich drei bestimmte Arten die Behauptung die Wiederholung und die Uumlbertragung oder Ansteckung (contagion) Ihre Wirkung ist ziemlich langsam aber ihre Erfolge sind von DauerDie reine einfache Behauptung ohne Begruumlndung und jeden Beweis ist ein sichres Mittel um der Massenseele eine Idee einzufloumlszligen Je bestimmter eine Behauptung je freier sie von Beweisen und Belegen ist desto mehr Ehrfurcht erweckt sie Die religioumlsen Schriften und die Gesetzbuumlcher aller Zeiten haben sich stets einfacher Behauptungen be- dient Die Staatsmaumlnner die zur Durchfuumlhrung einer poli- tischen Angelegenheit berufen sind die Industriellen die ihre Erzeugnisse durch Anzeigen verbreiten kennen den Wert der BehauptungDie Behauptung hat aber nur dann wirklichen Einf luszlig wenn sie staumlndig wiederholt wird und zwar moumlglichst mit denselben Ausdruumlcken Napoleon sagte es gaumlbe nur eine einzige ernsthafte Redefigur die Wiederholung Das Wie- derholte befestigt sich so sehr in den Koumlpfen daszlig es schlieszliglich als eine bewiesene Wahrheit angenommen wirdMan versteht den Einfluszlig der Wiederholung auf die Mas-

sen gut wenn man sieht welche Macht sie uumlber die auf- geklaumlrtesten Koumlpfe hat Das Wiederholte setzt sich schlieszlig- lich in den tiefen Bereichen des Unbewuszligten fest in denen die Ursachen unserer Handlungen verarbeitet werden Nach einiger Zeit wenn wir vergessen haben wer der Urheber der wiederholten Behauptung ist glauben wir schlieszliglich daran Daher die erstaunliche Wirkung der An- zeige Haben wir hundertmal gelesen die beste Schokolade sei die Schokolade X so bilden wir uns ein wir haumltten es haumlufig gehoumlrt und glauben schlieszliglich es sei wirklich so Tausend schriftliche Zeugnisse uumlberreden uns so sehr zu glauben das Y-Pulver habe die bedeutendsten Persoumlnlich- keiten von den hartnaumlckigsten Krankheiten geheilt daszlig wir uns am Ende wenn wir selbst an einem derartigen Uumlbel erkranken versucht fuumlhlen es zu probieren Lesen wir taumlglich in derselben Zeitung A sei ein ausgemachter Schuft und B ein Ehrenmann so werden wir schlieszliglich davon uumlberzeugt vorausgesetzt allerdings daszlig wir nicht zu oft in einem andern Blatt die entgegengesetzte Meinung lesen die die Eigenschaften der beiden miteinander ver- tauscht Behauptung und Wiederholung allein sind maumlchtig genug um einander bekaumlmpfen zu koumlnnenWenn eine Behauptung oft genug und einstimmig wieder- holt wurde wie das bei gewissen Finanzunternehmungen der Fall ist die jede Konkurrenz aufkaufen so bildet sich das was man eine geistige Stroumlmung (courant drsquoopinion) nennt und der maumlchtige Mechanismus der Ansteckung kommt dazu Unter den Massen uumlbertragen sich Ideen Gefuumlhle Erregungen Glaubenslehren mit ebenso starker Ansteckungskraft wie Mikroben Diese Erscheinung beob- achtet man auch bei Tieren wenn sie in Scharen zusammen sind Das Krippenbeiszligen eines Pferdes im Stall wird bald von den andern Pferden desselben Stalles nachgeahmt Ein Schreck die wirre Bewegung einiger Schafe greift bald auf die ganze Herde uumlber Die Uumlbertragung der Gefuumlhle er- klaumlrt die ploumltzlichen Paniken Gehirnstoumlrungen wie der Wahnsinn verbreiten sich gleichfalls durch Uumlbertragung

BEHAUPTUNG WIEDERHOLUNG UumlBERTRAGUNG 89

Es ist bekannt wie haumlufig der Irrsinn bei Psychiatern auf- tritt Man berichtet sogar von Geisteskrankheiten z B der Platzangst die vom Menschen auf Tiere uumlbertragen werdenDie Uumlbertragung erfordert nicht die gleichzeitige Anwesen- heit der Individuen an demselben Ort sie kann auch aus der Entfernung unter dem Eindruck gewisser Ereignisse erfolgen die alle Geister in dieselbe Richtung lenken und ihnen die besonderen Merkmale der Masse verleihen be- sonders wenn sie durch die fruumlher erwaumlhnten mittelbaren Faktoren vorbereitet sind So hat z B der Revolutions- ausbruch von 848 der von Paris ausging in jaumlher Weise auf einen groszligen Teil Europas uumlbergegriffen und mehrere Monarchien erschuumlttert Die Nachahmung der man so groszligen Einf luszlig auf die sozialen Erscheinungen zugeschrieben hat ist in Wahrheit nur eine einfache Wirkung der Uumlbertragung Da ich ihre Rolle an anderer Steile bereits beschrieben habe so be- schraumlnke ich mich auf die Wiederholung dessen was ich vor vielen Jahren daruumlber sagte und was seitdem von andern Autoren ausgefuumlhrt wurde

bdquoWie die Tiere ist der Mensch von Natur ein nachahmen- des Wesen Nachahmung ist ihm Beduumlrfnis doch wohlge- merkt nur unter der Bedingung daszlig sie leicht ist aus diesem Beduumlrfnis wird die Macht der Mode geboren Mag es sich nun um Meinungen Ideen literarische Aumluszligerungen oder einfach um die Kleidung handeln wie viele wagen es sich ihrer Herrschaft zu entziehen Nicht mit Beweis- gruumlnden sondern durch Vorbilder leitet man die Massen Jedem Zeitalter druumlckt eine kleine Anzahl von einzelnen ihr Siegel auf das die Masse unbewuszligt nachahmt Aber diese einzelnen duumlrfen sich nicht allzu weit von den uumlber- kommenen Ideen entfernen Die Nachahmung wuumlrde dann zu schwierig und ihr Einfluszlig waumlre gleich Null Deshalb

Siehe meine letzten Arbeiten bdquoPolitische Psychologieldquo bdquoMeinungen und An- schauungenldquo bdquoDie Franzoumlsische Revolution und die Psychologie der Revo- lunonenldquo

90 DIE FUumlHRER UND IHRE UumlBERZEUGUNGSMITTEL

haben die Menschen die ihrer Zeit zu sehr uumlberlegen sind keinerlei Einf luszlig Der Abstand ist zu groszlig Aus dem- selben Grunde haben die Europaumler trotz aller Vorzuumlge ihrer Kultur einen so unbedeutenden Einf luszlig auf die Voumllker des OrientsldquobdquoDie vereinigte Wirkung von Vergangenheit und gegen- seitiger Nachahmung macht alle Menschen desselben Landes und desselben Zeitalters schlieszliglich so aumlhnlich daszlig selbst bei denen deren besondere Pflicht es doch waumlre sich ihr zu entziehen bei Philosophen Gelehrten Schriftstellern Gedanken und Stil eine Familienaumlhnlichkeit zeigen die sofort die Zeit der sie angehoumlren erkennen laumlszligt Eine kurze Unterhaltung mit irgendeinem Menschen genuumlgt um seinen Lesestoff seine regelmaumlszligige Beschaumlftigung und die Umgebung in der er lebt von Grund auf erkennen zu lassen ldquoDie Ansteckung ist stark genug den Menschen nicht nur gewisse Meinungen sondern auch bestimmte Arten des Fuumlhlens aufzuzwingen Sie bewirkt die Miszligachtung von Werken wie z B der Oper bdquoTannhaumluserldquo und macht einige Jahre spaumlter aus ihren aumlrgsten Verleumdern Be- wundererUumlberzeugung und Glaube der Massen verbreiten sich nur durch den Vorgang der Uumlbertragung niemals mit Hilfe von Vernunftgruumlnden Im Wirtshause befestigen sich durch Behauptung Wiederholung und Uumlbertragung die heutigen Begriffe der Arbeiter und der Glaube der Masse ist zu allen Zeiten ebenso geschaffen worden Treffend vergleicht Renan die Begruumlnder des Christentums mit den bdquosozialisti- schen Arbeitern die ihre Ideen von Wirtshaus zu Wirts- haus verbreitenldquo Und schon Voltaire hat in bezug auf die christliche Religion festgestellt bdquomehr als hundert Jahre habe ihr nur der gemeinste Poumlbel angehangenldquoIn Beispielen analog den angefuumlhrten geht die Uumlber- tragung wenn sie sich in den Volksschichten ausgewirkt hat in die houmlheren Gesellschaftsschichten uumlber Heutzutage Gustave le Bon Der Mensch und die Gesellschaften 88 Bd 2 S 6

BEHAUPTUNG WIEDERHOLUNG UumlBERTRAGUNG 91

sehen wir daszlig die sozialistischen Lehren anfangen auch die zu ergreifen die vermutlich ihre ersten Opfer sein werden Vor der mechanischen Ansteckung tritt sogar der persoumlnliche Vorteil zuruumlckDaher zwingt sich jede volkstuumlmlich gewordene Anschau- ung schlieszliglich immer auch den houmlchsten sozialen Schichten auf so offensichtlich auch die Unsinnigkeit der siegreichen Anschauung sein mag Diese Wirkung der unteren sozialen Schichten auf die Oberklassen ist um so merkwuumlrdiger als die Glaubensanschauungen der Masse mehr oder weniger immer von einer houmlheren Idee herruumlhren die in der Um- gebung in der sie geboren wurde haumlufig ohne Wirkung blieb Die Fuumlhrer die von dieser houmlheren Idee ergriffen wurden bemaumlchtigen sich ihrer entstellen sie und gruumlnden eine Sekte die sie aufs neue entstellt und so entstellt unter den Massen verbreitet Ist sie einmal eine volkstuumlmliche Wahrheit geworden so geht sie auf irgendeine Weise zu ihrer Quelle zuruumlck und wirkt dann auf die Oberklassen eines Volkes Wohl fuumlhrt letzten Endes die Intelligenz die Welt aber sie fuumlhrt sie wahrlich von weitem Die Schoumlpfer der Ideen sind laumlngst wieder zu Staub geworden wenn als Ergebnis der Vorgaumlnge die ich beschrieben habe ihr Gedanke schlieszliglich triumphiert

sect 3 Der Nimbus (Le prestige)

Eine groszlige Macht verleiht den Ideen die durch Behaup- tung Wiederholung und Uumlbertragung verbreitet wurden zuletzt jene geheimnisvolle Gewalt die Nimbus heiszligtAlles was in der Welt geherrscht hat Ideen oder Men- schen hat sich hauptsaumlchlich durch die unwiderstehliche Kraft die sich Nimbus nennt durchgesetzt Wohl erfassen wir alle die Bedeutung des Ausdrucks Nimbus (prestige) aber man wendet ihn in so mannigfacher Weise an daszlig er nicht ganz leicht zu umschreiben waumlre Der Nimbus ver- traumlgt sich mit gewissen Gefuumlhlen wie Bewunderung oder Furcht er beruht sogar auf ihnen kann aber sehr wohl

92 DIE FUumlHRER UND IHRE UumlBERZEUGUNGSMITTEL

ohne sie bestehen Am meisten Nimbus haben die Totenalso Wesen die wir nicht fuumlrchten wie Alexander Caumlsar Mohammed Buddha Andrerseits erscheinen Wesen oder Gebilde die wir nicht bewundern z B die scheuszliglichen Gottheiten der unterirdischen Tempel Indiens mit starkem Nimbus bekleidetDer Nimbus ist in Wahrheit eine Art Zauber den eine Persoumlnlichkeit ein Werk oder eine Idee auf uns ausuumlbt Diese Bezauberung lahmt alle unsre kritischen Faumlhigkeiten und erfuumlllt unsre Seelen mit Staunen und Ehrfurcht Die Gefuumlhle die so hervorgerufen werden sind unerklaumlrlich wie alle Gefuumlhle aber wahrscheinlich von derselben Art wie die Suggestion der ein Hypnotisierter unterliegt Der Nimbus ist der maumlchtige Quell aller Herrschaft Goumltter Koumlnige und Frauen haumltten ohne ihn niemals herrschen koumlnnenMan kann die verschiedenen Arten des Nimbus auf zwei Grundformen zuruumlckfuumlhren auf den erworbenen und den persoumlnlichen Nimbus Als erworbenen Nimbus bezeichnet man den durch Namen Reichtum und Ansehen entstan- denen Nimbus Er kann vom persoumlnlichen Nimbus unab- haumlngig sein Der persoumlnliche Nimbus ist dagegen etwas Individuelles und kann mit Ansehen Ruhm und Reichtum zusammen bestehen oder durch sie verstaumlrkt werden aber auch sehr wohl unabhaumlngig davon vorhanden seinDer e r w o r b e n e oder kuumlnstliche Nimbus ist am wei- testen verbreitet Die bloszlige Tatsache daszlig jemand eine ge- wisse Stellung einnimmt ein gewisses Vermoumlgen besitzt gewisse Titel hat bildet einen Glorienschein des Einflusses so gering auch sein persoumlnlicher Wert sein mag Ein Soldat in Uniform ein Beamter in der roten Robe haben immer einen Nimbus Pascal hat die Notwendigkeit von Talar und Peruumlcke fuumlr die Richter treffend erklaumlrt ohne sie wuumlrden sie einen groszligen Teil ihrer Macht einbuumlszligen Der grimmigste Sozialist wird durch den Anblick eines Fuumlrsten oder Grafen bewegt und um einen Kaufmann nach Be-

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lieben zu beschwindeln genuumlgt es einen solchen Titel an- zunehmen Der Nimbus von dem ich eben sprach geht von Personen aus man kann ihm den Nimbus zur Seite stellen den Anschauungen Werke der Literatur oder Kunst usw aus- uumlben Er beruht nur auf angehaumlufter Wiederholung Da die Geschichte die Literatur- und Kunstgeschichte nur die Wiederholung derselben Urteile ist die niemand nachzu- pruumlfen versucht so wiederholt schlieszliglich jeder das was er in der Schule gelernt hat Es gibt gewisse Namen und Dinge an die niemand zu ruumlhren wagt In einem mo- dernen Leser erzeugen die Homerischen Epen unstreitig eine unermeszligliche Langeweile aber wer wagt es das zu sagen Das Parthenon ist in seinem gegenwaumlrtigen Zu- stande eine ziemlich uninteressante Ruine aber es hat solchen Nimbus daszlig man es nur noch mit seinem ganzen Anhang historischer Erinnerungen betrachten kann Es ist die Eigentuumlmlichkeit des Nimbus daszlig er verhindert die Dinge so zu sehen wie sie sind und daszlig er alle unsre Urteile lahmt Die Massen verlangen stets die einzelnen meist nach fertigen Anschauungen Der Erfolg dieser An- schauungen ist unabhaumlngig von der Wahrheit oder dem Irrtum den sie enthalten er beruht einzig und allein auf ihrem Nimbus

Man findet diesen Einfluszlig der Titel Ordensbaumlnder und Uniformen auf die Massen in allen Laumlndern selbst dort wo das Gefuumlhl persoumlnlicher Unab- haumlngigkeit zur staumlrksten Entfaltung kam Um das zu beleuchten fuumlhre ich hier eine interessante Stelle aus dem neuen Buch eines Reisenden an die von dem Einfluszlig gewisser Persoumlnlichkeiten in England handelt bdquoBei verschiedenen Begegnungen konnte ich mich von dem Rausch uumlberzeugen in den die Be- ruumlhrung mit einem Peer von England oder sein Anblick die vernuumlnftigsten Englaumlnder versetztldquo

bdquoVorausgesetzt daszlig sein Aufwind seinem Range entspricht lieben sie ihn von vornherein und ertragen in seiner Gegenwart alles von ihm mit Entzuumlk- ken Man sieht sie vor Vergnuumlgen erroumlten wenn er sich ihnen naumlhert und wenn er mit ihnen spricht so erhoumlht die Freude die sie daruumlber empfinden diese Roumlte und verleiht ihren Augen einen ungewoumlhnlichen Glanz Sie haben den Lord im Blute koumlnnte man sagen wie der Spanier den Tanz der Deutsche die Musik und der Franzose die Revolution Ihre Leidenschaft fuumlr Pferde und fuumlr Shakespeare ist weniger heftig die Befriedigung und der Stolz darauf weniger tief Das Peersbuch hat groszligen Absatz und man findet es wie die Bibel in allen Haumlndenldquo

94 DIE FUumlHRER UND IHRE UumlBERZEUGUNGSMITTEL

Ich komme nun zum p er s oumln l ic hen Nimbus Er ist von ganz andrer Beschaffenheit als der kuumlnstliche oder erwor- bene Er ist unabhaumlngig von allen Titeln allem Ansehen Die wenigen Menschen die ihn besitzen uumlben einen wahr- haft magnetischen Zauber auf ihre Umgebung aus auch auf sozial Gleichgestellte und man gehorcht ihnen wie die wilde Bestie dem Baumlndiger gehorcht den sie so leicht verschlingen koumlnnteDie groszligen Fuumlhrer der Massen wie Buddha Jesus Mo- hammed Jeanne drsquoArc Napoleon besaszligen diese Art des Einflusses in hohem Maszlige und haben sich besonders durch ihn Geltung verschafft Goumltter Helden und Glaubens- lehren setzen sie durch ohne Eroumlrterung zu dulden sobald sie darauf eingehen untergraben sie sich selbstDie groszligen Persoumlnlichkeiten die ich anfuumlhrte besaszligen ihre bezaubernde Macht schon ehe sie beruumlhmt waren und waumlren ohne sie nicht beruumlhmt geworden Es ist z B klar daszlig Napoleon auf dem Gipfel seines Ruhms allein durch seine Macht einen ungeheuren Einfluszlig hatte aber er besaszlig ihn zum Teil schon in der Anfangszeit seiner Laufbahn als er noch keine Macht hatte und voumlllig unbekannt war Als er noch ein unbekannter General durch Fuumlrsprache zum Befehlshaber des italienischen Heeres ernannt worden war trat er unter rauhe Generale die dem jungen vom Direktorium ihnen aufgezwungenen Eindringling einen ab- schreckenden Empfang bereiten wollten Aber von der ersten Minute vom ersten Zusammentreffen an ohne Re- densarten Gesten Drohungen beim ersten Anblick des kuumlnftigen groszligen Mannes waren sie zahm Taine gibt uns nach zeitgenoumlssischen Erinnerungen einen interessanten Be- richt uumlber diese Zusammenkunft

bdquoDie Divisionsgeneraumlle unter anderen Augereau ein tap- ferer grober Haudegen der stolz war auf seine groszlige Figur und seine Tapferkeit kommen voreingenommen gegen den kleinen Emporkoumlmmling den man ihnen aus Paris sendet ins Hauptlager Durch die Beschreibung die man ihnen von ihm gegeben hat ist Augereau in feind-

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seliger Stimmung von vornherein widerspenstig ein Guumlnst- ling von Barras ein General des Vendeacutemiaire ein Straszligen- general den man fuumlr einen eingesponnenen Brummbaumlren haumllt weil er immer nur nachdenkt er soll ein kleines Gesicht haben und steht in dem Ruf ein Mathematiker und Traumlumer zu sein Sie werden empfangen und Bona- parte laumlszligt auf sich warten Endlich erscheint er den Degen umgeschnallt bedeckt sich setzt seine Plaumlne auseinander gibt Ihnen seine Befehle und verabschiedet sie Augereau ist stumm geblieben erst drauszligen faszligt er sich und findet seine gewoumlhnlichen Fluumlche wieder er und Massena sind sich daruumlber einig dieser kleine Teufelskerl von General hat ihm Furcht eingefloumlszligt er kann sich den Einfluszlig nicht erklaumlren von dem er sich durch den ersten Blick uumlberwaumlltigt fuumlhlteldquoAls Napoleon ein groszliger Mann geworden war wuchs sein Einfluszlig mit seinem Ruhm und glich dem Einfluszlig den eine Gottheit auf ihre Anbeter hat General Vandamme ein revolutionaumlrer Haudegen noch brutaler und energischer als Augereau sagte eines Tages 85 als sie zusammen die Tuilerientreppe hinaufstiegen zu Marschall drsquoOrnanobdquoMein Lieber dieser Teufelskerl uumlbt auf mich einen Zau- ber aus den ich nicht begreife Das geht so weit daszlig ich der weder Gott noch Teufel fuumlrchtet in seiner Naumlhe fast wie ein Kind zu zittern beginne und er koumlnnte mich dazu bringen durch ein Nadeloumlhr ins Feuer zu gehenldquoDen gleichen Zauber uumlbte Napoleon auf alle aus die sich ihm naumlherten Der Kaiser kannte seine Wirkung wohl und wuszligte sie noch zu vermehren indem er die groszligen Persoumlnlichkeiten seiner Umgebung zu denen mehrere jener beruumlhmten Konventsmitglieder gehoumlrten die Europa so sehr gefuumlrchtet hatte etwas schlechter als Stallknechte behandelte Die zeitgenoumlssischen Be- richte sind voll von derartigen bezeichnenden Tatsachen Eines Tages fuhr Napoleon im versammelten Staatsrat Beugnot den er wie einen ungeschickten Diener behandelte grob an bdquoNun Sie groszliger Dummkopf haben Sie Ihren Kopf wiedergefundenldquo Darauf verbeugte sich Beugnot der wie ein Regiments- tambour gewachsen war sehr tief und der kleine Mann hebt die Hand und nimmt den groszligen beim Ohr wie Beugnoc schreibt bdquoein Zeichen berauschender Gunst eine vertrauliche Gebaumlrde des leutselig redenden Herrnldquo Solche Bei- spiele geben einen klaren Begriff von dem Grad der Plattheit den Nimbus hervorrufen kann sie machen die ungeheure Verachtung des groszligen Despoten fuumlr die Menschen seiner Umgebung begreiflich

96 DIE FUumlHRER UND IHRE UumlBERZEUGUNGSMITTEL

Davoust sagte als er von Marets und seiner Ergebenheit sprach bdquoWenn der Kaiser uns beiden sagte Die Inter- essen meiner Politik erfordern die Zerstoumlrung von Paris ohne daszlig es jemand erfaumlhrt und die Stadt verlaumlszligt so wuumlrde Maumlret dessen bin ich sicher das Geheimnis wahren er wuumlrde sich aber nicht enthalten koumlnnen es so weit zu verletzen daszlig er seine Familie veranlaszligte die Stadt zu verlassen Ich aber wuumlrde aus Furcht etwas zu verraten mein Weib und meine Kinder darin lassenldquoAn diese erstaunliche Macht der Bezauberung muszlig man denken will man die wunderbare Ruumlckkehr von der Insel Elba begreifen die schnelle Eroberung Frankreichs durch einen alleinstehenden Mann der gegen alle organisierten Kraumlfte eines groszligen Landes zu kaumlmpfen hatte von dem man annehmen muszligte daszlig es seiner Tyrannei muumlde war Er brauchte die ausgesandten Generale die geschworen hatten ihn gefangenzunehmen nur anzublicken Alle unterwarfen sich ihm ohne Widerstand

bdquoNapoleon landet fast allein und als Fluumlchtling der kleinen Insel Elba die sein Koumlnigreich war in Frankreichldquo schreibt General Wolseley bdquound bringt es zuwege in weni- gen Wochen ohne Blutvergieszligen die gesamte Machtorgani- sation Frankreichs unter seinem legitimen Koumlnig umzu- stoszligen hat die persoumlnliche Macht eines Menschen sich je bewunderungswuumlrdiger bekundet Wie erstaunlich ist aber die Macht die er von Anfang bis Ende dieses Feldzuges seines letzten auch uumlber die Verbuumlndeten ausuumlbte indem er sie zwang seine Entschluumlsse anzunehmen und es fehlte nicht viel so haumltte er sie zerschmettertldquoSein Nimbus uumlberlebte ihn und wuchs weiter Er machte seinen unbekannten Neffen zum Kaiser Angesichts der heutigen Erneuerung seiner Legende sieht man wie maumlchtig dieser groszlige Schatten noch ist Miszlighandelt die Menschen schlachtet sie zu Millionen ab fuumlhrt einen feindlichen Ein- bruch nach dem andern herbei alles ist euch gestattet wenn ihr genuumlgend Nimbus besitzt und das Talent ihn aufrechtzuerhalten

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Gewiszlig habe ich hier ein ganz besonderes Ausnahmebeispielherangezogen aber es war geeignet die Entwicklung der groszligen Religionen Lehren und Reiche verstaumlndlich zu machen Ohne die Macht welche der Nimbus auf die Masse ausuumlbt wuumlrde diese Entwicklung unbegreiflich seinAber der Nimbus gruumlndet sich nicht allein auf das per- soumlnliche Ansehen den militaumlrischen Ruhm und die reli- gioumlse Angst er kann auch einen unbedeutenderen Ursprung haben und doch noch betraumlchtlich sein Das neunzehnte Jahrhundert bietet uns mehrere Beispiels dafuumlr Das eine woran die Nachwelt von Zeit zu Zeit erinnert wird ist in der Geschichte des beruumlhmten Mannes gegeben der das Antlitz der Erde und die Handelsbeziehungen der Voumllker aumlnderte indem er zwei Erdteile voneinander trennte Sein Unternehmen gelang ihm durch seinen ungeheuren Willen aber auch durch den Zauber den er auf seine ganze Um- gebung ausuumlbte Um die einstimmige Gegnerschaft die er vorfand zu besiegen brauchte er sich nur zu zeigen einen Augenblick zu sprechen und die Gegner wurden durch den Zauber der von ihm ausging seine Freunde Die Eng- laumlnder bekaumlmpften sein Vorhaben besonders wuumltend er brauchte nur in England zu erscheinen um alle Stimmen fuumlr sich zu gewinnen Als er spaumlter durch Southampton kam laumluteten die Glocken waumlhrend seiner Durchreise Als er alles besiegt hatte Menschen und Dinge glaubte er nicht mehr an Hindernisse und wollte in Panama mit denselben Mitteln Suez wiederholen Aber der Glaube der Berge versetzt versetzt sie nur wenn sie nicht zu hoch sind Die Berge widerstanden und die daraus folgende Katastrophe zerstoumlrte die leuchtende Ruhmesglorie die den Helden um- gab Sein Leben lehrt wie der Einfluszlig wachsen und ver- gehen kann Nachdem er den groumlszligten Helden der Ge- schichte gleichgekommen wurde er von der Obrigkeit sei- nes Landes zum gemeinen Verbrecher gestempelt Nach seinem Tode wurde sein Sarg einsam durch gleichguumlltige

98 DIE FUumlHRER UND IHRE UumlBERZEUGUNGSMITTEL

Massen getragen Nur die Herrscher des Auslandes lieszligen seinem Andenken Ehre widerfahren Jedoch die verschiedenen Beispiele die angefuumlhrt wurden stellen nur Grenzfaumllle dar Zur genauen Begruumlndung der Psychologie des Nimbus muumlszligten sie an das Ende einer Reihe gestellt werden die von den Begruumlndern der Reli- gionen und Staaten bis zum Kleinbuumlrger reicht der durch einen neuen Anzug oder eine Auszeichnung auf seine Nachbarn Eindruck zu machen suchtZwischen den aumluszligersten Gliedern dieser Reihe liegen alle Arten des Nimbus auf den verschiedenen Kulturgebieten der Wissenschaft der Kuumlnste der Literatur usw und es zeigt sich daszlig er den Grundstoff der Uumlberzeugung bildet Das Wesen die Idee oder die Sache von denen der Nimbus ausgeht werden infolge ihrer ansteckenden

Ein auslaumlndisches Blatt die Wiener bdquoNeue Freie Presseldquo hat gelegentlich des Schicksals von Lesseps sehr scharfsinnige psychologische Bemerkungen ge- macht die daher hier mitgeteilt seien

bdquoNach der Verurteilung Ferdinands von Lesseps hat man kein Recht mehr sich uumlber das traurige Ende von Christoph Columbus zu wundern Ist Lesseps ein Gauner dann ist jede edle Taumluschung ein Verbrechen Das Altertum haumltte das Andenken von Lesseps mit einer Ruhmesglorie bekraumlnzt und ihn im Olymp den Nektarbecher leeren lassen denn er hat das Antlitz der Erde veraumlndert und Werke ausgefuumlhrt die die Schoumlpfung vervollkommnen Durch die Ver- urteilung von Lesseps hat sich der Praumlsident des Appellationsgerichtes un- sterblich gemacht denn stets werden die Voumllker den Namen des Mannes ver- langen der nicht fuumlrchtete sein Jahrhundert dadurch zu erniedrigen einen Greis mit Straumlflingsjacke zu bekleiden dessen Leben der Ruhm seiner Zeit- genossen warldquo bdquoMan rede uns hinfort nicht von unbeugsamer Gerechtigkeit dort wo buumlrokratischer Haszlig gegen alle kuumlhnen groszligen Unternehmungen herrscht Die Voumllker beduumlrfen der wagemutigen Maumlnner die an sich selbst glauben und ohne Ruumlcksicht auf ihr eigenes Ich alle Hindernisse bewaumlltigen Das Genie kann nicht vorsichtig sein mit Vorsicht konnte es den Kreis menschlicher Betaumltigung nie erweitern

hellip Ferdinand von Lesseps hat den Rausch des Triumphs und die Bitterkeit der Enttaumluschungen gekannt Suez und Panama Hier empoumlrt sich das Gemuumlt gegen die Moral des Erfolges Als es Lesseps gelang zwei Meere zu ver- binden da erwiesen ihm Fuumlrsten und Voumllker Ehre heute da er an den Felsen der Cordilleren Schiffbruch leidet ist er ein gemeiner Gauner Es ist der Krieg der Gesellschaftsklassen die Unzufriedenheit der Buumlrokraten und Be- amten die sich mittels des Strafgesetzes an denen raumlchen die sich uumlber die andern erheben moumlchten Die modernen Gesetzgeber sind in Verlegenheit an- gesichts dieser gewaltigen Ideen des Menschengeistes das Publikum versteht davon noch weniger und es faumlllt einem Staatsanwalt leicht zu beweisen daszlig Stanley ein Meuchelmoumlrder und Lesseps ein Betruumlger seildquo

99DER NIMBUS

Wirkung sofort nachgeahmt und bestimmen fuumlr ein ganzes Menschenalter die Art des Fuumlhlens und die Form des Gedankenausdrucks Uumlberdies geschieht die Nachahmung meistens unbewuszligt und das macht sie vollkommen Die modernen Maler welche die verwischten Farben und die starre Haltung gewisser Primitiver erneuern haben keine Ahnung von der Quelle ihrer Begeisterung sie glauben so sehr an ihre Urspruumlnglichkeit daszlig man an ihnen auch weiterhin nur die naiven und unfertigen Seiten bemerkt haben wuumlrde wenn nicht ein hervorragender Meister diese Kunstform wiedererweckt haumltte Die welche nach dem Muster eines beruumlhmten Neuerers ihre Leinwand mit vio- letten Schatten bedecken sehen in der Natur nicht mehr Violett als man vor fuumlnfzig Jahren sah aber sie unter- liegen dem besonderen persoumlnlichen Eindruck eines Malers der einen groszligen Nimbus zu erlangen wuszligte Aus allen Gebieten der Kunst lassen sich leicht derartige Beispiele anfuumlhrenMan ersieht aus dem Vorhergehenden daszlig an der Ent- stehung des Nimbus zahlreiche Faktoren beteiligt sein koumln- nen Einer der bedeutendsten war stets der Erfolg Jeder Mensch der Erfolg hat jede Idee die sich durchsetzt wird damit schon anerkanntDer Nimbus verschwindet immer im Augenblick des Miszlig- erfolges Der Held dem die Masse gestern zujubelte wird morgen von ihr angespien wenn das Schicksal ihn schlug Je groumlszliger der Nimbus um so heftiger der Ruumlckschlag Die Masse betrachtet dann den gefallenen Helden als ihres- gleichen und raumlcht sich dafuumlr daszlig sie sich einer Uumlberlegen- heit gebeugt hat die sie nicht mehr anerkennt Als Robespierre seinen Kollegen und einer ganzen Anzahl sei- ner Zeitgenossen den Hals abschneiden lieszlig besaszlig er einen ungeheuren Nimbus Die Verschiebung weniger Stimmen be- raubte ihn augenblicklich dieses Nimbus und die Masse folgte ihm mit ebenso vielen Verwuumlnschungen zur Guillotine wie am Tage zuvor seinen Opfern Die Glaumlubigen zertruumlmmerten stets voll Wut die Bildwerke ihrer fruumlheren Goumltter

100 DIE FUumlHRER UND IHRE UumlBERZEUGUNGSMITTEL

Durch Miszligerfolg aufgehoben ist der Nimbus schnell ver- loren Er kann sich auch abnutzen indem man ihn dis- kutiert das geht langsamer aber sicher Der diskutierte Nimbus ist kein Nimbus mehr Die Goumltter und Menschen die ihren Nimbus lange zu bewahren wuszligten haben Er- oumlrterungen nie geduldet Wer von den Massen bewundert sein will muszlig sie stets in Abstand halten

4 KAPITEL

Grenzen der Veraumlnderlichkeit der Grundanschauungen und Meinungen der Massen

sect Die unveraumlnderlichen Grundanschauungen (croyances fixes)

Es besteht ein enger Parallelismus zwischen den morpho- logischen und psychologischen Merkmalen der Lebewesen Unter den morphologischen Merkmalen finden wir gewisse unveraumlnderliche oder doch so wenig veraumlnderliche Ele- mente daszlig geologische Zeitalter noumltig sind um sie zu ver- aumlndern Neben diesen unveraumlnderlichen unreduzierbaren Elementen finden sich recht bewegliche die durch das Milieu die Kunst des Zuumlchters oder Gaumlrtners leicht so ge- wandelt werden koumlnnen daszlig sich dem oberf laumlchlichen Beobachter die Grundmerkmale verbergenDer gleichen Erscheinung begegnen wir in der sittlichen Welt Neben den unveraumlnderlichen seelischen Bestandteilen einer Rasse sind bewegliche und wechselnde Elemente vor- handen Darum finden wir bei der Untersuchung der An- schauungen und Meinungen eines Volkes stets einen festen Grund auf dem sich Anschauungen angesiedelt haben die ebenso fluumlchtig sind wie der Sand der die Felsen bedecktDie Grundanschauungen und Meinungen der Massen bilden also zwei scharfgetrennte Gruppen Zu der einen gehoumlren die staumlndigen Grundgedanken die mehrere Jahrhunderte

101GRENZEN DER VERAumlNDERLICHKEIT DER GRUNDANSCHAUUNGEN

uumlberdauern und auf denen eine ganze Kultur beruht So z B der feudale Gedanke die Ideen des Christentums und der Reformation und heutzutage die nationalen Grund- gedanken die demokratischen und sozialen Ideen Zur anderen gehoumlren die wechselnden Ansichten des Augen- blicks die meistens aus allgemeinen Gedanken abgeleitet werden und die jedes Zeitalter entstehen und vergehen sieht z B die Theorien die zu bestimmten Zeiten Kunst und Literatur beherrschen und die Romantik den Natura- lismus usw hervorbrachten So wandelbar wie die Mode wechseln sie wie die kleinen Wellen die auf der Ober- flaumlche eines Sees unaufhoumlrlich entstehen und vergehenDie Zahl der allgemeinen Grundanschauungen ist nicht groszlig Ihr Entstehen und Vergehen bilden die Houmlhepunkte in der Geschichte jeder historischen Rasse Sie bilden das eigentliche Geruumlst der KulturEine fluumlchtige Meinung haftet leicht in der Massenseele aber einen festen Glauben in ihr zu verankern ist sehr schwer ebenso schwer aber ist er wieder zu zerstoumlren wenn er sich einmal festgesetzt hat Man kann ihn wohl nur um den Preis gewaltsamer Revolutionen aumlndern und nur wenn der Glaube seine Herrschaft uumlber die Seelen fast ganz eingebuumlszligt hat Die Revolutionen helfen dann dabei die Grundanschauung endguumlltig abzuwerfen die man schon fast aufgegeben hatte deren gaumlnzliche Aufhebung aber durch die Macht der Gewohnheit verhindert wurde Be- ginnende Revolutionen sind in Wahrheit schwindende GrundanschauungenEine groszlige Grundanschauung wird an dem Tage zum Tode verurteilt an dem man anfaumlngt ihren Wert zu be- streiten Da jede allgemeine Grundanschauung nur eine Einbildung ist so kann sie nur bestehen solange sie der Pruumlfung entgehtAber selbst wenn eine Grundanschauung stark erschuumlttert ist bewahren die Einrichtungen die von ihr abgeleitet sind ihre Macht und erloumlschen nur langsam Hat sie schlieszliglich ihre Macht voumlllig eingebuumlszligt dann bricht alles

102 GRENZEN DER VERAumlNDERLICHKEIT DER GRUNDANSCHAUUNGEN

zusammen was von ihr getragen wurde Es war noch keinem Volk vergoumlnnt seine Grundanschauungen zu aumln- dern ohne gleichzeitig dazu verurteilt zu sein alle Be- standteile seiner Kultur umzuwandelnEs wandelt sie so lange um bis es eine neue allgemeine Grundanschauung angenommen hat und lebt bis dahin notgedrungen in Anarchie Die allgemeinen Grundanschau- ungen sind die notwendigen Stuumltzen der Kulturen Sie geben den Ideen ihre Richtung und sie allein erwecken das Gewissen und erschaffen das PflichtgefuumlhlDie Voumllker haben es stets als nuumltzlich empfunden sich allgemeine Glaubensanschauungen zu bilden und instinktiv erfaszligt daszlig ihr Schwinden die Stunde des Niedergangs anzeigen wuumlrde Der fanatische Kultus Roms war fuumlr die Roumlmer der Glaube der sie zu Herren der Welt machte Dieser Glaube starb und Rom ging zugrunde Erst als die Barbaren die Zerstoumlrer der roumlmischen Kultur einige einheitliche Glaubensanschauungen gewonnen hatten er- reichten sie einen gewissen Zusammenhalt und konnten die Anarchie uumlberwindenMit gutem Grund waren also die Voumllker stets unduldsam bei der Verteidigung ihrer Uumlberzeugungen So tadelnswert diese Unduldsamkeit vom philosophischen Standpunkt ist im Leben der Voumllker ist sie als eine Tugend anzusehen Um den Grund zu allgemeinen Glaubensuumlberzeugungen zu legen oder sie aufrechtzuerhalten hat das Mittelalter viele Scheiterhaufen errichtet und so viele Erfinder und Neuerer die der Folter entgangen waren muszligten in Ver- zweiflung sterben Um solche Uumlberzeugungen zu vertei- digen ist die Welt immer wieder umgestuumlrzt worden sind Millionen Menschen auf den Schlachtfeldern gefallen und werden dort noch weiterhin fallenWir haben schon gesagt daszlig sich der Einfuumlhrung einer allgemeinen Grundanschauung groszlige Schwierigkeiten ent- gegenstellen wenn sie aber endguumlltig Fuszlig gefaszligt hat ist ihre Macht lange Zeit unuumlberwindlich und mag sie philo- sophisch noch so falsch sein so draumlngt sie sich doch den

DIE UNVERAumlNDERLICHEN GRUNDANSCHAUUNGEN 103

erleuchtetsten Geistern auf Haben nicht die Voumllker Euro- pas seit fuumlnfzehn Jahrhunderten religioumlse Legenden die bei naumlherer Betrachtung ebenso barbarisch sind wie der Moloch-Mythus als unbestreitbare Wahrheiten betrachtet Der entsetzliche Widersinn des Mythus von einem Gotte der sich fuumlr den Ungehorsam eines seiner Geschoumlpfe durch furchtbare Marter an seinem Sohne raumlcht ist viele Jahr- hunderte nicht bemerkt worden Die groumlszligten Geister wie Galilei Newton Leibniz haben auch nicht einen Augen- blick daruumlber nachgedacht daszlig die Wahrheit solcher Le- genden bezweifelt werden koumlnnte Nichts beweist schla- gender die Hypnose die durch allgemeine Grundanschau- ungen bewirkt wird aber nichts zeigt auch besser die beschaumlmenden Grenzen unseres GeistesSobald der Massenseele eine neue Lehre eingepflanzt wurde beeinfluszligt sie die Einrichtungen die Kuumlnste und die Sitten Ihre Herrschaft uumlber die Seelen ist dann unumschraumlnkt Die Maumlnner der Tat denken nur an ihre Verwirklichung die Gesetzgeber nur an ihre Anwendung Philosophen Kuumlnstler Schriftsteller beschaumlftigen sich nur damit sie in verschiedene Formen zu uumlbertragenDurch die allgemeinen Grundanschauungen haben sich die Menschen jedes Zeitalters mit einem Netz von Uumlberliefe- rungen Meinungen und Gewohnheiten umgeben aus des- sen Maschen sie nicht entwischen koumlnnen und durch die sie einander immer etwas aumlhnlich werden Der unabhaumlngigste Geist denkt nicht daran sich ihnen zu entziehen Die echteste Tyrannei beherrscht die Seelen u nbew u szligt denn sie allein ist nicht zu bekaumlmpfen Tiberius Dschingiskhan Napoleon waren zweifellos furchtbare Tyrannen aber Moses Buddha Jesus Mohammed Luther haben aus ihrem Grabe heraus eine nicht weniger tiefgehende Herr- schaft uumlber die Seelen ausgeuumlbt Ein Tyrann kann durch eine Verschwoumlrung gestuumlrzt werden was vermag sie aber

Barbarisch im philosophischen Sinne wohlverstanden In Wirklichkeit haben sie eine ganz neue Kultur gegruumlndet und Jahrhunderte lang den Menschen be- zaubernde Traum- und Hoffnungsparadiese sehen lassen wie er sie nie mehr kennen wird

GRENZEN DER VERAumlNDERLICHKEIT DER GRUNDANSCHAUUNGEN104

gegen einen wohlgefestigten Glauben In ihrem heftigen Kampf gegen den Katholizismus ist unsere groszlige Revo- lution trotz der scheinbaren Zustimmung der Massen und trotz der Zerstoumlrungsmittel die von ihr ebenso unerbittlich angewandt wurden wie von der Inquisition unterlegen Die einzigen wahren Tyrannen der Menschheit sind immer die Schatten der Toten gewesen oder die Einbildungen die sie sich selbst geschaffen hatIch wiederhole Der philosophische Unsinn gewisser allge- meiner Grundanschauungen war nie ein Hindernis fuumlr ihren Triumph Dieser Triumph scheint sogar nur dann moumlglich zu sein wenn sie irgendwelchen geheimnisvollen Unsinn enthalten Die offenbare geistige Armut der sozia- listischen Lehren der Gegenwart wird nicht verhindern daszlig sie sich der Massenseele einpflanzen Ihre wahre Un- zulaumlnglichkeit im Vergleich zu jedem religioumlsen Glauben besteht einzig darin Da das Gluumlcksideal das der Glaube in Aussicht stellte nur in einem zukuumlnftigen Leben ver- wirklicht werden sollte so konnte niemand diese Ver- wirklichung bestreiten da das sozialistische Gluumlcksideal sich auf Erden verwirklichen soll so wird die Nichtigkeit der Verheiszligungen sogleich bei den ersten Verwirklichungs- versuchen an den Tag treten und der neue Glaube wird jeden Einfluszlig verlieren Seine Macht wird also nur bis zum Tage seiner Verwirklichung wachsen Und deshalb wird die neue Religion wie alle fruumlheren zunaumlchst eine zerstoumlrende Taumltigkeit ausuumlben ohne wie sie spaumlter eine schoumlpferische Rolle uumlbernehmen zu koumlnnen

sect 2 Die veraumlnderlichen Meinungen (opinions mobiles) der Massen

Uumlber den festen Glaubensanschauungen deren Macht wir darlegten liegt eine Schicht von Meinungen Ideen Ge- danken die fortwaumlhrend entstehen und vergehen Manche sind sehr vergaumlnglich und die bedeutendsten uumlberdauern kaum das Leben einer Generation Wir haben bereits fest-

DIE VERAumlNDERLICHEN MEINUNGEN 105

gestellt daszlig die Veraumlnderungen dieser Meinungen zu- weilen mehr an ihrer Oberflaumlche als in ihrem Wesen vor- gehen und immer den Stempel der Rasseneigenschaften tragen Wenn wir beispielsweise die politischen Einrich- tungen unseres Landes betrachten sehen wir daszlig die scheinbar entgegengesetzten Parteien Monarchisten Radi- kale Imperialisten Sozialisten usw voumlllig uumlbereinstim- mende Ideale haben und daszlig diese Ideale sich einzig und allein auf die geistige Verfassung unserer Rasse beziehen denn unter den gleichen Namen finden sich bei andren Rassen ganz entgegengesetzte Ideale Weder durch die Namen der Anschauungen noch durch ihre taumluschenden Anpassungen wird der Kern der Dinge veraumlndert Die Buumlrger der Revolutionszeit die ganz erfuumlllt von der latei- nischen Literatur gebannt von der roumlmischen Republik ihre Gesetze Liktorenbuumlndel Togen uumlbernahmen wurden dadurch noch keine Roumlmer weil sie unter der Herrschaft einer maumlchtigen historischen Taumluschung standenEs ist die Aufgabe des Philosophen zu erforschen was sich unter den scheinbaren Veraumlnderungen von den alten Uumlberzeugungen erhaumllt und in der Flut der Meinungen diejenigen Bewegungen herauszufinden die durch die Grundanschauungen und die Rassenseele bestimmt werden Ohne diesen philosophischen Maszligstab koumlnnte man glau- ben die Massen aumlnderten ihre politischen und religioumlsen Uumlberzeugungen haumlufig und wirklich Die ganze Geschichte der Politik der Religion der Kunst und der Literatur scheint das in der Tat zu bezeugenNehmen wir z B einen kurzen Zeitabschnitt unserer eignen Geschichte etwa von 790 bis 820 also dreiszligig Jahre die Dauer eines Menschenalters Wir sehen innerhalb dieser Zeit wie die Massen die erst monarchistisch sind revo- lutionaumlr dann imperialistisch und schlieszliglich wieder mon- archistisch werden In der Religion wenden sie sich in der gleichen Zeit vom Katholizismus zum Atheismus dann zum Deismus und kehren zu den strengsten Formen des Katho- lizismus zuruumlck Und nicht allein die Massen auch die

106 GRENZEN DER VERAumlNDERLICHKEIT DER GRUNDANSCHAUUNGEN

Fuumlhrer sind denselben Veraumlnderungen unterworfen Man sieht die groszligen Konventsmitglieder die geschworenen Feinde der Koumlnige die von Gott und Teufel nichts wissen wollen ergebene Diener Napoleons werden und unter Ludwig XVIII bei den Prozessionen fromm ihre Kerzen tragenUnd welche Wandlungen dann in den Massenanschau- ungen der folgenden siebzig Jahre Das bdquoperfide Albionldquo vom Beginn dieses Jahrhunderts wird unter den Erben Napoleons Frankreichs Verbuumlndeter Ruszligland das zwei- mal mit uns im Kriege lag und sich uumlber unsere letzten Schicksalsschlaumlge so sehr gefreut hatte wird ploumltzlich als Freund betrachtetIn der Literatur der Kunst der Philosophie geht der Wechsel noch schneller vor sich Romantik Naturalismus Mystizismus usw tauchen auf und verschwinden im raschen Wechsel Die gestern gefeierten Kuumlnstler und Schriftsteller werden morgen aufs tiefste verachtetWas sehen wir aber wenn wir diese scheinbar so tiefen Wandlungen untersuchen Alle Ansichten die im Gegen- satz stehen zu den Grundanschauungen und -gefuumlhlen der Rasse sind nur von sehr kurzer Dauer und der abgelenkte Strom nimmt rasch seinen gewohnten Lauf wieder auf Die Anschauungen die sich an keine Grunduumlberzeugung an kein Gefuumlhl der Rasse knuumlpfen und die also keinen Bestand haben koumlnnen sind allen Zufaumlllen oder wenn man will den geringsten Veraumlnderungen der Verhaumlltnisse preisgegeben Sie sind mit Hilfe von Suggestion und An- steckung entstanden sind stets fluumlchtiger Art und erschei- nen und verschwinden auch oft ebenso schnell wie die Sandduumlnen die der Wind am Meeresstrande bildetDie Anzahl der unbestaumlndigen Meinungen der Massen ist heutzutage groumlszliger als je und zwar aus drei verschiedenen GruumlndenErstens buumlszligen die alten Glaubenslehren nach und nach ihre Herrschaft ein und wirken nicht mehr wie fruumlher richtunggebend auf die Meinungen Das Erloumlschen der

DIE VERAumlNDERLICHEN MEINUNGEN 107

Gesamtuumlberzeugungen gibt Raum fuumlr eine Menge Sonder- anschauungen ohne Vergangenheit und ZukunftZweitens waumlchst die Macht der Massen immer mehr und findet immer weniger Gegengewicht so daszlig sich die auszliger- ordentliche Beweglichkeit der Ideen die wir bei ihnen fanden frei entfalten kannDrittens fuumlhrt die neuerdings so verbreitete Presse unauf- houmlrlich die entgegengesetzten Meinungen vor den Augen der Masse voruumlber Die Wirkungen die jede von ihnen eben hervorzurufen suchte werden bald von widerspre- chenden Einfluumlssen aufgehoben Keine Meinung kann sich richtig verbreiten und alle fuumlhren nur ein vergaumlngliches Dasein Sie sind tot bevor sie bekannt genug sind um allgemein zu werdenAus diesen mannigfachen Ursachen ist eine ganz neue Er- scheinung der Weltgeschichte hervorgegangen die fuumlr die heutige Zeit sehr bezeichnend ist ich meine die Unfaumlhig- keit der Regierungen die oumlffentliche Meinung zu lenkenEinst und dies Einst liegt gar nicht so weit hinter uns wurde die oumlffentliche Meinung von der Tatkraft der Re- gierung dem Einfluszlig einiger Schriftsteller und einer ganz geringen Anzahl von Zeitungen getragen Heutzutage haben die Schriftsteller allen Einfluszlig eingebuumlszligt und die Zeitungen spiegeln nur die oumlffentliche Meinung wider Und was die Staatsmaumlnner anbelangt so denken sie nicht daran sie zu lenken sondern suchen ihr nur zu folgen Ihre Furcht vor der oumlffentlichen Meinung ist fast schon Schrecken und raubt ihrer Haltung jede FestigkeitDie Meinung der Massen zeigt also das Bestreben immer mehr zum entscheidenden Lenker der Politik zu werden Sie bringt es heute schon fertig Buumlndnisse vorzuschreiben wie wir es vor kurzem bei dem russischen Buumlndnis sahen das fast ausschlieszliglich aus einer Volksbewegung hervor- gingEs ist ein sehr eigenartiges Zeichen unserer Zeit daszlig Paumlpste Koumlnige und Kaiser sich dem Brauch der Befragung durch Vertreter der Tageszeitungen unterwerfen um dem

108 GRENZEN DER VERAumlNDERLICHKEIT DER GRUNDANSCHAUUNGEN

Urteil der Massen ihre Gedanken uumlber eine bestimmte Angelegenheit zu unterbreiten Einst konnte man sagen Politik sei nicht Sache des Gefuumlhls Kann man das heute noch wenn man sieht daszlig sie sich von den Einfallen der unbestaumlndigen Massen die keine Vernunft kennen und nur vom Gefuumlhl beherrscht werden leiten laumlszligtDie Presse die einstige Leiterin der oumlffentlichen Meinung hat wie die Regierungen gleichfalls der Macht der Massen weichen muumlssen Gewiszlig besitzt sie noch eine bedeutende Macht aber doch nur weil sie lediglich die Widerspiege- lung der oumlffentlichen Meinung und ihrer unaufhoumlrlichen Schwankungen ist Sie ist zum einfachen Informations- mittel geworden und hat darauf verzichtet irgendwelche Ideen oder Lehren zu verbreiten Sie geht allen Veraumlnde- rungen des oumlffentlichen Geistes nach sie ist dazu verpflich- tet weil sie sonst Gefahr laumluft durch die Maszlignahmen der Konkurrenz ihre Leser zu verlieren Die alten ehrwuumlr- digen und einfluszligreichen Blaumltter von ehedem deren Aus- spruumlche von der vergangenen Generation noch ehrfurchts- voll wie Weissagungen angehoumlrt wurden sind verschwun- den oder zu Nachrichtenvermittlungen geworden die von unterhaltenden Neuigkeiten Gesellschaftsklatsch und ge- schaumlftlichen Anzeigen umrahmt sind Welches Blatt waumlre heute reich genug seinen Schriftleitern eigne Meinungen gestatten zu koumlnnen Und welches Gewicht koumlnnten diese Meinungen bei Lesern haben die nur unterrichtet oder unterhalten werden wollen und hinter jeder Empfehlung Berechnung wittern Die Kritik hat nicht einmal mehr die Macht ein Buch oder ein Theaterstuumlck durchzusetzen Sie kann schaden aber nicht nuumltzen Die Blaumltter sind sich der Nutzlosigkeit jeder Eigenmeinung so bewuszligt daszlig sie all- maumlhlich die literarischen Kritiken eingeschraumlnkt haben und sich damit begnuumlgen den Namen des Buches nebst zwei drei Zeilen Empfehlung zu bringen und in zwanzig Jah- ren wird es sich mit der Theaterkritik wohl ebenso ver- haltenDas Aushorchen der Meinungen ist heute die Hauptsorge

DIE VERAumlNDERLICHEN MEINUNGEN 109

der Presse und der Regierungen Welche Wirkung dies Ereignis jener Gesetzentwurf jene Rede hervorrief ist wissenswert fuumlr sie Das ist nicht leicht denn nichts ist beweglicher und wandelbarer als das Denken der Massen Man kann es erleben daszlig sie das was sie gestern bejubel- ten heute mit dem Bannfluch belegenDas Endergebnis dieses gaumlnzlichen Mangels an Meinungs- richtung und der gleichzeitigen Aufloumlsung der Grunduumlber- zeugungen ist die voumlllige Zerbroumlckelung aller Anschau- ungen und die wachsende Gleichguumlltigkeit der Massen wie der einzelnen gegen alles was ihren unmittelbaren Vorteil nicht greifbar beruumlhrt Wissenschaftliche Lehren wie der Sozialismus haben wirklich uumlberzeugte Anhaumlnger nur in den ungebildeten Schichten z B unter Berg- und Fabrik- arbeitern Der Kleinbuumlrger der halbgebildete Handwerker sind zu miszligtrauisch gewordenDie Entwicklung die seit dreiszligig Jahren so verlaumluft ist uumlberraschend In fruumlheren gar nicht so weit zuruumlckliegen- den Zeiten hatten die Meinungen noch eine allgemeine Richtung Sie wurden von der Annahme einiger Grund- uumlberzeugungen abgeleitet Allein aus der Tatsache daszlig man Monarchist war ergeben sich notwendigerweise auf den Gebieten der Geschichte und der Wissenschaft be- stimmte scharfumgrenzte Ansichten waumlhrend der Repu- blikaner ganz entgegengesetzte fuumlr sich in Anspruch nahm Ein Monarchist wuszligte genau daszlig der Mensch nicht vom Affen abstammt und ein Republikaner wuszligte nicht weni- ger genau daszlig er von ihm abstammt Der Monarchist muszligte mit Abscheu der Republikaner begeistert von der Revolution sprechen Gewisse Namen wie Robespierre Marat muszligten mit andaumlchtiger Miene andre wieder wie Caumlsar Augustus Napoleon nur unter Schmaumlhungen aus- gesprochen werden Bis zu unserer Sorbonne herauf herrschte diese kindliche GeschichtsauffassungHeute verliert jede Meinung durch Eroumlrterung und Zer- gliederung ihren Nimbus ihre Stuumltzpunkte werden schnell unsicher und es bleiben nur wenige Ideen uumlbrig die uns

110 GRENZEN DER VERAumlNDERLICHKEIT DER GRUNDANSCHAUUNGEN

zu leidenschaftlicher Parteinahme bewegen koumlnnten Der moderne Mensch verfaumlllt immer mehr der Gleichguumlltig- keitWir wollen diese allgemeine Erschoumlpfung der Anschau- ungen nicht allzusehr bedauern Daszlig sie eine Entartungs- erscheinung im Voumllkerleben ist laumlszligt sich nicht bestreiten Wohl haben die Seher Apostel Fuumlhrer mit einem Wort die Uumlberzeugten eine ganz andere Gewalt als die Ver- neiner Kritiker und Gleichguumlltigen aber wir duumlrfen nicht vergessen daszlig eine einzige Anschauung die genuumlgend Nimbus gewaumlnne um sich durchzusetzen mit Hilfe der Macht der Massen bald eine so tyrannische Gewalt er- langen wuumlrde daszlig sich alsbald alle vor ihr beugen muumlszligten und die Zeit der freien Meinungsaumluszligerung waumlre dann fuumlr lange Zeit vorbei Zeitweilig sind die Massen friedfertige Herren wie es gelegentlich Heliogabal und Tiberius auch waren aber sie haben auch wilde Launen Ist eine Kultur reif ihnen in die Haumlnde zu fallen so ist sie zu vielen Zufaumlllen ausgesetzt als daszlig sie noch lange Zeit uumlberdauern koumlnnte Wenn irgend etwas die Stunde des Niedergangs aufhalten kann so ist es nur die auszligerordentliche Ver- aumlnderlichkeit der Meinungen und die wachsende Gleich- guumlltigkeit der Massen gegen alle allgemeinen Grund- anschauungen

111DIE VERAumlNDERLICHEN MEINUNGEN

DRITTES BUCH

EINTEILUNG UND BESCHREIBUNG DER VERSCHIEDENEN ARTEN

VON MASSEN

1 KAPITEL

Einteilung der Massen

Wir haben in dieser Arbeit bisher die allgemeinen den Massen gemeinsamen Merkmale festgestellt Es bleiben uns noch die besonderen Merkmale zu erforschen die diesen allgemeinen je nach der Art der Gesamtheiten vorgeord- net sindStellen wir zunaumlchst in aller Kuumlrze eine Einteilung der Massen aufUnser Ausgangspunkt ist die einfache Menge (la simple multitude) Ihre unterste Art ist dann gegeben wenn sie sich aus Einzelwesen verschiedener Rassen zusammensetzt Ihr einziges allgemeines Band ist der mehr oder weniger geachtete Wille eines Anfuumlhrers Als Beispiel fuumlr diese Massenform koumlnnen die Barbaren verschiedener Herkunft dienen die eine Reihe von Jahrhunderten hindurch das Roumlmische Reich verheertenUumlber diesen zusammenhanglosen Massen stehen jene die unter dem Einfluszlig gewisser Faktoren gemeinsame Merk- male angenommen haben und schlieszliglich eine Rasse bilden Sie werden gelegentlich die Sondermerkmale der Massen aufweisen aber immer gemaumlszligigt durch die Eigentuumlmlich- keiten ihrer RasseDie verschiedenen Arten der Massen die bei jedem Volk zu beobachten sind lassen sich folgendermaszligen einteilen

A Ungleichartige Massen (foules heacuteteacuterogegravenes) Namenlose (z B Straszligenansammlungen) 2 Nicht namenlose (z B Geschworenengericht Parla- ment)

B Gleichartige Massen (foules homogegravenes) Sekten (politische religioumlse und andere Sekten) 2 Kasten (militaumlrische Priester- Arbeiterkaste usw) 3 Klassen (Buumlrger Bauern usw)Wir geben kurz die unterscheidenden Merkmale dieser ver- schiedenen Arten von Massen an

sect Ungleichartige Massen

Die Wesenszuumlge dieser Gesamtheiten haben wir bereits studiert Sie setzen sich aus irgendwelchen einzelnen zu- sammen Beruf oder Intelligenz sind unwichtigWir haben in dieser Arbeit gezeigt daszlig die seelische Ver- fassung der Menschen in der Masse wesentlich abweicht von der Seelenverfassung die sie als einzelne haben und daszlig vor dieser Abweichung die Intelligenz nicht rettet Wir sahen daszlig Intelligenz in den Gesamtheiten keine Rolle spielt Nur unbewuszligte Gefuumlhle koumlnnen in ihnen wirksam werdenEin Grundfaktor die Rasse macht es uns moumlglich die ver- schiedenen ungleichartigen Massen ziemlich scharf zu sondern Schon wiederholt kamen wir auf die Bedeutung der Rasse zuruumlck und zeigten daszlig sie der maumlchtigste Faktor ist der die Macht hat die menschlichen Handlungen zu bestim- men Ihre Wirkung zeigt sich auch in den Eigenschaften der Masse Eine Menge die aus irgendwelchen verschie- denen Einzelwesen die aber entweder Englaumlnder oder Chinesen sein muumlssen zusammengesetzt ist unterscheidet sich grundlegend von einer anderen Masse die etwa aus Russen Franzosen oder Spaniern bestehtDie tiefen Unterschiede die durch die ererbte geistige Konstitution in der Gefuumlhls- und Denkweise der Menschen begruumlndet werden treten klar zutage wenn unter gewissen Umstaumlnden die allerdings selten vorkommen einzelne verschiedener Nationalitaumlten zu einer einzigen Masse ver- Einzelheiten uumlber die verschiedenen Arten der Massen findet man in meinen letzten Arbeiten

115UNGLEICHARTIGE MASSEN

einigt werden so gleichartig anscheinend die Interessen sein moumlgen Die Versuche der Sozialisten auf groszligen Zusam- menkuumlnften die Vertreter der Arbeiterschaft aller Laumlnder zu vereinigen endeten stets in heftiger Zwietracht Eine lateinische Masse so revolutionaumlr oder konservativ sie auch sein mag wird sich zur Erfuumlllung ihrer Forderungen stets an den Staat wenden Sie ist stets zentralistisch und mehr oder minder monarchistisch Eine englische und amerikani- sche Masse hingegen kennt den Staat nicht und wendet sich nur an die persoumlnliche Tatkraft Eine franzoumlsische Masse haumllt vor allem viel auf Gleichheit eine englische auf Frei- heit Diese Rassen Verschiedenheiten bringen fast ebenso- viele Abarten der Masse hervor als es Voumllker gibtDie Rassenseele beherrscht also voumlllig die Massenseele Sie ist der maumlchtige Grundstoff der die Schwankungen der Massenseele bestimmt Die niederen Eigenschaften der Masse sind um so weniger betont je staumlrker die Rassenseele ist Das ist ein Grundgesetz Der Staat der Masse und die Herrschaft der Masse bedeuten die Barbarei oder die Ruumlck- kehr zur Barbarei Durch Erwerbung einer festgefuumlgten Seele schuumltzt sich die Rasse immer mehr vor unuumlberlegter Gewalt der Massen und laumlszligt die Barbarei hinter sichDie einzige Einteilung die sich fuumlr die ungleichartigen Massen auszliger ihrer Bestimmung nach Rassen durchfuumlhren laumlszligt ist die Einteilung in namenlose Massen wie die der Straszligen und nicht namenlose Massen wie z B die bera- tenden Ausschuumlsse und die Schwurgerichte Das Fehlen des Verantwortlichkeitgefuumlhls bei den ersteren und sein Vor- handensein bei den letzteren draumlngt ihre Handlungsweise oft in verschiedene Richtung

sect 2 Gleichartige Massen

Die gleichartigen Massen umfassen erstens die Sekten zweitens die Kasten drittens die KlassenDie Sekte bezeichnet den ersten Grad in der Organisation gleichartiger Massen Zu ihr gehoumlren einzelne deren Er-

116 DIE VERSCHIEDENEN ARTEN VON MASSEN

ziehung Beruf und Milieu oft sehr verschieden ist und die nur durch das Band der Uumlberzeugung miteinander verbun- den sind so z B die religioumlsen und politischen SektenDie Kaste stellt den houmlchsten Organisationsgrad dar des- sen die Masse faumlhig ist Waumlhrend die Sekte einzelne um- faszligt deren Beruf Bildung und Milieu oft sehr verschie- den sind und die sich nur durch Gemeinsamkeit der Uumlber- zeugung zusammenschlieszligen gehoumlren zur Kaste nur ein- zelne von gleichem Beruf und folglich auch ziemlich aumlhn- licher Bildung und fast gleichen Lebensverhaumlltnissen So z B die militaumlrische und die PriesterkasteDie Klasse wird von einzelnen verschiedenen Ursprungs gebildet die weder wie die Mitglieder einer Sekte durch die Uumlbereinstimmung der Uumlberzeugung noch durch die Gleichheit des Berufes wie die Mitglieder einer Kaste sondern durch bestimmte Interessen Lebensgewohnheiten und ihre Erziehung einander aumlhnlich sind So z B die Klasse der Buumlrger der Bauern uswDa ich in dieser Arbeit nur die ungleichartigen Massen zu studieren habe so werde ich mich nur mit einigen Arten dieser Gattung der Massen beschaumlftigen die ich als be- zeichnende Beispiele herausgreife

2 KAPITEL

Die sogenannten verbrecherischen Massen

Da nach einer bestimmten Erregungszeit die Massen in den Zustand einfacher unbewuszligter Automaten zuruumlckfallen die von Beeinflussungen abhaumlngig sind so scheint es schwie- rig zu sein sie in irgendeinem Falle als verbrecherisch zu bezeichnen Ich behalte jedoch diese irrige Bezeichnung bei weil sie durch die psychologischen Forschungen uumlblich ge- worden ist Gewisse Handlungen der Masse sind an sich betrachtet sicherlich verbrecherisch aber doch nur in dem- selben Sinne wie die Tat eines Tigers der einen Hindu

117GLEICHARTIGE MASSEN VERBRECHERISCHE MASSEN

verschlingt nachdem er ihn erst von seinen Jungen zu ihrer Unterhaltung hat zerfleischen lassenDie Verbrechen der Massen sind in der Regel die Folge einer starken Suggestion und die einzelnen die daran teil- nahmen sind hinterher davon uumlberzeugt einer Pflicht ge- horcht zu haben Das ist beim gewoumlhnlichen Verbrecher durchaus nicht der FallDie Geschichte der Verbrechen die durch die Massen be- gangen wurden laumlszligt dies klar erkennenAls bezeichnendes Beispiel kann man die Ermordung des Gouverneurs der Bastille du Launay anfuumlhren Nach der Eroberung dieser Festung hagelten von allen Seiten aus der aufs aumluszligerste gereizten Menge die ihn umgab Hiebe auf den Gouverneur Man schlug vor ihn zu haumlngen zu enthaupten oder an den Schweif eines Pferdes zu binden Bei dem Versuch sich zu befreien versetzte er einem der Umstehenden versehentlich einen Fuszligtritt Da machte je- mand den Vorschlag ndash dem die Menge sofort zujauchzte

ndash der Getretene solle dem Gouverneur den Hals ab- schneiden

bdquoDieser ein stellenloser Koch der halb und halb aus Neu- gierde nach der Bastille gegangen war um zu sehen was don vorging glaubt weil dies die allgemeine Ansicht ist die Tat sei patriotisch und glaubt sogar eine Auszeich- nung zu verdienen wenn er ein Ungeheuer toumltet Man gibt ihm einen Saumlbel mit dem er auf den bloszligen Hals losschlaumlgt da aber der schlechtgeschliffene Saumlbel nicht schneidet zieht er ein kleines Messer mit schwarzem Heft aus der Tasche und vollendet (da er als Koch Fleisch zu bearbeiten weiszlig) erfolgreich seine OperationldquoHier zeigt sich klar der fruumlher festgestellte Mechanismus Gehorsam gegen einen Einfluszlig der um so maumlchtiger wirkt weil er einer Gesamtheit entstammt die Uumlberzeugung des Moumlrders damit eine aumluszligerst verdienstvolle Tat getan zu haben eine Uumlberzeugung die um so natuumlrlicher ist da er auf die einmuumltige Zustimmung seiner Mitbuumlrger rechnen kann Eine derartige Tat kann vielleicht gesetzlich aber

118 DIE VERSCHIEDENEN ARTEN VON MASSEN

nicht psychologisch als Verbrechen bezeichnet werden Die allgemeinen Merkmale der sogenannten verbrecherischen Massen sind genau dieselben die wir bei allen Mas- sen festgestellt haben Beeinfluszligbarkeit Leichtglaumlubigkeit Uumlberschwang der guten und schlechten Gefuumlhle das Her- vortreten gewisser Formen der Sittlichkeit uswAlle diese Merkmale finden wir bei der Masse der Sep- tembermaumlnner wieder die in unserer Geschichte das un- seligste Andenken hinterlassen haben Sie zeigen uumlbrigens viel Aumlhnlichkeit mit den Urhebern der Bartholomaumlusnacht Die Einzelheiten des Berichtes entnehme ich Taine der sie aus zeitgenoumlssischen Erinnerungen geschoumlpft hat Es ist nicht genau bekannt wer Befehl oder Veranlassung gege- ben hat die Gefangenen abzuschlachten um die Gefaumlng- nisse zu raumlumen Ob es Danton war wie es wahrscheinlich ist oder ein anderer ist gleichguumlltig wir haben es nur mit dem maumlchtigen Einfluszlig zu tun den die mit dem Blutbade beauftragte Menge empfingDie Schar der Menschenschlaumlchter umfaszligte ungefaumlhr drei- hundert Mitglieder und zeigte vollkommen die Grundform einer ungleichartigen Masse Abgesehen von einer ganz geringen Anzahl gewerbsmaumlszligiger Bettler bestand sie na- mentlich aus Haumlndlern und Handwerkern aller Art aus Schustern Schlossern Peruumlckenmachern Maurern Ange- stellten Dienstmaumlnnern usw Unter dem Einfluszlig der emp- fangenen Suggestion sind sie wie der obenerwaumlhnte Koch voumlllig uumlberzeugt davon eine vaterlaumlndische Pflicht zu er- fuumlllen Sie uumlben ein doppeltes Amt aus das des Richters und das des Henkers und halten sich in keiner Weise fuumlr VerbrecherDurchdrungen von der Wichtigkeit ihrer Aufgabe bilden sie zunaumlchst eine Art Gerichtshof und sofort zeigt sich der beschraumlnkte Geist und das nicht weniger beschraumlnkte Rechtsgefuumlhl der Massen Angesichts der betraumlchtlichen Anzahl der Angeklagten wird zunaumlchst entschieden die Adligen die Priester die Offiziere die Diener des Koumlnigs d h diejenigen deren Beruf in den Augen eines guten

119DIE SOGENANNTEN VERBRECHERISCHEN MASSEN

Patrioten allein schon ein Schuldbeweis ist sollen in Hau- fen niedergemetzelt werden ohne daszlig es eines besonderen Urteils bedarf Im uumlbrigen wird nach Aussehen und An- sehen verurteilt Das unausgebildete Gewissen der Masse ist auf diese Weise befriedigt sie kann rechtmaumlszligig an die Abschlachtung gehen und den Instinkten der Grausamkeit deren Entstehen ich an anderer Stelle behandelt habe und die die Gesamtheiten stets in hohem Maszlige entfalten koumln- nen freien Lauf lassen Sie stehen uumlbrigens ndash das ist die Regel bei den Massen ndash einer gleichzeitigen Offenbarung entgegengesetzter Gefuumlhle nicht im Wege so z B der Empfindsamkeit die oft ebenso wie ihre Grausamkeit bis zum aumluszligersten geht bdquoSie haben das offenherzige Mitge- fuumlhl und die bewegliche Empfindlichkeit der Pariser Ar- beiter Als ein Foumlderierter vernahm daszlig man in der Abtei die Haumlftlinge seit sechsundzwanzig Stunden ohne Wasser gelassen hatte wollte er durchaus den nachlaumlssigen Pfoumlrt- ner umbringen und haumltte es getan wenn nicht die Ge- fangenen selbst fuumlr ihn gebeten haumltten Ist ein Gefangener (von ihrem fliegenden Gerichtshof) freigesprochen so wird er von den Waumlchtern und Henkern kurz von jedermann umarmt und stuumlrmisch begruumlszligtldquo Dann kehrt man zur Ab- schlachtung der uumlbrigen zuruumlck Waumlhrend des Blutbades herrscht andauernd liebenswuumlrdige Froumlhlichkeit Man singt und tanzt um die Leichen herum stellt den bdquoDamenldquo die gluumlcklich daruumlber sind zu sehen daszlig Aristokraten ge- toumltet werden Baumlnke zur Verfuumlgung Auch weiterhin wer- den Proben einer besonderen Houmlflichkeit gegeben Als sich ein Henker in der Abtei beklagt die etwas entfernter sitzenden Damen saumlhen schlecht und nur einige der An- wesenden haumltten das Vergnuumlgen die Aristokraten zu schla- gen gibt man die Richtigkeit dieser Beobachtung zu und bestimmt daszlig man die Opfer langsam zwischen zwei Reihen von Moumlrdern hindurchgehen lasse die zur Ver- laumlngerung der Qualen nur mit dem Saumlbelruumlcken schlagen duumlrfen In der Festung werden die Opfer voumlllig entkleidet eine halbe Stunde lang zerfleischt dann wenn jedermann

120 DIE VERSCHIEDENEN ARTEN VON MASSEN

alles gut gesehen hat erledigt man sie indem man ihnen den Bauch aufschlitzt Die Menschenschlaumlchter sind im uumlbrigen sehr gewissenhaft und bekunden jene Sittlichkeit auf deren Vorhandensein im Herzen der Massen wir be- reits hinwiesen Sie legen das Geld und den Schmuck der Opfer auf dem Tisch des Ausschusses niederIn allen ihren Handlungen finden sich diese unentwickel- ten Formen des Denkens die fuumlr die Massenseele bezeich- nend sind So macht irgend jemand nach einer Abschlach- tung von zwoumllf- bis fuumlnfzehnhundert Volksfeinden darauf aufmerksam ndash und seine Anregung wird sofort angenom- men ndash daszlig in den andern Gefaumlngnissen in denen alte Bettler Landstreicher jugendliche Haumlftlinge sitzen in Wahrheit nur unnuumltze Fresser eingesperrt waumlren deren man sich am besten entledige Uumlbrigens muumlszligten sich unter ihnen auch Volksfeinde befinden wie z B eine gewisse Frau Delarue die Witwe eines Giftmischers bdquoSie soll wuumltend sein im Gefaumlngnis zu sitzen wenn sie koumlnnte wuumlrde sie Paris in Brand stecken das soll sie gesagt haben das hat sie gesagt Fort mit ihrldquo Der Beweis ist uumlber- zeugend und haufenweise wird alles abgeschlachtet Inbe- griffen sogar etwa fuumlnfzig Kinder von zwoumllf bis siebzehn Jahren die ja auch Volksfeinde werden koumlnnten und folg- lich beseitigt werden muszligtenNach einer Woche der Arbeit waren all diese Maszlignahmen ausgefuumlhrt und die Menschenschlaumlchter durften von Ruhe traumlumen Da sie tief davon durchdrungen waren dem Vaterland gut gedient zu haben verlangten sie von den Machthabern eine Belohnung die Eifrigsten forderten so- gar eine AuszeichnungDie Geschichte der Kommune von 870 weist aumlhnliche Tatsachen auf Der wachsende Einfluszlig der Massen und das allmaumlhliche Zuruumlckweichen der Maumlchte vor ihnen wird sicherlich noch viele andre hinzufuumlgen

DIE SOGENANNTEN VERBRECHERISCHEN MASSEN 121

3 KAPITEL

Die Geschworenen bei den Schwurgerichten

Da wir uns hier nicht mit allen Arten der Geschworenen befassen koumlnnen so werde ich mich nur mit den wichtig- sten den Beisitzern der Schwurgerichte beschaumlftigen Sie bieten uns ein vortreffliches Beispiel fuumlr die nicht namen- lose ungleichartige Masse Wir finden hier die Beeinfluszlig- barkeit die Vorherrschaft der unbewuszligten Gefuumlhle die geringe Faumlhigkeit zum Denken den Einfluszlig der Fuumlhrer usw Ihre Beobachtung wird uns Gelegenheit geben be- merkenswerte Proben von Fehlern kennenzulernen die von Leuten begangen werden die mit der Psychologie der Gesamtheiten nicht vertraut sindDie Geschworenen sind zunaumlchst ein Beispiel fuumlr die ge- ringe Bedeutung die den geistigen Voraussetzungen der verschiedenen Wesen aus denen sich eine Masse zusam- mensetzt bei Entscheidungen zukommt Wir haben ge- sehen daszlig in einer beratenden Versammlung die aufge- fordert wird ein Urteil abzugeben die Intelligenz keine Rolle spielt wenn es sich um eine Frage handelt die nicht rein technischer Natur ist und daszlig in einer Versammlung von Gelehrten und Kuumlnstlern uumlber allgemeine Angelegen- heiten Urteile abgegeben werden die sich von denen einer Maurerversammlung kaum wesentlich unterscheiden Zu manchen Zeiten traf die Verwaltung unter den Personen die zu Geschworenen ernannt wurden eine sorgfaumlltige Auswahl sie stammten aus den aufgeklaumlrten Klassen der Lehrer Beamten wissenschaftlich Gebildeten usw Heut- zutage gehoumlren die Geschworenen hauptsaumlchlich den Klein- haumlndlern Handwerksmeistern Angestellten usw an Und zur groszligen Verwunderung der Fachschriftsteller zeigt die Statistik daszlig die Entscheidungen ganz gleich bleiben wie die Geschworenen auch zusammengesetzt sein moumlgen Selbst die Juristen die der Einrichtung der Schwurgerichte so feindlich gegenuumlberstanden muszligten die Richtigkeit dieser

Feststellung anerkennen Ein ehemaliger Schwurgerichts- praumlsident Bernard des Glajeux schreibt in seinen bdquoEr- innerungenldquo daruumlber folgendes

bdquoHeute liegt die Auswahl der Geschworenen in Wirklich- keit in den Haumlnden der Stadtraumlte die nach ihrem Belieben zulassen und ausscheiden und sich in der Hauptsache von politischen Verhaumlltnissen und Wahlsorgen leiten lassen die mit ihrer Stellung verbunden sind hellip Die Mehrzahl der Gewaumlhlten besteht aus Kauf leuten von so geringer Bedeutung daszlig man sie fruumlher nicht zugelassen haumltte und aus Beamten bestimmter Verwaltungsbehoumlrden In der Rolle des Richters vereinigen sich alle Anschauungen mit allen Berufsarten viele zeigen den Eifer der Neulinge und Menschen die den besten Willen haben begegnet man in den einfachsten Staumlnden Der Geist der Geschworenen hat sich nicht geaumlndert ihre Urteile sind sich gleichgebliebenldquoWir wollen aus diesem Satz die ganz richtigen Folgerun- gen nicht aber die recht schwachen Erklaumlrungen beibe- halten Diese Schwaumlche ist besonders erstaunlich denn die Psychologie der Massen und folglich auch der Geschwore- nen scheint meistens den Anwaumllten wie den Richtern un- bekannt gewesen zu sein Den Beweis dafuumlr liefert mir die Tatsache die derselbe Autor anfuumlhrt daszlig einer der be- ruumlhmtesten Rechtsanwaumllte des Schwurgerichts Lachaud ausnahmslos von seinem Recht Gebrauch machte die gebildeten Mitglieder der Geschworenen abzulehnen Die Erfahrung aber ndash und die Erfahrung allein ndash uumlberzeugte ihn schlieszliglich von der Zwecklosigkeit dieser Ablehnung Die Staatsanwaltschaft und die Rechtsanwaumllte haben wenigstens in Paris vollstaumlndig darauf verzichtet und doch haben sich wie des Giajeux bemerkt die Urteile nicht geaumlndert bdquosie sind weder besser noch schlechterldquoWie alle Massen werden die Geschworenen sehr stark durch Gefuumlhle und sehr wenig durch Beweisgruumlnde beeinfluszligt Ein Rechtsanwalt schreibt bdquoSie koumlnnen dem Anblick einer stillenden Frau oder der Vorfuumlhrung der Waisen nicht widerstehenldquo bdquoEine Frau braucht nur angenehm zu seinldquo

123DIE GESCHWORENEN

sagt des Glajeux bdquoso gewinnt sie das Wohlgefallen der GeschworenenldquoGegen Verbrechen von denen sie selbst betroffen werden koumlnnten und die uumlberdies gerade fuumlr die Gesellschaft die furchtbarsten sind zeigen sich die Geschworenen unerbitt- lich andrerseits sind sie gegen die sogenannten Verbrechen der Leidenschaft sehr nachsichtig Selten beurteilen sie Kindesmord unehelicher Muumltter streng und noch weniger das verlassene Maumldchen das seinen Verfuumlhrer mit Vitriol uumlberschuumlttet Sie fuumlhlen instinktiv sehr gut daszlig diese Verbrechen fuumlr die Gesellschaft wenig gefaumlhrlich sind und daszlig in einem Lande wo das Gesetz verlassene Maumldchen nicht schuumltzt ihre Rache mehr Nutzen stiftet indem sie kuumlnftige Verfuumlhrer von vornherein abschreckt Wie alle Massen werden die Geschworenen durch An- sehen stark geblendet und Praumlsident des Glajeux macht mit Recht darauf aufmerksam daszlig sie ihrer Zusammen- setzung nach zwar sehr demokratisch ihren Neigungen nach aber sehr aristokratisch seien bdquoName Geburt Reich- tum Ruhm und die Anwesenheit eines bekannten An- walts alles Auszeichnende und Glaumlnzende sind fuumlr den Angeklagten eine erhebliche UnterstuumltzungldquoEs muszlig die Hauptsorge eines guten Anwalts sein auf die Gefuumlhle der Geschworenen einzuwirken und wie bei allen Massen wenig zu begruumlnden oder Beweisfuumlhrungen nur in andeutender Form zu geben Ein englischer Anwalt der

Nebenbei bemerkt entbehrt diese Unterscheidung zwischen gesellschaftsfeind- lichen und nicht gesellschaftsfeindlichen Verbrechen die mit richtigem Instinkt von den Geschworenen gemacht wird keineswegs der Richtigkeit Das Ziel der Strafgesetze soll doch offenbar der Schutz der Gesellschaft gegen Ver- brechen nicht aber Rache sein Nun sind aber unsere Strafgesetzbuumlcher und besonders unsere Richter voumlllig von dem Rachegeist des alten urspruumlnglichen Gesetzes erfuumlllt und der Ausdruck bdquoSuumlhneldquo (vindicta) wird noch taumlglich gebraucht Der Beweis fuumlr diese Neigung der Richter ist die Weigerung vieler von ihnen das vortreffliche Gesetz Beacuteranger anzuwenden welches die Strafe des Verurteilten aufschiebt bis er ruumlckfaumlllig wird Und doch kann kein Richter daruumlber im unklaren sein ndash denn die Statistik beweist es ja ndash daszlig die Verbuumlszligung der ersten Strafe fast unfehlbar den Ruumlckfall nach sich zieht Die Richter glauben wenn sie einen Schuldigen freisprechen die Gesellschaft sei ungeraumlcht geblieben Ehe sie das zulassen schaffen sie lieber einen gefaumlhr- lichen Ruumlckfaumllligen

124 DIE VERSCHIEDENEN ARTEN VON MASSEN

wegen seiner Erfolge am Schwurgericht beruumlhmt war hat dies Verfahren ausgezeichnet geschildert

bdquoAufmerksam beobachtet er waumlhrend seiner Verteidigungs- rede die Geschworenen Der Augenblick ist guumlnstig Mit Hilfe seines Spuumlrsinnes und auch gewohnheitsmaumlszligig liest der Anwalt die Wirkung jedes Satzes jedes Wortes in den Mienen und zieht seine Schluumlsse daraus Es handelt sich vor allem darum die Mitglieder herauszufinden die im voraus fuumlr den Fall eingenommen sind Der Verteidiger versichert sich ihrer im Handumdrehen dann wendet er sich an die Mitglieder die unguumlnstig gestimmt zu sein scheinen und bemuumlht sich zu erraten warum sie gegen den Angeklagten sind Das ist der schwierigste Teil der Arbeit denn es kann auszliger dem Gerechtigkeitsgefuumlhl noch unzaumlhlige Gruumlnde geben einen Menschen verurteilen zu wollenldquoDiese wenigen Zeilen fassen die Absichten der Redner- kunst treffend zusammen und zeigen uns die Wertlosigkeit der eingelernten Rede weil man jeden Augenblick je nach dem erzielten Eindruck die Ausdrucksweise aumlndern muszlig Der Redner braucht nicht alle Mitglieder des Gerichts auf seine Seite zu bringen sondern nur die tonangebenden die die Gesamtmeinung beeinflussen Wie bei allen Massen gibt es auch hier eine kleine Anzahl von fuumlhrenden ein- zelnen bdquoIch habe die Erfahrung gemachtldquo sagt der oben erwaumlhnte Anwalt bdquodaszlig im Augenblick der Urteilsfaumlllung ein oder zwei energische Maumlnner genuumlgen um die uumlbrigen Geschworenen mitzureiszligenldquo Diese zwei oder drei Maumlnner muszlig man durch geschickte Beeinflussung uumlberzeugen Zu- erst und vor allem muszlig man ihnen gefallen Der Massen- mensch dem man gefaumlllt ist schon beinahe uumlberzeugt und gut vorbereitet alle Gruumlnde die man ihm darlegt fuumlr ausgezeichnet zu halten In einer interessanten Arbeit uumlber Lachaud finde ich folgende Anekdote

bdquoMan weiszlig daszlig Lachaud als er beim Schwurgericht ar- beitete waumlhrend der ganzen Dauer seiner Verteidigungs- reden zwei oder drei Geschworene von denen er wuszligte

DIE GESCHWORENEN 125

oder fuumlhlte daszlig sie einfluszligreich aber unzugaumlnglich waren nicht aus den Augen verlor In der Regel gelang es ihm die Widerspenstigen zu gewinnen Aber einmal fand er in der Provinz einen den er vergebens dreiviertel Stunden lang bearbeitete den ersten auf der zweiten Bank den siebenten Geschworenen Es war zum Verzweifeln Ploumltz- lich mitten im leidenschaftlichen Redefluszlig haumllt Lachaud inne und wendet sich an den Vorsitzenden des Gerichts- hofes mit den Worten Herr Praumlsident koumlnnte man nicht den Vorhang dort vorn herunterlassen den siebenten Herrn Geschworenen blendet die Sonnelsquo Der siebente Ge- schworene erroumltete laumlchelte dankte Er war der Verteidi- gung gewonnenldquoVerschiedene Autoren und zwar sehr namhafte haben in der letzten Zeit die Einrichtung der Schwurgerichte den einzigen Schutz gegen die wirklich sehr haumlufigen Irrtuumlmer einer aufsichtslosen Kaste heftig bekaumlmpft Einige moumlch- ten daszlig die Geschworenen nur aus den gebildeten Staumlnden gewaumlhlt wuumlrden Aber wir haben schon festgestellt daszlig in diesem Falle die Entscheidungen den jetzt gefaumlllten gleichen werden Andre die sich auf die Irrtuumlmer der Geschwore- nen berufen moumlchten sie abschaffen und durch Richter er- setzen Wie koumlnnen sie aber vergessen daszlig die Irrtuumlmer die den Geschworenen so oft vorgeworfen werden stets

Der Richterstand ist in der Tat der einzige Verwaltungszweig dessen Maszlig- nahmen keiner Uumlberwachung unterstellt sind Keine Revolution hat es fertig- gebracht dem demokratischen Frankreich jenes Habeas-corpus-Recht zu errin- gen auf das England so stolz ist Wir haben die Tyrannen verbannt aber in jeder Stadt verfuumlgt eine Obrigkeit nach Belieben uumlber Ehre und Freiheit der Buumlrger Ein unbedeutender Untersuchungsrichter der die Universitaumlt kaum verlieszlig hat die empoumlrende Macht die angesehensten Buumlrger gegen die er den bloszligen Verdacht einer Schuld hegt fuumlr den er niemand Rechenschaft schuldig ist ins Gefaumlngnis zu schicken Er kann sie sechs Monate ja sogar ein Jahr unter dem Vorwande der Untersuchung dort festhalten und sie schlieszliglich ohne Entschaumldigung oder Entschuldigung entlassen Der Vorladungsbefehl ist dem bdquolettre de cachetldquo dem koumlniglichen geheimen Haftbefehl gleichwertig nur mit dem Unterschied daszlig der letztere der mit Recht der alten Monarchie so zum Vorwurf gemacht wird nur sehr bedeutenden Persoumlnlichkeiten zur Verfuumlgung stand waumlhrend er sich heute in den Haumlnden einer ganzen Buumlrger- klasse befindet die keineswegs fuumlr die aufgeklaumlrteste und unabhaumlngigste gelten kann

126 DIE VERSCHIEDENEN ARTEN VON MASSEN

zuerst von den Richtern begangen wurden denn wenn der Angeklagte vor den Geschworenen erscheint so wird er bereits von verschiedenen Richtern fuumlr schuldig gehalten vom Untersuchungsrichter vom Staatsanwalt vom An- klagesenat Und sieht man denn nicht daszlig der Angeklagte seine einzige Aussicht fuumlr unschuldig erklaumlrt zu werden einbuumlszligte wenn er schlieszliglich von Richtern anstatt von Geschworenen abgeurteilt wuumlrde Die Irrtuumlmer der Ge- schworenen sind zuerst stets Irrtuumlmer der Richter gewesen An diese allein muszlig man sich halten wenn man auf be- sonders ungeheuerliche Justizirrtuumlmer wie die Verurtei- lung des Dr Xhellip stoumlszligt der auf die Anzeige eines halb- idiotischen Maumldchens das den Arzt beschuldigte er habe sie fuumlr dreiszligig Franken abortieren lassen von einem wirklich recht beschraumlnkten Untersuchungsrichter verfolgt wurde und der ohne den Entruumlstungsausbruch der Oumlffent- lichkeit der seine sofortige Begnadigung durch das Staats- oberhaupt zur Folge hatte ins Gefaumlngnis gewandert waumlre Die Ehrenhaftigkeit die dem Verurteilten von all seinen Mitbuumlrgern zuerkannt wurde lieszlig die Ungeheuerlichkeit des Irrtums besonders offenbar werden Selbst die Richter erkannten das und doch taten sie aus Kastengeist alles moumlgliche um die Unterzeichnung der Begnadigung zu ver- hindern In allen solchen Faumlllen houmlren die Geschworenen von technischen Einzelheiten die sie nicht verstehen ver- wirrt naturgemaumlszlig auf die Staatsanwaltschaft da sie sich sagen daszlig der Fall schlieszliglich von Richtern die in allen Feinheiten bewandert sind gepruumlft sei Wer sind also die wahren Urheber des Irrtums die Geschworenen oder die Richter Darum wollen wir sorgfaumlltig uumlber unsere Schwur- gerichte wachen Sie bilden vielleicht die einzige Gattung der Masse die durch keinen einzelnen zu ersetzen ist Nur sie koumlnnen die Haumlrten des Gesetzes mildern das fuumlr alle gleich im Prinzip blind sein muszlig und Sonderfaumllle nicht kennen darf Der Richter der nur den Wortlaut des Ge- setzes kennt und fuumlr Mitleid unzugaumlnglich ist wuumlrde mit seiner Berufshaumlrte den Raubmoumlrder zu derselben Strafe

DIE GESCHWORENEN 127

verurteilen wie das arme Maumldchen das zum Kindesmord gedraumlngt wird weil es von seinem Verfuumlhrer verlassen und dem Elend preisgegeben ist waumlhrend die Geschworenen sehr wohl fuumlhlen daszlig das verfuumlhrte Maumldchen viel weniger schuld ist als der Verfuumlhrer der dem Gesetz entschluumlpft und daszlig es all ihre Nachsicht verdientObwohl ich die Psychologie der Kasten so wie die der andern Massen sehr wohl kenne kann ich mir keinen Fall denken der mich wenn ich eines Verbrechens angeklagt waumlre nicht vorziehen lieszlige lieber mit Geschworenen als mit Richtern zu tun zu haben Bei den ersten haumltte ich groszlige Aussicht schuldlos erkannt zu werden bei den letz- teren nur sehr geringe Wir haben die Macht der Massen zu fuumlrchten aber noch mehr die Macht gewisser Kasten Die Massen lassen sich vielleicht uumlberzeugen die Kasten geben niemals nach

4 KAPITEL

Die Waumlhlermassen

Die Waumlhlermassen d h die Gesamtheiten die zur Wahl der Inhaber gewisser Aumlmter berufen sind bilden ungleich- artige Massen da sie aber nur in einer ganz bestimmten Frage ihre Wirksamkeit entfalten naumlmlich bei der Wahl zwischen mehreren Kandidaten so lassen sich bei ihnen nur einige der fruumlher beschriebenen Merkmale beobachten Besonders hervorragend ist die geringe Urteilsfaumlhigkeit dann der Mangel an kritischem Denken die Erregbarkeit Leichtglaumlubigkeit und Einfalt der Massen Auch entdeckt man in ihren Entscheidungen den Einfluszlig der Fuumlhrer und die Wirkung der bereits angefuumlhrten Triebkraumlfte Behaup- tung Wiederholung Nimbus und UumlbertragungSehen wir nun zu wie sie zu gewinnen sind Ihre Psycho- logie laumlszligt sich nach bewaumlhrter Methode klar ableiten Als erste Eigenschaft muszlig der Bewerber einen Nimbus

128 DIE VERSCHIEDENEN ARTEN VON MASSEN

haben Persoumlnlicher Nimbus kann nur durch Reichtum ersetzt werden Talent und selbst Genie sind keine Vor- bedingungen fuumlr den ErfolgFolglich ist der persoumlnliche Nimbus des Bewerbers um sich ohne weitere Eroumlrterungen durchsetzen zu koumlnnen von ausschlaggebender Bedeutung Daszlig die Waumlhler die in der Mehrzahl aus Arbeitern und Bauern bestehen so selten einen ihrer Leute als Vertreter waumlhlen erklaumlrt sich daraus daszlig ihre Standesgenossen keinen Nimbus bei ihnen haben Sie waumlhlen einen ihresgleichen fast nur aus nebensaumlchlichen Gruumlnden etwa um einen hochgestellten Manne einem maumlchtigen Arbeitgeber entgegenzutreten weil der Waumlhler Tag fuumlr Tag die Abhaumlngigkeit von diesem empfindet und sich so einbildet einen Augenblick seiner Herr zu seinAber der Besitz des Nimbus genuumlgt fuumlr den Bewerber nicht zur Sicherung des Erfolges Der Waumlhler haumllt darauf daszlig man seinen Begierden und Eitelkeiten schmeichelt Der Kandidat muszlig uumlbertriebene Schmeicheleien anwenden und darf kein Bedenken tragen die phantastischsten Ver- sprechungen zu machen Vor Arbeitern kann man ihre Arbeitgeber nicht genug beleidigen und schmaumlhen Den gegnerischen Bewerber wiederum muszlig man zu vernichten suchen indem man durch Behauptung Wiederholung und Uumlbertragung zu beweisen sucht er sei der aumlrgste Schuft von dem jeder wisse daszlig er etliche Verbrechen begangen habe Selbstredend ist es unnoumltig etwas vorbringen zu wollen was einem Beweis aumlhnelt Ist der Gegner ein schlechter Kenner der Massenpsychologie so wird er sich durch Beweise zu rechtfertigen suchen anstatt auf verleum- derische Behauptungen einfach mit andern ebenso verleum- derischen zu antworten und wird dann keine Aussicht auf Sieg habenDas geschriebene Programm des Kandidaten darf nicht sehr entschieden sein weil seine Gegner es ihm spaumlter ent- gegenhalten koumlnnten aber sein muumlndliches Programm kann nicht uumlbertrieben genug sein Die auszligerordentlichsten Re-

129DIE WAumlHLERMASSEN

formen duumlrfen in Aussicht gestellt werden Fuumlr den Augen- blick erzielen diese Uumlbertreibungen groszlige Wirkung und fuumlr die Zukunft verpflichten sie zu nichts Der Waumlhler kuumlm- mert sich spaumlter tatsaumlchlich nie darum ob der Gewaumlhlte sein Glaubensbekenntnis dem man begeistert zustimmte und das angeblich die Voraussetzung fuumlr das Zustande- kommen der Wahl war auch wirklich befolgt hatWir erkennen hier alle Mittel der Uumlberredung wieder die oben beschrieben wurden Wir werden sie auch in der Wirkung der Worte und R e d e w e n d u n g e n wieder- finden auf deren maumlchtige Herrschaft wir bereits hinge- wiesen haben Der Redner der die Massen zu behandeln weiszlig fuumlhrt sie nach Belieben Ausdruumlcke wie der verderb- liche Kapitalismus die gemeinen Ausbeuter der bewun- dernswerte Arbeiter die Sozialisierung der Besitztuumlmer u a rufen stets die gleiche schon etwas verbrauchte Wir- kung hervor Der Bewerber aber der eine neue Rede- wendung entdeckt die jeder bestimmten Bedeutung er- mangelt und sich daher den verschiedensten Wuumlnschen an- zupassen vermag erzielt unfehlbar Erfolg Die blutige spanische Revolution von 873 kam durch eins jener magi- schen vieldeutigen Worte zustande das jeder nach seiner Weise deuten kann Ein zeitgenoumlssischer Autor hat uumlber ihre Entstehung in so denkwuumlrdiger Weise berichtet daszlig sie wiedergegeben zu werden verdient

bdquoDie Radikalen hatten entdeckt daszlig eine einheitliche Re- publik eine verkappte Monarchie sei und ihnen zu Ge- fallen hatten die Cortes einstimmig die verbuumlndete Repu- blik ausgerufen ohne daszlig auch nur einer der Abstimmen- den haumltte sagen koumlnnen woruumlber abgestimmt wurde Aber diese Redewendung bezauberte die Welt man war wie im Rausch im Delirium Die Herrschaft der Tugend und des Gluumlcks war auf Erden gegruumlndet worden Ein Repu- blikaner dem von seinem Feind die Bezeichnung eines Verbuumlndeten versagt wurde fuumlhlte sich durch einen toumld- lichen Schimpf beleidigt Auf den Straszligen ging man mit den Worten Salud y republica federallsquo aufeinander zu

130 DIE VERSCHIEDENEN ARTEN VON MASSEN

Dann stimmte man der heiligen Zuchtlosigkeit und Selbst- herrlichkeit der Soldaten Lobeshymnen an Was war die verbuumlndete Republiklsquo Die einen verstanden darunter die Gleichberechtigung der Provinzen Einrichtungen nach dem Muster der Vereinigten Staaten oder Aufhebung der ein- heitlichen Verwaltung andre wieder dachten an die Besei- tigung aller Obrigkeit den baldigen Beginn der groszligen sozialen Abrechnung Die Sozialisten in Barcelona und Andalusien predigten die unumschraumlnkte Selbstaumlndigkeit der Gemeinden und forderten die Bildung von zehntausend unabhaumlngigen Gemeinden in Spanien die sich selbst ihre Gesetze geben und gleichzeitig Polizei und Heer aufheben wuumlrden Bald sah man daszlig sich der Aufstand in den suumld- lichen Provinzen von Stadt zu Stadt von Dorf zu Dorf ausbreitete Sobald eine Gemeinde ihr pronunciamentolsquo er- lassen hatte war ihre erste Sorge Telegraphen und Eisen- bahnen zu zerstoumlren um alle Verbindungen mit der Um- gegend und mit Madrid abzuschneiden Der elendeste Flek- ken wollte in seiner eigenen Kuumlche kochen Der Foumlderalis- mus hatte einem rohen mordbrennerischen und moumlrderi- schen Kantonalismus Platz gemacht und uumlberall wurden blutige Saturnalien gefeiertldquoWas den Einfluszlig der logischen Beweisgruumlnde auf den Geist der Waumlhler anbelangt so duumlrfte man nie den Bericht uumlber eine Wahlversammlung gelesen haben um nicht daruumlber im klaren zu sein Man tauscht dort Behauptungen Be- schimpfungen manchmal auch Puumlffe aus doch niemals Gruumlnde Es wird nur dann einen Augenblick ruhig wenn ein wuumlrdiger Teilnehmer umstaumlndlich ankuumlndigt daszlig er an den Kandidaten eine jener verwickelten Fragen richten wolle die die Zuhoumlrer immer sehr belustigen Die Zu- friedenheit der Gegner dauert aber nicht lange denn die Stimme des Vorredners wird bald von dem Geheul seiner Widersacher uumlbertoumlnt Als Schilderung der Grundform oumlffentlicher Versammlungen sind folgende Berichte anzu- sehen die aus hunderten aumlhnlicher herausgegriffen den Tageszeitungen entnommen sind

DIE WAumlHLERMASSEN 131

bdquoNachdem ein Ordner die Anwesenden ersucht hat einen Vorsitzenden zu waumlhlen bricht der Sturm los Die An- archisten stuumlrzen auf den Schauplatz um sich des Redner- pultes im Sturm zu bemaumlchtigen Die Sozialisten vertei- digen ihn energisch man stoumlszligt einander schimpft sich gegenseitig Spion Bestochener und dergleichen hellip ein Buumlr- ger zieht sich mit einem blauen Auge zuruumlck Endlich ist mitten im Tumult so gut es geht der geschaumlfts- fuumlhrende Ausschuszlig eroumlffnet und die Rednerbuumlhne bleibt dem Genossen XDer Redner geht in scharfem Zug gegen die Sozialisten los die ihn unterbrechen und schreien Trottel Bandit Schurkelsquo usw Genosse X beantwortet diese Schimpfnamen durch Darlegung einer Theorie wonach die Sozialisten Idiotenlsquo oder Possenreiszligerlsquo sindldquobdquoDie Allemanistische Partei hatte gestern abend im Saale der Kaufmannschaft in der Rue Faubourg-du-Temple eine groszlige Versammlung fuumlr das Fest der Arbeiterschaft am Mai einberufen hellip Das Losungswort war Stille und RuheGenosse Ghellip bezeichnet die Sozialisten als Trottellsquo und SchwindlerlsquoDiese Worte veranlassen Redner und Zuhoumlrer zu schimp- fen sie geraten ins Handgemenge Stuumlhle Baumlnke Tische spielen ihre Rolle usw uswldquoMan glaube ja nicht diese Art der Auseinandersetzung sei nur einer bestimmten Art von Waumlhlern eigen und ab- haumlngig von ihrer gesellschaftlichen Stellung In jeder be- liebigen Versammlung und bestuumlnde sie auch nur aus aka- demisch Gebildeten nimmt die Auseinandersetzung leicht dieselben Formen an Ich habe gezeigt daszlig die Menschen als Glieder der Masse zur geistigen Angleichung neigen dafuumlr werden wir jederzeit den Beweis finden Als Beleg diene folgender Auszug aus einem Bericht uumlber eine Ver- sammlung die ausschlieszliglich aus Studenten bestand

bdquoJe weiter der Abend vorschritt um so heftiger wurde der Tumult Ich glaube nicht daszlig ein einziger Redner zwei

132 DIE VERSCHIEDENEN ARTEN VON MASSEN

Saumltze ohne Unterbrechung vorbringen konnte Fortwaumlh- rend ertoumlnten Rufe von der einen oder anderen Seite oder von allen Seiten zugleich man klatschte Beifall man pfiff erregte Auseinandersetzungen entspannen sich zwischen ver- schiedenen Anwesenden Stoumlcke wurden drohend geschwun- gen man stampfte im Takt auf den Boden Wuumlstes Geschrei verfolgte die Stoumlrenfriede Hinaus Auf die TribuumlneHerr Chellip uumlberschuumlttet die Vereinigung mit niedertraumlch- tigen und gehaumlssigen Beiwoumlrtern wie ungeheuerlich ge- mein kaumluflich und rachsuumlchtig und erklaumlrt er wolle sie vernichten uswldquoMan konnte sich fragen wie sich unter solchen Bedingun- gen die Meinung eines Waumlhlers bilden kann Aber um eine derartige Frage zu stellen muumlszligte man sich einer erstaun- lichen Taumluschung uumlber den Grad von Freiheit hingeben dessen sich eine Gesamtheit erfreut Die Massen haben nur eingefloumlszligte nie vernuumlnftige Meinungen Diese Meinungen und Abstimmungen der Waumlhler liegen in den Haumlnden der Wahlausschuumlsse deren Fuumlhrer meistens einige Schankwirte sind die groszligen Einfluszlig auf die Arbeiter haben denen sie Kredit gewaumlhren bdquoWissen Sie was ein Wahlausschuszlig istldquoschreibt Scheacuterer einer der eifrigsten Verteidiger der Demo- kratie bdquoganz einfach der Schluumlssel zu unsren Einrichtungen das Hauptstuumlck der politischen Maschinerie Frankreich wird heute von den Ausschuumlssen regiert ldquoEs ist denn auch nicht allzu schwer die zu beeinflussen wenn der Bewerber nur einigermaszligen annehmbar ist und

Die Ausschuumlsse moumlgen sie nun Klubs Syndikate usw heiszligen bilden viel- leicht die furchtbarste Gefahr die uns durch die Macht der Massen droht Sie sind tatsaumlchlich die unpersoumlnlichste und daher druumlckendste Form der Gewalt- herrschaft Die Leiter der Ausschuumlsse die im Namen einer Gesamtheit zu sprechen und zu handeln scheinen sind aller Verantwortung enthoben und koumlnnen sich alles erlauben Der grausamste Tyrann haumltte niemals gewagt von den Verbannungen auch nur zu traumlumen die vom Revolutionsausschuszlig angeordnet wurden Sie hatten den Konvent verkleinert und regelrecht zuge- schnitten sagt Barras Solange er in ihrem Namen sprechen durfte war Ro- bespierre unumschraumlnkter Herr An dem Tage als sich der schreckliche Diktator selbstsuumlchtig von ihnen trennte schlug die Stunde seines Untergangs Herr- schaft der Massen heiszligt Herrschaft der Ausschuumlsse also der Fuumlhrer Einen haumlrteren Despotismus kann man sich nicht vorstellen

DIE WAumlHLERMASSEN 133

uumlber genuumlgende Mittel verfuumlgt Nach dem Eingestaumlndnis der Geldgeber genuumlgten drei Millionen um die vielfache Wahl des General Boulanger durchzusetzen Das ist die Psychologie der Waumlhlermassen Sie ist die gleiche wie die der andern Massen Weder besser noch schlechterIch will denn auch aus dem Vorstehenden keinen Schluszlig gegen das allgemeine Stimmrecht ziehen Haumltte ich uumlber sein Geschick zu entscheiden so wuumlrde ich es so beibe- halten wie es ist und zwar aus praktischen Gruumlnden die sich eben aus unsrer Untersuchung uumlber die Psychologie der Massen ergeben und die ich auseinandersetzen werde wenn ich erst an seine Nachteile erinnert habeDie Nachteile des allgemeinen Stimmrechts fallen ohne Zweifel zu sehr in die Augen als daszlig man sie verkennen koumlnnte Es ist nicht in Abrede zu stellen daszlig die Kulturen das Werk einer kleinen Minderheit uumlberlegener Geister ge- wesen sind diese bilden die Spitze einer Pyramide deren Stufen nach unten gemaumlszlig der Abnahme des geistigen Wer- tes breiter werden und die tieferen Schichten eines Volkes darstellen Die Groumlszlige einer Kultur darf gewiszlig nicht von dem Stimmrecht untergeordneter Elemente abhaumlngen die nichts als eine Zahl bedeuten Ohne Zweifel sind die Ab- stimmungen der Massen recht oft gefaumlhrlich Sie haben uns bereits mehrere Invasionen gekostet und mit dem Triumph des Sozialismus werden uns die Einfaumllle der Volksherr- schaft gewiszlig noch viel teuerer zu stehn kommen hellipAber diese Einwaumlnde die theoretisch tadellos sind buumlszligen fuumlr die Praxis jede Kraft ein wenn man sich der unuumlber- windlichen Macht der Ideen erinnert die in Glaubenssaumltze umgewandelt wurden Der Glaubenssatz von der Herr- schaft der Massen ist vom philosophischen Standpunkt ebensowenig zu verfechten wie die religioumlsen Glaubenssaumltze des Mittelalters aber er hat heute die unumschraumlnkte Macht Daher ist er ebenso unangreifbar wie einst unsere religioumlsen Ideen Man stelle sich einen modernen Freidenker vor der durch eine magische Gewalt ins tiefste Mittelalter versetzt wuumlrde Glaubt man etwa er wuumlrde wenn er die

134 DIE VERSCHIEDENEN ARTEN VON MASSEN

unumschraumlnkte Macht der religioumlsen Ideen die damals herrschten erkannt haumltte versucht haben sie zu bekaumlmp- fen Haumltte er daran gedacht die Existenz des Teufels und den Hexensabbath zu leugnen wenn er in die Haumlnde eines Richters gefallen waumlre der ihn unter der Anschuldigung einen Pakt mit dem Teufel geschlossen und den Hexen- sabbath besucht zu haben verbrennen lassen wollte Gegen die Uumlberzeugungen der Masse streitet man ebensowenig wie gegen Zyklone Der Glaubenssatz des allgemeinen Stimmrechts hat heute die Macht die einst die Lehren des Christentums besaszligen Redner und Schriftsteller sprechen daruumlber mit einer Achtung und mit Schmeicheleien die Ludwig XIV nicht kennengelernt hat Man muszlig ihm dieselbe Beachtung schenken wie allen religioumlsen Dogmen Die Zeit allein wirkt auf sieEs waumlre uumlbrigens um so zweckloser diese Lehre erschuumlttern zu wollen als sie offensichtliche Gruumlnde fuumlr sich hat bdquoIn Zeiten der Gleichheitldquo sagt Tocqueville treffend bdquotraut einer dem andern nicht weil alle einander aumlhnlich sind aber gerade diese Aumlhnlichkeit gibt ihnen ein fast unbe- grenztes Vertrauen in das Urteil der Allgemeinheit Denn es erscheint nicht wahrscheinlich daszlig da alle die gleiche Einsicht haben die Wahrheit nicht auf der Seite der groumlszlig- ten Zahl zu finden sein sollldquoDarf man nun annehmen die Abstimmungen der Massen wuumlrden durch die Beschraumlnkung des Stimmrechts auf die Faumlhigen ndash wenn man will ndash eine Besserung erfahren Ich kann es keinen Augenblick annehmen und zwar aus Gruumln- den die ich oben bereits angefuumlhrt habe und die in der geistigen Bedeutungslosigkeit aller Gesamtheiten liegen wie sie auch immer zusammengesetzt sein moumlgen Ich wieder- hole in der Masse gleichen sich die Menschen stets ein- ander an und die Abstimmung von vierzig Akademikern uumlber allgemeine Fragen gilt nicht mehr als die von vierzig Wassertraumlgern Ich bin ganz und gar uumlberzeugt daszlig keine der Abstimmungen die dem allgemeinen Stimmrecht so oft vorgehalten werden wie etwa die Erneuerung des Kaiser-

DIE WAumlHLERMASSEN 135

tums anders ausgefallen waumlre wenn man die Abstimmen- den ausschlieszliglich aus dem Kreise der Gelehrten und Ge- bildeten genommen haumltte Man erwirbt durch die Kenntnis des Griechischen oder der Mathematik dadurch daszlig man Architekt Tierarzt Arzt oder Advokat ist keine beson- dere Einsicht in Fragen des Gefuumlhls Alle unsere National- oumlkonomen sind gelehrte Leute in der Mehrzahl Profes- soren und Akademiker Gibt es nun eine einzige allgemeine Frage wie z B das Schutzzollsystem in der sie uumlberein- stimmten Vor den sozialen Fragen die voll sind von vielfachen Unbekannten und der Geheim- und Gefuumlhls- logik unterliegen gleichen sich alle Unwissenheiten ausWenn also auch nur von Gelehrsamkeit strotzende Waumlhler den Wahlkoumlrper bildeten so wuumlrden ihre Abstimmungen doch nicht besser sein als die von heute Sie wuumlrden sich vor allem durch ihre Gefuumlhle und ihren Parteigeist leiten lassen Wir haumltten nicht eine Schwierigkeit weniger als jetzt und obendrein die harte Tyrannei der KastenOb nun das Wahlrecht beschraumlnkt oder allgemein ist ob es in einem republikanischen oder in einem monarchischen Lande herrscht ob es in Frankreich Belgien Griechenland Portugal oder Spanien gilt uumlberall ist das Wahlrecht der Massen aumlhnlich und gibt oft die unbewuszligten Anspruumlche und Beduumlrfnisse der Rasse wieder Der Durchschnitt der Gewaumlhlten stellt fuumlr jedes Volk die Durchschnittsseele seiner Rasse dar die von einer Generation zu andern so ziemlich die gleiche bleibtUnd so kommen wir wiederum auf diesen Grundbegriff der Rasse zuruumlck dem wir schon so oft begegnet sind und auf den anderen daraus abzuleitenden Gedanken daszlig im Voumllkerleben die Einrichtungen und Regierungsformen nur eine sehr unwesentliche Rolle spielen Die Voumllker werden vor allem durch die Rassenseele geleitet d h durch die Ansammlung von Erbmasse deren Summe diese Seele bildet Die Rasse und das Getriebe der taumlglichen Beduumlrf- nisse das sind die geheimnisvollen Maumlchte die unsere Ge- schicke lenken

136 DIE VERSCHIEDENEN ARTEN VON MASSEN

5 KAPITEL

Die Parlamentsversammlungen

Die Parlamentsversammlungen gehoumlren zu den ungleich- artigen nicht namenlosen Massen Obwohl ihre Zusam- mensetzung je nach Zeiten und Voumllkern wechselt gleichen sie einander durch ihre Charaktermerkmale doch sehr Der Rasseneinfluszlig macht sich hier wohl in einer Milderung oder Verstaumlrkung bemerkbar verhindert das Heraustreten dieser Charakterzuumlge jedoch nicht Die Parlamentsver- sammlungen der verschiedenen Laumlnder wie Griechenland Italien Portugal Spanien Frankreich und Amerika wei- sen groszlige Aumlhnlichkeit in ihren Verhandlungen und Ab- stimmungen auf und uumlberlassen die Regierungen dem Kampf mit den gleichen SchwierigkeitenDie parlamentarische Regierung faszligt uumlbrigens das Ideal aller modernen Kulturvoumllker in sich zusammen Es bringt den psychologisch falschen aber allgemein anerkannten Gedanken zum Ausdruck daszlig eine Vereinigung von vie- len Menschen im gegebenen Falle faumlhiger ist eine kluge und unabhaumlngige Entscheidung zu treffen als eine kleine AnzahlIn den Parlamentsversammlungen finden sich die Grund- merkmale der Massen wieder Einseitigkeit der Ideen Erregbarkeit Beeinf luszligbarkeit Uumlberschwenglichkeit der Gefuumlhle uumlberwiegender Einfluszlig der Fuumlhrer Aber infolge ihrer besonderen Zusammensetzung weisen die parlamen- tarischen Massen einige Unterschiede auf Wir werden sie sogleich feststellenDie Einseitigkeit der Anschauungen gehoumlrt zu den aus- gepraumlgtesten Merkmalen dieser Versammlungen Man trifft bei allen Parteien namentlich der lateinischen Voumllker die unveraumlnderliche Neigung die verwickeltsten sozialen Fra- gen durch die einfachsten begrifflichen Grundsaumltze und durch allgemeine Gesetze zu loumlsen die in jedem Falle an- gewandt werden koumlnnen

Natuumlrlich sind die Grundsaumltze bei jeder Partei verschie-den aber allein durch die Tatsache ihrer Vereinigung zu Massen haben die einzelnen stets die Neigung den Wert dieser Grundsaumltze zu uumlberschaumltzen und sie zu den aumluszliger- sten Folgerungen zu treiben Uumlbrigens vertreten die Parla- mente hauptsaumlchlich die aumluszligersten AnsichtenDer vollkommenste Typus der Einseitigkeit der Versamm- lungen wurde durch die Jakobiner der groszligen Franzoumlsi- schen Revolution verwirklicht Da sie alle Dogmatiker und Logiker waren die den Kopf voll verschwommener Ge- meinplaumltze hatten bemuumlhten sie sich unbekuumlmmert um die Tatsachen feste Grundsaumltze anzuwenden und man hat mit Recht behauptet sie haumltten die Revolution erlebt ohne sie zu sehen Sie bildeten sich ein mit einigen Glau- benssaumltzen eine Gesellschaft von Grund auf umgestalten und eine verfeinerte Kultur auf eine laumlngst uumlberschrittene Stufe der gesellschaftlichen Entwicklung zuruumlckbringen zu koumlnnen Die gleiche voumlllige Einseitigkeit praumlgt sich auch in den Mitteln aus die sie zur Verwirklichung ihres Trau- mes anwandten In Wirklichkeit beschraumlnkten sie sich auf die gewaltsame Zerstoumlrung dessen was sie stoumlrte Uumlbrigens beseelte alle Girondisten Bergpartei Thermidorianer usw derselbe GeistDie parlamentarischen Massen sind Einfluumlssen sehr zugaumlng- lich und die Suggestion geht hier wie bei den uumlbrigen Massen von Fuumlhrern aus die ein Nimbus umgibt Doch hat in den Parlamentsversammlungen die Beeinflussung sehr klare Grenzen die wir abstecken muumlssenUumlber alle Fragen lokalen Interesses hat jedes Mitglied einer Versammlung feste unverruumlckbare Ansichten die durch kein Beweismittel zu erschuumlttern sind Nicht einmal das Talent eines Demosthenes koumlnnte die Abstimmung eines Abgeordneten uumlber Fragen des Schutzzollsystems oder das Branntweinprivileg aumlndern ndash worin sich die Forde- rungen einfluszligreicher Waumlhler aumluszligern Die vorangegangene Beeinflussung durch die Waumlhler hat solches Uumlbergewicht

138 DIE VERSCHIEDENEN ARTEN VON MASSEN

daszlig alle andern Einfluumlsse aufgehoben sind und eine unbe- dingte Festigkeit der Meinung aufrechterhalten wird In allgemeinen Fragen aber dem Sturz eines Ministeriums der Auflage einer neuen Steuer usw bestehen keine fest- gelegten Meinungen und die Suggestionen koumlnnen sich auswirken wenn auch nicht ganz so stark wie in einer gewoumlhnlichen Masse Jede Partei hat ihre Fuumlhrer die bis- weilen gleichstarken Einf luszlig ausuumlben Der Abgeordnete befindet sich also zwischen entgegengesetzten Einfluumlssen und es kann nicht ausbleiben daszlig er unsicher wird Daher sieht man ihn zuweilen schon nach einer Viertelstunde in entgegengesetztem Sinne abstimmen und einem Gesetz einen Zusatz beifuumlgen der es aufhebt etwa den Industriellen das Recht der Auswahl und der Entlassung ihrer Arbeiter neh- men und dann diese Maszlignahmen durch einen Zusatz so ziemlich wieder fuumlr unguumlltig erklaumlrenDaher zeigt eine Kammer in jeder Legislaturperiode neben sehr festen Anschauungen andere ganz unbestimmte Da aber im Grunde die allgemeinen Fragen die meisten sind so herrscht Unentschiedenheit vor die durch die staumlndige Furcht vor dem Waumlhler genaumlhrt wird dessen verborgener Einfluszlig dem der Fuumlhrer stets das Gegengewicht zu halten weiszligUnd doch sind in den Auseinandersetzungen wenn die Teilnehmer nicht von vornherein festgelegte Meinungen haben die Fuumlhrer die eigentlichen HerrenFuumlhrer sind offenbar notwendig denn man findet sie als Parteihaumlupter in allen Laumlndern Sie sind die wahren Herren der Versammlungen Die Menschen die in den Massen vereinigt sind wuumlrden ohne Fuumlhrer nicht fertig werden und so zeigen die Abstimmungen im allgemeinen nur die Anschauungen einer kleinen MinderheitIch wiederhole die Fuumlhrer wirken nur sehr wenig durch Auf diese schon im voraus durch die Beduumlrfnisse der Waumlhler festgelegten Ansichten bezieht sich offenbar folgende Bemerkung eines alten englischen Parlamentariers bdquoIn den fuumlnfzig Jahren meiner Anwesenheit in Westminster habe ich Tausende von Reden gehoumlrt und nur wenige haben meine Ansichten veraumlndert aber nicht eine einzige hat auf meine Abstimmung Einfluszlig gehabtldquo

DIE PARLAMENTSVERSAMMLUNGEN 139

ihre Beweisgruumlnde sehr stark aber durch ihren Nimbus Wenn irgendein Umstand ihn aufhebt verlieren sie jeden EinfluszligDieser Fuumlhrernimbus ist persoumlnlich und hat nichts mit Namen und Beruumlhmtheit zu tun Jules Simon gibt uns recht eigenartige Beispiele dafuumlr wenn er uumlber die groszligen Maumlnner der Versammlung von 848 der er beiwohnte sagt

bdquoNoch zwei Monate vor seiner Allgewalt war Louis Na- poleon nichtsVictor Hugo bestieg die Rednertribuumlne Aber er hatte keinen Erfolg Man houmlrte ihn an wie man Felix Pyat anhoumlrte aber er hatte nicht den gleichen Beifall Ich liebe seine Ideen nichtlsquo sagte mir Vaulabelle uumlber Felix Pyat aber er ist einer der groumlszligten Schriftsteller und der groumlszligte Redner Frankreichslsquo Der seltene und maumlchtige Geist eines Edgar Quinet galt nichts Er hatte seinen volkstuumlmlichen Augenblick vor Eroumlffnung der Versammlung gehabt in der Versammlung kam er nicht aufDie politischen Versammlungen sind die Staumltten der Welt wo der Glanz des Genies am wenigsten zur Geltung kommt Man rechnet hier nur mit einer Beredsamkeit die der Zeit und dem Ort angepaszligt ist und mit Diensten die man den Parteien erwiesen hat nicht dem Vaterland Damit Lamartine 848 und Thiers 87 zur Anerkennung gelangten bedurfte es der dringenden unabweisbaren Wichtigkeit als treibender Kraft Als die Gefahr voruumlber war verschwand mit der Furcht auch die DankbarkeitldquoIch habe die Stelle nur der Tatsachen wegen wiedergege- ben die sie enthaumllt nicht wegen der versuchten Erklaumlrun- gen sie zeigen nur eine mittelmaumlszligige Psychologie Eine Masse wuumlrde ihren Charakter als Masse ja sogleich ver- lieren wenn sie den Fuumlhrern ihre Dienste moumlgen sie nun dem Vaterland oder der Partei geleistet worden sein in Anrechnung braumlchte Die Masse unterliegt dem Nimbus des Fuumlhrers ohne daszlig ein Gefuumlhl des Vorteils oder der Dankbarkeit dabei mitspielt

140 DIE VERSCHIEDENEN ARTEN VON MASSEN

Der Fuumlhrer der uumlber genuumlgend Nimbus verfuumlgt besitzt denn auch eine fast unumschraumlnkte Macht Man kennt die ungeheure Wirkung die ein beruumlhmter Abgeordneter dank seines Nimbus den er dann infolge gewisser finanzieller Vorkommnisse augenblicklich einbuumlszligte jahrelang ausgeuumlbt hat Auf ein bloszliges Zeichen von ihm wurden Minister ge- stuumlrzt Ein Schriftsteller hat in folgenden Zeilen die Trag- weite seines Wirkens klar gezeichnet

bdquoHerrn Chellip besonders verdanken wir es daszlig wir Ton- king dreimal so teuer erkaufen muszligten als es haumltte sein duumlrfen daszlig wir auf Madagaskar nur eine unsichere Stel- lung gewonnen haben daszlig wir uns ein ganzes Reich am unteren Niger rauben lieszligen daszlig wir in Aumlgypten unsere Vorherrschaft eingebuumlszligt haben ndash Die Theorien von Herrn Chellip haben uns mehr Gebiet gekostet als die Nie- derlagen Napoleons IldquoWir duumlrfen dem Fuumlhrer deswegen nicht zu sehr zuumlrnen Gewiszlig ist es uns teuer zu stehen gekommen aber ein gro- szliger Teil seines Einflusses hing mit seiner Anschmiegung an die oumlffentliche Meinung zusammen die in kolonialen Fra- gen keineswegs die von heute war Selten schreitet ein Fuumlhrer der oumlffentlichen Meinung voran fast immer be- gnuumlgt er sich damit ihre Irrtuumlmer anzunehmenDie Uuml b e r r e du n g s m i t t e l der Fuumlhrer sind abgesehen von ihrem Nimbus die Faktoren die wir schon wieder- holt aufgezaumlhlt haben Um sie geschickt zu handhaben muszlig der Fuumlhrer wenigstens unbewuszligt die Psychologie der Massen erfaszligt haben und wissen wie man zu ihnen zu sprechen hat Vor allem muszlig er den bezaubernden Ein- fluszlig der Worte Redewendungen und Bilder kennen Er muszlig eine besondere Beredsamkeit besitzen die aus ener- gischen Behauptungen die nicht zu beweisen sind und eindrucksvollen von ganz allgemeinen Urteilen umrahm- ten Bildern zusammengesetzt ist Diese Art Beredsamkeit findet man in allen Versammlungen das englische Parla- ment das ausgeglichenste von allen inbegriffen

bdquoWir koumlnnen bestaumlndig die Verhandlungen im Unterhause

DIE PARLAMENTSVERSAMMLUNGEN 141

verfolgenldquo bemerkt der englische Philosoph Maine bdquowo alle Verhandlungen im Austausch recht schwacher Gemein- plaumltze und grober Anzuumlglichkeiten bestehn Auf die Ein- bildungskraft einer reinen Demokratie uumlbt diese Art allge- meiner Redensarten eine erstaunliche Wirkung aus Es wird immer leicht zu erreichen sein daszlig eine Masse allge- meinen Versicherungen zustimmt die mit packenden Wor- ten vorgebracht werden obwohl sie sich nie bewahrheitet haben und ihre Verwirklichung vielleicht gar nicht moumlg- lich istldquoWie die angefuumlhrte Stelle zeigt kann die Bedeutung der bdquoSchlagworteldquo gar nicht uumlberschaumltzt werden Schon oumlfter haben wir die besondere Macht der Worte und Redewen- dungen betont die so gewaumlhlt wurden daszlig sie nur recht lebhafte Bilder hervorrufen Folgender Satz aus der Rede eines Fuumlhrers in Versammlungen gibt uns eine ausreichende Probe davon

bdquoAn dem Tage da einmal dasselbe Schiff den unlauteren Politiker und den moumlrderischen Anarchisten nach den Fiebergebieten der Verbannung bringt werden sie sich mit- einander unterhalten koumlnnen und werden sich gegenseitig als die beiden komplementaumlren Seiten derselben Gesell- schaftsordnung erscheinenldquoDas so hervorgerufene Bild ist klar und treffend und alle Gegner des Redners fuumlhlen sich dadurch getroffen Sie sehen mit einemmal die Fiebergebiete das Fahrzeug das sie hinfuumlhren koumlnnte denn gehoumlren sie nicht vielleicht zu der recht unbestimmt abgegrenzten Klasse der bedrohten Politiker Es befaumlllt sie also die gleiche dumpfe Furcht wie sie die Konventsmitglieder empfunden haben muumlssen die durch die unbestimmten Reden Robespierres mehr oder weniger mit der Guillotine bedroht wurden und ihm unter dem Druck dieser Furcht stets nachgabenDie Fuumlhrer neigen alle dazu in die unwahrscheinlichsten Uumlbertreibungen zu verfallen Der Redner von dem ich soeben einen Satz anfuumlhrte konnte ohne groszligen Protest hervorzurufen behaupten daszlig die Bankiers und Priester

142 DIE VERSCHIEDENEN ARTEN VON MASSEN

Bombenwerfer bezahlten und die Verwaltungsraumlte der groszligen Finanzgesellschaften die gleiche Strafe verdienten wie die Anarchisten Auf die Massen wirken solche Mittel immer Die Behauptung ist nie zu stark der Ton nie zu drohend Nichts schuumlchtert die Zuhoumlrer mehr ein Durch Widerspruch fuumlrchten sie fuumlr Verraumlter oder Mitschuldige zu geltenDiese besondere Beredsamkeit hat wie gesagt stets alle Versammlungen beherrscht in kritischen Zeiten ist sie nur ausgepraumlgter In dieser Hinsicht ist es interessant die Re- den der groszligen Revolutionsredner zu lesen Sie fuumlhlten sich verpflichtet sich alle Augenblicke zu unterbrechen um das Verbrechen zu verdammen und die Tugend zu preisen dann brachen sie in Verwuumlnschungen gegen die Tyrannen aus und schwuren frei leben oder sterben zu wollen Die Anwesenden erhoben sich klatschten stuumlrmisch Beifall und lieszligen sich dann beruhigt wieder niederZuweilen gibt es einen intelligenten und gebildeten Fuumlh- rer doch das schadet ihm in der Regel mehr als es ihm nuumltzt Die Intelligenz die die Verbundenheit aller Dinge erkennt die Verstehen und Erklaumlren ermoumlglicht macht nachgiebig und vermindert die Kraft und Gewalt der Uumlberzeugungen erheblich die die Apostel noumltig haben Die groszligen Fuumlhrer aller Zeiten die der Revolution hauptsaumlch- lich waren sehr beschraumlnkt und haben deshalb den groumlszlig- ten Einfluszlig ausgeuumlbtDie Reden des beruumlhmtesten unter ihnen Robespierre ver- bluumlffen oft durch ihre Zusammenhanglosigkeit Wenn man sie liest findet man keine annehmbare Erklaumlrung fuumlr die ungeheure Rolle des maumlchtigen Diktators

bdquoGemeinplaumltze und Weitschweifigkeiten paumldagogischer Be- redsamkeit und lateinischer Bildung im Dienste einer eher kindlichen als platten Seele die sich beim Angriff wie bei der Verteidigung auf das komm doch ranlsquo von Schuumllern zu beschraumlnken scheint Nicht ein Gedanke keine Wen- dung kein Einfall ndash es ist die Langeweile in houmlchster Stei- gerung Man houmlrt verdrieszliglich auf zu lesen und hat Lust

DIE PARLAMENTSVERSAMMLUNGEN 143

mit dem liebenswuumlrdigen Camille Desmoulins achlsquo zu seufzenldquoMan erschrickt wenn man bedenkt welche Macht ein Mann der sich mit einem Nimbus zu umgeben weiszlig durch die Verbindung von starker Uumlberzeugung mit auszligerge- woumlhnlicher Beschraumlnktheit des Geistes erlangt Das sind jedoch die notwendigen Vorbedingungen um die Hinder- nisse zu uumlbersehen und um wollen zu koumlnnen Instinktiv erkennen die Massen in diesen kraftvoll Uumlberzeugten die Gebieter die sie brauchenDer Erfolg einer Rede in einer Parlamentsversammlung haumlngt fast ausschlieszliglich vom Nimbus des Redners ab keineswegs von den Gruumlnden die er vorbringtDer unbekannte Redner dessen Rede gute Beweisgruumlnde aber nur Beweisgruumlnde enthaumllt hat keine Aussicht auch nur angehoumlrt zu werden Ein ehemaliger Abgeordneter Herr Descubes hat das Bild des einfluszliglosen Abgeordneten in folgenden Zeilen entworfen

bdquoSobald er die Rednerbuumlhne bestiegen hat nimmt er aus seiner Mappe einen Aktenstoszlig den er planmaumlszligig vor sich ausbreitet und beginnt voll ZuversichtEr schmeichelt sich die Uumlberzeugung die ihn beseelt auf die Gemuumlter der Houmlrer uumlbertragen zu koumlnnen Er hat seine Beweisgruumlnde erwogen steckt uumlbervoll von Zahlen und Beweisen und ist uumlberzeugt recht zu haben Jeder Widerstand wird vor der Klarheit seiner Darlegungen schwinden Er beginnt im Vertrauen auf sein gutes Recht und die Aufmerksamkeit seiner Kollegen die gewiszlig nichts mehr wuumlnschen als sich vor der Wahrheit beugen zu duumlrfenEr spricht ndash und sofort wundert er sich uumlber die Bewe- gung im Saale und den Laumlrm der so entsteht er ist uumlber- rascht und etwas aufgeregtWarum wird es nicht ruhig Weshalb diese allgemeine Un- aufmerksamkeit Was denken denn die die sich miteinan- der unterhalten Welch dringender Grund veranlaszligt einen andern seinen Platz zu verlassen

144 DIE VERSCHIEDENEN ARTEN VON MASSEN

Auf seinem Gesicht zeigt sich Unruhe er runzelt die Stirn haumllt inne Durch den Vorsitzenden ermutigt faumlhrt er mit erhobener Stimme fort Dieselbe Unaufmerksamkeit Er uumlberanstrengt seine Stimme wird unruhig der Laumlrm um ihn herum steigert sich Er houmlrt sich selbst nicht mehr haumllt wieder inne dann spricht er so gut es geht weiter aus Furcht sein Stillschweigen koumlnne den peinlichen Ruf Schluszliglsquo heraufbeschwoumlren Der Laumlrm wird unertraumlglichldquo

In einem gewissen Grade der Erregung gleichen die Parla- mentsversammlungen voumlllig den gewoumlhnlichen ungleich- artigen Massen und ihre Gefuumlhle weisen folglich die Eigentuumlmlichkeit auf stets uumlberschwenglicher Art zu sein Sie lassen sich dann zu den groumlszligten Heldentaten oder zu den aumlrgsten Ausschreitungen hinreiszligen Der einzelne houmlrt auf er selbst zu sein und wird fuumlr Maszlignahmen stimmen die seinen persoumlnlichen Vorteilen ganz entgegengesetzt sindDie Geschichte der Revolution zeigt in welchem Maszlige die Versammlungen unbewuszligt werden und Beeinflussungen unterworfen sein koumlnnen die ihren Vorteilen ganz wider- sprechen Es war fuumlr den Adel ein ungeheures Opfer auf seine Vorrechte zu verzichten und doch geschah es in jener beruumlhmten Nacht der Konstituante Der Verzicht auf ihre Unverletzlichkeit bedeutete fuumlr die Konventsmitglieder eine staumlndige Todesdrohung und doch leisteten sie ihn und fuumlrchteten nicht einander gegenseitig zu dezimieren ob- wohl sie genau wuszligten daszlig das Schafott dem heute ihre Kollegen zugefuumlhrt wurden morgen ihnen selbst bevor- stand Aber da sie jenen Grad von Automatismus erreicht hatten den ich geschildert habe konnte kein Bedenken sie hindern sich den Einfluumlssen hinzugeben die sie be- zwangen Folgende Stelle aus den Erinnerungen Billaud- Varennes der zu ihnen gehoumlrt ist in dieser Hinsicht durch- aus allgemeinguumlltig bdquoDie Entscheidungen die man uns so sehr vorwirft wollten wir noch zwei ja einen Tag vorher meistens selbst nicht die Krise allein rief sie hervorldquo Nichts ist zutreffender

DIE PARLAMENTSVERSAMMLUNGEN 145

Dieselben Erscheinungen des Unbewuszligten traten waumlhrend aller stuumlrmischen Sitzungen des Konvents auf

bdquoSie billigen und beschlieszligen was sie verabscheuenldquo sagt Taine bdquonicht allein Dummheiten und Torheiten auch Ver- brechen Ermordung Unschuldiger Freundesmord Ein- muumltig und unter dem lebhaftesten Beifall schicken die Linke und die Rechte vereint Danton ihr natuumlrliches Oberhaupt den groumlszligten Foumlrderer und Fuumlhrer der Revo- lution aufs Schafott Einmuumltig und unter groumlszligtem Beifall stimmt die Rechte mit der Linken vereint fuumlr die aumlrgsten Beschluumlsse der revolutionaumlren Regierung Einmuumltig und unter Rufen der Bewunderung und Begeisterung unter leidenschaftlichen Zustimmungskundgebungen fuumlr Collot drsquoHerbois Couthon Robespierre haumllt der Konvent durch unvorbereitete vielfache Wiederwahl die moumlrderische Re- gierung aufrecht obwohl die Zentrumspartei sie wegen ihrer Mordtaten haszligt und die Bergpartei sie verabscheut weil ihre Reihen durch sie gelichtet werden Zentrum und Berg Mehr- und Minderheit enden damit ihren eignen Selbstmord zu foumlrdern Am 22 Prairial hat sich der ganze Konvent ergeben am 8 Thermidor waumlhrend der ersten Viertelstunde nach der Rede Robespierres abermalsldquoDas Bild mag duumlster erscheinen dennoch ist es wahrheits- getreu Die genuumlgend erregten und beeinf luszligten Parla- mentsversammlungen weisen dieselben Kennzeichen auf Sie werden zur beweglichen Herde die jedem Antrieb ge- horcht Folgende Schilderung der Versammlung von 848 die wir dem Parlamentarier Spuller verdanken dessen demokratische Gesinnung nicht angezweifelt werden kann ist ganz allgemeinguumlltig ich entnehme sie der bdquoRevue liteacuteraireldquo Man findet darin all die uumlberschwenglichen Ge- fuumlhle der Massen die ich beschrieben habe und die auszliger- ordentliche Beweglichkeit die imstande ist von einem Augenblick zum andern die Stufenleiter verschiedenster Gefuumlhle zu durchlaufen

bdquoZwietracht Eifersucht und Argwohn im Wechsel mit blindem Vertrauen und schrankenlosen Hoffnungen haben

146 DIE VERSCHIEDENEN ARTEN VON MASSEN

die Republikanische Partei ins Verderben gefuumlhrt Ihre Ahnungslosigkeit kann nur mit ihrem Miszligtrauen gegen alles verglichen werden Kein Sinn fuumlr Gesetzlichkeit kein Geist der Ordnung nur Furcht und Illusionen ohne Maszlig Bauer und Kind sind darin gleich Ihre Ruhe wetteifert mit ihrer Ungeduld Ihre Wildheit ist ebenso groszlig wie ihre Folgsamkeit Das ist die Eigentuumlmlichkeit eines un- reifen Temperaments und des Mangels an Erziehung Nichts setzt sie in Erstaunen alles verwirrt sie Zitternd feige und zugleich unverzagt und heldenhaft werden sie sich in die Flammen werfen und doch vor einem Schatten zuruumlckweichenWirkungen und Beziehungen der Dinge sind ihnen unbe- kannt Ebenso schnell entmutigt wie erregt sind sie allen Schrecken ausgesetzt entweder himmelhoch jauchzend oder zu Tode betruumlbt und haben nie den noumltigen Grad und das passende Maszlig Beweglicher als das Wasser spiegeln sie alle Farben wider und nehmen alle Formen an Auf wel- cher Grundlage muumlszligte sich eine Regierung aufbauen von der man hoffen koumlnnte daszlig sie bei ihnen festen Fuszlig fas- sen wuumlrdeldquoZum Gluumlck aumluszligern sich die Eigenschaften die wir schilder- ten nicht staumlndig in den Parlamentsversammlungen Diese sind nur in gewissen Augenblicken Massen In vielen Faumlllen bewahren die einzelnen die ihnen angehoumlren ihre Eigen- art und daher kann auch eine Versammlung vorzuumlgliche sachgemaumlszlige Gesetze ausarbeiten Allerdings sind diese Ge- setze von einem Fachmann im stillen Arbeitszimmer ent- worfen und das angenommene Gesetz ist in Wahrheit das Werk eines einzelnen Nur die Fachleute bewahren die Versammlungen vor allzu sinnlosen unerprobten Maszlig- nahmen Sie werden dann voruumlbergehend Fuumlhrer die Ver- sammlung wirkt nicht auf sie sondern sie wirken auf die VersammlungTrotz aller Schwierigkeiten ihrer Arbeitsweise bilden die Parlamentsversammlungen die beste Regierungsform die die Voumllker bisher gefunden haben um sich vor allem moumlg-

DIE PARLAMENTSVERSAMMLUNGEN 147

lichst aus dem Joch persoumlnlicher Tyrannei zu befreien Sie sind jedenfalls das Ideal einer Regierung wenigstens fuumlr Philosophen Denker Schriftsteller Kuumlnstler und Gelehrte kurz fuumlr alle die den Gipfel einer Kultur bildenSie bergen eigentlich nur zwei ernstliche Gefahren in sich die uumlbermaumlszligige Verschwendung der Finanzen und die zu- nehmende Beschraumlnkung der persoumlnlichen Freiheit Die erste Gefahr ist die notwendige Folge der Anspruumlche und der Kurzsichtigkeit der Waumlhlermassen Wenn ein Parla- mentsmitglied einen Antrag stellt der offensichtlich demo- kratischen Anschauungen entspricht z B auf Altersver- sorgung aller Arbeiter oder Gehaltszulage fuumlr Bahnwaumlrter Lehrer usw so wagen die andern Abgeordneten aus Furcht vor den Waumlhlern nicht sich den Anschein zu geben als ob sie deren Vorteile durch Ablehnung der vorgeschlagenen Maszlignahme geringschaumltzten Sie wissen wohl daszlig dadurch der Staatshaushalt stark belastet und die Auflegung neuer Steuern noumltig werden wird Doch bei der Abstimmung gibt es kein Zoumlgern Waumlhrend die Folgen der Ausgaben- vermehrung in weiter Ferne liegen und fuumlr sie keine unan- genehmen Wirkungen haben koumlnnten sich die Folgen einer ablehnenden Abstimmung schon am naumlchsten Tage wenn sie vor die Waumlhler treten muumlssen bemerkbar machenAn diese erste Ursache fuumlr die Uumlberspannung der Aus- gaben reiht sich eine andre nicht weniger gebieterische die Verpflichtung alle Ausgaben fuumlr rein oumlrtliche Beduumlrf- nisse zu bewilligen Kein Abgeordneter kann sich ihnen widersetzen weil sie ebenfalls Forderungen der Waumlhler darstellen und weil jeder Abgeordnete nur dann das Nouml- tige fuumlr seinen Wahlkreis erlangen kann wenn er den ent- sprechenden Forderungen seiner Kollegen zustimmt Die Die Zeitschrift bdquoLrsquoEconomisteldquo gab in ihrer Nummer vom 6 April 895 einen seltsamen Uumlberblick uumlber die Jahresunkosten die die Interessen der Waumlhler verursachen besonders die Eisenbahnen Um Langayes (Stadt von 3 000 Einwohnern) die auf einem Berge liegt mit Puy zu verbinden be- willigte man eine Bahn die 5 Millionen kostete Um Beaumont (3 500 Ein- wohner) mit Castel-Sarrazin zu verbinden bewilligte man 7 Millionen Die Verbindung des Dorfes Oust (523 Einwohner) mit dem Dorfe Seix ( 200 Ein- wohner) kostete 7 Millionen Um Prades mit dem Marktflecken Olette (747

DIE VERSCHIEDENEN ARTEN VON MASSEN148

zweite der oben erwaumlhnten Gefahren die unvermeidliche Beschraumlnkung der Freiheit durch die Parlamente ist zwar weniger sichtbar aber doch Tatsache Sie ist eine Folge der zahllosen stets einschraumlnkenden Gesetze deren Auswir- kungen die kurzsichtigen Parlamente nicht bemerken und fuumlr die zu stimmen sie sich verpflichtet fuumlhlenDiese Gefahr muszlig wohl unvermeidlich sein denn selbst England wo sich gewiszlig die vollkommenste Art der parla- mentarischen Regierung zeigt und der Abgeordnete am unabhaumlngigsten vom Waumlhler ist vermochte ihr nicht zu entgehen Herbert Spencer hatte in einer fruumlheren Arbeit gezeigt daszlig die Zunahme der scheinbaren die Abnahme der wirklichen Freiheit zur Folge haben muumlsse In einer spaumlteren Schrift bdquoDer Einzelne gegen den Staatldquo nimmt er diese Behauptung wieder auf und sagt uumlber das eng- lische Parlament folgendes

bdquoSeit dieser Zeit hat die Gesetzgebung den Lauf genom- men den ich voraussagte Diktatorische Maszlignahmen die sich rasch vervielfachten haben das staumlndige Bestreben die persoumlnliche Freiheit zu beschraumlnken und zwar in zwei- facher Weise jedes Jahr wird eine immer groumlszligere Anzahl gesetzlicher Forderungen erlassen die der fruumlheren Hand- lungsfreiheit des Buumlrgers Beschraumlnkung auferlegen und ihn zu Handlungen zwingen die er fruumlher nach Belieben be-

Einwohner) zu verbinden gab man 6 Millionen usw Allein das Jahr 895 verbrauchte 90 Millionen fuumlr Eisenbahnschienen fuumlr die nicht das geringste allgemeine Interesse vorhanden ist Andere Ausgaben die ebenfalls Waumlhler- beduumlrfnissen entspringen sind nicht weniger schwerwiegend Das Gesetz uumlber die Altersversorgung der Arbeiter wird nach Aussage des Finanzministers im Jahre die Mindestsumme von 65 Millionen nach Leroy-Beaulieu von der Akademie 800 Millionen kosten Das ununterbrochene Anwachsen solcher Aus- gaben muszlig notwendigerweise zum Bankrott fuumlhren Viele Staaten Europas Portugal Griechenland Spanien die Tuumlrkei sind dabei angelangt andere werden bald soweit sein Aber man braucht sich nicht viel darum zu kuumlm- mern da das Publikum ohne groszligen Widerspruch nach und nach die Kuumlrzung von vier Fuumlnfteln aller Zinszahlungen der verschiedenen Laumlnder angenommen hat Derartige sinnreiche Bankrotte machen es also moumlglich die gefaumlhrdeten Haushaltplaumlne wieder ins Gleichgewicht zu bringen Die Kriege der Sozialis- mus die wirtschaftlichen Kaumlmpfe werden uns uumlbrigens noch genug andre Katastrophen bringen und in einer Zeit allgemeinen Zerfalls muszlig man sich damit begnuumlgen in den Tag hineinzuleben ohne allzusehr an das Morgen zu denken das sich unsrer Macht entzieht

DIE PARLAMENTSVERSAMMLUNGEN 149

gehen oder unterlassen konnte Gleichzeitig haben immer druumlckendere Lasten besonders oumlrtliche Abgaben von vorn- herein die Freiheit beschraumlnkt indem sie den Teil seines Einkommens den er nach Belieben ausgeben konnte ver- minderten und den Teil vergroumlszligerten der ihm weggenom- men wurde um je nach dem guten Willen der Beamten ausgegeben zu werdenldquoDiese immer mehr zunehmende Freiheitsbeschraumlnkung zeigt sich in allen Laumlndern in einer besonderen Weise auf die Spencer nicht hingewiesen hat Die Schaffung jener un- zaumlhligen gesetzlichen Maszlignahmen allgemeinbeschraumlnkender Art fuumlhrt notwendig zur Erhoumlhung der Zahl der Macht und des Einflusses der Beamten die mit ihrer Durchfuumlh- rung beauftragt werden Sie haben also alle Aussicht die wahren Gebieter der Kulturlaumlnder zu werden Ihre Macht ist um so groumlszliger als nur die Beamtenkaste als einzige die unverantwortlich unpersoumlnlich und auf Lebenszeit ange- stellt ist dem unaufhoumlrlichen Machtwechsel entgeht Nun gibt es aber keine Gewaltherrschaft die haumlrter ist als diese die in dieser dreifachen Gestalt auftrittDie fortwaumlhrende Schaffung von Gesetzen und Beschraumln- kungsmaszlignahmen die die unbedeutendsten Lebensaumluszlige- rungen mit byzantinischen Foumlrmlichkeiten umgeben hat das verhaumlngnisvolle Ergebnis den Bereich in dem sich der Buumlrger frei bewegen kann immer mehr einzuengen Als Opfer des Irrtums daszlig durch Vermehrung der Gesetze Freiheit und Gleichheit besser gesichert wuumlrden nehmen die Voumllker nur druumlckendere Fesseln auf sichSie nehmen sie nicht ungestraft auf sich Gewohnt jedes Joch zu tragen kommen sie schlieszliglich dahin es aufzu- suchen und buumlszligen zuletzt alle Urspruumlnglichkeit und Kraft ein Sie sind nur noch wesenlose Schatten Automaten willenlos ohne Widerstand und KraftWenn der Mensch in sich selbst die Spannkraft nicht mehr findet muszlig er sie anderswo suchen Mit der zunehmenden Gleichguumlltigkeit und Ohnmacht der Buumlrger muszlig die Be- deutung der Regierungen nur noch mehr wachsen Sie

GESCHICHTSPHILOSOPHISCHES ERGEBNIS150

muumlssen notgedrungen den Geist der Initiative der Unter- nehmung und Fuumlhrung besitzen den der Buumlrger verloren hat Sie haben alles zu unternehmen zu leiten zu schuumlt- zen So wird der Staat zu einem allmaumlchtigen Gott Die Erfahrung lehrt aber daszlig die Macht solcher Gottheiten weder von Dauer noch sehr stark warDie fortschreitende Einschraumlnkung aller Freiheiten bei ge- wissen Voumllkern trotz einer Ungebundenheit die ihnen Frei- heit vortaumluscht scheint eine Folge ihres Alters und ebenso- sehr der Regierung zu sein Sie ist ein Vorzeichen fuumlr die Entartung der bisher noch keine Kultur entgehen konnteWenn man aus den Lehren der Vergangenheit Schluumlsse zieht und nach den Anzeichen urteilt die uumlberall in Er- scheinung treten so sind mehrere unserer modernen Kul- turen auf dieser Stufe des houmlchsten Greisenalters das der Entartung vorangeht angelangt Bestimmte Entwicklungs- formen scheinen fuumlr alle Voumllker unabwendbar zu sein da sich dieser Verlauf in der Geschichte so oft wiederholt Es ist leicht die Stufen dieser Entwicklung ganz allgemein zu kennzeichnen und mit dieser Zusammenfassung soll unsre Arbeit abgeschlossen werden

Wenn wir in groszligen Zuumlgen die Entstehung der Groumlszlige und des Niedergangs der Kulturen der Vergangenheit be- trachten so sehen wir folgendesBeim Erwachen dieser Kulturen einen zusammengewehten Haufen von Menschen verschiedenster Abstammung zu- faumlllig vereinigt durch Wanderungen Uumlberfaumllle und Er- oberungen Von verschiedenem Blut verschiedener Sprache und ebenso verschiedenen Anschauungen haumllt diese Men- schen kein andres Band zusammen als das halb anerkannte Gesetz eines Haumluptlings In ihrem verworrenen Haufen finden sich die psychologischen Merkmale der Massen im houmlchsten Maszlige Sie zeigen den Zusammenhang fuumlr den Augenblick den Heldenmut die Schwaumlchen die Trieb- handlungen und die Gewalttaumltigkeiten Nichts ist bei ihnen von Dauer Sie sind Barbaren

GESCHICHTSPHILOSOPHISCHES ERGEBNIS 151

Dann vollendet die Zeit ihr Werk Gleichheit der Umgebung wiederholte Kreuzungen das Beduumlrfnis eines Gemeinschafts- lebens fangen langsam an zu wirken Die verschiedenen Bestandteile des Haufens beginnen zu verschmelzen und eine Rasse zu bilden d h ein Aggregat mit gemeinsamen Eigen- schaften und Gefuumlhlen die sich durch Vererbung immer mehr befestigen Die Masse ist ein Volk geworden und dies Volk kann sich aus der Barbarei erhebenEs wird sie aber erst dann voumlllig hinter sich haben wenn es sich nach langen Anstrengungen unaufhoumlrlich wieder- holten Kaumlmpfen und unzaumlhligen Ansaumltzen ein Ideal er- rungen hat Die Beschaffenheit dieses Ideals ist nicht wich- tig Ob es der Kultus Roms die Macht Athens oder der Triumph Allahs ist es wird imstande sein allen einzelnen der Rasse die sich bilden will vollkommene Einheit des Fuumlhlens und Denkens zu verleihenNun kann eine neue Kultur mit ihren Einrichtungen Glaubensformen und Kuumlnsten entstehen Von ihrem Wunschtraum fortgerissen wird die Rasse nach und nach alles gewinnen was Glanz Kraft Groumlszlige verleiht Zu- weilen wird sie zweifellos Masse sein aber hinter den be- weglichen und wechselnden Eigenschaften der Masse wird das feste Gefuumlge die Rassenseele stehen welche die Schwin- gungsweite eines Volkes genau bestimmt und den Zufall regeltNach Vollendung ihrer schoumlpferischen Wirkung aber be- ginnt die Zeit jenes Zerstoumlrungswerk dem weder Goumltter noch Menschen entgehen Ist die Kultur auf einer gewissen Houmlhe der Macht und Mannigfaltigkeit angelangt so houmlrt sie auf zu wachsen und sobald sie zu wachsen aufhoumlrt ist sie zu raschem Niedergang bestimmt Bald schlaumlgt die Stunde des AltersDiese unentrinnbare Stunde ist stets durch das Verblassen des Ideals gekennzeichnet das die Rassenseele erhob In dem Maszlige als dieses Ideal abstirbt beginnen alle von ihm geschaffenen religioumlsen politischen und gesellschaftlichen Gebilde zu wanken

152 DIE VERSCHIEDENEN ARTEN VON MASSEN

Mit dem fortschreitenden Schwinden ihres Ideals verliert die Rasse mehr und mehr alles was ihren Zusammenhalt ihre Einheit und Staumlrke bildete Der einzelne kann an Persoumlnlichkeit und Verstand wachsen gleichzeitig tritt aber an die Stelle des Gemeinschaftsegoismus der Rasse die uumlbermaumlszligige Entfaltung des Einzelegoismus die von einer Schwaumlchung des Charakters und einer Verringerung der Tatkraft begleitet wird Was ein Volk eine Einheit einen Block bildete wird zuletzt ein Haufen zusammen- hangloser einzelner die nur noch kuumlnstlich durch Uumlber- lieferungen und Einrichtungen zusammengehalten werden Dann geschieht es daszlig die Menschen die durch ihre Nei- gungen und Anspruumlche voneinander getrennt sind sich nicht mehr regieren koumlnnen und danach verlangen in den unbedeutendsten Handlungen gefuumlhrt zu werden und daszlig der Staat seinen verzehrenden Einfluszlig ausuumlbtMit dem endguumlltigen Verlust des fruumlheren Ideals verliert die Rasse zuletzt auch ihre Seele sie ist dann nur noch eine Menge alleinstehender einzelner und wird wieder was sie am Ausgangspunkt war eine Masse Sie zeigt all ihre fluumlchtigen unbestaumlndigen und zukunftslosen Eigen- schaften Die Kultur ist ohne jede Festigkeit und allen Zufaumlllen preisgegeben Der Poumlbel herrscht und die Bar- baren dringen vor Noch kann die Kultur glaumlnzend schei- nen weil sie das aumluszligere Ansehen bewahrt das von einer langen Vergangenheit geschaffen wurde tatsaumlchlich aber ist sie ein morscher Bau der keine Stuumltze mehr hat und beim ersten Sturm zusammenbrechen wirdAus der Barbarei von einem Wunschtraum zur Kultur gefuumlhrt dann sobald dieser Traum seine Kraft eingebuumlszligt hat Niedergang und Tod ndash in diesem Kreislauf bewegt sich das Leben eines Volkes

153GESCHICHTSPHILOSOPHISCHES ERGEBNIS

ERLAumlUTERUNGEN

Zu S XXV GOBLET DrsquoALVIELLA Graf Eugegravene belgischer Religionshisto- riker und liberaler Politiker 846ndash925S 7 TARDE Gabriel franzoumlsischer Psychologe und Soziologe urspruumlnglich Kriminalist 843ndash904 n seinen Hauptwerken bdquoDie Gesetze der Nachahmung (89) bdquoDie soziale Logikldquo (894) und bdquoDie sozialen Gesetzeldquo (898) werden Nachahmung Gegensaumltzlichkeit und Anpassung als die entscheidenden Fak- toren des Soziallebens bezeichnetS 7 SIGHELE Scipio italienischer Kriminalist Soziologe und Psychologe 868ndash93 Hauptwerk bdquoDie verbrecherische Masseldquo (892)S 3 SPENCER Herbert englischer Philosoph 820ndash903 vertrat die Auf- fassung daszlig der Weltprozeszlig auf einem dauernden Wechsel zwischen einem zusammenhanglosen und einem zusammenhaumlngenden Zustand beruhe dem so- ziologisch der Wechsel zwischen der Betonung der Individualitaumlt und der Hin- neigung zur Gleichfoumlrmigkeit in der Masse entspreche Hauptwerk bdquoSystem der synthetischen Philosophieldquo (862ndash93 0 Bde)S 20 GENERAL Georges Boulanger (837ndash9) 886 frz Kriegsminister dann Korpskommandeur hatte 887 anlaumlszliglich einer deutsch-franzoumlsischen Spannung versucht Frankreich in einen neuen Krieg mit Deutschland zu treiben 888 dienstentlassen erstrebte er mit Hilfe der von ihm entfachten Volksbewegung (Boulangismus) eine Staatsumwaumllzung und die Errichtung einer Diktatur in Frankreich muszligte jedoch ins Ausland fliehen und endete in Bruumlssel durch Selbstmord nachdem er in Abwesenheit wegen Veruntreuung von Staats- geldern verurteilt worden warS 2 L a n g s on Grenzort in Tongking (Franz Indochina) in dessen Naumlhe die Chinesen nachdem sie uumlberall uumlber die Grenze zuruumlckgeworfen waren 884 in einem Gefecht mit franzoumlsischen Truppen die Oberhand behielten K h a r t u m die Hauptstadt des englisch-aumlgyptischen Sudan wurde 885 von den aufstaumlndischen Madhisten erobert wobei der Kommandeur der eingeschlossenen englischen Expeditionsarmce ermordet wurde Vom t a r p e j i s c he n Fe l s e n am Suumldabhang des kapitolinischen Huumlgels wurden im alten Rom die zum Tode verurteilten Aufruumlhrer und Vaterlandsverraumlter hinabgestuumlrztS 28 WOLSELEY Garnet Joseph engl Feldmarschall 833ndash93 Verfasser mehrerer kriegsgeschichtlicher AbhandlungenS 28 DrsquoHARCOURT Georges 808ndash83 873 frz Botschafter in Wien spaumlter in London urspruumlnglich Offizier hatte an der Schlacht bei dem oberitalieni- schen Dorf Solferino teilgenommen die mit dem Sieg der verbuumlndeten Franzosen und Italiener uumlber die Oumlsterreicher endete (24 6 859)S 37 TAINE Hippolyte bedeutender frz Historiker Philosoph und Kritiker 828ndash93 Seine beruumlhmte bdquoGeschichte Frankreichsldquo (876ndash93 6 Bde unvoll- endet) schrieb er um nachzuweisen daszlig die unter Napoleon durchgefuumlhrte

Zentralisierung der Staatsgewalt und die dadurch bewirkte Ausschaltung derInitiative des einzelnen Staatsbuumlrgers an der Niederlage Frankreichs von 870 7 schuld seiS 48 FUSTEL DE COULANGES Numa Denis frz Historiker 830ndash89 Haupt- werk bdquoDas roumlmische Gallien die germanische Invasion und das fraumlnkische Koumlnigreichldquo (888ndash9 4 Bde)S 49 BOULANGISMUS s d Erlaumluterungen zu 20S 59 LAVISSE Ernest frz Historiker 842ndash922 Herausgeber und Mitver- fasser d groszligen Geschichtspublikation bdquoHistoire geacuteneacuteraleldquo (893ndash90 2 Bde)S 60 MACAULAY Thomas engl Historiker und liberaler Politiker 800ndash59 Verfasser der heute noch viel gelesenen bdquoGeschichte Englands (848ndash59 4 Bde)S 64 CHLOTAR (I) fraumlnkischer Koumlnig aus dem Geschlecht der Merowinger Nach seinem Tode (56) zerfiel das Frankenreich in die Teile N e u s t r i e n von der Scheidemuumlndung bis zur Loire) Au s t r a s i e n (Mosel- und Maas- gebiet) und BurgundS 75 TOCQUEVILLE Alexis de frz Diplomat und Historiker 805ndash59 Sein Hauptwerk bdquoDas Ancien reacutegime und die Franzoumlsische Revolutionldquo (856 2 Bde) enthaumllt viele kritische Bemerkungen uumlber MassenpsychologieS 79 THIERS Adolphe einer der bedeutendsten frz Staatsmaumlnner 797 bis 877 seit 836 mehrmals Ministerpraumlsident 87ndash73 Praumlsident der Republik Politisch liberal aber ohne tieferes Verstaumlndnis fuumlr soziale Probleme verherr- lichte in seinen z T mehrbaumlndigen Geschichtswerken die Ideale der Franz Revolution ebenso wie den NationalismusS 87 Mit dem b e r uuml h mt e n I n g e n i e u r ist Ferdinand Lesseps (805 bis 94) gemeint der aber nicht selbst Ingenieur sondern frz Diplomat gewesen ist Ihm ist der 869 vollendete aber nicht von ihm entworfene Bau des Suez- kanals zu danken Auch an der Gruumlndung der Panama-Gesellschaft war er maszliggebend beteiligt Als dieses Unternehmen 888 zusammenbrach wobei viele Aktionaumlre ruiniert wurden kam es zu einem groszligen Skandalprozeszlig in dem Lesseps 893 wegen Betrugs verurteilt wurde (Vgl auch S 6 f)S 9 RENAN Ernest frz Orientalist und Religionshistoriker 823ndash92 Eines seiner Hauptwerke ist die bdquoGeschichte der Anfaumlnge des Christentumsldquo (866 bis 83 7 Bde) sein bekanntestes bdquoDas Leben Jesuldquo (863)S 33 SCHERER Edmond frz Publizist 85ndash89 Fuumlhrer des liberalen Prote- stantismus in FrankreichS 40 SIMON Jules frz Philosoph und Politiker 84ndash96 848 Mitglied der verfassunggebenden Nationalversammlung 876 77 Ministerpraumlsident Schrieb u a bdquoDie Regierung Thiersldquo (878 2 Bde) ndash PYAT Feacutelix frz linksradikaler Journalist 80ndash89 war 848 Oberst der Pariser Nationalgarde 87 Mitglied der Pariser Kummune ndash VAULABELLE Achille de frz Historiker u Politiker 799ndash864 war 848 Unterrichtsminister ndash VICTOR HUGO der bekannte frz Dichter 802ndash85 war 848 Abgeordneter der Nationalversammlung muszligte nach dem Staatsstreich Louis Napoleons (85) fliehen und schrieb seine be- ruumlhmten sozialen Romane als Emigrant auf den englischen Kanalinseln ndash QUINET Edgar frz Dichter und Publizist 803ndash75 war 848ndash50 Mitglied der Nationalversammlung wurde 852 verbannt und 87 in der Nationalver- sammlung von Bordeaux und Versailles einer der Fuumlhrer der aumluszligersten Linken

ndash LAMARTINE Alphonse de frz Dichter 790ndash869 war unter Karl X und Louis Philippe im diplomatischen Dienst bekannte sich aber offen zur Repu-

ERLAumlUTERUNGEN 157

blikanischen Partei und wurde 848 als Mitglied der vorlaumlufigen RegierungAuszligenministerS 42 MAINE Henry James Summer engl Jurist und Rechtsphilosoph 822 bis 88 hat zahlreiche Werke uumlber Rechtsgeschichte und ihre Beziehung zur all- gemeinen Sozialgeschichte verfaszligtS 45 BILLAUD-VARENNES Jean Nicolas 756ndash89 Advokat Vorsitzender des Jakobinerclubs und Mitglied des Konvents erst Anhaumlnger Robespierres dann an dessen Sturz beteiligt Seine Memoiren erschienen 893S 46 COLLOT DrsquoHERBOIS Jean Marie Schauspieler und Buumlhnenschriftsteller 75ndash96 Als erfolgreicher Volksredner wurde er Mitglied des Konvents dann des Wohlfahrtsausschusses und war insbesondere fuumlr die Massenhinrichtungen in Lyon (793) verantwortlich ndash COUTHON Georges Advokat 755ndash94 Mitglied der Nationalversammlung dann des Konvents mitbeteiligt an der Niederwerfung des Lyoner Aufstandes Als Anhaumlnger Robespierres wurde er nach dessen Tod hingerichtet ndash SPULLER Eugegravene frz Politiker u Journalist 835ndash96 war 870ndash7 Sekretaumlr Gambettas 887 und 893ndash94 Unterrichts- minister 889ndash90 Auszligenminister Schrieb u a eine bdquoParlamentsgeschichte der Zweiten Republikldquo (89)S 49 LEROY-BEAULIEU Pierre Paul frz Nationaloumlkonom 843ndash96 gruumln- dete 873 das Wochenblatt bdquoLrsquoEconomiste franccedilaisraquo

156 ERLAumlUTERUNGEN

ISBN 3-520-09915-2

Das beruumlhmte in alle Weltsprachen uumlbersetzte Buch des franzoumlsischen Arztes und Soziologen uumlber die Seele der Massen und die Gesetze ihrer Beeinflussung und Fuumlhrung hat sich ndash trotz oder auch wegen mancher provozierender These ndash uumlber Jahrzehnte hinweg und bis in die Gegenwart hinein als eine der staumlrksten Anregungen fuumlr Psychologie und Soziologie erwiesen

  • Psychologie der Massen
    • Inhaltsverzeichnis
    • Einfuumlhrung
    • Literatur
    • Vorwort zur ersten Auflage
    • Einleitung Das Zeitalter der Massen
    • Erstes Buch Die Massenseele
      • 1 Kapitel Allgemeine Kennzeichen der Massen Das psychologische Gesetz von ihrer seelischen Einheit
      • 2 Kapitel Gefuumlhle und Sittlichkeit der Massen
        • sect 1 Triebhaftigkeit Beweglichkeit und Erregbarkeit der Massen
        • sect 2 Beeinfluszligbarkeit und Leichtglaumlubigkeit der Massen
        • sect 3 Uumlberschwang (exageacuteration) und Einseitigkeit (simplisme) der Massengefuumlhle
        • sect 4 Unduldsamkeit Herrschsucht (autoritarisme) und Konservatismus der Massen
          • 3 Kapitel Ideen Urteile und Einbildungskraft der Massen
            • sect 1 Die Ideen der Massen
            • sect 2 Die Urteile der Massen
            • sect 3 Die Einbildungskraft der Massen
              • 4 Kapitel Die religioumlsen Formen die alle Uumlberzeugungen der Masse annehmen
                • Zweites Buch Die Meinungen und Glaubenslehren der Massen
                  • 1 Kapitel Entfernte Triebkraumlfte der Glaubenslehren und Meinungen der Massen
                    • sect 1 Die Rasse
                    • sect 2 Die Uumlberlieferungen
                    • sect 3 Die Zeit
                    • sect 4 Die politischen und sozialen Einrichtungen
                    • sect 5 Unterricht und Erziehung
                      • 2 Kapitel Unmittelbare Triebkraumlfte der Anschauungen der Massen
                        • sect 1 Bilder Worte und Redewendungen
                        • sect 2 Die Taumluschungen (illusions)
                        • sect 3 Die Erfahrung
                        • sect 4 Die Vernunft
                          • 3 Kapitel Die Fuumlhrer der Massen und ihre Uumlberzeugungsmittel
                            • sect 1 Die Fuumlhrer der Massen
                            • sect 2 Die Wirkungsmittel der Fuumlhrer Behauptung Wiederholung Uumlbertragung
                            • sect 3 Der Nimbus (Le prestige)
                              • 4 Kapitel Grenzen der Veraumlnderlichkeit der Grundanschauungen und Meinungen der Massen
                                • sect 1 Die unveraumlnderlichen Grundanschauungen (croyances fixes)
                                • sect 2 Die veraumlnderlichen Meinungen (opinions mobiles) der Massen
                                    • Drittes Buch Einteilung und Beschreibung der verschiedenen Arten von Massen
                                      • 1 Kapitel Einteilung der Massen
                                        • sect 1 Ungleichartige Massen
                                        • sect 2 Gleichartige Massen
                                          • 2 Kapitel Die sogenannten verbrecherischen Massen
                                          • 3 Kapitel Die Geschworenen bei den Schwurgerichten
                                          • 4 Kapitel Die Waumlhlermassen
                                          • 5 Kapitel Die Parlamentsversammlungen
                                            • Erlaumluterungen
Page 3: Psychologie der Massen - Alex Brunner

GUSTAVE LE BON

PSYCHOLOGIE DER MASSEN

Mit einer Einfuumlhrung von

Prof Dr PETER R HOFSTAumlTTER

ALFRED KROumlNER VERLAG STUTTGART

Titel der franzoumlsischen Originalausgabe PSYCHOLOGIE DES FOULES

Autorisierte Uumlbersetzung von Rudolf Eisler Bearbeitet von Rudolf Marx

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek

Le Bon Psychologie der Massen ndash 5 Aufl ndash Stuttgart Kroumlner 982 (Kroumlners Taschenausgabe Bd 99) ISBN 3 520 0995 2

copy 9 by Alfred Kroumlner Verlag in StuttgartAlle Rechte vorbehalten Printed in Germany

Druck Omnitypie Stuttgart

INHALTSVERZEICHNIS

Einfuumlhrung von Prof Dr Peter R Hofstaumltter XIII

Literatur XXXVII

Vorwort zur Auflage XXXIX

Einleitung Das Zeitalter der Massen Entwicklung des gegenwaumlrtigen Zeitalters middot Die groszligen Kulturwenden sind die Folge von Wandlungen im Denken der Voumllker middot Der Glaube der Neuzeit an die Macht der Massen middot Er veraumlndert die hergebrachte Politik der Staaten middot Wie sich das Emporkommen der Volksklassen vollzieht und wie sie ihre Macht ausuumlben middot Die Syndikate middot Notwendige Folgen der Macht der Massen middot Sie koumlnnen nur eine zerstoumlrerische Rolle spielen middot Durch sie vollendet sich die Aufloumlsung der zu alt gewordenen Kulturen middot Allgemeine Unkenntnis der Psychologie der Massen middot Wichtigkeit des Studiums der Massen fuumlr Gesetzge- ber und Staatsmaumlnner

Erstes Buch DIE MASSENSEELE

Kapitel Allgemeine Kennzeichen der Massen middot Das psy- chologische Gesetz von ihrer seelischen Einheit 0

Was kennzeichnet eine Masse vom psychologischen Gesichtspunkt middot Eine zahlenmaumlszligige Menge von Einzelnen bildet noch keine Masse middot Besondere Eigentuumlmlichkeiten der psychologischen Massen middot Unveraumlnderliche Richtung der Gedanken und Gefuumlhle der einzelnen die sie bilden und Ausloumlschung ihrer Persoumlnlichkeit middot Die Masse wird stets vom Unbewuszligten beherrscht middot Zuruumlcktreten des Gehirnlebens und Vorherrschen des Ruumlckenmarklebens middot Verminderung des Verstandes und voumlllige Umwandlung der Gefuumlhle middot Die veraumlnderten Gefuumlhle koumlnnen besser oder schlechter sein als die der einzelnen aus denen die Menge besteht middot Die Masse wird ebensoleicht heldenhaft wie verbrecherisch

INHALTSVERZEICHNIS

2 Kapitel Gefuumlhle und Sittlichkeit der Massen 9

sect Triebhaftigkeit Beweglichkeit und Erregbarkeit der Massen middot Die Masse ist der Spielball aller aumluszligeren Reize deren unaufhoumlrliche Schwankungen sie widerspiegelt middot Die Antriebe denen sie gehorchen sind so gebieterisch daszlig der persoumlnliche Vorteil zuruumlcktritt middot Bei den Massen ist nichts vorbedacht middot Wirkungskraft der Rassesect 2 Beeinfluszligbarkeit und Leichtglaumlubigkeit der Massen middot Ihre Empfaumlnglich- keit fuumlr Beeinfluszligungen middot Die in ihrem Gemuumlt hervorgerufenen Bilder werden fuumlr Wirklichkeit gehalten middot Warum diese Bilder fuumlr alle einzelnen aus denen eine Masse besteht gleichartig sind Angleichung der Gelehrten und des Einfaumlltigen in einer Masse middot Verschiedene Beispiele von Taumluschungen denen alle Mitglieder in einer Masse unterliegen middot Unmoumlglichkeit der Zeugenschaft der Massen irgendwelchen Glauben beizumessen middot Die Einmuumltigkeit zahlrei- cher Zeugen ist einer der schlechtesten Beweise den man zur Erhaumlrtung einer Tatsache beibringen kann middot Geringer Wert der Geschichtswerkesect 3 Uumlberschwang und Einseitigkeit der Massengefuumlhle middot Die Massen kennen weder Zweifel noch Ungewiszligheit und ergehen sich stets in Uumlbertreibungen middot Ihre Gefuumlhle sind stets uumlberschwenglichsect 4 Unduldsamkeit Herrschsucht und Konservatismus der Massen middot Ursachen dieser Gefuumlhle Unterwuumlrfigkeit der Massen vor einer starken Macht middot Die augenblicklichen revolutionaumlren Triebe der Massen hindern sie nicht houmlchst ruumlckstaumlndig zu sein middot Sie sind instinktiv Feinde von Veraumlnderung und Fort- schrittsect 5 Sittlichkeit der Massen middot Die Sittlichkeit der Massen kann je nach den Einfluumlssen viel niedriger oder viel houmlher sein als die der einzelnen die sie bilden Erklaumlrung und Beispiele middot Die Massen werden selten durch den Eigennutz geleitet der meist den einzigen Antrieb fuumlr den einzelnen bildet middot Versittlichende Wirkung der Massen

3 Kapitel Ideen Urteile und Einbildungskraft der Massen 38

sect Die Ideen der Massen middot Grundlegende und nebensaumlchliche Ideen middot Wie entgegengesetzte Vorstellungen gleichzeitig bestehen koumlnnen Wandlungen die die houmlheren Ideen durchmachen muumlssen um fuumlr die Massen annehmbar zu werden middot Die soziale Bedeutung der Vorstellungen ist unabhaumlngig von dem Wahrheitsgehalt den sie in sich tragen koumlnnensect 2 Die Urteile der Massen middot Die Massen sind nicht durch Beweisgruumlnde zu beeinflussen middot Die Urteile der Massen sind stets sehr niedriger Art middot Die Vorstellungen die sie assoziieren haben nur den Schein von Analogie und Folgerichtigkeitsect 3 Die Einbildungskraft der Massen middot Macht der Massenphantasie middot Sie denken in Bildern die ohne jegliche Verbindung aufeinander folgen middot Die

VIII

INHALTSVERZEICHNIS

Massen nimmt besonders die wunderbare Seite der Dinge gefangen middot DasWunderbare und das Sagenhafte sind die wahren Traumlger der Kulturen middot Die Volksphantasie war stets der Stuumltzpunkt der Macht aller Staatsmaumlnner middot Auf welche Weise die Tatsachen auf die Einbildungskraft der Massen Eindruck machen koumlnnen

4 Kapitel Die religioumlsen Formen die alle Uumlberzeugungen der Masse annehmen 46

Wodurch das religioumlse Gefuumlhl gebildet wird middot Es ist unabhaumlngig von der Anbetung einer Gottheit middot Seine Merkmale middot Macht der Uumlberzeugungen die religioumlse Formen angenommen haben middot Verschiedene Beispiele middot Die Volksgoumlt- ter sind nie ganz verschwunden middot Neue Formen ihrer Wiedergeburt middot Religioumlse Formen des Atheismus middot Bedeutung dieser Begriffe in historischer Hinsicht middot Die Reformation die Bartholomaumlusnacht die Schreckenstage und alle aumlhnli- chen Ereignisse sind die Folgen der religioumlsen Gefuumlhle der Massen und nicht des Willens einzelner Persoumlnlichkeiten

Zweites BuchDIE MEINUNGEN DER UND GLAUBENSLEHREN

MASSEN

Kapitel Entfernte Triebkraumlfte der Glaubenslehren und Meinungen der Massen 54

Vorbereitende Ursachen der Massenuumlberzeugungen Das Auftreten von Glaubenslehren in den Massen ist die Folge vorangehender Verarbeitung middot Untersuchung der verschiedenen Ursachen dieser Glaubensuumlberzeugungen sect Die Rasse middot Ihr auszligerordentlicher Einfluszlig middot Sie zeigt die Wirkungen der Vorfahrensect 2 Die Uumlberlieferungen middot Sie sind die Zusammenfassung der Rassenseele middot Soziale Bedeutung der Uumlberlieferungen middot Wodurch sie schaumldlich werden nachdem sie notwendig gewesen sind middot Die Massen sind die zaumlhesten Bewah- rer der uumlberlieferten Ideensect 3 Die Zeit Sie bereitet allmaumlhlich die Einfuumlhrung der Glaubenslehren vor dann ihre Zerstoumlrung middot Dank ihrer erhebt sich die Ordnung aus dem Chaossect 4 Die politischen und sozialen Einrichtungen middot Irrige Auffassung von ihrer Aufgabe middot Ihr Einfluszlig ist aumluszligerst gering Sie sind Wirkungen nicht Ursachen middot Die Voumllker koumlnnen sich nicht die Einrichtungen aussuchen die ihnen am besten erscheinen middot Sie sind Etiketten die mit derselben Aufschrift die ver- schiedensten Dinge decken middot Wie die Verfassungen entstehen koumlnnen middot Die

IX

INHALTSVERZEICHNIS

Notwendigkeit gewisser theoretisch schlechter Einrichtungen wie z B derZentralisation fuumlr gewisse Voumllkersect 5 Unterricht und Erziehung middot Irrigkeit der herrschenden Anschauungen uumlber den Einfluszlig des Unterrichts auf die Massen middot Statistische Nachweise middot Entsittlichende Wirkung der klassischen Bildung middot Die Wirkung die der Unterricht ausuumlben koumlnnte middot Beispiele die die verschiedenen Voumllker bieten

2 Kapitel Unmittelbare Triebkraumlfte der Anschauungen der Massen 7

sect Bilder Worte und Redewendungen middot Magische Macht der Worte und Redewendungen Die Macht der Worte knuumlpft sich an Bilder die durch sie hervorgerufen werden und ist unabhaumlngig von ihrem wahren Sinn middot Diese Bilder wechseln mit jedem Zeitalter und mit jeder Rasse middot Abnutzung der Worte middot Beispiele fuumlr die auszligerordentliche Veraumlnderlichkeit der Bedeutung einiger sehr gebraumluchlicher Worte middot Es ist politisch nuumltzlich alte Dinge mit neuen Namen zu taufen wenn die Ausdruumlcke mit denen man sie fruumlher bezeichnete auf die Massen einen unguumlnstigen Eindruck machen middot Der Rasse gemaumlszlige verschiedenartige Bedeutung der Worte middot Verschiedenartiger Sinn des Wortes bdquoDemokratieldquo in Europa und Amerikasect 2 Die Taumluschungen Ihre Wichtigkeit middot Man findet sie in Anfaumlngen jeder Kultur middot Soziale Notwendigkeit der Taumluschungen middot Die Massen ziehen sie stets den Wahrheiten vorsect 3 Die Erfahrung Die Erfahrung allein kann notwendig gewordene Wahr- heiten in der Massenseele befestigen und gefaumlhrlich gewordene Taumluschungen zerstoumlren middot Die Erfahrung wirkt nur bei haumlufiger Wiederholung middot Was die Erfahrungen kosten die noumltig sind um die Massen zu uumlberzeugensect 4 Die Vernunft middot Nichtigkeit ihres Einflusses auf die Massen middot Man wirkt auf sie nur durch Beeinflussung ihrer unbewuszligten Gefuumlhle middot Die Rolle der Logik in der Geschichte middot Die verborgenen Ursachen der unwahrscheinlichen Ereignisse

3 Kapitel Die Fuumlhrer der Massen und ihre Uumlberzeugungs- mittel 83

sect Die Fuumlhrer der Massen middot Urspruumlngliches Beduumlrfnis aller Massen einem Fuumlhrer zu gehorchen middot Psychologie der Fuumlhrer middot Sie allein koumlnnen Vertrauen erwecken und die Massen organisieren middot Notwendige Gewaltherrschaft der Fuumlhrer middot Einteilung der Fuumlhrer middot Die Macht des Willenssect 2 Die Wirkungsmittel der Fuumlhrer middot Behauptung Wiederholung Uumlbertra- gung middot Die verschiedenen Aufgaben dieser Faktoren middot Wie die Uumlbertragung sich von den niederen zu den houmlheren Gesellschaftsschichten fortpflanzen

X

INHALTSVERZEICHNIS

kann middot Eine volkstuumlmliche Anschauung wird bald zur allgemeinen An- schauungsect 3 Nimbus middot Erklaumlrung und Einteilung des Nimbus middot Erworbener und persoumlnlicher Nimbus middot Beispiele middot Verlust des Nimbus

4 Kapitel Grenzen der Veraumlnderlichkeit der Grundanschau- ungen und Meinungen der Massen 0

sect Die unveraumlnderlichen Grundanschauungen Unveraumlnderlichkeit gewisser Gesamtuumlberzeugungen middot Sie sind die Fuumlhrer einer Kultur middot Schwierigkeit sie auszurotten middot Inwiefern Unduldsamkeit bei den Voumllkern eine Tugend ist middot Die philosophische Sinnwidrigkeit einer Gesamtuumlberzeugung schadet ihrer Aus- breitung nichtsect 2 Die veraumlnderlichen Meinungen der Massen Aumluszligerste Veraumlnderlichkeit der Anschauungen die nicht aus altgemeinen Glaubensuumlberzeugungen her- vorgehen middot Scheinbare Veraumlnderungen der Ideen und Uumlberzeugungen in weni- ger als einem Jahrhundert middot Tatsaumlchliche Grenzen dieser Wandlungen Die Elemente auf die sich die Veraumlnderung erstreckt Das Schwinden allgemeiner Glaubensuumlberzeugungen und die auszligerordentliche Verbreitung der Presse heutzutage machen die modernen Ansichten immer veraumlnderlicher middot Wie die Anschauungen der Massen uumlber die meisten Angelegenheiten zur Gleichguumll- tigkeit neigen middot Unfaumlhigkeit der Regierungen wie ehedem die Anschauungen zu lenken middot Die Zersplitterung der Anschauungen verbinden in der heutigen Zeit ihre Tyrannei

Drittes BuchEINTEILUNG UND BESCHREIBUNG DER VERSCHIE-

DENEN ARTEN VON MASSEN

Kapitel Einteilung der Massen 4

sect Ungleichartige Massen middot Ihre Unterscheidungsmerkmale middot Einfluszlig der Rasse middot Die Massenseele ist um so schwaumlcher als die Rassenseele staumlrker ist Die Rassenseele stellt die Stufe der Kultur die Massenseele die Stufe der Barbarei darsect 2 Gleichartige Massen middot Einteilung middot Sekten Kasten Klassen

2 Kapitel Die sogenannten verbrecherischen Massen 7

Die sogenannten verbrecherischen Massen middot Eine Masse kann nur juristisch nicht psychologisch verbrecherisch sein middot Voumlllige Unbewuszligtheit der Massen- handlungen middot Verschiedene Beispiele middot Psychologie der Septembermaumlnner middot Ihre Urteile ihre Empfindsamkeit Grausamkeit und Sittlichkeit

XI

XII INHALTSVERZEICHNIS

3 Kapitel Die Geschworenen bei den Schwurgerichten 22

Die Geschworenen der Schwurgerichte middot Allgemeine Eigenschaften der Ge- schworenen middot Die Statistik zeigt daszlig ihre Entscheidungen unabhaumlngig sind von ihrer Zusammensetzung middot Wie auf die Geschworenen Eindruck gemacht wird middot Geringe Wirkung der Logik middot Art der Verbrechen die von den Geschworenen milde und solcher die streng beurteilt werden middot Uumlberre- dungsweisen beruumlhmter Rechtsanwaumllte middot Nutzen der Geschworenen und die groszlige Gefahr daszlig sie durch Richter ersetzt werden

4 Kapitel Die Waumlhlermassen 28

Allgemeine Eigenschaften der Waumlhlermassen middot Wie man sie uumlberzeugt middot Wel- che Eigenschaften der Wahlkandidat haben muszlig middot Notwendigkeit des Nimbus middot Warum Arbeiter und Bauern so selten ihre Vertreter aus ihrer Mitte waumlhlen middot Macht der Worte und Redewendungen uumlber den Waumlhler middot Allgemeines Bild der Wahlversammlungen middot Wie sich die Anschauungen des Waumlhlers bilden middot Die Macht der Ausschuumlsse middot Sie bilden die schlimmste Form der Tyrannei middot Die Revolutionsausschuumlsse middot Trotz seines geringen psychologischen Wertes ist das allgemeine Stimmrecht unersetzlich middot Warum die Abstimmungen die glei- chen bleiben wuumlrden auch wenn man das Stimmrecht auf eine bestimmte Buumlrgerklasse beschraumlnkte middot Das allgemeine Stimmrecht in allen Laumlndern

5 Kapitel Die Parlamentsversammlungen 37

Die parlamentarischen Massen zeigen die meisten allgemeinen Eigenschaften der nicht namenlosen ungleichartigen Massen middot Einseitigkeit der Anschauun- gen middot Die Beeinfluszligbarkeit und ihre Grenzen middot Unverruumlckbar feste und fluumlch- tige Meinungen middot Warum Unentschiedenheit vorherrscht middot Die Rolle der Fuumlhrer middot Ursache ihres Einflusses middot Sie sind die wahren Leiter einer Versamm- lung deren Abstimmung also nur die einer kleinen Minderheit ist Unum- schraumlnkte Macht der Fuumlhrer middot Die Mittel ihrer Redekunst Worte und Bilder middot Psychologische Notwendigkeit daszlig die Fuumlhrer eine allgemeine Uumlberzeugung haben und beschraumlnkt sind middot Unmoumlglichkeit fuumlr den Fuumlhrer seine Beweis- gruumlnde ohne Nimbus durchzusetzen middot Uumlberschwang sowohl der guten als auch der schlechten Gefuumlhle in den Versammlungen middot Automatismus der sich unter gewissen Umstaumlnden herausbildet middot Die Sitzungen des Konvents middot Ein Fall daszlig eine Versammlung die Massenkennzeichen verliert middot Einfluszlig der Fachleute auf die technischen Fragen middot Vorteile und Gefahren der parlamenta- rischen Regierungsweise in allen Staaten middot Sie hat sich den Beduumlrfnissen der Gegenwart angepaszligt fuumlhrt aber zu wirtschaftlicher Verschwendung und all- maumlhlichen Freiheitsbeschraumlnkungen middot Geschichtsphilosophisches Ergebnis

Erlaumluterungen 54

EINFUumlHRUNG

von Peter R Hofstaumltter

Die Massenpsychologie die der vierundfuumlnfzigjaumlhrige Gustave Le Bon (842ndash93) im Jahr 895 veroumlffentlichte ist wie wenige andere ein Erfolgsbuch dessen Thesen bereits so sehr zum Gemeingut der gebildeten Welt geworden sind daszlig manche es gar nicht mehr fuumlr noumltig halten es auch zu nennen wenn sie ihre eigenen Urteile ganz unwillkuumlrlich in die Worte des franzoumlsischen Autors kleiden Bis- weilen geschieht auch das Umgekehrte daszlig naumlmlich Le Bon eigene Gedanken unterschoben werden Er ist eben zum Begriff geworden Daran hat sich seit dem Jahr 908 in dem die von dem Wiener Philosophen Rudolf Eisler stammende Uumlbersetzung in erster Auflage erschien auch in Deutschland kaum etwas geaumlndert Wer etwas auf sich hielt und darum gesonnen war von der anonymen Masse gebuumlhrenden Abstand zu halten glaubte bei Le Bon jede Art von Unterstuumltzung zu finden Gegebenenfalls konnte man natuumlrlich auch Horaz zitieren mit dessen bdquoodi profanum vulgus et arceoldquo (Oden III ) und damit bekunden daszlig man den uneingeweihten Poumlbel haszligt und sich fern haumlltVielfach hat dabei allerdings der fluumlssige Text zum leichten Daruumlber- Hinweg-Lesen verfuumlhrt Immerhin enthalten ja schon die Worte die hauptsaumlchlichen Aussagen des Buches Die bdquoMasseldquo kommt vom griechischen bdquoBrotteigldquo (maza) den man kneten (massein) muszlig die

bdquofoulesldquo des Originaltextes leiten sich vom lateinischen bdquofulloldquo dem bdquoWalkerldquo oder bdquoTuchmacherldquo her und die englische bdquocrowdldquo ist dem mittelhochdeutschen bdquokrotenldquo stammverwandt das so viel wie

bdquopressenldquo bedeutet In jedem Fall hat man es mit dem Gestaltlosen dem Amorphen zu tun das erst durch aumluszligere Einwirkung geformt wird Dazu haben sich professionelle Gestalter ndash Politiker Propa- gandisten und Demagogen ndash nur allzugern aufgerufen gefuumlhltSo gelesen ist Le Bons Lehre verfuumlhrerisch bzw sogar irrefuumlhrend und wohl auch etwas zu billig Man muszlig genauer zusehen um zu merken daszlig der Autor hier und in den ein Jahr zuvor erschienenen

bdquoLois psychologiques de lrsquoeacutevolution des peuplesldquo in verschluumlsselter Weise die Geschichte von dem Erdenkloszlig erzaumlhlt aus dem Gott den Von A Seiffhart 922 ins Deutsche uumlbertragen und bei S Hirzel Leipzig als bdquoPsycholo- gische Grundgesetze in der Voumllkerentwicklungldquo erschienen

Menschen machte und dem er nach dem Suumlndenfall verhieszlig bdquoDubist Erde und sollst zu Erde werdenldquo ( Mose 3 9) Seine Version lautete Ihr Voumllker seid aus dumpfen Massen hervorgegangen und es liegt an euch ndash eurem Suumlndenfall ndash wie bald ihr wieder in amorphe Massen zerfallen werdet bdquoDie Masse ist das Ende das radikale Nichtsldquo so hat das Oswald Spengler im bdquoUntergang des Abendlan- desldquo (922) ausgedruumlcktDie Sache ist aber womoumlglich noch ernster denn bdquodas radikale Nichtsldquo ist mitten im Leben der Voumllker enthalten und kann als

bdquopsychologische Masseldquo in jedem Moment zum Vorschein kommen Das erinnert an Freuds Todestrieb der in zahllosen Varianten der Aggression der Destruktion und der Selbstzerstoumlrung das Leben gefaumlhrdet Wie Freud darin ein Kennzeichen des bdquoDaumlmonischenldquo sah (920) ist auch fuumlr Le Bon die Masse ein daumlmonisches Wesen bdquoso etwas wie die Sphinx der antiken Sageldquo (S 7) 2

I Der Arzt und das Schicksal

Dr Gustave Le Bon lieszlig sich als Arzt von der Vorstellung leiten daszlig Kulturen wie Lebewesen sich im Aufsteigen entfalten ihren Formenreichtum zeigen dann aber bdquonach Vollendung ihrer schoumlpfe- rischen Wirkung hellip mit dem fortschreitenden Schwinden ihres Ide- als hellip mehr und mehr alles verlieren was ihren Zusammenhalt ihre Einheit und Staumlrke bildeteldquo Sie zerfallen was bleibt ist

bdquohellip nur noch eine Menge alleinstehender Einzelner hellip eine Masse hellip Der Poumlbel herrscht und die Barbaren dringen vor Noch kann die Kultur glaumlnzend scheinen weil sie das aumluszligere Ansehen bewahrt das von einer langen Vergangenheit geschaffen wurde tat- saumlchlich aber ist sie ein morscher Bau der keine Stuumltze mehr hat und beim ersten Sturm zusammenbrechen wirdldquo (S 53)Er betrachtete es als seine Aufgabe diese Entwicklung die er im Prinzip fuumlr unvermeidlich hielt so lange wie moumlglich hinauszuzouml- gern wie eben auch ein Arzt im vollen Wissen um die Sterblichkeit seiner Patienten bestrebt ist deren Leben und Wohlbefinden zu erhalten Wo es sich um Seuchen handelt will ein Hygieniker natuumlr- lich auch sich selbst davor schuumltzen von ihnen befallen zu werden

2 Bei Zitaten aus Le Bons bdquoPsychologie der Massenldquo ist nur die Seitenzahl angegeben bei solchen aus anderen Werken dieses Autors wird jeweils die Jahreszahl vorangesetzt

XIV EINFUumlHRUNG

fuumlr Le Bon bedurfte es dazu der Einsicht in die Funktionsweise derKrankheit bdquoDie Kenntnis der Psychologie der Massen ist heute das letzte Hilfsmittel fuumlr den Staatsmann der hellip nicht allzusehr von ihnen beherrscht werden willldquo (S 6)Als bdquoein Menschheitsziel von houmlchster Invarianzldquo bezeichnete auch der Dichter Hermann Broch (886ndash95) bdquodie gluumlcklichen Normali- taumltsperioden der Menschheit tunlichst zu verlaumlngernldquo obwohl seine im amerikanischen Exil entworfene bdquoMassenwahntheorieldquo ebenfalls ein mit dem Charakter der bdquoUnentrinnbarkeitldquo ausgezeichnetes

bdquoGesetz der psychischen Zyklenldquo enthieltIm Todesjahr Le Bons ndash 93 ndash nahm ein deutscher Arzt der Psychiater und Philosoph Karl Jaspers (883ndash969) das Thema in der Abhandlung uumlber bdquodie geistige Situation der Zeitldquo auf Als Band 000 der hochangesehenen bdquoSammlung Goumlschenldquo war das Buumlchlein so etwas wie eine Jubilaumlumsschrift die fuumlr das Denken der Weimarer Republik in hohem Maszlige als repraumlsentativ galt Seine These lautete

bdquoEs beginnt heute der letzte Feldzug gegen den Adel Statt auf politischem und soziologischem Felde wird er in den Seelen selbst gefuumlhrtldquo indem sich bdquodie Instinkte des Massemenschen hellip wie schon oumlfters gefaumlhrlicher als je mit religioumlskirchlichen und politisch absolutistischen Instinkten (vereinigen) um die universale Nivellie- rung in der Massenordnung mit einer Weihe zu versehenldquo (S 74) Der Adel den er meinte war nicht eine irgendwie privilegierte Schicht sondern so etwas bdquowie die unsichtbare Kirche eines corpus mysticum hellip der selbstseienden Geisterldquo (S 76) die als Minoritaumlt Geschichte machen Somit sei jetzt bdquodas Problem des menschlichen Adels hellip die Rettung der Wirksamkeit der Besten welche die Wenigsten sindldquo (S 73)Jaspers beruft sich ausdruumlcklich auf Le Bon der bdquodie Eigenschaften der Masse hellip als Impulsivitaumlt Suggestibilitaumlt Intoleranz Wandel- barkeit usw trefflich analysiert hatldquo (S 35) Als typische Zuumlge wer- den weiterhin aufgezaumlhlt bdquoEntscheidung durch Majoritaumlten Haszlig gegen jeden hervorragenden Einzelnen Forderung der Gleichheit ruumlcksichtslose Isolierung oder Ausschlieszligung jeder Besonderheit welche nicht repraumlsentativ fuumlr alle ist Verfolgung des Uumlberragen- denldquo (S 73) Allerdings sind bdquoMassemenschen hellip anzuerkennen sofern sie dienen leisten aufblickend den Impuls eines moumlglichen Aufschwungs kennen das heiszligt sofern sie selbst das sind was die Wenigen entschieden sindldquo (S 78)Nach dem zweiten Weltkrieg beurteilte Jaspers die Situation nicht wesentlich anders bdquoDie Verwandlung von Volk in Publikum und

EINFUumlHRUNG XV

Masse ist heute unaufhaltsamldquo heiszligt es 949 in bdquoVom Ursprung undZiel der Geschichteldquo (S 26) denn bdquoMassen entstehen wo Men- schen ohne eigentliche Welt ohne Herkunft und Boden verfuumlgbar und auswechselbar werdenldquo (S 25) Der Philosoph prangerte dabei

bdquodie Minderwertigkeit der Vielen des Durchschnittsldquo an bdquoderen Dasein durch den Massendruck alles bestimmtldquo In diesem Sinne so meinte er ist Masse bdquodie Erscheinung einer geschichtlichen Lage unter bestimmten Bedingungen (und) keineswegs endguumlltig minder- wertigldquo es sei naumlmlich auch moumlglich bdquodaszlig in den Massen selber die vernuumlnftig ringende Arbeit wirklichen Geistes sich entwickleldquo (S 27) Auch hier gewinnt schlieszliglich der Arzt die OberhandNoch einmal zuruumlck zum Jahr 93 in dem Le Bon starb Damals forderte eine Kommission des Voumllkerbundes repraumlsentative Vertreter des internationalen Geisteslebens zu einem brieflichen Meinungsaus- tausch auf bei dem Albert Einstein im Hinblick auf die Moumlglichkeit der Kriegsverhuumltung Freud die Frage stellte bdquoWie ist es moumlglich daszlig sich die Masse hellip bis zur Raserei und Selbstopferung entflam- men laumlszligtldquo Man denkt unwillkuumlrlich an Le Bons These bdquowenn die Massen geschickt beeinflusst werden koumlnnen sie heldenhaft und opferwillig seinldquo (S 3) Freud der sich schon 92 (in bdquoMassen- psychologie und Ich-Analyseldquo) sehr intensiv mit dem franzoumlsischen Autor beschaumlftigt hatte blieb auch seinerseits im Rahmen von dessen Vorstellungen bdquoEs ist ein Stuumlck hellip der angeborenen und nicht zu beseitigenden Ungleichheit der Menschen daszlig sie in Fuumlhrer und in Abhaumlngige zerfallen Die letzteren sind die uumlbergroszlige Mehrheit sie beduumlrfen einer Autoritaumlt welche fuumlr sie Entscheidungen faumlllt denen sie sich meist bedingungslos unterwerfen Hier waumlre anzuknuumlpfen man muumlszligte mehr Sorge als bisher aufwenden um eine Oberschicht selbstaumlndig denkender der Einschuumlchterung unzugaumlnglicher nach Wahrheit ringender Menschen zu erziehen denen die Lenkung der unselbstaumlndigen Massen zufallen wuumlrdeldquo (Ges W XVI S 24) Das war ndash abermals aus aumlrztlicher Sicht ndash ein Vorschlag zur Gesell- schafts-Hygiene der als herrschende Elite bdquoeine Gemeinschaft von Menschenldquo postulierte bdquodie ihr Triebleben der Diktatur der Ver- nunft unterworfen habenldquo Ihnen entsprechen im Konzept von Jas- pers bdquodie selbstseienden Menschenldquo jene bdquoBesten hellip die sie selbst sind im Unterschied von denen die in sich nur eine Leere fuumlhlen keine Sache als ihre kennen sich selber fliehenldquo (93 S 74) Man kennt sie auch aus zahlreichen Publikationen Le Bons z B aus der thesenartigen Zusammenfassung seiner Leitgedanken in den bdquoApho- rismes du temps preacutesentldquo (93) die von der Gesellschaft eine hoch-

XVI EINFUumlHRUNG

qualifizierte Fuumlhrung fuumlr die Massen verlangen damit deren dynami-sche Energie in die fuumlr das allgemeine Wohlergehen erforderliche Aktivitaumlt geleitet werde

II Werke und Tage

Als Arzt so berichtet Le Bon (S 80) habe er im Jahr 870 bei der Belagerung von Paris erstmalig die unheimliche Beeinfluszligbarkeit von Massen beobachtet Der erst 29-jaumlhrige war damals Chefarzt einer Lazarettabteilung fuumlr seine Verdienste wurde er nach dem Krieg zum Offizier der Ehrenlegion ernanntAls Autor hatte er sich bis dahin erst durch eine Arbeit uumlber den Scheintod und uumlber vorzeitige Bestattungen (866) bekannt gemacht Das Thema war fuumlr ihn nicht uncharakteristisch denn in einem gewissen Sinn sind auch die ohne eigenen Willen agierenden Mitglie- der einer Masse bdquoScheintoteldquo Sie erinnern an gehorsame Medien die auf den Befehl eines Hypnotiseurs hin sich regen oder erstarren ohne spaumlter zu wissen warum und wieso Untaten die sie in diesem Zustand begangen haben koumlnnten waumlren bdquovielleicht gesetzlich aber nicht psychologisch als Verbrechenldquo zu bezeichnen (S 8 f) Die Pariser Kommune von 870 7 die Le Bon im Zusammenhang mit revolutionaumlren Greueltaten erwaumlhnt (S 2) forderte Uumlberlegungen dieser Art zweifellos heraus Sie sind uns nach 945 nicht erspart gebliebenAuf das gleiche Problem waren auch schon die Kriminologen Gabriel Tarde (843ndash904) und Scipio Sighele (868ndash93) gesto- szligen in deren Schriften manche Formulierungen aus der bdquoPsycholo- gie des foulesldquo von 895 vorweggenommen sind so z B bei Tarde in bdquoLes lois de lrsquoimitationldquo (890) die Darstellung der Gesellschaft als eine stufenweise herabfallende bdquoKaskade sukzessiver Magnetisatio- nenldquo d h hypnotischer Beeinf lussungen die sie im ganzen zu einem Fall von Somnambulismus (Schlafwandeln) macht bdquoSehr oft war der Fuumlhrer zuerst ein Gefuumlhrter der selbst von der Idee hynoti- siert war deren Apostel er spaumlter wurdeldquo heiszligt es bei Le Bon (S 83) fuumlr den das bdquoil a lui-mecircme eacuteteacute hypnotiseacuteldquo ganz gewiszlig keine bloszlige Phrase war bdquoSorgfaumlltige Beobachtungen scheinen (naumlmlich) zu beweisen daszlig ein einzelner der lange Zeit im Schoszlige einer wirken- den Masse eingebettet war sich hellip in einem besonderen Zustand befindet der sich sehr der Verzauberung naumlhert die den Hypnoti- sierten unter dem Einfluszlig des Hypnotiseurs uumlberkommtldquo (S 6)

EINFUumlHRUNG XVII

Die hypnotischen Phaumlnomene und deren therapeutische Verwertbar-keit faszinierten gerade um diese Zeit durch die Arbeiten von J M Charcot (835ndash893) in Paris und H Bernheim (840ndash99) in Nancy eine breite Oumlffentlichkeit Zwischen 88 und 89 schrieb in Wien der Arzt Arthur Schnitzler seinen bdquoAnatolldquo der mit einer Hypnose-Szene beginnt waumlhrend sich Sigmund Freud ndash ausgeruumlstet mit einem Stipedium seiner Fakultaumlt ndash auf mehreren Reisen in Paris und in Nancy mit den neuen Methoden vertraut machte Viele Jahre spaumlter (92) hat er in bdquoMassenpsychologie und Ich-Analyseldquo den Vergleich umgekehrt bdquoDie Hypnose hat ein gutes Anrecht auf die Bezeichnung eine Masse zu zweitldquo (Ges W XIII S 42)Le Bon selbst scheint die aumlrztliche Praxis weniger gelockt zu haben als einerseits die hygienische Betreuung der Bevoumllkerung insgesamt und andererseits die Forschung die sich ndash dem Geist der Zeit folgend ndash zunaumlchst im Rahmen der phrenologischen Tradition ent- faltete Die von Franz Joseph Gall (758ndash828) aufgestellte Hypo- these daszlig der knoumlcherne Schaumldel Ruumlckschluumlsse auf die staumlrkere und schwaumlchere Ausbildung der darunterliegenden Gehirnpartien und damit auf die Begabungen und Charakterzuumlge eines Menschen zulasse war allerdings im letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts nicht mehr aufrechtzuerhalten Jedoch bemuumlhte man sich mit gro- szligem Eifer um den Nachweis eines Zusammenhanges zwischen Schauml- delvolumen bzw Gehirngroumlszlige und Intelligenz Die Wege die dabei eingeschlagen wurden und die Irrwege auf die viele gerieten schil- dert neuerdings S J Gould (98) sehr anschaulich Den bdquoGroszlig- kopfertenldquo waumlre eine solche ganz objektive Bestaumltigung ihrer Uumlberle- genheit nicht unlieb gewesen Paul Broca (824ndash880) der 86 das motorische Sprachzentrum im Gehirn entdeckt hatte eroumlffnete 867 in Paris ein anthropologisches Laboratorium in dem sich Le Bon laumlngere Zeit mit Schaumldelmessungen beschaumlftigteSeine 879 publizierten bdquoRecherches anatomiques et matheacutematiques sur les variations de volume du cerveau et sur leurs relations avec lrsquointelligenceldquo wurde mit einem Preis der Akademie der Wissenschaf- ten ausgezeichnet Das Hauptergebnis ist von wesentlicher Bedeu- tung fuumlr Le Bonrsquos Theorie der Kultur- und Voumllkerentwicklung bdquoDer Durchschnittsunterschied des Schaumldels bei zwei Voumllkern ist niemals sehr bedeutend hellip Vergleicht man (aber) die Schaumldel der verschie- denen Menschenrassen aus vergangener und gegenwaumlrtiger Zeit so erkennt man die Rassen deren Schaumldelvolumen die groumlszligten indivi- duellen Abweichungen aufweist als die in der Kultur am houmlchsten

XVIII EINFUumlHRUNG

stehenden und bemerkt daszlig in dem Maszlige wie eine Rasse in derKultur fortschreitet die Schaumldel der Individuen aus denen sie besteht sich immer mehr differenzierenldquo (894 S 33)Was die Gruppen voneinander unterscheidet sind somit nicht ndash wie noch Broca zeigen wollte ndash die Durchschnittswerte der Verteilungen sondern deren Streuungsweiten um den gemeinsamen Mittelwert Aus Gruumlnden die mehr mit dem Lebensstandard als mit der Kultur der Voumllker zu tun haben duumlrften ist das nicht unplausibel aber diese Frage braucht hier nicht entschieden zu werden Von grundlegender Bedeutung war jedoch fuumlr Le Bonrsquos Denken der Schluszlig den er aus seinem Ergebnis zog bdquodaszlig (naumlmlich) die Kultur uns nicht zur intel- lektuellen Gleichheit sondern zu einer immer groumlszliger werdenden Ungleichheit fuumlhrtldquo (894 S 33) Das ist der Ansatzpunkt seines Buches uumlber die bdquopsychologischen Grundgesetze der Voumllkerentwick- lungldquoDen in ihrer Eigenart zu maximaler Besonderheit ausgepraumlgten Ein- zelindividuen entsprechen bei Jaspers die bdquoselbstseienden Men- schenldquo deren bdquoNaumlhe das Beste (ist) was heute geschenkt werden kannldquo (S 75)Auch wenn dies Le Bon und Jaspers gleichermaszligen zuruumlckgewiesen haumltten stellt sich angesichts des unverkennbaren Narziszligmus der groszligen Einzelnen ndash bzw ihrer Verkuumlnder ndash die Erinnerung an die kulturelle Pose jener bdquohochmuumltigen Kasteldquo ein die Baudelaire 863 beschrieben hat deren bdquobrennendes Beduumlrfnisldquo darin bestand bdquosich innerhalb der Grenzen des Geziemenden eine Originalitaumlt zu schaf- fen eine Art Kult mit sich selberldquo Die Rede ist vom bdquoDandysmusldquo und dessen bdquoculte de soi-mecircmeldquo jenem bdquoletzten Aufleuchten des Heroismus in Zeiten des Verfallsldquo der bdquohauptsaumlchlich in Uumlbergangs- epochen (erscheint) wenn die Demokratie noch nicht allmaumlchtig ist und die Aristokratie noch nicht gaumlnzlich abgewirtschaftet hatldquoGewiszlig der Dandy ist in unseren Augen ein laumlcherliches Zerrbild des

bdquoHeroismusldquo aber die zeitliche Einordnung dieses bdquoAuf leuchtensldquo stimmt genau bdquoDie furchtbare Dekadenz der lateinischen Rasseldquo beklagte Le Bon in seiner Voumllkerpsychologie von 894 ebenso wie das die Schriftsteller J K Huysmans (bdquoGegen den Strichldquo 884) Paul Bourget (bdquoDer Schuumllerldquo 889) und Maurice Barreacutes (bdquoDie Ent- wurzeltenldquo 898) tatenJ Peacuteladan dessen Roman bdquoFinis Latinorumldquo (898) als 3 Band der 2-baumlndigen Reihe bdquoLa deacutecadence latineldquo (884ndash925) erschien hatte dem Unheil sogar durch die Gruumlndung eines mystischen

EINFUumlHRUNG XIX

Rosenkreuzer-Bundes (888) zu wehren versucht Aumlhnliche Gedan-ken bewegten in Deutschland Stefan George der sich 889 in Paris fuumlr Baudelaires Dandy-Ideal begeistert hatte In den bdquoBlaumlttern fuumlr die Kunstldquo veroumlffentlichte er 902 ein Weihespiel das den Titel traumlgt

bdquoDie Aufnahme in den Ordenldquo Darin verkuumlndet der Groszligmeister dem Juumlngling bdquoDen Voumllkern ungeahnt ist hier in hut hellip Die vor der Allerstarrung wahrt die glut ndash hellip Kein wachtet der vor ihr sein blut erwaumlgeldquoMan schwaumlrmte fuumlr die Gralsritter und fuumlr Wagners bdquoParsivalldquo Nicht einmal Freud widerstand als ihm Ernest Jones die Idee eines geheimen Leitungsgremiums der Psychoanalyse einfluumlsterte jedoch bestand er in seinem Brief vom 26 Dezember 92 ausdruumlcklich darauf bdquodaszlig die Existenz des Bundes und seine Aktionen ein absolu- tes Geheimnis zu bleiben haumlttenldquo So ganz im Verborgenen wirken wollte man aber doch auch wieder nicht und so trug denn jeder der sieben Herren einen goldenen mit einer antiken Gemme gezierten Ring am FingerDie Gefahr wie sie in Paris die Retter sahen schilderte am 0 April 886 die Zeitung bdquoLe Deacutecadentldquo nach Mario Praz wie folgt bdquoEs waumlre der Gipfel des Wahnsinns sich den Stand der Dekadenz den wir erreicht haben nicht klarzumachen Religion Sitten Gerechtig- keit ndash alles verfaumlllt hellip Die Gesellschaft loumlst sich unter der Wirkung einer zersetzenden Zivilisation auf Der moderne Mensch ist uumlbersaumlt- tigt Verfeinerung der Begierden der Empfindungen des Geschmacks des Luxus der Vergnuumlgungen Neurose Hysterie Hypnotismus Morphiumsucht wissenschaftliche Scharlatanerie uumlberspannte Verehrung von Schopenhauers Philosophie sind die Vorboten des sozialen VerfallsldquoAus Wien lieszlig sich 893 mit einem Aufsatz uumlber Gabriele DrsquoAnnun- zio der 29-jaumlhrige Hugo von Hofmannsthal in der gleichen Tonart vernehmen bdquoHeute scheinen zwei Dinge modern zu sein Die Ana- lyse des Lebens und die Flucht aus dem Leben hellip Modern sind alte Moumlbel und junge Nervositaumlten hellip Wir haben nichts als ein senti- mentales Gedaumlchtnis einen gelaumlhmten Willen und die unheimliche Gabe der Selbstverdoppelung Wir schauen unserem Leben zu hellip Wir hellip Ich rede von ein paar tausend Menschen in den groszligen europaumlischen Staumldten verstreut hellip Sie fuumlhlen sich mit schmerzlicher Deutlichkeit als Menschen von heute sie verstehen sich miteinander und das Privilegium dieser geistigen Freimaurerei ist fast das einzige was sie im guten Sinn vor den uumlbrigen voraushaben hellipldquo (Werke

XX EINFUumlHRUNG

VIII S 75 f) Abermals ein Orden der Wenigen im Kontrast zubdquoden uumlbrigenldquoMan sprach in Paris und in Wien vom bdquoFin de siegravecleldquo als ginge es um den bdquoUntergang des Abendlandesldquo jedoch litt man in Frankreich das tonangebend war im wesentlichen unter den Spannungen die der Schweizer Publizist P Seippel 905 auf die Formel bdquoles deux Francesldquo gebracht hatte Die Geister schieden sich am Phaumlnomen der Franzoumlsischen Revolution von 789 in der die einen den hoffnungs- vollen Aufbruch in eine neue Zeit erblickten die anderen aber den Anfang vom Ende In der Tat bedurfte es der schweren Staatskrise von 877 bis der 4 Juli im Gedenken an den Bastille-Sturm zum Staatsfeiertag werden konnteLe Bon stand auf Seiten der Traditionalisten jedoch distanzierte er sich von den bdquoLieblingsschriftstellern der jetzigen Bourgeoisieldquo (S 3)

ndash gemeint waren damit offenbar Huysmans (848ndash907) Barreacutes (862ndash923) und Charles Peacuteguy (873ndash94) ndash jenen bdquoNeubekehr- tenldquo mit ihrem bdquoverzweifeltem Appell an die sittlichen Kraumlfte der Kircheldquo er setzte als Arzt auf die heilende Wirkung der Wissen- schaftWie jene erblickte er aber im Sozialismus den er immer wieder ndash vor allem in der bdquoPsychologie du socialismeldquo (898) ndash angriff die Negation von Kultur bdquoDer Sozialismusldquo heiszligt es in der Voumllkerpsy- chologie bdquoscheint zur Zeit die schwerste Gefahr zu sein von der die europaumlischen Voumllker bedroht werden (er) stellt den neuen Glauben der ungeheuren Menge der Enterbten darldquo (894 S 36) Nicht viel anders klang es in Baudelaires Dandy-Aufsatz von 863 bdquoAber leider erstickt der steigende Schlamm der Demokratie der sich uumlber alles legt und alles gleichmacht Tag um Tag diese letzten Vertreter des menschlichen Stolzesldquo ndash die DandiesObwohl er von den Modenarren die sich selbst bisweilen bdquoles incroyablesldquo ndash die Unglaublichen ndash nannten kaum sehr viel gehal- ten haben duumlrfte war Le Bon im Prinzip der gleichen Ansicht wie sie bdquoSobald der Sozialismus ein Land unterjocht hat besteht seine einzige Aussicht sich einige Zeit zu erhalten darin daszlig er alle die Individuen bis auf das Letzte verschwinden laumlszligt die eine so groszlige Uumlberlegenheit besitzen um sich ndash wenn auch nur in geringem Maszlige

ndash uumlber den niedrigsten Durchschnitt zu erhebenldquo (894 S 30) Voumlllig grundlos waren solche Aumlngste nicht sie konnten sich einerseits auf die Erfahrungen mit der Pariser Kommune von 87 berufen und andererseits auf das anarchistische Programm Bakunins

EINFUumlHRUNG XXI

wie es z B in den bdquoDaumlmonenldquo Dostojewski (87 72) schildern laumlszligtbdquoDas Hauptprinzip ist die Gleichheit Ais erstes wird das gesamte Bildungsniveau gesenkt hellip Wir brauchen keine Hochbegabten hellip wir werden jedes Genie im Keim ersticken Alles wird auf einen Nenner gebracht volle Gleichheit hergestelltldquoFuumlr Le Bon kann Gleichheit jedenfalls bdquonur im Untergeordneten bestehen sie ist der dunkle druumlckende Traum vulgaumlrer Mittelmaumlszligig- keit hellip Sollte Gleichheit in der Welt herrschen so muumlszligte man allmaumlhlich alles was den Wert einer Rasse ausweist auf das Niveau des am tiefsten stehenden was diese Rasse besitzt herabdruumlckenldquo (894 S 23) Genau das aber sind bdquodie Forderungen der Massenldquo die heute bdquonach und nach immer deutlicher (werden sie) laufen auf nichts Geringeres hinaus als auf den gaumlnzlichen Umsturz der gegen- waumlrtigen Gesellschaft um sie jenem primitiven Kommunismus zuzufuumlhren der vor dem Beginn der Kultur der normale Zustand aller menschlichen Gesellschaft warldquo (S 3)Es ist das Hauptresultat seiner Schaumldelmessungen von dem er sich unbeirrt leiten laumlszligt Je differenzierter umso houmlher Gleichheit ist unten bei den Massen bdquoAllein durch die Tatsache Glied einer Masse zu sein steigt der Mensch also mehrere Stufen von der Leiter der Kultur hinabldquo (S 7) Dort wo die Individualitaumlt verschwindet gilt das bdquoGesetz der seelischen Einheit (de lrsquouniteacute mentale) der Massenldquo Oswald Spengler umschrieb es ohne Le Bon auch nur zu nennen im bdquoUntergang des Abendlandesldquo (922) bdquoEine zufaumlllige Menge wird auf der Straszlige zusammengeballt sie hat ein Bewuszligtsein ein Fuumlhlen eine Sprache bis die kurzlebige Seele erlischt und jeder seines Weges gehtldquo (II S 22)Daszlig ein Mensch aus einem vergleichsweise so geringem Anlaszlig sogleich bdquomehrere Stufen von der Leiter der Kulturldquo hinabsteigt ist schwer vorzustellen ndash es sei denn man spraumlche mit Freud von der

bdquoRegression der seelischen Taumltigkeit auf eine fruumlhere Stufe wie wir sie bei Wilden oder bei Kindern zu finden nicht erstaunt sindldquo (92 S 29) Genau das geschieht auch in der Hypnose durch die bdquoder Hypnotiseur beim Subjekt ein Stuumlck von dessen archaischer Erb- schaftldquo weckt bdquoDer unheimliche zwanghafte Charakter der Mas- senbildung der sich in ihren Suggestionserscheinungen zeigt kann also wohl mit Recht auf ihre Abkunft von der Urhorde zuruumlckge- fuumlhrt werdenldquo meinte Freud (92 S 42)Urhorden hat Le Bon so wenig jemals gesehen wie Freud aber er kannte aus eigener Anschauung die Restbestaumlnde sozusagen die Kadaver groszliger Kulturen Nationen oder Rassen Zwischen den drei

XXII EINFUumlHRUNG

Begriffen pflegte er uumlbrigens nicht besonders genau zu unterschei-den in einer romanischen Sprache denkend erschienen ihm ganz unwillkuumlrlich die Rassen als die bdquoWurzelnldquo aus denen sich ndash von einer Nation gepf legt ndash die Kultur wie ein Gewaumlchs entfaltet In die Rolle des Leichenbeschauers geriet der Arzt durch seine voumllkerkundlichen Studien bdquoDer Mensch und die Gesellschaften ihr Ursprung und ihre Geschichteldquo (88) und bdquoDie Kultur der Araberldquo (884) die ihm notwendig erschienen nachdem die Schaumldelmessun- gen zu der Korrelation zwischen kulturellem Niveau und Differen- ziertheit gefuumlhrt hatten Auf Grund dieser Arbeiten erhielt er 884 von der Franzoumlsischen Akademie den Auftrag in Indien die buddhi- stischen Baudenkmaumller zu inventarisieren Hier sah er nun zwischen den Zeugen einer unstreitig groszligen Vergangenheit das Elend der kolonialen Gegenwart Mengen von Menschen denen ihre Geschichte nichts mehr bedeutet und die der Fremde der mit ihnen nicht einmal reden konnte als Individuen kaum voneinander zu unterscheiden vermochte Sie sehen fuumlr ihn alle gleich aus Das ist die Masse schlechthin der Endzustand des Zerfalls bdquoDann geschieht es daszlig die Menschen hellip sich nicht mehr regieren koumlnnen und danach verlangen in den unbedeutensten Handlungen gefuumlhrt zu werden hellip Mit dem endguumlltigen Verlust des fruumlheren Ideals verliert die Rasse zuletzt auch ihre Seeie sie ist dann nur noch eine Menge alleinstehender Einzelnerldquo (S 53)Zunaumlchst fanden diese Beobachtungen ihren Niederschlag in mehre- ren Buumlchern bdquoDie Kulturen Indiensldquo (887) bdquoDie fruumlhen Kulturen des Orients (889) und bdquoDie Kunstdenkmaumller Indiensldquo (89) Ihnen folgten dann aber in schnellem Tempo die Schriften in denen Le Bon mit dem Einsatz allrsquo seiner Uumlberredungskunst den europauml- ischen Nationen und in erster Linie Frankreich das indische Schick- sal ersparen wollte das sich mit der im Fin de siegravecle mancherorts liebend gepflegten Dekadenz bereits anzudeuten schien bdquoDie psy- chologischen Grundgesetze der Voumllkerentwicklungldquo (894) bdquoDie Psychologie der Massenldquo (895) bdquoDie Psychologie des Sozialismusldquo (898) bdquoDie Psychologie der Erziehungldquo (902) bdquoDie politische Psycholgieldquo (902) sowie bdquoDie franzoumlsische Revolution und die Psy- chologie der Revolutionenldquo (903)Nach naturphilosophischen Abhandlungen (bdquoDie Evolution der Materieldquo 905 und bdquoDie Evolution der Kraumlfteldquo 907) wandte sich

bdquoDie Welt des alten Indienldquo uumlbers von H Leonhardt Verlag Herbig Muumlnchen 974

EINFUumlHRUNG XXIII

Le Bon der inzwischen die Leitung der Bibliothegraveque de Philosophiescientifique uumlbernommen hatte waumlhrend des Weltkrieges und nach diesem noch einmal der Politik zu bdquoDie psychologischen Lehren des europaumlischen Kriegesldquo (96) bdquoDie Psychologie der neuen Zeitldquo (920) bdquoDie Welt aus dem Gleichgewichtldquo (923) und bdquoDie gegen- waumlrtige Entwicklung der Weltldquo (927)Die Hektik seines Publizierens hat etwas Unheimliches an sich den Schluumlssel zum Verstaumlndnis enthaumllt eine Bemerkung in der bdquoPsycholo- gie des foulesldquo bdquoDie Massen sind so etwas wie die Sphinx der antiken Sage man muszlig die Fragen die ihre Psychologie uns stellt loumlsen oder darauf gefaszligt sein von ihnen verschlungen zu werdenldquo (S 7)Die Symbolisten haben mit dem Maler Gustave Moreau (826ndash894) an der Spitze bdquodie sinnbildliche Gottheit unzerstoumlrbarer Wollust die Goumlttin der unsterblichen Hysterieldquo (Huysmans 884)

bdquodas unbewuszligte Geschoumlpf ldquo (Moreau) ndash die Sphinx oder auch Salome ndash immer wieder als die groszlige faszinierende Gefahr darge- stellt an der in der dekadenten Hingabe der maumlnnliche Kulturwille scheitern muszlig In Peacuteladans Romanen verfaumlllt von den zur Rettung der Kultur erkorenen Helden einer nach dem anderen diesem Schicksal und in den nachgelassenen Notizen aus Baudelaires letz- tem Lebensjahr (867) wird ganz unumwunden festgestellt bdquoDie Frau ist das Gegenteil des Dandy also muszlig sie Grauen erregenldquo In den romanischen Sprachen ist auch der Tod ndash la mort ndash ein Femi- ninum vielleicht die Ruumlckkehr in den Mutterschoszlig der Erde Le Bon kannte das Grauen aus Indien wo er ndash wie es scheint ndash das Thema seiner Erstlingsschrift den Scheintod uumlberhaupt nicht mehr in Erwaumlgung gezogen hatte Jetzt ndash Freud auch darin verwandt ndash sah er sich zur Uumlbernahme der Oumldipus-Rolle verpflichtet

III Gruppen ndash nicht Massen

Von den Vielen den bdquoPolloildquo deren bloszlige Anzahl fuumlr Stefan George bereits bdquoFrevelldquo ist sprach Platon meist im Ton gnadenloser Gering- schaumltzung Daszlig bdquodie Meisten schlecht sindldquo das Maszlig aber das Beste weiszlig man aus den Merkspruumlchen welche die Sieben Weisen dem abendlaumlndischen Denken mit auf den Weg gegeben haben Diese Thesen stammen wann und wo immer sie auftreten aus dem Kampf um die Demokratie bzw gegen ein allgemeines Wahlrecht Beson-

XXIV EINFUumlHRUNG

ders gern wird mit ihnen auf das Scherbengericht (Ostrakismos)hingewiesen durch das Kleisthenes in Athen seine Reformen (509 507 v Chr) gegen das Wiedererstarken der Adelspartei absichern wollte Es bedurfte dabei bloszlig eines Quorums von 6 000 Buumlrgern um eine missliebige Persoumlnlichkeit binnen zehn Tagen zum Verlassen des Landes zu zwingen ohne daszlig es erforderlich gewesen waumlre ihr irgendwelche Vergehen nachzuweisenDas System bleibt unheimlich auch wenn bdquosoviel man weiszlig hellip der Ostrakismos in Athen erfolgreich nur etwa zehnmal zur Anwendung (kam) ehe man ihn aufgabldquo (Tarkiainen 972) Hier ist deutlich die

bdquoNivellierungldquo am Werk vor der Le Bon warnte Umso erstaunli- cher ist daszlig Aristoteles in seiner bdquoPolitikldquo (284 b) einen sehr milden Vergleich waumlhlte bdquoAuch der Chormeister wird doch den nicht im Chor mitsingen lassen dessen Stimme an Kraft und Schoumln- heit die des ganzen Chores uumlbertrifftldquo Er zog daraus den Schluszlig

bdquodie Idee des Scherbengerichts (habe) bei anerkannten Uumlberlegenhei- ten ein gewisses Recht vom Standpunkt des Staates aus Besser (sei) es freilich wenn der Gesetzgeber von vornherein die ganze Verfas- sung so einrichtet daszlig es eines solchen Heilmittels nicht bedarfldquo Die Nivellierung als bdquoHeilmittelldquo ndash bdquoiatreialdquo heiszligt es im Griechi- schen ndash auch Aristoteles war Arzt (iatros)Man kann sich wenn man Le Bonrsquos Ansichten teilt zwar auf viele Vorlaumlufer berufen ndash insbesondere auf Platon ndash nicht aber auf Aristoteles der nicht nur in der bdquoPolitikldquo sondern auch in der bdquoMetaphysikldquo fuumlr Mitbestimmungsverfahren plaumldierte bdquoObwohl kein einzelner (die Wahrheit) angemessen zu erreichen vermag koumln- nen wir doch nicht alle dabei versagen jeder stellt eine Behauptung auf uumlber die Natur und als einzelner traumlgt er nichts oder nur wenig zur Erkenntnis bei aber aus der Vereinigung aller resultiert etwas Groszliges an Wissenldquo (993 b) bdquoDaher beurteilen ja auch die Vielen die Werke von Musikern und Dichtern am besten naumlmlich der eine diese der andere jene Seite an denselben aile zusammen aber das Ganzeldquo (28 b)Die Diskussion entbrennt immer wieder Niccolograve Macchiavelli (467ndash527) der in Florenz nach dem Sturz der Medici (494) als Republikaner ziemlich bald (489) zu hohen Staatsaumlmtern aufgestie- gen ist die er 52 nach der Ruumlckkehr der Medici auch prompt wieder verliert kennt zwar auch den Spruch bdquoWer dem Volk ver- traut hat auf Sand gebautldquo (Chi fonda in sul populo fonda in sul fango) aber er haumllt ihn fuumlr ein bdquoabgedroschenes Sprichwortldquo (pro-

EINFUumlHRUNG XXV

verbio trito) das nur unter bestimmten Voraussetzungen gilt (IlPrincipe 53 cap IX) Grundsaumltzlich aber meint er bdquodaszlig ein Volk kluumlger und bestaumlndiger und von richtigerem Urteil ist als ein Fuumlrst Nicht ohne Grund sagt man daher Volkes Stimme Gottes Stimme Die oumlffentliche Meinung prophezeit so wunderbar richtig als saumlhe sie vermoumlge einer verborgenen Kraft ihr Wohl und Wehe vorausldquo (Discorsi 53ndash59 I cap 58) Ein wenig wie pro domo gespro- chen klingt der Zusatz bdquoMan sieht auch daszlig das Volk bei der Besetzung der Aumlmter eine viel bessere Wahl trifft als ein Fuumlrstldquo ndash aber im Grunde war das ja auch die aristotelische Lehrmeinung Die nicht weniger plausible Gegenthese findet sich bei Descartes im

bdquoDiscours de la Meacutethodeldquo (II 4) bdquoStimmenmehrheit ist kein Beweis angesichts von schwer zu entdeckenden Wahrheiten denn es ist weit wahrscheinlicher (plus vraisemblable) daszlig ein Mensch allein sie fin- det als ein ganzes Volkldquo Obwohl sich diese Uumlberlegung durch eine einfache Rechnung bestaumltigen laumlszligt fuumlhrt sie auf einen Irrweg Geht man naumlmlich davon aus daszlig jedes Einzelindividuum eine von seiner Begabung Bildung und Motivation abhaumlngige Wahrscheinlichkeit p

fuumlr die Loumlsung eines bestimmten Problems besitzt dann liegt deren Wert zwischen Null und Eins 000 le pi le 00 Die Findewahr- scheinlichkeit einer groszligen Anzahl von n Personen (pn) entspraumlche aber dem Produkt aller Einzelwerte das zweifellos sehr viel kleiner als der einzelne pi-Wert ist pn = pi ∙ pi2 hellip pin lt pi

Zur Veranschaulichung diene eine Untersuchung von P R Laughlin und seinen Mitarbeitern (975) in der amerikanischen College-Stu- denten zuerst einzeln die 5 Aufgaben eines recht schwierigen Tests der verbalen Intelligenz bearbeiteten Die durchschnittliche Loumlsungs- wahrscheinlichkeit belief sich fuumlr Einzelpersonen auf pi = 042 waumlhrend sie fuumlr Dreiergruppen auf p3 = 058 anstieg die Gruppen waren somit im Schnitt erfolgreicher als die Einzelnen Die Empirie spricht fuumlr Aristoteles und Macchiavelli aber gegen Descartes und Le Bon obwohl rechnerisch Descartes natuumlrlich Recht behaumllt das Pro- dukt von 042 ∙ 042 ∙ 042 = 007 ist sehr viel kleiner als die Trefferwahrscheinlichkeit einer EinzelpersonSofern es sich um eine Gruppe handelt ist es freilich auch gar nicht erforderlich daszlig jedes ihrer Mitglieder alle Teilaufgaben loumlst man kann sich die Arbeit ganz im Sinne des Aristoteles so teilen daszlig bdquoder eine diese der andere jene Seite (beurteilt) alle zusammen aber das Ganzeldquo Versagen wuumlrde daher ein Team nur wenn keines seiner Mitglieder einen Treffer erzielt Die Wahrscheinlichkeit dafuumlr belaumluft

EINFUumlHRUNGXXVI

sich auf das Produkt der drei individuellen Nicht-Finde-Wahrschein-lichkeiten von qi = ndash pi = 058 somit auf 058 ∙ 058 ∙ 058 = 020 Gegenuumlber dieser kollektiven Nicht-Finde-Wahrscheinlichkeit hat daher die Dreiergruppe eine kollektive Finde-Wahrscheinlichkeit von p3 = ndash qi

3 = 080Im Experiment sind die Erfolge der Gruppen hinter diesem Wert mit p3 = 058 erheblich zuruumlckgeblieben obwohl sie ndash wie gesagt ndash houmlher lagen als die einzelnen Finde-Wahrscheinlichkeiten von im Schnitt 042 Das ist wenn man den hier vorgestellten Ansatz empi- risch uumlberpruumlft fast immer der Fall denn dieser beschreibt ein Optimum fuumlr dessen Erreichung eine Reihe von noch zu eroumlrtern- den Voraussetzungen besteht Zunaumlchst aber ist festzuhalten daszlig Experimentalgruppen in der Regel bei intellektuellen Suchaufgaben besser abschneiden als die durchschnittliche Einzelperson das schlieszligt jedoch keineswegs die Moumlglichkeit aus daszlig diese oder jene Einzelperson auch die optimale Gruppenleistung weit uumlberbieten kannDas Modell der kollektiven Optimalleistung das in den Fuumlnfziger- jahren von mehreren Autoren fast gleichzeitig formuliert wurde (P R Hofstaumltter 97) laumlszligt sich zu dem Ausdruck verallgemeinern daszlig die Wahrscheinlichkeit des Sucherfolges einer aus n Personen bestehenden Gruppe dem Komplimentaumlrwert der n-ten Potenz der durchschnittlichen Nicht-Finde-Wahrscheinlichkeit (qi) entsprichtpn = ndash qi

n Bedenkt man allerdings wie stark pn mit zunehmender Gruppengroumlszlige (n) selbst bei geringen Ausgangswerten ansteigt ver- liert das Modell einiges an Glaubwuumlrdigkeit Bei einer an sich gerin- gen individuellen Findewahrscheinlichkeit von pi = 00 braumlchten es n = 30 Personen bereits auf eine kollektive Findewahrscheinlichkeit von p30 = 096 der Erfolg waumlre ihnen damit nahezu sicher Im Extrem uumlbersteigert wuumlrde die Maxime daher lauten Man nehme eine genuumlgend groszlige Anzahl von Dummkoumlpfen dann laumlszligt sich jedes Problem nahezu mit Sicherheit loumlsen Das aber ist natuumlrlich barer UnsinnLe Bon haumltte zweifellos seinen Spaszlig gehabt an dieser Utopie demo- kratischer Wunschtraumlume obwohl er von seinen Schaumldelmessungen her durchaus Sinn fuumlr mathematisch-statistische Uumlberlegungen hatte Ernsthaft erwaumlgenswert wird unser Ansatz erst durch die Beruumlck- sichtigung der ihm innewohnenden vier Bedingungen die ndash sieht man genauer zu ndash eine nach der anderen Eigenschaften von Massen ausschlieszligen Was zunaumlchst die bdquoDummkoumlpfeldquo anlangt ist festzu-

EINFUumlHRUNG XXVII

stellen daszlig Personen mit einer absoluten Nicht-Finde-Wahrschein-lichkeit von qi = 00 nichts zur Verringerung des Produkts der q- Werte beitragen Ihre Beteiligung an der gemeinsamen Suchleistung wuumlrde daher bloszlig durch einen uumlberhoumlhten Wert von n den Ansatz verfaumllschen Vorausgesetzt wird daher zunaumlchst daszlig alle individuel- len pi-Werte groumlszliger als Null sindAn zweiter Stelle gilt daszlig die einfache Multiplikation von Wahr- scheinlichkeiten nur dann zulaumlssig ist wenn es sich dabei um unab- haumlngige Wahrscheinlichkeiten handelt Ausgeschaltet werden daher nach den Dummkoumlpfen nun auch die bloszligen Nachahmer die in den Suchvorgang keine eigene d h unabhaumlngige Findewahrscheinlich- keit einbringen Das Modell verlangt somit nicht nur einen gewissen Grad von Intelligenz sondern auch die im Charakter begruumlndete Selbstaumlndigkeit die Bereitschaft auf eigene Faust unter Umstaumlnden auch einen Fehler zu riskieren und bisweilen eine nicht unerhebliche Widerstandskraft gegenuumlber Einfluumlssen aus der Umwelt Bis zu den

bdquoselbstseienden Menschenldquo von Jaspers braucht man diese Forde- rung freilich nicht hinaufzuschraubenAn dritter Stelle wird eine gewisse Gruppenloyalitaumlt in dem Sinn verlangt daszlig der eine der etwas gefunden zu haben glaubt den anderen seinen Befund auch prompt mitteilt Man nennt das die Kommunikations-Bedingung deren Einhaltung bei den Gruppen- mitgliedern eine gemeinsame Sprache ein gemeinsames Ziel und zusaumltzlich die fuumlr Uumlberlegung und Verstaumlndigung erforderliche Zeit voraussetzt In besonderem Maszlige unterliegen dieser Bedingung in unserer Gesellschaft die als bdquoProfessorenldquo bezeichneten Such-Spezia- listen deren Titel sie zwar nicht zu Gestaumlndnissen dafuumlr aber zur Mitteilung ihrer Forschungsergebnisse verpflichtet damit diese in der allgemeinen Diskussion uumlberpruumlft werden koumlnnen Von Kennern der Verhaumlltnisse ist zu erfahren daszlig auch dafuumlr Charaktereigen- schaften erforderlich sind Auch wenn diese vorhanden sind wird es mit zunehmender Personenzahl immer schwieriger und bald sogar unmoumlglich daszlig jeder sich mit jedem austauscht Die Gruppengrouml- szligen die in dem Modell einen so positiven Effekt hat wird auf diese Weise in der Praxis allmaumlhlich zu einem wesentlichen Hindernis fuumlr dessen AnwendungAm schwierigsten ist sowohl zu schildern als auch zu befriedigen die an vierter Stelle in dem Modell enthaltene sog Akzeptierungsbedin- gung die vorsieht daszlig die Gruppe als ganze in der Lage ist jeden echten Fund zu akzeptieren bzw jeden Fehler als solchen abzuleh-

EINFUumlHRUNGXXVIII

nen Akademische Gremien sind ndash wie man aus der Wissenschafts-geschichte weiszlig ndash nicht immer in der Lage gewesen dieser Forde- rung gerecht zu werden da diese ja auf Seiten der Gesamtgruppe so etwas wie Allwissenheit voraussetzt Das waumlre unsinnig Wir muumlssen uns daher ersatzweise mit Regeln und Strategien begnuumlgen wie sie z B fuumlr die Urteilsfindung in Geschworenenprozessen entwickelt wurden bdquoZweier oder dreier Zeugen Mundldquo fordert schon die Bibel (5 Mose 7 6) Wuumlrde man von Geschworenen nur einstimmige Entscheidungen annehmen muumlszligten vergleichsweise viele Verfahren an der Unmoumlglichkeit scheitern ein Urteil zu finden Geringer ist diese Gefahr wenn eine Jury nur mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit (8 von 2 oder 4 von 6 Stimmen) zu entscheiden braucht

Es ist kaum zu vermeiden daszlig sich an dieser Stelle fruumlher oder spaumlter die Frage nach den Qualifikationen erhebt die eine Person besitzen muszlig oder wenigstens sollte um an kollektiven Such- und Entscheidungsprozessen mitwirken zu koumlnnen Die Erinnerung an den bisweilen mit mehr Brutalitaumlt als Sachverstand gefuumlhrten Streit um die Zusammensetzung akademischer Gremien der bei uns noch kaum ein Jahrzehnt zuruumlckliegt zeigt erschreckend deutlich wie leicht eine fuumlr rationale Leistung bestimmte Gruppe zur Masse im Sinn Le Bons degenerieren kann Auf jeden Fall ist man nun wieder in der Politik wo Machtkonstellationen uumlber Mitbestimmungsrechte zu entscheiden pflegenMacchiavelli der sich in den bdquoDiscorsildquo mit dem roumlmischen Histori- ker Livius auseinandersetzte hat dessen These zuruumlckgewiesen es sei bdquodie Natur der Menge daszlig sie entweder sklavisch dient oder uumlbermuumltig herrschtldquo (XXIV 25) Haec natura multitudinis est aut servit humiliter aut superbe dominatur bdquoWas unsere Geschichts- schreiber von der Natur der Menge sagen gilt nicht fuumlr eine durch Gesetze gezuumlgelte Menge wie die roumlmische sondern fuumlr eine zuumlgel- lose wie die syrakusanische welche die Verbrechen rasender und zuumlgelloser Menschen beging hellip Denn ein Volk mit guter Verfas- sung wird bestaumlndig klug und dankbar sein so gut wie ein Fuumlrst ja mehr als ein Fuumlrstldquo (I cap 58)Der hier vorgenommenen Einschraumlnkung auf bdquodurch Gesetze gezuuml- gelte Mengenldquo entsprechen im Teilbereich der intellektuellen Such- leistungen die Voraussetzungen fuumlr das Wahrscheinlichkeitsmodell Da ihnen gerecht zu werden an sich schon schwierig ist und mit zunehmender Gruppengroumlszlige immer schwieriger wird liegt die empirisch ermittelte Erfolgswahrscheinlichkeit von Gruppen wie in

EINFUumlHRUNG XXIX

dem vorhin geschilderten Beispiel fast immer deutlich unter demtheoretischen Optimalwert z B also bei p3 = 058 statt bei 080 Daran knuumlpft sich sofort die empirische Frage nach den situativen Bedingungen welche fuumlr die Erfuumlllung der rationalen Voraussetzun- gen guumlnstig bzw schaumldlich sind Als eher schaumldlich erweist sich wie der amerikanische Psychologe I L Janis (972) gezeigt hat das

bdquoGruppendenkenldquo (groupthink) d h der intellektuelle Gruppen- zwang fuumlr den es eine Reihe von Symptomen gibt ein uumlbersteigertes Selbstvertrauen der Gruppe das emotional bedingte Pochen auf die Gemeinsamkeit des Denkens Fuumlhlens und Urteilens sowie die Angst einzelner Gruppenmitglieder davor sie koumlnnten als illoyal erscheinen Wenn die Dinge in einem Team so liegen ndash und das ist besonders leicht dort der Fall wo an der Spitze eine Persoumlnlichkeit mit hohem Prestige steht ndash versagt die gruppeninterne Kritik an den Plaumlnen leicht es herrscht dann zuviel EintrachtZur Veranschaulichung wird in der Fachliteratur gerne das Kuba- Unternehmen von Praumlsident Kennedy im April 96 herangezogen das mit der Landung in der Schweinebucht klaumlglich scheiterte Es laumlszligt sich zeigen daszlig zum Zeitpunkt der geplanten Invasion zahlrei- che Tatsachen bekannt waren die in ihrer Gesamtheit das Vorhaben als viel zu riskant haumltten erscheinen lassen muumlssen Sie wurden aber von dem Stab zu dem Kennedy das Praumlsidialamt umgestaltet hatte und der unter seinem Vorsitz tagte nicht in ausreichender Weise beachtet Man wollte Entschluszligkraft zeigen nachdem der vorherge- gangenen Eisenhower-Administration deren Zaudern zum Vorwurf gemacht worden war Das Ergebnis war ndash ganz nuumlchtern betrachtet

ndash ein Verstoszlig gegen die Voraussetzungen des Suchmodells die Mitglieder des Stabes verstanden nicht ihre Unabhaumlngigkeit zu wah- ren einzelne verzichteten auf die Kommunikation abweichender Ansichten und insgesamt wurde daher eine falsche Loumlsung akzep- tiertEtwas Aumlhnliches scheint 980 Praumlsident Carter bei dem Versuch passiert zu sein die amerikanischen Geiseln aus Teheran herauszu- holen Es faumlllt auf daszlig in beiden Faumlllen die Amtsinhaber eine Auf- bruchsstimmung erzeugt hatten von der auch die Kabinettsrunde erfaszligt wurde bdquoIn gewissen historischen Augenblicken kann ein hal- bes Dutzend Menschen eine psychologische Masse ausmachenldquo heiszligt es bei Le Bon (S ) nach dessen Meinung bdquosich in der Masse die Menschen stets einander angleichen (weshalb) die Abstimmung von vierzig Akademiemitgliedern uumlber allgemeine Fragen nicht mehr gilt als die von vierzig Wassertraumlgernldquo (S 35)

XXX EINFUumlHRUNG

Eine Gruppe ndash und das trifft auch fuumlr Regierungsmannschaften zundash die nicht zur bdquopsychologischen Masseldquo werden will muszlig daher auf die Erhaltung von Distanz zwischen ihren Mitgliedern achten obwohl sich mit dem Gefuumlhl menschlicher Naumlhe ein Erlebnis der Geborgenheit einzustellen pflegt in dem manche Autoren ndash Elias Canetti z B ndash eine bdquoEntladungldquo von Angst und damit das Haupt- motiv fuumlr den Anschluszlig an eine Masse erblickenDie Staumlrke dieses Gefuumlhls der menschlichen Naumlhe bzw der Aurakti- vitaumlt eines Du haumlngt dabei ndash wie wir aus Experimenten von D Byrne (974) wissen ndash sehr erheblich vom Vorhandensein gemeinsa- mer Ansichten und Uumlberzeugungen abJe bedrohlicher eine Situation erscheint umso staumlrker wird das Beduumlrfnis nach der Naumlhe von Gleichgesinnten (S Schachter 959) bzw das Bestrebenldquo die Last der Freiheit loszuwerdenldquo (bdquoEscape from freedomldquo E Fromm 94) bdquoDie Massen hellip scheinen dazu verurteilt zu sein unaufhoumlrlich von der wildesten Anarchie zum druumlckendsten Despotismus zu taumelnldquo meinte Le Bon (894 S 33) bdquoSie scheinen inbruumlnstig die Freiheit zu lieben in Wirklich- keit weisen sie diese immer von sich und verlangen staumlndig vom Staat ihnen Ketten zu schmiedenldquoDas war nicht mehr als eine Variation uumlber die These des Livius mit der sich Macchiavelli auseinandergesetzt hat bdquoaut servit humiliter aut superbe dominaturldquo ndash wobei in Erinnerung zu bringen ist daszlig

bdquodominorldquo trotz seiner Passivform bdquoich herrscheldquo heiszligt Beide ndash Livius und Le Bon uumlbersehen allerdings die Abhaumlngigkeit ihrer Behauptung von bestimmten Rahmenbedingungen bei deren Fehlen ihre These schlicht falsch wird obwohl es natuumlrlich nicht wenige Beispiele fuumlr ihre Richtigkeit gibt vornehmlich in Epochen der groszligen Arbeitslosigkeit der Kriegsangst und der wirtschaftlichen RezessionWas seine Forschungsstrategie anlangt hat Le Bon einen wichtigen Vorschlag des Francis Bacon aus dem bdquoNovum organum scien- tiarumldquo (620) unberuumlcksichtigt gelassen naumlmlich die Sammlung der negativen Instanzen d h der Faumllle in denen ein Effekt nicht in Erscheinung tritt obwohl er auf Grund der Erfahrung mit aumlhnlichen Faumlllen erwartet wird Bei der Erforschung des Wesens der Waumlrme gehoumlrten fuumlr Bacon in die bdquoTable of Deviationldquo unter anderem z B die Beobachtungen daszlig die Strahlen des Mondes und der Sterne sowie das Licht der Gluumlhwuumlrmchen nicht warm sind Sein systemati- sches Vorgehen fuumlr das die eben angedeutete Trennung von Licht

EINFUumlHRUNG XXXI

und Waumlrme nur ein kleines Beispiel ist wurde immerhin mit derseiner Zeit weit vorauseilenden Erkenntnis belohnt daszlig Waumlrme eine Form der Bewegung kleinster Partikel ist (Nov Org II 20)Haumltte Le Bon die Situationen genauer betrachtet in denen aus meh- reren Menschen keine bdquopsychologische Masseldquo wird waumlre er wahr- scheinlich zum Begruumlnder der Gruppendynamik geworden So aber trifft ihn Bacons Vorwurf der zugleich eine interessante sozial- und denk-psychologische Erkenntnis enthaumllt bdquoWenn der Verstand von Anfang an bejahend (d h unter ausschlieszliglicher Beruumlcksichtigung von positiven Instanzen) vorzugehen versucht ndash und das geschieht immer wenn er sich selber uumlberlassen ist ndash so entspringen daraus phantasievolle Meinungen und Vermutungen ungenuumlgend definierte Begriffe und Grundannahmen die jeden Tag revidiert werden muumls- senldquo (II 5) Um gedanklich mit dem Nichtvorhandensein an sich erwarteter Erscheinung zu operieren bedarf es in der Tat erheblicher Selbstdisziplin Daszlig sie in Massensituationen fehlt macht Massen fuumlr propagandistische Behauptungen und fuumlr Klischeevorstellungen so anfaumlllig

IV Risiko und Verantwortung

Was Le Bon berichtet wirkt uumlber weite Strecken so uumlberaus plausi- bel weil in Gruppen fast immer zahlreiche Prozesse ablaufen die deren Bestand gefaumlhrden indem sie aus ihnen bdquopsychologische Mas- senldquo werden lassen Typisch dafuumlr ist ein Versuchsergebnis das 962

ndash im Jahr nach dem Kuba-Desaster ndash aumluszligerst beunruhigend wirkte ndash so sehr daszlig dem Phaumlnomen mittlerweile mehr als vierhundert Einzeluntersuchungen gewidmet wurdenEs ging in der Diplomarbeit die der bis dahin voumlllig unbekannte Herr Stoner der Management-Hochschule des Massachusetts Insti- tute of Technology vorlegte um den sog bdquoRisiko-Schubldquo der zustande kommt wenn sich eine Gruppe auf die Voraussetzungen einigen soll die erfuumlllt sein muumlssen damit eine bestimmte Entschei- dung getroffen oder empfohlen werden kann Bei den einschlaumlgigen Versuchen werden Situationen geschildert in denen jeweils zwei Alternativen zur Auswahl stehen Ein Ingenieur kann z B bei der groszligen Firma fuumlr die er schon seit mehreren Jahren arbeitet in einer relativ bescheidenen Position bleiben oder er kann in einem neuen Unternehmen eine interessantere und besser bezahlte Stellung uumlber-

XXXII EINFUumlHRUNG

nehmen Wie verlockend das Angebot ist haumlngt u a von der wirt-schaftlichen Soliditaumlt der neuen Firma ab Zu beantworten haben die Versuchspersonen daher ndash zunaumlchst einzeln und dann nach einer Diskussion als Gruppe ndash die Frage wie groszlig die Chancen fuumlr eine gedeihliche Entwicklung der neuen Firma sein muumlszligten damit fuumlr den Ingenieur ein Stellenwechsel in Betracht kaumlme Zur Auswahl stehen fuumlr die Antwort die Proportionen 0 bis 9 0 Wer nur wenig an Sicherheit beansprucht wird vielleicht schon bei einem Chancenverhaumlltnis von 3 0 den Wechsel in Erwaumlgung ziehen er gilt damit als besonders risikobereit waumlhrend ein anderer der lieber auf bdquoNummer Sicherldquo setzt ein Chancenverhaumlltnis von 8 0 verlan- gen koumlnnteDas Ergebnis Nach der Diskussion liegt der Sicherheitsanspruch auf den sich die Mitglieder einigen in der Regel niedriger als der Mittelwert ihrer individuellen Schaumltzungen vor der Diskussion Das heiszligt aber ihre Risikobereitschaft hat zugenommen es ist ein

bdquoRisiko-Schubldquo erfolgtDas ist deshalb so beunruhigend weil wir im allgemeinen damit rechnen daszlig Gruppen ndash Expertengremien oder politische Koumlrper- schaften ndash bedachtsamer urteilen als Einzelpersonen und daszlig sie sich weder von den bdquoFalkenldquo noch von den bdquoTaubenldquo zu einem allzugro- szligen Risiko hinreiszligen lassen Genau das aber trifft nicht zu Die Gruppenentscheidung ist fast immer extremer als die mittlere Indivi- dualentscheidung Man spricht allerdings heute lieber von einem Polarisations-Effekt weil Diskussionen nicht immer zu einem ver- ringerten Sicherheitsanspruch fuumlhren (E Witte 979) Ihr Resultat kann auch in umgekehrter Richtung ein uumlberhoumlhter Sicherheitsan- spruch sein durch den unter Umstaumlnden reale Chancen verpaszligt werden koumlnnen Auch das ndash die Untaumltigkeit angesichts von Moumlg- lichkeiten ndash kann gefaumlhrlich bzw bdquoriskantldquo sein Ein nicht geringer Teil der gegenwaumlrtig in der Bundesrepublik ablaufenden Diskussio- nen hat genau dieses Problem zum Gegenstand das Risiko naumlmlich das ein etwaiger Verzicht auf Kernkraftwerke mit sich bringen koumlnnteGruppen diskutieren um zu einer Entscheidung zu gelangen und um handeln zu koumlnnen In diesem Sinn duumlrfte der Polarisations- Effekt durchaus zweckmaumlszligig sein da er ihnen das sprichwoumlrtliche Schicksal des buridanischen Esels erspart Erreicht wird die erhoumlhte Entscheidungsfaumlhigkeit bisweilen allerdings mit Hilfe einer gefaumlhrli- chen Illusion bei der Erinnerungen an die Massenpsychologie

EINFUumlHRUNG XXXIII

anklingen Gemeint ist die ungemein entlastende Vorstellung eslieszlige sich im Fall eines Misserfolges einer Kollektiventscheidung die Gesamtschuld unter den Beteiligten so aufteilen daszlig auf jeden ein- zelnen im Sinne einer bdquoDiffusion der Verantwortungldquo nur ein gerin- ger Bruchteil kommt Eine solche Vorstellung wirkt enthemmendWas alle in einer bestimmten Situation tun kann man schlieszliglich niemandem vorwerfen Es muszlig so heiszligt es fuumlr ein solches Verhal- ten daher aumluszligere in den Umstaumlnden gelegene Gruumlnde geben nicht aber innere Gruumlnde des eigenen Wesens deren man sich spaumlter einmal vielleicht schaumlmen muumlszligte Das ist der Inhalt der in den letzten Jahren entwickelten Theorie der Kausalitaumlts-Zuschreibung (bdquoAttributionldquo H H Kelley u a 980 W Herkner 980) die zwischen bdquoexternalerldquo und bdquoinfernalerldquo Zuschreibung unterscheidet Verantwortung uumlbernehmen heiszligt das eigene Tun bdquointernalldquo aus der eigenen Persoumlnlichkeit deren Faumlhigkeiten Erfahrungen und Motiven ableiten Massen interpretieren dagegen in der Regel bdquoexter- nalldquo Sie sind in ihrem Selbstbild fast immer unschuldig bzw sogar

bdquoOpferldquo der vorherrschenden Verhaumlltnisse Man frage nur randalie- rende Demonstranten Nicht selten berufen sich Massen wenn etwas schiefgegangen ist auf einen Fuumlhrer der dann schnell zum Suumlndenbock wird bdquoDer Nimbus verschwindet immer im Augen- blick des Miszligerfolges Der Held dem die Masse gestern zujubelte wird morgen von ihr angespien hellipldquo meinte Le Bon (S 00)Die Massen mit ihrem bdquounstillbaren Beduumlrfnis regiert zu werdenldquo (894 S 7) zeigen bdquosich selbst uumlberlassen daszlig sie ihrer Zuumlgellosig- keit uumlberdruumlssig instinktiv der Knechtschaft zusteuernldquo (S 34) Beschrieben wird hier einerseits die bdquoautoritaumlre Persoumlnlichkeitldquo im Sinne T W Adornos (950) andererseits bdquodie einsame Masseldquo David Riesmans (950) deren Angehoumlrige sich der Auszligenlenkung uumlberlassen indem sie ihr Tun an dessen Resonanz ruumlckkoppeln Finden sie in der Umwelt Zustimmung machen sie weiter stoszligen sie auf Ablehnung oder Widerstand drehen sie blitzschnell um In beiden Faumlllen wird das auf Unselbstaumlndigkeit oder auch auf Gehor- sam programmierte Individuum dem innengelenkten Menschen gegenuumlbergestellt der sich in erster Linie seinem persoumlnlichen Gewissen verpflichtet fuumlhlt und der es aushaumllt bisweilen sogar mit sich selbst uneins zu seinDiese Begriffsbildungen zu denen man noch den von der Psycho- analyse entwickelten bdquoanalen Typusldquo (908) hinzunehmen kann weisen samt und sonders auf den von Le Bon und den meisten

XXXIV EINFUumlHRUNG

Autoren des Fin de siegravecle befuumlrchteten Untergang des eigenstaumlndigenIndividuums in der Masse hin Im Sinne Heinrich Manns wird es da zum bloszligen bdquoUntertanldquo (96) In dem Aufsatz bdquoReichstagldquo (9) hat ihn der Dichter vorwegnehmend wie folgt beschrieben bdquodieser widerwaumlrtig interessante Typus des imperialistischen Untertanen des Chauvinisten ohne Mitverantwortung des in der Masse ver- schwindenden Machthabers des Autoritaumltsglaumlubigen wider besseres WissenldquoBei Le Bon sind es um die gleiche Zeit ndash in den bdquoLehren aus dem europaumlischen Kriegldquo (96) ndash ebenfalls ganz speziell die Deutschen denen er Autoritaumltsglaumlubigkeit vorwirft bdquoZu den allgemeinen Cha- rakterzuumlgen die man fast bei jedem Deutschen heutzutage findet gehoumlrt neben der Unterwuumlrfigkeit gegenuumlber jeder offiziellen Auto- ritaumlt und ihrer Kameraderie ein hochmuumltiges Gefuumlhl der kollektiven Uumlberlegenheitldquo (96 S 7) Das freilich ist eine recht genaue Uumlber- setzung der Massenformel des Livius bdquoaut servit humiliter aut superbe dominaturldquo Jedoch weiszlig Le Bon noch mehr bdquoMan beob- achtet bei den Intellektuellen ebenso wie beim einfachen Volk den Mangel an Erziehung die Brutalitaumlt und das voumlllige Fehlen ritterli- chen Geistesldquo (96 S 72) bdquoDer Theorie nach ist Deutschland zwar christlich aber der friedfertige Jesus der Bibel ist dort zu einer ebenso wilden Gottheit geworden wie der altertuumlmliche Odin der pausenlos von Eroberungen und Massakern traumlumtldquo (96 S 47) Immerhin einen bdquoArchetypus Wotanldquo hat C G Jung bei den Deutschen 935 auch festgestellt er schreibt ihm zu daszlig er bdquoals autonomer Faktor kollektive Wirkungen erzeugt und dadurch ein Bild seiner eigenen Natur entwirft In Ruhezeiten dagegen (sei) einem die Existenz des Archetyps Wotan unbewuszligt wie eine latente Epilepsieldquo Derlei Gehaumlssigkeiten muumlssen ertragen werden Noch heute sehr bitter zu lesen ist aber Le Bons Resuumlmee aus dem ersten Weltkrieg bdquoEin Volk von Gott dazu auserwaumlhlt die Welt zu erobern und zu beherrschen gibt eine solche Mission nicht so leicht auf Deutschland wird darauf nicht verzichten bevor es nicht meh- rere Male (plusieurs fois) besiegt worden istldquo (96 S 353)Der Autor der Massenpsychologie hat selbst Propaganda getrieben

ndash auf deutscher Seite taten das ebenfalls nicht wenige Schriftsteller und Gelehrte ndash Thomas Mann unter ihnen Im Wiener Kriegsarchiv widmeten sich zur gleichen Zeit Stefan Zweig und Alfred Polgar neben anderen einer Taumltigkeit die Hofmannsthal wenig respektvoll als bdquoHeldenfrisierenldquo bezeichnete ndash man bereitete die Kriegsberichte

EINFUumlHRUNG XXXV

fuumlr den Genuszlig des Publikums entsprechend zu Es besteht somitkein Grund sich gegenseitig etwas nachzutragen freilich ist auch dafuumlr keiner ersichtlich daszlig die linke Antibougeoisie der Weimarer Zeit und weit daruumlber hinaus so gerne bereit war die schon im Altertum formulierten Massenattribute ganz speziell den Deutschen so zuzuschreiben als handelte es sich um die Ergebnisse neuester ForschungAn einige ihrer Angehoumlrigen wandte sich 935 der kurz zuvor aus der orthodoxen Schule ausgeschlossene Psychoanalytiker Wilhelm Reich bdquoSie vernachlaumlssigen die hilflose fuumlhrungsbeduumlrftige ja oft autoritaumltssuumlchtige Struktur der Masse Sie sehen nur deren Freiheits- sehnsucht doch diese Sehnsucht darf mit der Faumlhigkeit frei zu sein hellip nicht verwechselt werdenldquo (935 S 7) Den Schluszlig aus solchen und aumlhnlichen Beobachtungen hatte Lenin schon 902 in Muumlnchen gezogen indem er sich vornahm nicht auf die Spontanei- taumlt der Arbeitermassen sondern auf eine Geheimorganisation streng ausgelesener und sorgfaumlltig geschulter bdquoBerufsrevolutionaumlreldquo zu set- zen bdquoWas den Appell an die Masse zur Aktion betrifft so wird das von selbst kommen sobald es eine energische politische Agitation lebendige und aufruumlttelnde Enthuumlllungen geben wirdldquo denn bdquodas politische Klassenbewuszligtsein kann dem Arbeiter nur von auszligen gebracht werdenldquo heiszligt es in bdquoWas tunldquo (S 08 u 7)Der Zeitgeist der vor Grotesken nicht zuruumlckschreckt will es daszlig genau im gleichen Jahr und ebenfalls in Muumlnchen Stefan George

bdquoDie Aufnahme in den Ordenldquo als Weihespiel entwarf der Juumlngling antwortet darin dem Groszligmeister bdquoDer von den dunklen maumlchten fast verwirrte hellip Dankt dem geboumlte das genesung bringt hellip Zu welchem joch ihr seinen nacken zwingt hellip Um eure ruhe bittet der verirrteldquoIm gleichen Jahr 902 lieszlig in Paris der Neo-Rosenkreuzer Peacuteladan unter dem Titel bdquoPereatldquo den 5 Band der bdquoDeacutecadence Latineldquo erscheinen waumlhrend Le Bon seine bdquoPolitische Psychologieldquo veroumlf- fentlichteKein Zweifel die Diktatoren kannten ob sie nun auf einen nationa- len oder auf einen internationalen Sozialismus zusteuerten den Autor nur zu gut der 894 gemeint hatte bdquoder Sozialismus wird uumlbrigens ein viel zu druumlckendes Regime sein als daszlig er von Dauer sein koumlnnteldquo (894 S 38) Man muszlig hinzusetzen Sie die Diktato- ren hatte Le Bon sich als Leser uumlberhaupt nicht gewuumlnscht

XXXVI EINFUumlHRUNG

LITERATUR

ADORNO T W u a The authoritarian personality New York 950 (dt Studien zum autoritaumlren Charakter Frankfurt 973)BAUDELAIRE CH Der Dandy (863) in Ausgewaumlhlte Werke hgb v Franz Blei Muumlnchen o JBROCH H Massenwahntheorie hgb v P M Luumltzeler Frankfurt 979BYRNE D An introduction to personality Englewood Cliffs 974CANETTI E Masse und Macht Duumlsseldorf 978 2DE MAN H Vermassung und Kulturverfall Bern 950FREUD S Jenseits des Lustprinzips (920) Ges W XIIIFREUD S Massenpsychologie und Ichanalyse (92) Ges W XIIIFREUD S Warum Krieg (932) Ges W XVIFROMM E Escape from freedom New York 94 (dt Die Furcht vor der Freiheit Zuumlrich 945)GOULD S J The mismeasure of man New York 98HAGEMANN W Der Mythos der Masse Beitr z Publizistik Bd 4 Heidel- berg 95HERKNER W (Hgb) Attribution Psychologie der Kausalitaumlt Bern 980HOFSTAumlTTER P R Gruppendynamik Kritik der Massenpsychologie Rein- bek 97 2HOFSTAumlTTER P R Einfuumlhrung in die Sozialpsychologie Stuttgart 973 5 Kroumlner TA Nr 295HOFSTAumlTTER P R Individuum und Gesellschaft Berlin 973JANIS I L Victims of group think Boston 972JASPERS K Die geistige Situation der Zeit Berlin 93JASPERS K Vom Ursprung und Ziel der Geschichte Frankfurt 955 2JUNG C G Wotan Neue Schweiz Rundschau 3 93536KELLEY H H u a Attribution theory and research in Ann Rev Psy- chol 3 980KRONER B Massenpsychologie und kollektives Verhalten in C F Grau- mann (Hgb) Sozialpsychologie Handbuch d Psychol Bd 7 Goumlttin- gen 972LAUGHLIN P R u a Group size member activity and social decision schemes on a intellective task in J personality and social Psychol 3 975LENIN W Was tun (902) Berlin (Ost) 97MACCHIAVELLI N Discorsi sopra la prima Deca di Tito Livio uumlbers v F v Oppeln-Bronikowski Koumlln 965MACCHIAVELLI N Der Fuumlrst uumlbers von R Zorn Stuttgart 955 Kroumlner TA Nr 235MAC DOUGALL The group mind Cambridge 920MILGRAM S u TOCH H Collective behavior crowds and social move- ments in Handbook of social Psychol vol 4 Reading 969MOEDE W Experimentelle Massenpsychologie Leipzig 920

ORTEGA Y GASSET J Der Aufstand der Massen (930) Stuttgart 957PICARD E Gustave Le Bon et son œuvre Paris 909PRAZ M Liebe Tod und Teufel die schwarze Romantik (948) Muumlnchen 98REICH W Masse und Staat (935) enthalten in Massenpsychologie des Faschismus Koumlln 97 2REIWALD P Vom Geist der Massen Zuumlrich 948 3RIESMAN D u a The lonely crowd New Haven 950 (dt Die einsame Masse Reinbek 958)SCHACHTER S The psychology of affiliation Stanford 959SCHICKEDANZ H J (Hgb) Der Dandy Texte und Bilder aus dem 9 Jahrhundert Dortmund 980SCHONAUER F Stefan George Reinbek 960SHAW M E Groupdynamics the psychology of small group behavior New York 976 2SMELSER N J Theorie des kollektiven Verhaltens Koumlln 972SPENGLER O Der Untergang des Abendlandes Muumlnchen 9822SUCHANEK-FROumlHLICH S Kulturgeschichte Frankreichs Stuttgart 968 Kroumlner TA Nr 358TARKIAINEN T Die athenische Demokratie Muumlnchen 972WITTE E H Das Verhalten in Gruppensituationen Goumlttingen 979

LITERATURXXXVIII

VORWORT ZUR ERSTEN AUFLAGE

Meine fruumlhere Arbeit war der Darstellung der Rassenseele gewid- met Hier wollen wir die Massenseele untersuchenDer Inbegriff der gemeinsamen Merkmale die allen Angehoumlrigen einer Rasse durch Vererbung zuteil wurden macht die Seele dieser Rasse aus Wenn sich jedoch eine gewisse Anzahl solcher einzelnen massenweise zur Tat vereinigt so zeigt sich daszlig sich aus dieser Vereinigung bestimmte neue psychologische Eigentuumlmlichkeiten ergeben die zu den Rassenmerkmalen hinzukommen und sich zuweilen erheblich von ihnen unterscheidenDie organisierten Massen haben zu allen Zeiten eine wichtige Rolle im Voumllkerleben gespielt niemals aber in solchem Maszlige wie heute Die unbewuszligte Wirksamkeit der Massen die an die Stelle der bewuszligten Tatkraft der einzelnen tritt bildet ein wesentliches Kenn- zeichen der Gegenwart Ich habe versucht das schwierige Problem der Massen in streng wissenschaftlicher Weise zu behandeln also methodisch und unbekuumlmmert um Meinungen Theorien und Dok- trinen Nur so glaube ich kommt man zur Erkenntnis der Wahr- heit besonders wenn es sich wie hier um eine Frage handelt die die Geister lebhaft erregt Der Forscher der sich um die Erklaumlrung einer Erscheinung bemuumlht hat sich um die Interessen die durch seine Untersuchung beruumlhrt werden koumlnnen nicht zu kuumlmmern Ein ausgezeichneter Denker Goblet drsquoAlviella hat in einer seiner Schrif- ten gesagt ich gehoumlre keiner zeitgenoumlssischen Kritik an und traumlte zuweilen in Gegensatz zu gewissen Folgerungen aller Schulen Hof- fentlich verdient die vorliegende Arbeit das gleiche Urteil Zu einer Schule gehoumlren heiszligt deren Vorurteile und Standpunkte teilen muumlssenIch muszlig jedoch dem Leser erklaumlren warum ich aus meinen Studien Schluumlsse ziehe welche von denen abweichen die sich auf den ersten Blick daraus ergeben z B wenn ich den auszligerordentlichen geisti- gen Tiefstand der Massen feststelle und doch behaupte es sei unge-

Psychologische Gesetze der Voumllkerentwicklung

XXXIX

achtet dieses Tiefstandes gefaumlhrlich die Organisation der MassenanzutastenSorgfaumlltige Beobachtung der geschichtlichen Tatsachen hat mir naumlm- lich stets gezeigt daszlig es ganz und gar nicht in unserer Macht steht die sozialen Organismen die ebenso kompliziert sind wie andere Organisationen jaumlh tiefgehenden Umwandlungen zu unterwerfen Zuweilen ist die Natur radikal doch nicht so wie wir es verstehen daher gibt es nichts Traurigeres fuumlr ein Volk als die Leidenschaft der groszligen Umgestaltungen so vortreff lich sie theoretisch scheinen moumlgen Nuumltzlich waumlren sie nur dann wenn es moumlglich waumlre die Seelen der Voumllker ploumltzlich zu aumlndern Die Zeit allein hat diese Macht Die Menschen werden von Ideen Gefuumlhlen und Gewohn- heiten geleitet von Eigenschaften die in ihnen selbst stecken Ein- richtungen und Gesetze sind Offenbarungen unserer Seele der Aus- druck ihrer Beduumlrfnisse Da die Einrichtungen und Gesetze von der Seele ausgehen wird sie von ihnen nicht beeinfluszligtDas Studium der sozialen Erscheinungen laumlszligt sich nicht von dem der Voumllker trennen bei denen sie sich gebildet haben Philosophisch betrachtet koumlnnen diese Erscheinungen unbedingten Wert haben praktisch aber sind sie nur von bedingtem WertMan muszlig also beim Studium einer sozialen Erscheinung dieselbe Sache nacheinander von zwei ganz verschiedenen Gesichtspunkten aus betrachten Wir sehen demnach daszlig die Lehren der reinen Vernunft sehr oft denen der praktischen entgegengesetzt sind Es gibt keine Tatsachen auch nicht auf physischem Gebiet auf die sich diese Unterscheidung nicht anwenden lieszlige Vom Gesichtspunkt der unbedingten Wahrheit aus sind ein Wuumlrfel ein Kreis unveraumlnderli- che geometrische Figuren die mittels feststehender Formeln genau zu bestimmen sind Fuumlr den Gesichtssinn koumlnnen diese geometri- schen Figuren sehr mannigfache Formen annehmen In der Wirk- lichkeit kann die Perspektive den Wuumlrfel in eine Pyramide oder in ein Quadrat den Kreis in eine Ellipse oder Gerade verwandeln Und diese angenommenen Formen sind von viel groumlszligerer Bedeutung als die wirklichen denn sie sind die einzigen die wir sehen und die sich photographisch oder zeichnerisch wiedergeben lassen Das Unwirk- liche ist in gewissen Faumlllen wahrer als das Wirkliche Es hieszlige die Natur umformen und unkenntlich machen wollte man sich die Dinge in ihren streng geometrischen Formen vorstellen In einer Welt deren Bewohner die Dinge nur abbilden oder photographieren koumlnnten jedoch nicht beruumlhren wuumlrde man nur sehr schwer zu

VORWORT ZUR ERSTEN AUFLAGEXL

einer genauen Vorstellung ihrer Form gelangen und die Kenntnisdieser Form die nur einer geringen Zahl von Gelehrten zugaumlnglich waumlre wuumlrde nur schwaches Interesse weckenDer Philosoph der die sozialen Erscheinungen studiert muszlig sich vor Augen halten daszlig sie neben ihrem theoretischen auch prakti- schen Wert haben und daszlig dieser vom Gesichtspunkt der Kulturent- wicklung der einzig bedeutsame ist Das muszlig ihn sehr vorsichtig machen gegen die Folgerungen welche die Logik ihm zunaumlchst einzugeben scheint Auch andere Gruumlnde veranlassen ihn zur Zuruumlckhaltung Die sozialen Tatsachen sind so verwickelt daszlig man sie in ihrer Gesamtheit nicht umfassen und die Wirkungen ihrer wechselseitigen Beeinflussung nicht voraussagen kann Auch schei- nen sich hinter den sichtbaren Tatsachen oft Tausende von unsicht- baren Ursachen zu verbergen Die sichtbaren sozialen Tatsachen scheinen die Folgen einer riesigen unbewuszligten Wirkungskraft zu sein die nur zu oft unserer Untersuchung unzugaumlnglich ist Die wahrnehmbaren Erscheinungen lassen sich den Wogen vergleichen welche der Oberflaumlche des Ozeans die unterirdischen Erschuumltterun- gen mitteilen die in seinen Tiefen vorgehen und die wir nicht kennen In den meisten Faumlllen zeigt die Handlungsweise der Massen eine auszligerordentlich niedrige Geistigkeit aber in anderen Handlun- gen scheinen sie von jenen geheimnisvollen Kraumlften gelenkt zu wer- den welche die Alten Schicksal Natur Vorsehung nannten die wir als die Stimmen der Toten bezeichnen und deren Macht wir nicht verkennen koumlnnen so unbekannt uns auch ihr Wesen ist Oft scheint es als ob die Voumllker in ihrem Schoszlig verborgene Kraumlfte tragen von denen sie gefuumlhrt werden Kann etwas verwickelter logischer wunderbarer sein als eine Sprache Und entspringt nicht dies wohlgeordnete und feine Gebilde der unbewuszligten Massenseele Die gelehrtesten Hochschulen verzeichnen nur die Regeln dieser Sprachen waumlren aber nicht imstande sie zu schaffen Wissen wir sicher ob die genialen Ideen der groszligen Maumlnner ausschlieszliglich ihr eigenes Werk sind Zweifellos sind sie stets Schoumlpfungen einzelner Geister aber die unzaumlhligen Koumlrnchen die den Boden fuumlr den Keim dieser Ideen bilden hat die Massenseele sie nicht erzeugtGewiszlig uumlben die Massen ihre Wirkungskraft stets unbewuszligt aus Aber vielleicht ist gerade dies Unbewuszligte das Geheimnis ihrer Kraft In der Natur gibt es Wesen die nur aus Instinkt handeln und Taten vollbringen deren wunderbare Mannigfaltigkeit wir anstaunen Der Gebrauch der Vernunft ist fuumlr die Menschheit nochraquo zu neu und zu

VORWORT ZUR ERSTEN AUFLAGE XLI

unvollkommen um die Gesetze des Unbewuszligten enthuumlllen zu koumln-nen und besonders um es zu ersetzen Der Anteil des Unbewuszligten an unseren Handlungen ist ungeheuer und der Anteil der Vernunft sehr klein Das Unbewuszligte ist eine Wirkungskraft die wir noch nicht erkennen koumlnnen Wollen wir uns also in den engen aber sicheren Grenzen der wissenschaftlich erkennbaren Dinge halten und nicht auf dem Felde unbestimmter Vermutungen und nichtiger Vor- aussetzungen umherirren so duumlrfen wir nur die Erscheinungen fest- stellen die uns zugaumlnglich sind und muumlssen uns damit begnuumlgen Jede Folgerung die wir aus unseren Beobachtungen ziehen ist mei- stens voreilig denn hinter den wahrgenommenen Erscheinungen gibt es solche die wir undeutlich sehen und hinter diesen wahr- scheinlich noch andere die wir uumlberhaupt nicht erkennen

Le Bon

XLII VORWORT ZUR ERSTEN AUFLAGE

EINLEITUNG

DAS ZEITALTER DER MASSEN

Die groszligen Erschuumltterungen welche den Kulturwenden vorangehen scheinen auf den ersten Blick durch bedeut- same politische Veraumlnderungen bestimme zu sein durch Voumllkerinvasion oder durch den Sturz von Herrscherhaumlu- sern Eine aufmerksame Untersuchung dieser Ereignisse enthuumlllt jedoch hinter ihren scheinbaren Ursachen als wahre Ursache eine tiefgehende Veraumlnderung in den Anschauun- gen der Voumllker Das sind nicht die wahren historischen Erschuumltterungen die uns durch ihre Groumlszlige und Heftigkeit verwundern Die einzigen Veraumlnderungen von Bedeutung

ndash die einzigen aus welchen die Erneuerung der Kulturen hervorgeht ndash vollziehen sich innerhalb der Anschauungen der Begriffe und des Glaubens Die bemerkenswerten Er- eignisse der Geschichte sind die sichtbaren Wirkungen der unsichtbaren Veraumlnderungen des menschlichen Denkens Wenn diese groszligen Ereignisse so selten sind so hat das seinen Grund darin daszlig es nichts Bestaumlndigeres in einer Rasse gibt als das Erbgut ihrer GefuumlhleDas gegenwaumlrtige Zeitalter bildet einen jener kritischen Zeitpunkte in denen das menschliche Denken im Begriff ist sich zu wandelnDa die Ideen der Vergangenheit obwohl halb zerstoumlrt noch sehr maumlchtig und die Ideen die sie ersetzen sollen erst in der Bildung begriffen sind so ist die Gegenwart eine Periode des Uumlberganges und der AnarchieWas aus diesem notwendig etwas chaotischen Zeitraum einmal hervorgehen wird ist im Augenblick nicht leicht zu sagen Auf welchem Grundgedanken wird sich die kuumlnf-

tige Gesellschaft aufbauen Wir wissen es noch nicht Schon jetzt aber kann man voraussehen daszlig sie bei ihrer Or- ganisation mit einer neuen Macht der juumlngsten Herrscherin der Gegenwart zu rechnen haben wird mit der Macht der Massen Auf den Ruinen so vieler einst fuumlr wahr gehal- tener und jetzt toter Ideen so vieler Maumlchte die durch Revolutionen nach und nach gebrochen worden sind hat diese Macht allein sich erhoben und scheint bald die aumln- dern aufsaugen zu wollen Waumlhrend alle unsre alten An- schauungen schwanken und verschwinden und die alten Gesellschaftsstuumltzen eine nach der andern einstuumlrzen ist die Macht der Massen die einzige Kraft die durch nichts be- droht wird und deren Ansehen immer mehr waumlchst Das Zeitalter in das wir eintreten wird in Wahrheit das Z eit a lter der Ma ssen seinVor kaum einem Jahrhundert bestanden die Haupttrieb- kraumlfte der Ereignisse in der uumlberlieferten Politik der Staaten und dem Wettstreit der Fuumlrsten Die Meinung der Massen galt in den meisten Faumlllen gar nichts Heute gelten die politischen Uumlberlieferungen die persoumlnlichen Bestre- bungen der Herrscher und deren Wettstreit nur noch wenig Die Stimme des Volkes hat das Uumlbergewicht er- langt Sie schreibt den Koumlnigen ihr Verhalten vor In der Seele der Massen nicht mehr in den Fuumlrstenberatungen bereiten sich die Schicksale der Voumllker vorDer Eintritt der Volksklassen in das politische Leben ihre fortschreitende Umwandlung zu fuumlhrenden Klassen ist eines der hervorstechendsten Kennzeichen unsrer Uumlber- gangszeit Dieser Eintritt wird nicht durch das allgemeine Stimmrecht gekennzeichnet das lange Zeit so wenig ein- fluszligreich und anfangs so leicht zu lenken war Die Geburt der Macht der Masse entstand zuerst durch die Verbrei- tung gewisser Gedankengaumlnge die langsam von den Gei- stern Besitz ergriffen sodann durch die allmaumlhliche Ver- einigung der einzelnen zur Verwirklichung der bisher theo- retischen Anschauungen Die Vereinigung ermoumlglichte es den Massen sich wenn auch nicht sehr richtige so doch

2 DAS ZEITALTER DER MASSEN

wenigstens ganz bestimmte Ideen von ihren Interessen zu bilden und das Bewuszligtsein ihrer Kraft zu erlangen Sie gruumlnden Syndikate denen sich alle Machthaber unterwer- fen Arbeitsboumlrsen die allen Wirtschaftsgesetzen zum Trotz die Bedingungen der Arbeit und des Lohnes zu regeln suchen Sie entsenden in die Parlamente Abgeordnete denen aller Unternehmungsgeist alle Selbstaumlndigkeit fehlt und die oft nur zu Wortfuumlhrern der Ausschuumlsse die sie gewaumlhlt hatten herabgewuumlrdigt wurdenHeute werden die Forderungen der Massen nach und nach immer deutlicher und laufen auf nichts Geringeres hinaus als auf den gaumlnzlichen Umsturz der gegenwaumlrtigen Gesell- schaft um sie jenem primitiven Kommunismus zuzufuumlhren der vor dem Beginn der Kultur der normale Zustand aller menschlichen Gemeinschaft war Begrenzung der Arbeits- zeit Enteignung von Bergwerken Eisenbahnen Fabriken und Boden gleiche Verteilung aller Produkte Abschaffung aller oberen Klassen zugunsten der Volksklassen usw ndash das sind ihre ForderungenJe weniger die Masse vernuumlnftiger Uumlberlegung faumlhig ist um so mehr ist sie zur Tat geneigt Die Organisation hat ihre Kraft ins Ungeheure gesteigert Die Glaubenslehren die wir auftauchen sehen werden bald die Macht der alten Glaubenslehren besitzen d h die tyrannische und herrische Kraft welche sich aller Auseinandersetzung entzieht Das goumlttliche Recht der Massen wird das goumlttliche Recht der Koumlnige ersetzenDie Lieblingsschriftsteller der jetzigen Bourgeoisie die am besten deren etwas beschraumlnkte Ideen ihre kurzsichtigen Anschauungen ihren allgemeingehaltenen Skeptizismus und oft uumlbermaumlszligigen Egoismus schildern geraten vor der neuen Macht die sie heranwachsen sehen voumlllig auszliger Fassung und richten um die Verwirrung der Geister zu bekaumlmpfen einen verzweifelten Appell an die sittlichen Kraumlfte der Kirche die sie einst so gering schaumltzten Sie sprechen vom Bankrott der Wissenschaft und erinnern uns an die Leh- ren der geoffenbarten Wahrheiten Aber diese Neubekehr-

3ENTWICKLUNG DES GEGENWAumlRTIGEN ZEITALTERS

ten vergessen daszlig die Gnade wenn sie sie wirklich be- ruumlhrte doch nicht die gleiche Macht uumlber jene Seelen hat die sich wenig um das Jenseits kuumlmmern Die Massen wol- len heute die Goumltter nicht mehr die ihre ehemaligen Her- ren gestern noch verleugneten und zerstoumlren halfen Die Fluumlsse flieszligen nicht zu ihren Quellen zuruumlckDie Wissenschaft hat mitnichten Bankrott gemacht und hat nichts mit der gegenwaumlrtigen Anarchie der Geister oder mit der neuen Macht zu tun die in ihrem Schoszlige empor- waumlchst Sie hat uns die Wahrheit verheiszligen oder wenig- stens die Erkenntnis der Zusammenhaumlnge die unsrem Ver- stande zugaumlnglich sind sie hat uns niemals den Frieden und das Gluumlck versprochen In uumlberlegener Gleichguumlltigkeit gegen unsre Gefuumlhle houmlrt sie unsre Klagen nicht und nichts ver- mag uns die Taumluschungen wiederzugeben die sie vertriebAllgemeine Symptome die bei allen Nationen erkennbar sind zeigen uns das reiszligende Anwachsen der Macht der Massen Was es auch bringen mag wir werden es ertragen muumlssen Alle Anschuldigungen sind nur nutzloses Gerede Vielleicht bedeutet der Aufstieg der Massen eine der letzten Etappen der Kulturen des Abendlandes die Ruumlckkehr zu jenen Zeiten verworrener Anarchie die stets dem Auf- bluumlhen einer neuen Gesellschaft voranzugehen scheinen Aber wie waumlre er zu verhindernBisher bestand die Aufgabe der Massen offenbar in diesen groszligen Zerstoumlrungen der alten Kulturen Die Geschichte lehrt uns daszlig in dem Augenblick da die moralischen Kraumlfte das Ruumlstzeug einer Gesellschaft ihre Herrschaft verloren haben die letzte Aufloumlsung von jenen unbewuszlig- ten und rohen Massen welche recht gut als Barbaren ge- kennzeichnet werden herbeigefuumlhrt wird Bisher wurden die Kulturen von einer kleinen intellektuellen Aristokratie geschaffen und geleitet niemals von den Massen Die Mas- sen haben nur Kraft zur Zerstoumlrung Ihre Herrschaft bedeutet stets eine Stufe der Aufloumlsung Eine Kultur setzt feste Regeln Zucht den Uumlbergang des Triebhaften zum Vernuumlnftigen die Vorausberechnung der Zukunft uumlber-

DAS ZEITALTER DER MASSEN4

haupt einen hohen Bildungsgrad voraus ndash Bedingungen fuumlr welche die sich selbst uumlberlassenen Massen voumlllig unzu- gaumlnglich sind Vermoumlge ihrer nur zerstoumlrerischen Macht wirken sie gleich jenen Mikroben welche die Aufloumlsung geschwaumlchter Koumlrper oder Leichen beschleunigen Ist das Gebaumlude einer Kultur morsch geworden so fuumlhren die Massen seinen Zusammenbruch herbei Jetzt tritt ihre Hauptaufgabe zutage Ploumltzlich wird die blinde Macht der Masse fuumlr einen Augenblick zur einzigen Philosophie der GeschichteWird es sich mit unsrer Kultur ebenso verhalten Es ist zu befuumlrchten aber wir wissen es noch nichtWir muumlssen uns damit abfinden die Herrschaft der Massen zu ertragen da unvorsichtige Haumlnde allmaumlhlich alle Schran- ken die jene zuruumlckhalten konnten niedergerissen haben Wir kennen diese Massen von denen man jetzt so viel spricht Die Psychologen von Fach die nicht in ihrer Naumlhe leben haben sie stets ignoriert und sich mit ihnen nur in bezug auf die Verbrechen beschaumlftigt zu denen sie faumlhig sind Zweifellos gibt es verbrecherische Massen aber es gibt auch tugendhafte heroische und noch viele anders- artige Massen Die Massenverbrechen bilden lediglich einen Sonderfall ihres Seelenlebens und lassen ihre geistige Be- schaffenheit nicht besser erkennen als die eines Einzel- wesens von dem man nur seine Laster kenntDoch offen gestanden Alle Herren der Erde alle Reli- gions- und Reichsstifter die Apostel aller Glaubensrichtun- gen die hervorragenden Staatsmaumlnner und in einer be- scheideneren Sphaumlre die einfachen Haumlupter kleiner mensch- licher Gemeinschaften waren stets unbewuszligte Psychologen mit einer instinktiven und oft sehr sicheren Kenntnis der Massenseele weil sie diese gut kannten wurden sie so leicht Machthaber Napoleon erfaszligte wunderbar das Seelen- leben der franzoumlsischen Massen aber er verkannte oft voumlllig die Massenseele fremder Rassen Diese Unkenntnis Uumlbrigens verstanden sich seine kluumlgsten Ratgeber nicht besser darauf Tal- leyrand schrieb ihm Spanien wuumlrde seine Soldaten als Befreier empfangen Es empfing sie wie Raubtiere Ein mit den Erbinstinkten der Rasse vertrauter Psychologe haumltte diesen Empfang leicht voraussehen koumlnnen

DIE MASSEN ALS ZERSTOumlRERINNEN DER KULTUR 5

veranlaszligte ihn namentlich in Spanien und Ruszligland Kriege zu fuumlhren die seinen Sturz vorbereiteten

Die Kenntnis der Psychologie der Massen ist heute das letzte Hilfsmittel fuumlr den Staatsmann der diese nicht etwa beherrschen ndash das ist zu schwierig geworden ndash aber wenig- stens nicht allzusehr von ihnen beherrscht werden willDie Massenpsychologie zeigt wie auszligerordentlich wenig Einfluszlig Gesetze und Einrichtungen auf die urspruumlngliche Natur der Massen haben und wie unfaumlhig diese sind Mei- nungen zu haben auszliger jenen die ihnen eingefloumlszligt wur- den Regeln welche auf rein begrifflichem Ermessen be- ruhen vermoumlgen sie nicht zu leiten Nur die Eindruumlcke die man in ihre Seele pflanzt koumlnnen sie verfuumlhren Darf z B ein Gesetzgeber der eine neue Steuer auflegen will die theoretisch gerechteste waumlhlen Keinesfalls Die unge- rechteste kann praktisch fuumlr die Massen die beste sein wenn sie am unauffaumllligsten und leichtesten in Erscheinung tritt Auf diese Weise wird eine noch so hohe indirekte Steuer allezeit von der Masse angenommen werden Wenn sie taumlglich pfennigweise fuumlr Konsumartikel entrichtet wird stoumlrt sie die Gewohnheiten nicht und beeinfluszligt sie wenig Man lege an ihrer Stelle eine proportionale auf einmal zu entrichtende Steuer auf die Loumlhne oder anderen Einkom- men mag sie auch theoretisch zehnmal weniger hart sein als die andre so wird sie heftigen Widerspruch erregen An Stelle der taumlglichen Pfennige die man nicht spuumlrt tritt naumlmlich eine verhaumlltnismaumlszligig hohe Geldsumme die am Zahl- tag riesig groszlig erscheint und sehr nachdruumlcklich empfunden wird Sie waumlre nur dann unbemerkt verbraucht worden wenn sie Pfennig fuumlr Pfennig zur Seite gelegt worden waumlre aber ein so wirtschaftliches Gebaren wuumlrde ein Maszlig von Voraus- sicht beweisen dessen die Massen unfaumlhig sindDies Beispiel enthuumlllt sonnenklar ihre geistige Verfassung Einem Psychologen wie Napoleon ist sie nicht entgangen aber die Gesetzgeber weiche die Massenseele nicht beachten wuumlr- den sie nicht verstehen Die Erfahrung hat ihnen noch nicht

6 DAS ZEITALTER DER MASSEN

genuumlgend bewiesen daszlig die Menschen sich niemals von den Vorschriften der reinen Vernunft leiten lassenSo lieszlige sich die Massenpsychologie noch auf vieles andere anwenden Ihre Kenntnis wirft hellstes Licht auf zahlreiche historische und oumlkonomische Erscheinungen die ohne sie voumlllig unverstaumlndlich bleibenSelbst wenn es lediglich das Interesse unsrer Neugier be- friedigte verdiente das Studium der Massenpsychologie in Angriff genommen zu werden denn es ist ebenso inter- essant die Triebkraumlfte der menschlichen Handlungen zu entraumltseln wie die eines Minerals oder einer PflanzeUnser Studium der Massenseele wird nur einen kurzen Uumlberblick eine bloszlige Zusammenfassung unsrer Unter- suchungen bieten koumlnnen Man darf von ihr nicht mehr als einige anregende Gesichtspunkte verlangen Andere werden das Gebiet besser bearbeiten Heute ist es noch jungfraumlulicher Boden den wir beackern

Die wenigen Autoren die sich mit dem Studium der Psychologie der Massen abgeben haben ihre Untersuchungen nur hinsichtlich der Verbrechen ange- stellt Da ich diesem Stoffgebiet nur ein kurzes Kapitel gewidmet habe so verweise ich den Leser auf die Arbeiten von Tarde und die Schrift von Sighele bdquoDie verbrecherische Masseldquo Die letztere Arbeit enthaumllt keinen ein- zigen neuen Gedanken des Autors gibt aber eine Zusammenstellung von Tat- sachen die der Psychologe verwerten kann uumlbrigens sind meine Schluszlig- folgerungen betreffs der Kriminalitaumlt und Moralitaumlt der Massen denen der beiden Autoren die ich nannte ganz entgegengesetztMan wird in meinen verschiedenen Arbeiten besonders in meiner Schrift bdquoDie Psychologie des Sozialismusldquo einige Ergebnisse aus den Gesetzen finden welche die Massenpsychologie beherrschen Diese Gesetze Sassen sich auszligerdem auf den verschiedensten Gebieten anwenden Der Direktor des Koumlnigl Konservatoriums in Bruumlssel A Gevaert hat von den Gesetzen die ich in einer Abhandlung uumlber Musik darlegte welche er treffend als bdquoMassenkunstldquo bezeichnete eine bemerkenswerte Anwendung gemacht bdquoIhre beiden Schriftenldquo schrieb mir dieser ausgezeichnete Lehrer bei Uumlbersendung seiner Abhandlung bdquohaben mir die Loumlsung eines von mir fruumlher als unloumlslich betrachteten Problems gebracht die erstaunliche Eignung jeder Masse ein neues oder altes ein einheimisches oder fremdes ein einfaches oder zusammengesetztes Tonstuumlck zu empfinden vorausgesetzt daszlig es schoumln gespielt wird und daszlig die Musiker einen begei- sterten Dirigenten habenldquo Herr Gevaert zeigt vortrefflich warum bdquoein Werk welches ausgezeichneten Musikern bei Durchsicht der Partitur in der Einsam- keit ihres Zimmers unverstaumlndlich blieb oft von einem jeder technischen Bil- dung ermangelnden Auditorium ohne weiteres erfaszligt wirdldquo Ebenso ausge- zeichnet erklaumlrt er weshalb diese aumlsthetischen Eindruumlcke keinerlei Spuren hinterlassen

DIE MASSEN UND DER STAATSMANN 7

ERSTES BUCH

DIE MASSENSEELE

1 KAPITEL

Allgemeine Kennzeichen der Massen Das psychologische Gesetz von ihrer seelischen Einheit

Im gewoumlhnlichen Wortsinn bedeutet Masse eine Vereinigung irgendwelcher einzelner von beliebiger Nationalitaumlt belie- bigem Beruf und Geschlecht und beliebigem Anlaszlig der Ver- einigungVom psychologischen Gesichtspunkt bedeutet der Ausdruck bdquoMasseldquo etwas ganz anderes Unter bestimmten Umstaumlnden und nur unter diesen Umstaumlnden besitzt eine Versammlung von Menschen neue von den Eigenschaften der einzelnen die diese Gesellschaft bilden ganz verschiedene Eigentuumlm- lichkeiten Die bewuszligte Persoumlnlichkeit schwindet die Ge- fuumlhle und Gedanken aller einzelnen sind nach derselben Richtung orientiert Es bildet sich eine Gemeinschaftsseele die wohl veraumlnderlich aber von ganz bestimmter Art ist Die Gesamtheit ist nun das geworden was ich mangels eines besseren Ausdrucks als organisierte Masse oder wenn man lieber will als psychologische Masse bezeichnen werde Sie bildet ein einziges Wesen und unterliegt dem Gesetz der see- lischen Einheit der Massen (loi de lrsquouniteacute mentale des foules) Die Tatsache daszlig viele Individuen sich zufaumlllig zusammen- finden verleiht ihnen noch nicht die Eigenschaften einer organisierten Masse Tausend zufaumlllig auf einem oumlffentlichen Platz ohne einen bestimmten Zweck versammelte einzelne bilden keineswegs eine Masse im psychologischen Sinne Da- mit sie die besonderen Wesenszuumlge der Masse annehmen be- darf es des Einflusses gewisser Reize deren Wesensart wir zu bestimmen haben

Das Schwinden der bewuszligten Persoumlnlichkeit und die Orien- tierung der Gefuumlhle und Gedanken nach einer bestimmten Richtung die ersten Vorstoumlszlige der Masse auf dem Weg sich zu organisieren erfordern nicht immer die gleich- zeitige Anwesenheit mehrerer einzelner an einem einzigen Ort Tausende von getrennten einzelnen koumlnnen im ge- gebenen Augenblick unter dem Einfluszlig gewisser heftiger Gemuumltsbewegungen etwa eines groszligen nationalen Ereig- nisses die Kennzeichen einer psychologischen Masse an- nehmen Irgendein Zufall der sie vereinigt genuumlgt dann daszlig ihre Handlungen sogleich die besondere Form der Massenhandlungen annehmen In gewissen historischen Augenblicken kann ein halbes Dutzend Menschen eine psychologische Masse ausmachen waumlhrend hunderte zu- faumlllig vereinigte Menschen sie nicht bilden koumlnnen Anderer- seits kann bisweilen ein ganzes Volk ohne sichtbare Zu- sammenscharung unter dem Druck gewisser Einfluumlsse zur Masse werdenHat sich eine psychologische Masse gebildet so erwirbt sie vorlaumlufige aber bestimmbare allgemeine Merkmale Diesen allgemeinen Merkmalen gesellen sich besondere Kennzeichen veraumlnderlicher Art hinzu je nach den Ele- menten aus denen die Masse sich zusammensetzt und durch die ihre geistige Struktur zu veraumlndern istDie psychologischen Massen lassen sich also einteilen Das Studium dieser Einteilung wird uns zeigen daszlig eine hete- rogene d h aus ungleichartigen Elementen zusammen- gesetzte Masse mit homogenen d h aus mehr oder minder aumlhnlichen Elementen zusammengesetzten Massen (Sekten Kasten Klassen) allgemeine Kennzeichen gemein hat und auszligerdem noch Besonderheiten aufweist durch die sie sich voneinander unterscheiden lassenBevor wir uns aber mit den verschiedenen Arten der Masse befassen muumlssen wir zuerst die allgemeinen Kenn- zeichen untersuchen Wir werden gleich dem Naturforscher vorgehen der mit der Beschreibung der allgemeinen Merk- male der Mitglieder einer Familie beginnt bevor er sich

WAS IST EINE MASSE 11

mit den besonderen Merkmalen befaszligt welche die Unter- scheidung der Gattungen und Arten dieser Familie ermoumlg- lichenDie genaue Schilderung der Massenseele ist nicht leicht weil ihre Organisation nicht bloszlig nach Rasse und Zu- sammensetzung der Gesamtheit sondern auch nach der Natur und dem Grade der Anreize schwankt denen diese Gesamtheit unterliegt Aber dieselbe Schwierigkeit besteht fuumlr das psychologische Studium jedes beliebigen Wesens Nur in Romanen aber nicht im wirklichen Leben haben die einzelnen einen bestaumlndigen Charakter aufzuweisen Allein die Gleichfoumlrmigkeit der Umgebung schafft die sicht- bare Gleichartigkeit der Charaktere Ich habe anderwaumlrts gezeigt daszlig alle geistigen Beschaffenheiten Charaktermoumlg- lichkeiten enthalten die sich unter dem Einf luszlig eines jaumlhen Umgebungswechsels offenbaren koumlnnen So befanden sich unter den wildesten grausamsten Konventmitgliedern gutmuumltige Buumlrger die unter normalen Verhaumlltnissen fried- liche Notare oder ehrsame Beamte geworden waumlren Als der Sturm voruumlber war nahmen sie ihren Normalcharakter als friedliche Buumlrger wieder an Unter ihnen fand Napo- leon seine willigsten DienerDa wir hier nicht alle Stufen der Massenbildung studieren koumlnnen werden wir sie besonders in dem Zustand ihrer vollendeten Organisation ins Auge fassen Wir werden auf diese Weise sehen was sie werden koumlnnen aber nicht was sie immer sind Allein in diesem fortgeschrittenen Organisationszustand bauen sich auf dem unveraumlnderlichen und vorherrschenden Rassenuntergrunde gewisse neue und besondere Merkmale auf und es vollzieht sich die Wen- dung aller Gefuumlhle und Gedanken der Gesamtheit nach einer uumlbereinstimmenden Richtung So allein offenbart sich was ich oben das psychologische Gesetz der seelischen Einheit der Massen genannt habeVerschiedene psychische Kennzeichen der Massen haben sie gemein mit alleinstehenden Individuen waumlhrend andere im Gegenteil nur bei Gesamtheiten anzutreffen sind Wir

12 ALLGEMEINE KENNZEICHEN DER MASSEN

wollen zunaumlchst die besonderen Merkmale studieren um ihre Bedeutung recht aufzuzeigenDas Uumlberraschendste an einer psychologischen Masse ist welcher Art auch die einzelnen sein moumlgen die sie bilden wie aumlhnlich oder unaumlhnlich ihre Lebensweise Beschaumlfti- gungen ihr Charakter oder ihre Intelligenz ist durch den bloszligen Umstand ihrer Umformung zu Masse besitzen sie eine Art Gemeinschaftsseele vermoumlge deren sie in ganz andrer Weise fuumlhlen denken und handeln als jedes von ihnen fuumlr sich fuumlhlen denken und handeln wuumlrde Es gibt gewisse Ideen und Gefuumlhle die nur bei den zu Massen verbundenen einzelnen auftreten oder sich in Handlungen umsetzen Die psychologische Masse ist ein unbestimmtes Wesen das aus ungleichartigen Bestandteilen besteht die sich fuumlr einen Augenblick miteinander verbunden haben genau so wie die Zellen des Organismus durch ihre Ver- einigung ein neues Wesen mit ganz anderen Eigenschaften als denen der einzelnen Zellen bildenIn Widerspruch zu einer Anschauung die sich befremd- licherweise bei einem so scharfsinnigen Philosophen wie Herbert Spencer findet gibt es in dem Haufen der eine Masse bildet keineswegs eine Summe und einen Durch- schnitt der Bestandteile sondern Zusammenfassung und Bildung neuer Bestandteile genau so wie in der Chemie sich bestimmte Elemente wie z B die Basen und Saumluren bei ihrem Zustandekommen zur Bildung eines neuen Koumlr- pers verbinden dessen Eigenschaften von denen der Koumlr- per die an seinem Zustandekommen beteiligt waren voumll- lig verschieden sindEs ist leicht festzustellen inwieweit sich der einzelne in einer Masse vom alleinstehenden einzelnen unterscheidet weniger leicht aber ist die Aufdeckung der Ursachen dieser VerschiedenheitUm diesen Ursachen wenigstens einigermaszligen naumlherzu- kommen muszlig man sich zunaumlchst an die Feststellung der modernen Psychologie erinnern daszlig nicht nur im orga- nischen Leben sondern auch in den Vorgaumlngen des Ver-

GESETZ VON DER SEELISCHEN EINHEIT DER MASSEN 13

standes die unbewuszligten Erscheinungen eine ausschlagge- bende Rolle spielen Das bewuszligte Geistesleben bildet nur einen sehr geringen Teil im Vergleich zum unbewuszligten Seelenleben Der geschickteste Analytiker der schaumlrfste Beobachter kann nur eine sehr kleine Anzahl bewuszligter Triebfedern die ihn fuumlhren entdecken Unsere bewuszligten Handlungen entspringen einer unbewuszligten Grundlage die namentlich durch Vererbungseinfluumlsse geschaffen wird Diese Grundlage enthaumllt die zahllosen Ahnenspuren aus denen sich die Rassenseele aufbaut Hinter den eingestandenen Ursachen unserer Handlungen gibt es zweifellos geheime Gruumlnde die wir nicht eingestehen hinter diesen aber liegen noch gehei- mere die wir nicht einmal kennen Die Mehrzahl unserer taumlglichen Handlungen ist nur die Wirkung verborgener Triebkraumlfte die sich unserer Kenntnis entziehenDurch die unbewuszligten Bestandteile die der Rassenseele zugrunde liegen aumlhneln sich alle einzelnen dieser Rasse durch ihre bewuszligten Anlagen dagegen ndash Fruumlchte der Erziehung vor allem aber einer besonderen Erblichkeit ndash unterscheiden sie sich voneinander Menschen von ver- schiedenartigster Intelligenz haben aumluszligerst aumlhnliche Triebe Leidenschaften und Gefuumlhle In allem was Gegenstand des Gefuumlhls ist Religion Politik Moral Sympathien und Antipathien usw uumlberragen die ausgezeichnetsten Men- schen nur selten das Niveau der gewoumlhnlichen einzelnen Zwischen einem groszligen Mathematiker und seinem Schuster kann verstandesmaumlszligig ein Abgrund klaffen aber hinsicht- lich des Charakters ist der Unterschied oft nichtig oder sehr geringEben diese allgemeinen Charaktereigenschaften die vom Unbewuszligten beherrscht werden und der Mehrzahl der normalen Angehoumlrigen einer Rasse ziemlich gleichmaumlszligig eigen sind werden in den Massen vergemeinschaftlicht In der Gemeinschaftsseele verwischen sich die Verstandes- faumlhigkeiten und damit auch die Persoumlnlichkeit der einzel- nen Das Ungleichartige versinkt im Gleichartigen und die unbewuszligten Eigenschaften uumlberwiegen

14 ALLGEMEINE KENNZEICHEN DER MASSEN

Eben die Vergemeinschaftlichung der gewoumlhnlichen Eigen- schaften erklaumlrt uns warum die Massen niemals Hand- lungen ausfuumlhren koumlnnen die eine besondere Intelligenz beanspruchen Die Entscheidungen von allgemeinem In- teresse die von einer Versammlung hervorragender aber verschiedenartiger Leute getroffen werden sind jenen welche eine Versammlung von Dummkoumlpfen treffen wuumlrde nicht merklich uumlberlegen Sie koumlnnen in der Tat nur die mittelmaumlszligigen Allerweltseigenschaften vergemeinschaft- lichen Die Masse nimmt nicht den Geist sondern nur die Mittelmaumlszligigkeit in sich auf Es hat nicht wie man so oft wiederholt die bdquoganze Welt mehr Geist als Voltaireldquo sondern Voltaire hat zweifellos mehr Geist als die bdquoganze Weltldquo wenn man unter dieser die Massen verstehtBeschraumlnkten sich aber die Individuen der Masse auf Ver- schmelzung ihrer allgemeinen Eigenschaften so ergaumlbe sich daraus nur ein Durchschnitt aber nicht wie wir sagten eine Schoumlpfung neuer Eigentuumlmlichkeiten Wie bilden sich diese neuen Eigentuumlmlichkeiten Das haben wir jetzt zu untersuchenDas Auftreten besonderer Charaktereigentuumlmlichkeiten der Masse wird durch verschiedene Ursachen bestimmt Die erste dieser Ursachen besteht darin daszlig der einzelne in der Masse schon durch die Tatsache der Menge ein Gefuumlhl unuumlberwindlicher Macht erlangt welches ihm gestattet Trieben zu froumlnen die er fuumlr sich allein notwendig gezuumlgelt haumltte Er wird ihnen um so eher nachgeben als durch die Namenlosigkeit und demnach auch Unverantwortlichkeit der Masse das Verantwortungsgefuumlhl das die einzelnen stets zuruumlckhaumllt voumlllig verschwindetEine zweite Ursache die geistige Uumlbertragung (contagion mentale) bewirkt gleichfalls das Erscheinen der besonderen Wesenszuumlge der Masse und zugleich ihre Richtung Die Uumlbertragung ist leicht festzustellen aber noch nicht zu er- klaumlren man muszlig sie den Erscheinungen hypnotischer Art zuordnen mit denen wir uns sogleich beschaumlftigen werden In der Masse ist jedes Gefuumlhl jede Handlung uumlbertragbar

DIE MASSE VOM UNBEWUSSTEN BEHERRSCHT 15

und zwar in so hohem Grade daszlig der einzelne sehr leicht seine persoumlnlichen Wuumlnsche den Gesamtwuumlnschen opfert Diese Faumlhigkeit ist seiner eigentlichen Natur durchaus ent- gegengesetzt und nur als Bestandteil einer Masse ist der Mensch dazu faumlhigNoch eine dritte und zwar die wichtigste Ursache ruft in den zur Masse vereinigten einzelnen besondere Eigenschaf- ten hervor welche denen der alleinstehenden einzelnen voumlllig widersprechen ich rede von der Beeinfluszligbarkeit (suggestibilite) von der die obenerwaumlhnte geistige Uumlbertra- gung uumlbrigens nur eine Wirkung istUm diese Erscheinung zu verstehen muumlssen wir uns ge- wisse neue Entdeckungen der Physiologie vergegenwaumlrti- gen Wir wissen heute daszlig ein Mensch in einen Zustand versetzt werden kann der ihn seiner bewuszligten Persoumln- lichkeit beraubt und ihn allen Einfluumlssen des Hypnotiseurs der ihm sein Bewuszligtsein genommen hat gehorchen und Handlungen begehen laumlszligt die zu seinem Charakter und seinen Gewohnheiten in schaumlrfstem Gegensatz stehen Sorg- faumlltige Beobachtungen scheinen nun zu beweisen daszlig ein einzelner der lange Zeit im Schoszlige einer wirkenden Masse eingebettet war sich alsbald ndash durch Ausstroumlmungen die von ihr ausgehen oder sonst eine noch unbekannte Ur- sache ndash in einem besonderen Zustand befindet der sich sehr der Verzauberung naumlhert die den Hypnotisierten unter dem Einfluszlig des Hypnotiseurs uumlberkommt Da das Verstandesleben des Hypnotisierten lahmgelegt ist wird er der Sklave seiner unbewuszligten Kraumlfte die der Hypnoti- seur nach seinem Belieben lenkt Die bewuszligte Persoumlnlich- keit ist voumlllig ausgeloumlscht Wille und Unterscheidungsver- moumlgen fehlen alle Gefuumlhle und Gedanken sind in die Sinne verlegt die durch den Hypnotiseur beeinfluszligt werdenUngefaumlhr in diesem Zustand befindet sich der einzelne als Glied einer Masse Er ist sich seiner Handlungen nicht mehr bewuszligt Waumlhrend bei ihm wie beim Hypnotisierten gewisse Faumlhigkeiten aufgehoben sind koumlnnen andere auf einen Zustand houmlchster Uumlberspannung getrieben werden

16 ALLGEMEINE KENNZEICHEN DER MASSEN

Unter dem Einfluszlig einer Suggestion wird er sich mit un- widerstehlichem Ungestuumlm auf gewisse Taten werfen Und dies Ungestuumlm ist in den Massen noch unwiderstehlicher als bei den Hypnotisierten weil die fuumlr alle einzelnen gleiche Suggestion durch Gegenseitigkeit waumlchst Die ein- zelnen in einer Masse die eine hinreichend starke Persoumln- lichkeit haben um dem Einfluszlig zu widerstehen sind in zu geringer Anzahl vorhanden und der Strom reiszligt sie mit Houmlchstens koumlnnen sie vermittels eines anderen Einflusses eine Ablenkung versuchen Ein gluumlcklicher Ausdruck ein im rechten Augenblick angewandter bildlicher Vergleich hat oft die Massen von den blutigsten Taten abgehaltenDie Hauptmerkmale des einzelnen in der Masse sind also Schwinden der bewuszligten Persoumlnlichkeit Vorherrschaft des unbewuszligten Wesens Leitung der Gedanken und Gefuumlhle durch Beeinflussung und Uumlbertragung in der gleichen Rich- tung Neigung zur unverzuumlglichen Verwirklichung der ein- gefloumlszligten Ideen Der einzelne ist nicht mehr er selbst er ist ein Automat geworden dessen Betrieb sein Wille nicht mehr in der Gewalt hatAllein durch die Tatsache Glied einer Masse zu sein steigt der Mensch also mehrere Stufen von der Leiter der Kultur hinab Als einzelner war er vielleicht ein gebildetes Indivi- duum in der Masse ist er ein Triebwesen also ein Barbar Er hat die Unberechenbarkeit die Heftigkeit die Wildheit aber auch die Begeisterung und den Heldenmut urspruumlng- licher Wesen denen er auch durch die Leichtigkeit aumlhnelt mit der er sich von Worten und Vorstellungen beeinflussen und zu Handlungen verfuumlhren laumlszligt die seine augenschein- lichsten Interessen verletzen In der Masse gleicht der ein- zelne einem Sandkorn in einem Haufen anderer Sand- koumlrner das der Wind nach Belieben emporwirbeltAus diesem Grunde sprechen Schwurgerichte Urteile aus die jeder Geschworene als einzelner miszligbilligen wuumlrde Parlamente nehmen Gesetze und Vorlagen an die jedes Mitglied einzeln ablehnen wuumlrde Einzeln genommen waren die Maumlnner des Konvents aufgeklaumlrte Buumlrger mit fried-

UMWANDLUNG DER GEFUumlHLE DES EINZELNEN 17

lichen Gewohnheiten Zur Masse vereinigt zauderten sie nicht unter dem Einfluszlig einiger Fuumlhrer die offenbar un- schuldigsten Menschen aufs Schafott zu schicken brachen unter Auszligerachtlassung ihres eignen Vorteils deren Un- verletzlichkeit und verringerten ihre ScharNicht nur in seinen Handlungen weicht das Glied der Masse von seinem normalen Ich ab Schon bevor es jede Unabhaumlngigkeit einbuumlszligte haben sich seine Gedanken und Gefuumlhle umgeformt und zwar so daszlig der Geizige zum Verschwender der Zweif ler zum Glaumlubigen der Ehren- mann zum Verbrecher der Hasenfuszlig zum Helden wird Der Verzicht auf alle seine verbrieften Vorrechte den der Adel in einem Augenblick der Begeisterung in der be- ruumlhmten Nacht vom 4 August 789 leistete waumlre sicher- lich von seinen Mitgliedern als einzelnen niemals ange- nommen wordenAus den vorstehenden Beobachtungen ist zu schlieszligen daszlig die Masse dem alleinstehenden Menschen intellektuell stets untergeordnet ist Hinsichtlich der Gefuumlhle aber und der durch sie bewirkten Handlungen kann sie unter Umstaumln- den besser oder schlechter sein Es haumlngt alles von der Art des Einflusses ab unter dem die Masse steht Das haben die Schriftsteller die die Masse nur vom kriminellen Ge- sichtspunkt studiert haben vollstaumlndig verkannt Gewiszlig ist die Masse oft verbrecherisch oft aber auch heldenhaft Man bringt sie leicht dazu sich fuumlr den Triumph eines Glaubens oder einer Idee in den Tod schicken zu lassen begeistert sie fuumlr Ruhm und Ehre daszlig sie sich wie im Zeitalter der Kreuzzuumlge fast ohne Brot und Wasser zur Befreiung des goumlttlichen Grabes von den Unglaumlubigen oder wie im Jahre 793 zur Verteidigung des vaterlaumlndi- schen Bodens fortreiszligen laumlszligt Gewiszlig ein unbewuszligtes Hel- dentum aber durch solche Heldentaten vollzieht sich die Geschichte Wollte man nur die mit kalter Uumlberlegung ausgefuumlhrten Groszligtaten auf das Aktivkonto der Voumllker schreiben so wuumlrden in den Weltannalen nur wenige ver- zeichnet sein

18 ALLGEMEINE KENNZEICHEN DER MASSEN

2 KAPITEL

Gefuumlhle und Sittlichkeit der Massen

Nach diesem allgemeinen Hinweis auf die Hauptkenn- zeichen der Massen kommen wir nun zur Untersuchung der EinzelheitenVerschiedene besondere Eigenschaften der Massen wie Triebhaftigkeit (impulsiviteacute) Reizbarkeit (irritabiliteacute) Un- faumlhigkeit zum logischen Denken Mangel an Urteil und kritischem Geist Uumlberschwang der Gefuumlhle (exageacuteration des sentiments) und noch andere sind bei Wesen einer nied- rigeren Entwicklungsstufe wie beim Wilden und beim Kinde ebenfalls zu beobachten Ich streife diese Uumlberein- stimmung nur im Voruumlbergehen denn ihre Ausfuumlhrung wuumlrde uumlber den Rahmen dieser Arbeit hinausgehen Sie waumlre unnoumltig fuumlr alle mit der Psychologie der Primitiven Vertrauten und fuumlr jene die nichts von ihr wissen ohne rechte UumlberzeugungskraftIch gehe nun die verschiedenen Merkmale die sich bei der Mehrzahl der Massen leicht beobachten lassen der Reihe nach durch

sect Triebhaftigkeit Beweglichkeit und Erregbarkeit der Massen

Bei der Untersuchung ihrer grundlegenden Charakterzuumlge sagten wir daszlig die Masse beinahe ausschlieszliglich vom Un- bewuszligten geleitet wird Ihre Handlungen stehen viel oumlfter unter dem Einfluszlig des Ruumlckenmarks als unter dem des Gehirns Die vollzogenen Handlungen koumlnnen ihrer Aus- fuumlhrung nach vollkommen sein da sie aber nicht vom Ge- hirn ausgehen so handelt der einzelne nach zufaumllligen Reizen Die Masse ist der Spielball aller aumluszligeren Reize deren unaufhoumlrlichen Wechsel sie widerspiegelt Sie ist also die Sklavin der empfangenen Anregungen Der allein- stehende einzelne kann ja denselben Reizen unterliegen

wie die Masse da ihm aber sein Gehirn die unangenehmen Folgen des Nachgebens zeigt so gehorcht er ihnen nicht Physiologisch laumlszligt es sich so erklaumlren daszlig der alleinste- hende einzelne die Faumlhigkeit zur Beherrschung seiner Emp- findungen hat die Masse aber nicht dazu imstande istDie mannigfachen Triebe denen die Massen gehorchen koumlnnen je nach dem Anreiz edel oder grausam heldenhaft oder feige sein stets aber sind sie so unabweisbar daszlig der Selbsterhaltungstrieb vor ihnen zuruumlcktrittDa die Reize die auf eine Masse wirken sehr wechseln und die Massen ihnen immer gehorchen so sind sie natuumlr- lich aumluszligerst wandelbar Daher sehen wir sie auch in dem- selben Augenblick von der blutigsten Grausamkeit zum unbedingtesten Heldentum oder Edelmut uumlbergehen Die Masse wird leicht zum Henker ebenso leicht aber auch zum Maumlrtyrer Aus ihrem Herzen floumlssen die Stroumlme von Blut die fuumlr den Triumph jedes Glaubens notwendig sind Man braucht nicht zu den Zeitaltern der Helden zuruumlck- zugehen um zu erkennen wozu die Massen faumlhig sind Nie markten sie bei einem Aufstand um ihr Leben und erst vor wenigen Jahren haumltte ein General der ploumltzlich volkstuumlmlich geworden war wenn er es verlangt haumltte leicht hunderttausend Menschen gefunden bereit sich fuumlr seine Sache toumlten zu lassenNichts ist also bei den Massen vorbedacht Sie koumlnnen unter dem Einfluszlig von Augenblicksreizen die ganze Folge der entgegengesetzten Gefuumlhle durchlaufen Sie gleichen den Blaumlttern die der Sturm aufwirbelt nach allen Rich- tungen verstreut und wieder fallen laumlszligt Die Betrachtung gewisser revolutionaumlrer Massen wird uns einige Beispiele fuumlr die Veraumlnderlichkeit ihrer Gefuumlhle gebenDiese Veraumlnderlichkeit macht sie schwer regierbar beson- ders wenn ein Teil der oumlffentlichen Gewalt in ihre Haumlnde gefallen ist Wuumlrden die Notwendigkeiten des Alltags- lebens nicht eine Art unsichtbarer Regelung der Ereignisse herausbilden so koumlnnten die Demokratien nicht bestehen Wenn auch die Massen die Dinge leidenschaftlich be-

20 GEFUumlHLE UND SITTLICHKEIT DER MASSEN

gehren so wollen sie sie doch nicht fuumlr lange Zeit Sie sind ebenso unfaumlhig zu ausdauerndem Wollen wie zum DenkenDie Masse ist nicht nur triebhaft und wandelbar Gleich dem Wilden laumlszligt sie nicht zu daszlig sich zwischen ihre Be- gierde und die Verwirklichung dieser Begierde ein Hinder- nis erhebt um so weniger als ihre Uumlberzahl ihr das Ge- fuumlhl unwiderstehlicher Macht gewaumlhrt Fuumlr den einzelnen in der Masse schwindet der Begriff des Unmoumlglichen Der alleinstehende einzelne ist sich klar daruumlber daszlig er allein keinen Palast einaumlschern keinen Laden pluumlndern koumlnnte und die Versuchung dazu kommt ihm kaum in den Sinn Als Glied einer Masse aber uumlbernimmt er das Machtbe- wuszligtsein das ihm die Menge verleiht und wird der ersten Anregung zu Mord und Pluumlnderung augenblicklich nach- geben Ein unerwartetes Hindernis wird wuumltend zertruumlm- mert Wenn der menschliche Organismus dauernde Wut zulieszlige so koumlnnte man die Wut als den normalen Zustand der gehemmten Masse bezeichnenDie Erregbarkeit Triebhaftigkeit und Veraumlnderlichkeit der Massen sowie das gesamte Empfinden des Volkes das wir zu untersuchen haben werden stets durch die grundlegen- den Rasseeigenschaften abgewandelt Sie bilden den festen Boden in dem alle unsere Gefuumlhle wurzeln Ohne Zweifel sind die Massen reizbar und triebhaft aber in den mannig- fachsten Abstufungen Der Unterschied zwischen einer la- teinischen und einer angelsaumlchsischen Masse z B ist auf- fallend Die juumlngsten Ereignisse unserer Geschichte geben ein sprechendes Bild davon Im Jahre 870 hat die Ver- oumlffentlichung eines einfachen Telegramms mit dem Bericht uumlber eine angeblich einem Botschafter zugefuumlgte Beleidigung genuumlgt einen Wutausbruch zu entfachen der zur unmittel- baren Ursache eines furchtbaren Krieges wurde Einige Jahre spaumlter erzeugte die telegraphische Anzeige einer un- bedeutenden Schlappe bei Langson einen neuen Ausbruch der den sofortigen Sturz der Regierung herbeifuumlhrte Zu gleicher Zeit erregte die viel schwerere Niederlage einer

TRIEBHAFTIGKEIT BEWEGLICHKEIT ERREGBARKEIT 21

englischen Expedition bei Khartum nur eine sehr schwache Bewegung in England und kein Ministerium fiel Uumlberall sind die Massen weibisch die weibischsten aber sind die lateinischen Massen Wer sich auf sie stuumltzt kann sehr hoch und sehr schnell steigen aber stets in der Naumlhe des tarpeji- schen Felsens und mit der Gewiszligheit eines Tages hinunter- gestuumlrzt zu werden

sect 2 Beeinfluszligbarkeit und Leichtglaumlubigkeit der Massen

Als einen der allgemeinen Charakterzuumlge bezeichneten wir die uumlbermaumlszligige Beeinf luszligbarkeit und wiesen nach wie ansteckend eine Beeinflussung in jeder Menschenansamm- lung ist woraus sich die blitzschnelle Gerichtetheit der Gefuumlhle in einem bestimmten Sinne erklaumlrt So parteilos man sich die Masse auch vorstellt so befindet sie sich doch meistens in einem Zustand gespannter Erwartung der die Beeinflussung beguumlnstigt Die erste klar zum Ausdruck gebrachte Beeinflussung teilt sich durch Uumlbertragung augen- blicklich allen Gehirnen mit und gibt sogleich die Gefuumlhls- richtung an Bei allen Beeinfluszligten draumlngt die fixe Idee danach sich in eine Tat umzuformen Ob es sich darum handelt einen Palast in Brand zu stecken oder sich zu opfern die Masse ist mit der gleichen Leichtigkeit dazu bereit Alles haumlngt von der Art des Anreizes ab nicht mehr wie beim alleinstehenden einzelnen von den Bezie- hungen zwischen der eingegebenen Tat und dem Maszlig der Vernunft das sich ihrer Verwirklichung widersetzen kann So muszlig die Masse die stets an den Grenzen des Unbe- wuszligten umherirrt allen Einfluumlssen unterworfen ist von der Heftigkeit ihrer Gefuumlhle erregt wird welche allen Wesen eigen ist die sich nicht auf die Vernunft berufen koumlnnen alles kritischen Geistes bar von einer uumlbermaumlszligigen Leichtglaumlubigkeit sein Nichts erscheint ihr unwahrschein- lich und das darf man nicht vergessen wenn man begrei-

22 GEFUumlHLE UND SITTLICHKEIT DER MASSEN

fen will wie leicht die unwahrscheinlichsten Legenden und Berichte zustande kommen und sich verbreiten Die Entstehung von Legenden die so leicht in den Massen umlaufen ist nicht nur die Folge vollkommener Leicht- glaumlubigkeit sondern auch der ungeheuerlichen Entstellun- gen welche die Ereignisse in der Phantasie der Menschen- ansammlungen erfahren Der einfachste Vorfall von der Masse gesehen ist sofort ein entstelltes Geschehnis Sie denkt in Bildern und das hervorgerufene Bild loumlst eine Folge anderer Bilder aus ohne jeden logischen Zusammen- hang mit dem ersten Diesen Zustand verstehen wir leicht wenn wir bedenken welche sonderbaren Vorstellungs- reihen zuweilen ein Erlebnis in uns hervorruft Die Ver- nunft beweist die Zusammenhanglosigkeit dieser Bilder aber die Masse beachtet sie nicht und vermengt die Zusaumltze ihrer entstellenden Phantasie mit dem Ereignis Die Masse ist unfaumlhig das Persoumlnliche von dem Sachlichen zu unter- scheiden Sie nimmt die Bilder die in ihrem Bewuszligtsein auftauchen und sehr oft nur eine entfernte Aumlhnlichkeit mit der beobachteten Tatsache haben fuumlr WirklichkeitDie Entstellungen mit denen eine Masse ein Ereignis um- formt dessen Zeuge sie gewesen ist scheinen unzaumlhlig und von verschiedener An zu sein da die Menschen aus denen die Masse besteht von sehr verschiedenem Temperament sind Aber so ist es nicht Infolge der Uumlbertragung sind die Entstellungen durch die einzelnen einer Gemeinschaft alle von gleicher Art und gleichem Wesen Die erste Ent- stellung die ein Glied der Gesamtheit vorbringt formt den Kern des ansteckenden Einflusses Bevor der heilige Georg allen Kreuzfahrern auf den Mauern von Jerusalem er- schien war er sicher zuerst nur von einem von ihnen wahrgenommen worden Durch Beeinflussung und Uumlber-

Wer noch die Belagerung von Paris mitgemacht hat erlebte viele Faumllle dieser Leichtglaumlubigkeit der Massen an die unwahrscheinlichsten Dinge Ein brennendes Wachslicht in einem houmlheren Stockwerk galt sofort fuumlr ein Zeichen das man den Belagerern geben wollte Zwei Sekunden Uumlberlegung wuumlrden bewiesen haben daszlig man unmoumlglich aus einer Entfernung von mehreren Meilen dieses Kerzenlicht sehen kann

BEEINFLUSSBARKEIT UND LEICHTGLAumlUBIGKEIT 23

tragung wurde das gemeldete Wunder sofort von allen angenommenSo vollzieht sich der Vorgang von Kollektivhalluzina- tionen die in der Geschichte so haumlufig sind und alle klas- sischen Merkmale der Echtheit zu haben scheinen da es sich hier um Erscheinungen handelt die von Tausenden von Menschen festgestellt wurdenDie geistige Beschaffenheit der einzelnen aus denen die Masse besteht widerspricht nicht diesem Grundsatz Denn diese Eigenschaften sind bedeutungslos In dem Augenblick da sie zu einer Masse gehoumlren werden der Ungebildete und der Gelehrte gleich unfaumlhig zur BeobachtungDiese Behauptung mag widersinnig klingen Um sie zu beweisen muumlszligte man auf eine groszlige Anzahl historischer Tatsachen zuruumlckgreifen und dazu wuumlrden mehrere Baumlnde nicht genuumlgenDa ich aber den Leser doch nicht unter dem Eindruck un- bewiesener Behauptungen lassen moumlchte so will ich einige Beispiele anfuumlhren die ich auf gut Gluumlck aus der groszligen Anzahl die man zitieren koumlnnte herausgreifeDer folgende Fall wurde gewaumlhlt weil er besonders all- gemeinguumlltig fuumlr Kollektivhalluzinationen ist Er wirkte sich auf eine Menge aus die aus den verschiedensten ein- zelnen ndash unwissenden und gebildeten ndash bestand Er wird von dem Schiffsleutnant Julien Feacutelix in seinem Buch uumlber die Meeresstroumlmungen nebenher berichtet und ist auch in die bdquoRevue Scientifiqueldquo aufgenommen wordenDie Fregatte bdquoLa Belle-Pouleldquo kreuzte auf See um die Korvette bdquoLe Berceauldquo wiederzufinden von der sie durch einen heftigen Orkan getrennt worden war Es war am hellen lichten Tage Ploumltzlich signalisiert die Wache ein Schiff in Seenot Die Mannschaft richtet ihre Blicke auf die bezeichnete Stelle und alle Offiziere und Matrosen sehen deutlich ein menschenbeladenes Wrack welches von kleinen Fahrzeugen auf denen Notsignale flatterten ge- schleppt wurde Admiral Desfosseacutes lieszlig ein Boot bemannen um den Schiffbruumlchigen zu Hilfe zu eilen Waumlhrend sie sich

24 GEFUumlHLE UND SITTLICHKEIT DER MASSEN

naumlherten sahen die im Boot befindlichen Matrosen und Offiziere bdquoMassen von Menschen sich hin und her bewegen die Haumlnde ausstrecken und vernahmen den dumpfen und verworrenen Laumlrm einer groszligen Anzahl Stimmenldquo Als das Boot angekommen war fand man nichts weiter vor als einige mit Blaumlttern bedeckte Baumaumlste die sich von der benachbarten Kuumlste losgerissen hatten Vor einem so hand- greiflichen Beweis schwindet die TaumluschungDies Beispiel enthuumlllt ganz klar den Verlauf der Kollektiv- taumluschungen wie wir ihn beschrieben haben Auf der einen Seite eine Masse im Zustand gespannter Aufmerksamkeit auf der andern eine Suggestion die von der Wache ausgeht die ein schiffbruumlchiges Fahrzeug auf dem Meer signalisiert eine Suggestion die durch Uumlbertragung von allen Anwesen- den Offizieren wie Matrosen aufgenommen wirdEine Masse braucht nicht zahlreich zu sein um die Faumlhig- keit richtigen Sehens zu verlieren und die wirklichen Tat- sachen durch davon abweichende Taumluschungen zu ersetzen Die Versammlung einiger einzelner bildet eine Masse und selbst wenn es hervorragende Gelehrte waumlren so wuumlrden sie doch alle fuumlr die Dinge die auszligerhalb ihres Faches liegen die Massenkennzeichen annehmen Das Be- obachtungsvermoumlgen und der kritische Geist eines jeden von ihnen schwinden sofortEin scharfsinniger Psychologe Davey liefert uns dafuumlr ein recht merkwuumlrdiges Beispiel welches vor kurzem in den

bdquoAnnales des Sciences psychiquesldquo mitgeteilt wurde und es verdient hier berichtet zu werden Davey berief eine Versammlung ausgezeichneter Beobachter ein unter ihnen den hervorragenden englischen Forscher Wallace und fuumlhrte ihnen nachdem er sie die Gegenstaumlnde untersuchen und beliebig hatte versiegeln lassen alle klassischen Phauml- nomene des Spiritismus vor Materialisation von Geistern Schiefertafelschrift usw Nachdem er hierauf von diesen beruumlhmten Beobachtern schriftliche Berichte erhalten hatte in welchen erklaumlrt wurde die beobachteten Erscheinungen seien nur auf uumlbernatuumlrlichem Wege moumlglich gewesen ent-

BEEINFLUSSBARKEIT UND LEICHTGLAumlUBIGKEIT 25

huumlllte er ihnen daszlig sie das Ergebnis sehr einfacher Kniffe waren bdquoDas Erstaunliche an diesem Versuch Daveysldquo schreibt der Verfasser des Berichts bdquoist nicht die Bewun- derung der Kunststuumlcke als solcher sondern die auszliger- ordentliche Geistlosigkeit der Berichte welche die unein- geweihten Zeugen daruumlber abgaben Denn die Zeugen haben zahlreiche und genaue Berichte geliefert die voumlllig irrig sind die aber wenn man ihre Schilderungen fuumlr richtig haumllt zu dem Ergebnis fuumlhren daszlig die geschilderten Vorgaumlnge durch Betrug nicht zu erklaumlren sind Die von Davey ersonnenen Methoden waren so einfach daszlig man sich uumlber die Kuumlhnheit wundert mit der er sie anwandte er besaszlig aber eine solche Macht uumlber den Geist der Masse daszlig er ihr das was sie nicht sah als gesehen aufzwingen konnteldquo Diese Macht hat der Hypnotiseur immer uumlber den Hypnotisierten Sieht man aber wie sie sich auf uumlber- legene von vornherein miszligtrauische Geister auswirkt dann begreift man mit welcher Leichtigkeit die gewoumlhn- lichen Massen zu taumluschen sindEs gibt unzaumlhlige aumlhnliche Beispiele Vor einigen Jahren gaben die Zeitungen die Geschichte von zwei kleinen er- trunkenen Maumldchen wieder die aus der Seine gezogen wurden Diese Kinder wurden zuerst in bestimmtester Weise von einem Dutzend Zeugen erkannt Vor so uumlber- einstimmenden Aussagen schwand auch der leiseste Zweifel des Untersuchungsrichters er lieszlig den Totenschein aus- fertigen In dem Augenblick aber da man sich zur Beerdi- gung anschickte entdeckte man durch Zufall daszlig die mit den Opfern Identifizierten noch voumlllig lebendig waren und kaum eine entfernte Aumlhnlichkeit mit den ertrunkenen Klei- nen besaszligen Wie in mehreren der fruumlher angefuumlhrten Beispiele hatte die Behauptung des ersten Zeugen der das Opfer einer Taumluschung war zur Beeinflussung aller an- deren genuumlgtIn solchen Faumlllen ist der Ausgangspunkt fuumlr die Beein- flussung stets die Taumluschung die durch mehr oder weniger unbestimmte Erinnerungen in einem einzelnen erzeugt

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wird auszligerdem die Uumlbertragung durch Mitteilung dieses ersten Irrtums Ist der erste Beobachter leicht erregbar so genuumlgt es oft daszlig der Leichnam den er zu erkennen glaubt abgesehen von aller wirklichen Aumlhnlichkeit eine Besonderheit etwa eine Narbe oder ein Bekleidungsmerk- mal aufzuweisen hat wodurch bei ihm die Vorstellung einer andern Person ausgeloumlst werden kann Die einge- bildete Vorstellung kann dann zum Kern einer Art Kri- stallisation werden welche den Bereich des Verstandes er- greift und allen kritischen Geist lahmt Der Beobachter sieht dann nicht mehr die Sache selbst sondern das Bild das in seiner Seele aufgetaucht ist Auf diese Weise erklaumlrt sich das vermeintliche Wiedererkennen von Kinderleichen durch die Muumltter wie in dem folgenden schon alten Fall an dem sich die beiden Arten von Beeinflussung deren Ab- lauf ich erklaumlrt habe deutlich offenbaren

bdquoDas Kind wurde von einem anderen Kinde erkannt ndash das sich irrte Die Reihe des unrichtigen Wiedererkennens lief nun ab Und nun geschah etwas sehr Merkwuumlrdiges An dem Tage nachdem die Leiche durch einen Schuumller wiedererkannt worden war schrie eine Frau auf Ach mein Gott das ist mein Kindlsquo Man fuumlhrte sie zur Leiche sie untersucht die Kleider und stellt eine Narbe an der Stirn fest Gewiszliglsquo sagte sie es ist mein armer Junge der seit Ende Juli vermiszligt wird Man wird ihn mir ent- fuumlhrt und getoumltet habenlsquo Die Frau war Hausmeisterin in der Rue de Four und hieszlig Chavandret Man lieszlig ihren Schwager kommen und dieser sagte ohne Zoumlgern Das ist der kleine Philibertlsquo Mehrere Bewohner der Straszlige ganz abgesehen von seinem Lehrer fuumlr den die Schulmedaille ausschlaggebend war erkannten in dem Kinde von la Villette Philibert Chavandret Nun Nachbarn Schwager Lehrer und Mutter hatten sich geirrt Sechs Wochen spaumlter war die Identitaumlt des Kindes festgestellt Es war ein Knabe aus Bordeaux der dort getoumltet und mit der Post nach Paris gebracht worden war ldquo bdquoEclairldquo vom 2 April 895

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Wir koumlnnen wieder feststellen daszlig dies bdquoErkennenldquo meistens bei Frauen und Kindern also gerade bei den erregbarsten Wesen vorkommt Es zeigt gleichzeitig wie wenig Wert solche Zeugnisse vor Gericht haben koumlnnen Besonders Kinderaus- sagen sollten nie herangezogen werden Die Richter wieder- holen immer man luumlge in diesem Alter nicht das ist ein Gemeinplatz Besaumlszligen sie eine etwas tiefere psychologische Bildung so wuumlszligten sie ganz im Gegenteil in diesem Alter luumlgt man stets Gewiszlig ist die Luumlge harmlos sie bleibt aber dennoch eine Luumlge Besser wuumlrde die Verurteilung eines An- geklagten nach dem Spiel bdquoKopf oder Schriftldquo erfolgen als wie so oft geschehen nach dem Zeugnis eines KindesUm aber auf die Beobachtungen zuruumlckzukommen die von den Massen gemacht werden so koumlnnen wir daraus schlieszligen daszlig die Kollektivbeobachtungen die verfehltesten von allen sind und daszlig sie meistens nur die einfache Taumluschung eines einzelnen sind die durch Uumlbertragung alle andern beeinfluszligt hat Unzaumlhlige Faumllle beweisen daszlig man gegen die Zeugenschaft der Masse das groumlszligte Miszligtrauen hegen muszlig Tausende von Menschen erlebten den beruumlhmten Reiterangriff der Schlacht bei Sedan und doch ist es unmoumlg- lich aus den widersprechenden Berichten von Augenzeugen festzustellen von wem er kommandiert wurde Der englische General Wolseley hat in einem neuen Buch den Beweis er- bracht daszlig man bis jetzt uumlber die wichtigsten Ereignisse der Schlacht bei Waterloo obwohl Hunderte von Zeugen sie beglaubigt hatten in groumlszligtem Irrtum befangen war

Wissen wir auch nur von einer einzigen Schlacht wie sie sich wirklich ab- gespielt hat Ich zweifle sehr daran Wir kennen Sieger und Besiegte aber wahrscheinlich weiter nichts Was drsquoHarcourt uumlber die Schlacht von Solferino berichtet die er teils mitgemacht und teils gesehen hat laumlszligt sich auf alle Schlachten anwenden bdquoDie Generaumlle (natuumlrlich durch Hunderte von Aussagen unterrichtet) setzen ihre offiziellen Berichte auf die mit der Verbreitung der Berichte betrauten Offiziere aumlndern diese Schriftstuumlcke und setzen die end- guumlltige Fassung fest der Generalstabschef kritisiert und erneuert sie nochmals Man bringt sie zum Feldmarschall er ruft Sie befinden sich in einem voumllli- gen Irrtumlsquo und nimmt eine neue Uumlberarbeitung vor Von dem urspruumlnglichen Bericht bleibt fast nichts stehenldquo DrsquoHarcourt erzaumlhlt dies als Beweis der Un- moumlglichkeit die Wahrheit uumlber das packendste und aufs genaueste beobachtete Ereignis festzustellen

28 GEFUumlHLE UND SITTLICHKEIT DER MASSEN

All diese Beispiele zeigen ich wiederhole es wie wenig Wert die Zeugenschaft der Massen hat Die Lehrbuumlcher der Logik zaumlhlen die Uumlbereinstimmung zahlreicher Zeugen zur Klasse der sichersten Beweise die man zur Erhaumlrtung einer Tatsache erbringen kann Aber was wir von der Psychologie der Massen wissen zeigt wie sehr sie sich in diesem Punkte taumluschen Die Ereignisse die von der groumlszlig- ten Anzahl von Personen beobachtet wurden sind sicher am zweifelhaftesten Zu erklaumlren eine Tatsache sei von Tausenden von Zeugen gleichzeitig festgestellt worden heiszligt erklaumlren daszlig das wirkliche Ereignis von dem ange- nommenen Bericht im allgemeinen erheblich abweichtAus dem Vorstehenden folgt klar daszlig die Geschichtswerke als reine Phantasiegebilde zu betrachten sind Es sind Phantasieberichte schlecht beobachteter Ereignisse nebst nachtraumlglich ersonnenen Erklaumlrungen Haumltte uns die Ver- gangenheit nicht ihre Literaturdenkmaumller ihre Kunst- und Bauwerke hinterlassen so wuumlszligten wir nicht die geringste Tatsache von ihr Kennen wir ein einziges wahres Wort uumlber das Leben der groszligen Maumlnner die in der Menschheit eine hervorragende Rolle spielten Houmlchstwahrscheinlich nicht Im Grunde hat uumlbrigens ihr tatsaumlchliches Leben recht wenig Interesse fuumlr uns Die legendaumlren Helden nicht die wirklichen Helden haben Eindruck auf die Massen ge- machtLeider sind die Legenden selbst nicht von Dauer Die Phantasie der Massen formt sie je nach den Zeiten und den Rassen um Vom grausamen Jehova der Bibel bis zum Gott der Liebe der heiligen Therese ist ein groszliger Schritt und der in China verehrte Buddha hat mit dem in Indien angebeteten keinen Zug gemeinEs bedarf nicht des Ablaufs von Jahrhunderten damit sich die Heldenlegende in der Phantasie der Massen wandelt diese Wandlung erfolgt oft innerhalb weniger Jahre Wir haben in unsern Tagen erlebt wie sich die Legende eines der groumlszligten Helden der Geschichte in weniger als fuumlnfzig Jahren wiederholt veraumlndert hat Unter den Bourbonen

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wurde Napoleon zu einer idyllischen menschenfreundlichen und freisinnigen Persoumlnlichkeit einem Freunde der Armen die wie der Dichter sagt sein Andenken in ihrer Huumltte fuumlr lange Zeit bewahren wuumlrden Dreiszligig Jahre spaumlter war der gutmuumltige Held zu einem grausamen Despoten gewor- den zu einem Usurpator von Macht und Freiheit der drei Millionen Menschen nur zur Befriedigung seines Ehrgeizes geopfert hatte Gerade jetzt wandelt sich die Legende wieder Wenn einige Dutzend Jahrhunderte daruumlber hin- gegangen sind werden die zukuumlnftigen Forscher angesichts dieser widersprechenden Berichte vielleicht das Dasein des Helden bezweifeln wie wir bisweilen das Dasein Buddhas bezweifeln und werden dann in ihm nur einen Sonnen- mythus oder eine Fortentwicklung der Herkulessage er- blicken Zweifellos werden sie sich uumlber diese Ungewiszligheit leicht troumlsten denn da sie eine bessere psychologische Er- kenntnis haben werden als wir heutzutage so werden sie wissen daszlig die Geschichte nur Mythen zu verewigen vermag

sect 3 Uumlberschwang (exageacuteration) und Einseitigkeit (simplisme) der Massengefuumlhle

Alle Gefuumlhle gute und schlechte die eine Masse aumluszligert haben zwei Eigentuumlmlichkeiten sie sind sehr einfach und sehr uumlberschwenglich Wie in so vielen andern naumlhert sich auch in dieser Beziehung der einzelne der einer Masse angehoumlrt den primitiven Wesen Gefuumlhlsabstufungen nicht zugaumlnglich sieht er die Dinge grob und kennt keine Uumlber- gaumlnge Der Uumlberschwang der Gefuumlhle in der Masse wird noch dadurch verstaumlrkt daszlig er sich durch Suggestion und Uumlbertragung sehr rasch ausbreitet und daszlig Anerkennung die er erfaumlhrt seinen Spannungsgrad erheblich steigertDie Einseitigkeit und Uumlberschwenglichkeit der Gefuumlhle der Massen bewahren sie vor Zweifel und Ungewiszligheit Den Frauen gleich gehen sie sofort bis zum Aumluszligersten Ein aus- gesprochener Verdacht wird sogleich zu unumstoumlszliglicher

30 GEFUumlHLE UND SITTLICHKEIT DER MASSEN

Gewiszligheit Ein Keim von Abneigung und Miszligbilligung den der einzelne kaum beachten wuumlrde waumlchst beim Ein- zelwesen der Masse sofort zu wildem HaszligDie Heftigkeit der Gefuumlhle der Massen wird besonders bei den ungleichartigen Massen durch das Fehlen jeder Verantwortlichkeit noch gesteigert Die Gewiszligheit der Straflosigkeit die mit der Groumlszlige der Menge zunimmt und das Bewuszligtsein einer bedeutenden augenblicklichen Ge- walt bedingt durch die Masse ermoumlglichen der Gesamtheit Gefuumlhle und Handlungen die dem einzelnen unmoumlglich sind In den Massen verlieren die Dummen Ungebildeten und Neidischen das Gefuumlhl ihrer Nichtigkeit und Ohn- macht an seine Stelle tritt das Bewuszligtsein einer rohen zwar vergaumlnglichen aber ungeheuren KraftUngluumlcklicherweise ruft der Uumlberschwang schlechter Ge- fuumlhle bei den Massen den vererbten Rest der Instinkte des Urmenschen herauf die beim alleinstehenden und verant- wortlichen einzelnen durch die Furcht vor Strafe gezuumlgelt werden So erklaumlrt sich die Neigung der Massen zu schlim- men AusschreitungenWenn die Massen geschickt beeinfluszligt werden koumlnnen sie heldenhaft und opferwillig sein Sie sind es sogar in viel houmlherem Maszlige als der einzelne Wir werden beim Studium der Massenmoral bald Gelegenheit haben auf diesen Punkt zuruumlckzukommenDa die Masse nur durch uumlbermaumlszligige Empfindungen erregt wird muszlig der Redner der sie hinreiszligen will starke Aus- druumlcke gebrauchen Zu den gewoumlhnlichen Beweismitteln der Redner in Volksversammlungen gehoumlrt Schreien Be- teuern Wiederholen und niemals darf er den Versuch machen einen Beweis zu erbringenDie gleiche Uumlbertreibung der Gefuumlhle verlangt die Masse von ihren Helden Ihre Eigenschaften und hervorragenden Tugenden muumlssen stets vergroumlszligert werden Im Theater fordert die Masse von dem Helden des Dramas Tugenden einen Mut und eine Moral wie sie im Leben niemals vor- kommen

UumlBERSCHWANG UND EINSEITIGKEIT 31

Man spricht mit Recht von der besonderen Optik des Thea- ters Zweifellos ist sie vorhanden aber ihre Gesetze haben nichts mit dem gesunden Menschenverstand und der Logik zu tun Die Kunst zur Masse zu sprechen ist von unter- geordnetem Rang erfordert jedoch ganz besondere Faumlhig- keiten Beim Lesen gewisser Stuumlcke kann man sich ihren Erfolg oft nicht erklaumlren Im allgemeinen sind die Theater- direktoren selbst uumlber den Erfolg sehr im Ungewissen wenn ihnen die Stuumlcke eingereicht werden denn um ur- teilen zu koumlnnen muumlszligten sie sich in eine Masse verwan- deln Wenn wir uns mit Einzelheiten befassen koumlnnten waumlre es leicht auch noch den bedeutenden Einfluszlig der Rasse aufzuzeigen Das Drama das in dem einen Lande die Masse begeistert hat oft in einem andern keinen oder nur einen durchschnittlichen Achtungserfolg weil es nicht die Kraumlfte spielen laumlszligt die das neue Publikum bewegen koumlnntenIch brauche nicht besonders zu betonen daszlig der Uumlber- schwang der Massen sich nur auf die Gefuumlhle und in keiner Weise auf den Verstand erstreckt Die Tatsache der bloszligen Zugehoumlrigkeit des einzelnen zur Masse bewirkt wie ich bereits zeigte eine betraumlchtliche Senkung der Voraussetzun- gen seines Verstandes In seinen Untersuchungen uumlber die Massenverbrechen hat Tarde das gleichfalls festgestellt

Dadurch erklaumlrt es sich auch daszlig gewisse Theaterstuumlcke die von allen Direktoren zuruumlckgewiesen wurden zuweilen auszligerordentliche Erfolge er- zielen wenn ihre Auffuumlhrung doch zufaumlllig zustande kommt Der Erfolg des Coppeacuteeschen Stuumlckes bdquoPour la Couronneldquo das zehn Jahre lang trotz des Namens seines Autors von allen Direktoren der ersten Theater abgelehnt wurde ist bekannt bdquoCharleys Tanteldquo wurde nach einer ganzen Reihe von Ablehnungen auf Kosten eines Boumlrsenmaklers aufgefuumlhrt und erzielte in Frank- reich zweihundert in England uumlber tausend Auffuumlhrungen Ohne die ge- nannte Erklaumlrung daszlig sich die Theaterdirektoren nicht in die Seele der Masse versetzen koumlnnen waumlre es unbegreiflich daszlig maszliggebende Einzelne die Wert darauf legen sich nicht durch schwere Irrtuumlmer bloszligzustellen solche Fehlurteile faumlllen koumlnnen

32 GEFUumlHLE UND SITTLICHKEIT DER MASSEN

sect 4 Unduldsamkeit Herrschsucht (autoritarisme) und Konservatismus der Massen

Die Massen kennen nur einfache und uumlbertriebene Gefuumlhle Meinungen Ideen Glaubenssaumltze die man ihnen einfloumlszligt werden daher nur in Bausch und Bogen von ihnen ange- nommen oder verworfen und als unbedingte Wahrheiten oder ebenso unbedingte Irrtuumlmer betrachtet So geht es stets mit Uumlberzeugungen die auf dem Wege der Beeinflussung nicht durch Nachdenken erworben wurden Jedermann weiszlig wie unduldsam die religioumlsen Glaubenssaumltze sind und welche Gewaltherrschaft sie uumlber die Seelen ausuumlbenDa die Masse in das was sie fuumlr Wahrheit oder Irrtum haumllt keinen Zweifel setzt andererseits ein klares Bewuszligt- sein ihrer Kraft besitzt so ist sie ebenso eigenmaumlchtig wie unduldsam Der einzelne kann Widerspruch und Ausein- andersetzung anerkennen die Masse duldet sie niemals In den oumlffentlichen Versammlungen wird der leiseste Wider- spruch eines Redners sofort mit Wutgeschrei und groben Schmaumlhungen beantwortet und wenn der Redner beharr- lich ist folgen leicht Taumltlichkeiten und der Redner wird hinausgeworfen Ohne die einschuumlchternde Anwesenheit der Sicherheitsbehoumlrde wuumlrde man oft den Gegner lynchen Herrschsucht und Unduldsamkeit finden sich bei allen Ar- ten der Massen aber in ganz verschiedenen Graden und hier kommt wieder der Grundbegriff der Rasse zur Gel- tung die alles Fuumlhlen und Denken der Menschen beherrscht Herrschsucht und Unduldsamkeit sind besonders bei den lateinischen Massen ausgebildet und zwar in solchem Maszlige daszlig es ihnen fast gelungen ist das Gefuumlhl der per- soumlnlichen Unabhaumlngigkeit das bei den Angelsachsen so maumlchtig ist bei ihnen voumlllig zu vernichten Die lateinischen Massen haben nur Gefuumlhl fuumlr die Gesamt-Unabhaumlngigkeit ihrer Sekte und bezeichnend fuumlr diese Unabhaumlngigkeit ist das Beduumlrfnis alle Andersglaumlubigen sofort und gewaltsam fuumlr ihren eigenen Glauben zu gewinnen Von der Inquisi- tion angefangen konnten sich bei den lateinischen Voumllkern

die Jakobiner aller Zeiten niemals zu einem andern Frei- heitsbegriff aufschwingenHerrschsucht und Unduldsamkeit sind fuumlr die Massen sehr klare Gefuumlhle die sie ebenso leicht ertragen wie sie sie in die Tat umsetzen Die Massen erkennen die Macht an und werden durch Guumlte die sie leicht fuumlr eine Art Schwauml- che halten nur maumlszligig beeinfluszligt Niemals galten ihre Sym- pathien den guumltigen Herren sondern den Tyrannen von denen sie kraftvoll beherrscht wurden Ihnen haben sie stets die groumlszligten Denkmaumller errichtet Wenn sie den ge- stuumlrmten Despoten gern mit Fuumlszligen treten so geschieht das weil er seine Macht eingebuumlszligt hat und in die Reihe der Schwachen eingereiht wird die man verachtet und nicht fuumlrchtet Das Urbild des Massenhelden wird stets Caumlsaren- charakter zeigen Sein Helmbusch verfuumlhrt sie seine Macht floumlszligt ihnen Achtung ein und sein Schwert fuumlrchten sieStets bereit zur Auflehnung gegen die schwache Obrigkeit beugt sich die Masse knechtisch vor einer starken Herr- schaft Ist die Haltung der Obrigkeit schwankend so wen- det sich die Masse die stets ihren aumluszligersten Gefuumlhlen folgt abwechselnd von der Anarchie zur Sklaverei von der Sklaverei zur AnarchieUumlbrigens wuumlrde man die Psychologie der Massen ganz miszligverstehen wenn man an die Vorherrschaft ihrer revo- lutionaumlren Triebe glaubte Nur ihre Gewalttaten taumluschen uns uumlber diesen Punkt Die Ausbruumlche der Empoumlrung und Zerstoumlrung sind immer nur von kurzer Dauer Die Massen werden zu sehr vom Unbewuszligten geleitet und sind also dem Einfluszlig uralter Vererbung zu sehr unterworfen als daszlig sie nicht aumluszligerst beharrend sein muumlszligten Wenn sie sich selbst uumlberlassen werden erlebt man bald daszlig sie ihrer Zuumlgellosigkeit uumlberdruumlssig instinktiv der Knecht- schaft zusteuern Die kuumlhnsten und schroffsten Jakobiner stimmten Bonaparte entschieden zu als er alle Freiheiten aufhob und seine eiserne Hand schwer fuumlhlen lieszligDie Geschichte der Voumllkerrevolutionen ist fast unverstaumlnd- lich wenn man die von Grund aus beharrenden Trieb-

34 GEFUumlHLE UND SITTLICHKEIT DER MASSEN

kraumlfte der Massen verkennt Sie wuumlnschen zwar die Namen ihrer Einrichtungen zu wechseln und um diesen Wechsel zu vollziehen machen sie zuweilen sogar groszlige Revolu- tionen durch aber der Kern dieser Einrichtungen ist zu sehr Ausdruck der erblichen Beduumlrfnisse der Rasse als daszlig sie nicht immer wiederkehren muumlszligten Die unauf- houmlrliche Veraumlnderlichkeit der Massen erstreckt sich nur auf ganz aumluszligerliche Dinge In Wahrheit haben sie nicht weiter erklaumlrbare Beharrungsinstinkte und wie alle Primitiven eine fetischistische Ehrfurcht vor den Uumlberlieferungen einen unbewuszligten Abscheu vor allen Neuerungen die ihre realen Lebensbedingungen aumlndern koumlnnten Haumltte die De- mokratie in der Zeit der Erfindung der mechanischen Web- stuumlhle der Dampfmaschine der Eisenbahnen die Macht besessen uumlber die sie heute verfuumlgt so waumlre die Verwirk- lichung dieser Erfindungen unmoumlglich gewesen Es ist ein Gluumlck fuumlr den Fortschritt der Kultur daszlig die Uumlbermacht der Massen erst dann geboren wurde als die groszligen Ent- deckungen der Wissenschaft und der Industrie vollendetwaren

sect 5 Sittlichkeit der Massen

Wenn wir mit dem Begriff Sittlichkeit den Sinn fuumlr die Achtung vor gewissen sozialen Gebraumluchen und die be- staumlndige Unterdruumlckung eigennuumltziger Antriebe verbinden dann liegt es auf der Hand daszlig die Massen zu triebhaft und veraumlnderlich sind um fuumlr Sittlichkeit empfaumlnglich zu sein Wenn wir aber unter dem Begriff der Sittlichkeit das augenblickliche Auftreten gewisser Eigenschaften wie Ent- sagung Ergebenheit Uneigennuumltzigkeit Selbstaufopferung Rechtsgefuumlhl verstehen so koumlnnen wir sagen die Massen sind oft eines sehr hohen Maszliges von Sittlichkeit faumlhigDie wenigen Psychologen die sich mit dem Studium der Massen befaszligt haben taten es nur in bezug auf ihre ver- brecherischen Handlungen Und in Anbetracht der Haumlufig- keit solcher Taten haben sie die Massen als sittlich sehr tiefstehend beurteilt

SITTLICHKEIT 35

Gewiszlig erbringen sie oft den Beweis dafuumlr aber wie kommtdas Nur weil die Triebe zerstoumlrerischer Wildheit Uumlber- reste aus der Urzeit sind die in jedem von uns schlum- mern Fuumlr den einzelnen waumlre es zu gefaumlhrlich diese Triebe zu befriedigen waumlhrend ihm sein Untertauchen in einer unverantwortlichen Masse durch die ihm Straflosig- keit gesichert ist voumlllige Freiheit der Triebbefriedigung gewaumlhrt Da wir diese Zerstoumlrungstriebe gewoumlhnlich nicht an unseren Mitmenschen ausuumlben koumlnnen so beschraumlnken wir uns darauf sie an Tieren auszulassen Derselben Quelle entspringen die Jagdleidenschaft und die Grausamkeit der Massen Die Masse die ein wehrloses Opfer langsam zu Tode quaumllt gibt den Beweis feiger Grausamkeit fuumlr den Philosophen aber ist sie in hohem Maszlige mit der Grausam- keit der Jaumlger verwandt die dutzendweise zusammen- kommen um mit Vergnuumlgen zu sehen daszlig ihre Hunde einem ungluumlcklichen Hirsch den Bauch aufreiszligenWenn nun die Masse imstande ist Mordtaten Brandstif- tungen und Verbrechen aller Art zu begehen so ist sie ebenso zu Taten der Hingabe Aufopferung und Uneigen- nuumltzigkeit faumlhig sogar in houmlherem Maszlige als der einzelne Besonders wirkt man auf den einzelnen in der Masse wenn man sich auf die Gefuumlhle fuumlr Ruhm und Ehre Re- ligion und Vaterland beruft Die Geschichte ist voller Bei- spiele dieser Art wie sie die Kreuzzuumlge bieten und die Freiwilligen von 793 Nur die Gesamtheiten sind groszliger Uneigennuumltzigkeit und Aufopferung faumlhig Wie viele Mas- sen haben sich fuumlr Uumlberzeugungen und Ideen die sie kaum verstanden heldenhaft hinschlachten lassen Massen die in Streik treten streiken oft wohl mehr um einem Kampfruf zu folgen als um einen Lohnzuschlag zu erlangen Das persoumlnliche Interesse ist bei den Massen selten eine maumlch- tige Triebkraft waumlhrend es bei dem einzelnen fast den ausschlieszliglichen Antrieb bildet Es ist wahrlich nicht der Eigennutz der die Massen in so viele Kriege fuumlhrte die fuumlr ihren Verstand unbegreiflich waren und in denen sie

36 GEFUumlHLE UND SITTLICHKEIT DER MASSEN

sich so leicht niedermetzeln lieszligen wie die Lerchen die durch den Spiegel des Jaumlgers hypnotisiert werdenSelbst die ausgemachtesten Schufte nehmen oft allein durch die Tatsache der Vereinigung in einer Masse sehr strenge moralische Grundsaumltze an Taine zeigt daszlig die Menschen- schlaumlchter der Septembertage [792] die bei ihren Opfern vorgefundenen Brieftaschen und Schmuckstuumlcke die sie leicht an sich nehmen konnten auf den Tisch der Ausschuumlsse nieder- legten Die heulende wimmelnde elende Volksmasse die in der Revolution vom Jahre 848 in die Tuilerien eindrang nahm nichts von den Gegenstaumlnden die sie blendeten und von denen ein jeder Brot fuumlr viele Tage bedeutet haumltteDiese Versittlichung des einzelnen durch die Masse ist ge- wiszlig keine feste Regel aber sie ist haumlufig zu beobachten und selbst unter viel weniger ernsten Umstaumlnden als den von mir angefuumlhrten Wie ich bereits sagte verlangt die Masse im Theater von dem Helden des Dramas uumlbertrie- ben hohe Tugenden und selbst eine Zuhoumlrerschaft die aus niedrigen Elementen zusammengesetzt ist erweist sich oft- mals als sehr pruumlde Der berufsmaumlszligige Lebemann der Zu- haumllter der Bummler und Sportvogel murrt oft bei einer etwas gewagten Szene oder einer schluumlpfrigen Rede die doch im Vergleich zu ihren uumlbrigen Unterhaltungen recht harmlos istFroumlnen die Massen also oft niedrigen Instinkten so bieten sie manchmal auch wieder Beispiele hochsittlicher Hand- lungsweise Wenn Uneigennuumltzigkeit Entsagung bedin- gungslose Hingabe an ein eingebildetes oder wirkliches Ideal sittliche Tugenden sind dann kann man sagen daszlig die Massen diese Tugenden oft in einem so hohen Grade besitzen wie ihn die weisesten Philosophen selten erreicht haben Gewiszlig uumlben sie diese Tugenden unbewuszligt aus aber darauf kommt es nicht an Haumltten die Massen zuweilen nachgedacht und ihren eigenen Vorteil wahrgenommen dann haumltte sich vielleicht keine Kultur auf der Oberflaumlche unseres Planeten entfaltet und die Menschheit waumlre ohne Geschichte geblieben

SITTLICHKEIT 37

3 KAPITEL

Ideen Urteile und Einbildungskraft der Massen

sect Die Ideen der Massen

Die Untersuchungen einer fruumlheren Arbeit von mir uumlber die Bedeutung der Ideen fuumlr die Entwicklung der Voumllker haben bewiesen daszlig sich jede Zivilisation aus einer ge- ringen Anzahl selten erneuter Grundideen entwickelt Ich habe dort dargelegt wie sich diese Ideen in der Seele der Massen festsetzen wie muumlhsam sie in sie eindringen und welche Macht sie dann gewinnen Ich zeigte wie die gro- szligen historischen Umwaumllzungen meistens aus der Veraumln- derung dieser Grundideen entstehenDa ich diesen Gegenstand hinreichend behandelt habe so moumlchte ich nicht darauf zuruumlckkommen und will mich dar- auf beschraumlnken einige Worte uumlber die Ideen zu sagen die den Massen zugaumlnglich sind und unter welchen Formen sie sie erfassenMan kann sie in zwei Klassen einteilen Zu der einen zaumlhlen wir die zufaumllligen und fluumlchtigen Ideen die unter dem Einfluszlig des Augenblicks entstehen z B die Vorliebe fuumlr eine Person oder eine Lehre Zu der anderen die Grundideen denen Umgebung Vererbung Glaube groszlige Dauerhaftigkeit verleihen wie z B die religioumlsen Glau- benssaumltze von ehemals die demokratischen und sozialen Ideen von heuteMan kann sich die Grundideen als die Wassermasse eines langsam dahinstroumlmenden Flusses die fluumlchtigen Ideen als die kleinen immer wechselnden Wellen vorstellen die seine Oberflaumlche erregen und obwohl ohne wirkliche Be- deutung sichtbarer sind als der Fluszliglauf selbstIn unseren Tagen geraten die Grundanschauungen von denen unsere Vaumlter lebten immer mehr ins Wanken und gleichzeitig erweisen sich die Einrichtungen die auf ihnen beruhen als voumlllig erschuumlttert Taumlglich bilden sich viele

jener kleinen fluumlchtigen Ideen von denen ich eben sprach aber nur wenige von ihnen scheinen uumlberwiegenden Ein- fluszlig gewinnen zu sollenWelche Ideen den Massen auch suggeriert werden moumlgen zur Wirkung koumlnnen sie nur kommen wenn sie in sehr einfacher Form aufzunehmen sind und sich in ihrem Geist in bildhafter Erscheinung widerspiegeln Kein Band logi- scher Uumlbereinstimmung oder Folgerichtigkeit verbindet diese Vorstellungsbilder miteinander sie koumlnnen einander vertreten wie die Glaumlser der Laterna magica die der Vor- fuumlhrer der Schachtel entnimmt in der sie uumlbereinander- geschichtet lagen Man wird also einsehen daszlig in der Masse die entgegengesetztesten Vorstellungen einander fol- gen Unter dem Einfluszlig einer der verschiedenen in ihrem Verstand aufgespeicherten Ideen folgt die Masse dem Zu- fall des Augenblicks und wird infolgedessen die verschie- denartigsten Taten begehen Der voumlllige Mangel an kriti- schem Geist laumlszligt sie die Widerspruumlche nicht sehenDiese Erscheinung tritt uumlbrigens nicht nur bei den Massen auf Man trifft sie auch bei vielen einzelnen nicht nur bei Primitiven Ich habe es bei gelehrten Hindus die an unse- ren europaumlischen Universitaumlten studierten und promovier- ten beobachtet Ohne die feste Grundlage ihrer ererbten religioumlsen oder sozialen Ideen im geringsten zu beeintraumlch- tigen hatte sich daruumlber eine Schicht abendlaumlndischer mit jenen nicht verwandter Anschauungen gelegt Bei zufaumllligen Gelegenheiten kamen nun bald diese bald jene in Worten oder Taten zum Vorschein und derselbe Mensch zeigte so die offensichtlichsten Widerspruumlche Freilich Wider- spruumlche mehr scheinbarer als wirklicher Art denn nur die ererbten Vorstellungen sind beim einzelnen maumlchtig genug um zu Triebkraumlften seines Verhaltens zu werden Nur dann wenn der Mensch infolge von Kreuzungen aus ver- schiedenen Erbmassen beeinfluszligt wird koumlnnen sich seine Handlungen wirklich von einem Augenblick zum anderen voumlllig widersprechen Es ist unnoumltig diese Erscheinungen hier besonders zu betonen obwohl sie von wesentlicher

DIE IDEE DER MASSEN 39

psychologischer Bedeutung sind Meiner Meinung nach be- darf es zu ihrem Verstaumlndnis wenigstens zehnjaumlhriger Rei- sen und BeobachtungenDa die Ideen den Massen nur in sehr einfacher Gestalt zu- gaumlnglich sind muumlssen sie sich um volkstuumlmlich zu werden oft voumlllig umformen Wenn es sich um hochwertige philo- sophische oder wissenschaftliche Ideen handelt kann man die grundlegenden Veraumlnderungen feststellen deren sie beduumlrfen um von Stufe zu Stufe bis zum Standort der Massen hinabzusteigen Diese Veraumlnderungen sind beson- ders abhaumlngig von der Rasse der die Masse angehoumlrt doch sie verkleinern oder vereinfachen stets Daher gibt es in Wahrheit vorn sozialen Gesichtspunkt keine Rangordnung der Ideen d h mehr oder weniger hohe Anschauungen Schon durch die Tatsache daszlig eine Idee zu den Massen gelangt und hier zu wirken vermag wird sie beinahe all dessen entkleidet was ihre Groumlszlige und Erhabenheit aus- machteDer Wert einer Idee ihrer Rangordnung nach ist uumlbrigens bedeutungslos nur die von ihr erzeugten Wirkungen sind zu beachten Die christlichen Ideen des Mittelalters die demokratischen Ideen des 8 Jahrhunderts die sozialisti- schen Ideen der Gegenwart stehen gewiszlig nicht besonders hoch man kann sie in philosophischer Beziehung als ziem- lich armselige Irrtuumlmer betrachten aber ihre Bedeutung war und ist ungeheuer und noch lange werden sie die wesentlichsten Mittel zur Fuumlhrung der Staaten bleibenAber selbst wenn die Idee die Veraumlnderung durchgemacht hat durch die sie fuumlr die Massen annehmbar wurde wirkt sie nur wenn sie ndash durch verschiedene Vorgaumlnge die noch zu erforschen sind ndash in das Unbewuszligte eingedrungen und zu einem Gefuumlhl geworden ist Diese Umwandlung dauert im allgemeinen sehr langeMan darf nicht glauben eine Idee koumlnne durch den Beweis ihrer Richtigkeit selbst bei gebildeten Geistern Wirkungen erzielen Man wird davon uumlberzeugt wenn man sieht wie wenig Einfluszlig die klarste Beweisfuumlhrung auf die Mehrzahl

40 IDEEN URTEILE UND EINBILDUNGSKRAFT DER MASSEN

der Menschen hat Der unumstoumlszligliche Beweis kann von einem geuumlbten Zuhoumlrer angenommen worden sein aber das Unbewuszligte in ihm wird ihn schnell zu seinen ur- spruumlnglichen Anschauungen zuruumlckfuumlhren Sehen wir ihn nach einigen Tagen wieder wird er aufs neue mit genau denselben Worten seine Einwaumlnde vorbringen Er steht tatsaumlchlich unter dem Einfluszlig fruumlherer Anschauungen die aus Gefuumlhlen gewachsen sind und nur sie wirken auf die Motive unserer Worte und TatenHat sich aber eine Idee endlich in die Seele der Massen eingegraben dann entwickelt sie eine unwiderstehliche Macht und es ergibt sich eine ganze Reihe von Wirkungen Die philosophischen Ideen die zur Franzoumlsischen Revolu- tion fuumlhrten brauchten fast ein Jahrhundert um in der Volksseele Wurzel zu fassen Man weiszlig welche unwider- stehliche Gewalt sie dann entfalteten Der Ansturm eines ganzen Volkes zur Eroberung der sozialen Gleichheit zur Verwirklichung begrifflicher Rechte und idealer Freiheiten erschuumltterte die abendlaumlndische Welt bis auf den Grund Zwanzig Jahre lang fielen die Voumllker uumlbereinander her und Europa lernte Hekatomben kennen die mit denen des Dschingiskhan und Tamerlan zu vergleichen sind Nie trat so klar zutage was die Leidenschaft der Ideen die die Faumlhigkeit haben die Richtung der Gefuumlhle zu aumlndern her- vorbringen kannIdeen brauchen lange Zeit um sich in der Masse festzu- setzen und sie brauchen nicht weniger Zeit um wieder daraus zu verschwinden Auch sind die Massen in bezug auf Ideen immer mehrere Generationen hinter den Wissen- schaftlern und Philosophen zuruumlck Alle Staatsmaumlnner wis- sen heute wieviel Irrtum in den Grundideen steckt die ich soeben anfuumlhrte da aber ihr Einfluszlig noch sehr stark ist so sind sie genoumltigt nach Grundsaumltzen zu regieren an deren Wahrheit sie nicht mehr glauben

DIE IDEE DER MASSEN 41

sect 2 Die Urteile der Massen

Man kann nicht mit unbedingter Bestimmtheit sagen daszlig Massen durch Schluszligfolgerungen nicht zu beeinf lussen waumlren Aber die Beweise die sie anwenden und die wel- che auf sie wirken scheinen vom Standpunkt der Logik so untergeordneter Art daszlig man sie allein mit Hilfe der Analogie als Schluumlsse gelten lassen kannDie untergeordneten Schluszligfolgerungen beruhen ebenso wie die houmlherentwickelten auf Ideenverbindungen aber die von den Massen in Verbindung gebrachten Ideen sind nur durch Aumlhnlichkeit und Aufeinanderfolge verknuumlpft Sie verketten sich wie die des Eskimo der aus Erfahrung weiszlig daszlig das Eis ein durchsichtiger Koumlrper im Munde schmilzt und der daraus schlieszligt daszlig Glas ebenfalls ein durch- sichtiger Koumlrper auch im Munde schmelzen muumlsse oder wie die des Wilden der sich einbildet wenn er das Herz eines tapferen Feindes verzehre erwerbe er dessen Tapfer- keit oder auch wie die des Arbeiters der von seinem Arbeitgeber ausgebeutet wurde und daraus schlieszligt daszlig alle Unternehmer Ausbeuter seienVerknuumlpfung aumlhnlicher Dinge wenn sie auch nur ober- flaumlchliche Beziehungen zueinander haben und vorschnelle Verallgemeinerung von Einzelfaumlllen das sind die Merk- male der Massenlogik Schluszligfolgerungen solcher Art wer- den den Massen durch geschickte Redner immer wieder vorgesetzt Von ihnen allein lassen sie sich beeinflussen Eine logische Kette unumstoumlszliglicher Urteile wuumlrde fuumlr die Massen voumlllig unfaszligbar sein und deshalb darf man sagen daszlig sie gar nicht oder falsch urteilen und durch Logik nicht zu beeinflussen sind Oft staunen wir beim Lesen uumlber die Schwaumlche gewisser Reden die ungeheuren Ein- druck auf ihre Zuhoumlrer gemacht haben aber man vergiszligt daszlig sie dazu bestimmt waren Massen hinzureiszligen und nicht dazu von Philosophen gelesen zu werden Der Red- ner der mit der Masse in inniger Verbindung steht weiszlig die Bilder hervorzurufen durch die sie verfuumlhrt wird

Gelingt ihm das so ist sein Ziel erreicht und ein Band voll Reden wiegt die wenigen Phrasen nicht auf durch die es gelang die Seelen so zu verfuumlhren daszlig sie sich uumlber- zeugen lieszligenEs ist uumlberfluumlssig zu bemerken daszlig die Unfaumlhigkeit der Massen richtig zu urteilen ihnen jede Moumlglichkeit kriti- schen Geistes raubt das heiszligt die Faumlhigkeit Wahrheit und Irrtum voneinander zu unterscheiden und ein scharfes Urteil abzugeben Die Urteile die die Massen annehmen sind nur aufgedraumlngte niemals gepruumlfte Urteile Viele einzelne erheben sich in dieser Beziehung nicht uumlber die Masse Die Leichtigkeit mit der gewisse Meinungen all- gemein werden haumlngt vor allem mit der Unfaumlhigkeit der meisten Menschen zusammen sich auf Grund ihrer beson- deren Schluumlsse eine eigne Meinung zu bilden

sect 3 Die Einbildungskraft der Massen

Die auffallende Einbildungskraft der Massen ist wie bei allen Wesen fuumlr die logisches Denken nicht in Frage kommt leicht aufs tiefste zu erregen Die Bilder die in ihrem Geist durch eine Person ein Ereignis einen Un- gluumlcksfall hervorgerufen werden sind fast so lebendig wie die wirklichen Dinge Die Massen befinden sich ungefaumlhr in der Lage eines Schlaumlfers dessen Denkvermoumlgen im Augenblick aufgehoben ist so daszlig in seinem Geist Bilder von aumluszligerster Heftigkeit aufsteigen die sich aber schnell verfluumlchtigen wuumlrden wenn die Uumlberlegung mitzureden haumltte Fuumlr die Massen die weder zur Uumlberlegung noch zum logischen Denken faumlhig sind gibt es nichts Unwahrschein- liches Vielmehr die unwahrscheinlichsten Dinge sind in der Regel die auffallendstenDaher werden die Massen stets durch die wunderbaren und legendaumlren Seiten der Ereignisse am staumlrksten er- griffen Das Wunderbare und das Legendaumlre sind tatsaumlch- lich die wahren Stuumltzen einer Kultur Der Schein hat in der Geschichte stets eine groumlszligere Rolle gespielt als das

DIE EINBILDUNGSKRAFT DER MASSEN 43

Sein Das Unwirkliche hat stets den Vorrang vor dem WirklichenDie Massen koumlnnen nur in Bildern denken und lassen sich nur durch Bilder beeinflussen Nur diese schrecken oder verfuumlhren sie und werden zu Ursachen ihrer Taten Darum haben auch Theatervorstellungen die das Bild in seiner klarsten Form geben stets einen ungeheuren Einfluszlig auf die Massen Fuumlr den roumlmischen Poumlbel bildeten einst Brot und Spiele das Gluumlcksideal Dies Ideal hat sich im Laufe der Zeiten wenig geaumlndert Nichts erregt die Phantasie des Volkes so stark wie ein Theaterstuumlck Alle Versammelten empfinden gleichzeitig dieselben Gefuumlhle und wenn sie sich nicht sofort in Taten umsetzen so geschieht das nur weil auch der unbewuszligte Zuschauer nicht im Zweifel sein kann daszlig er das Opfer einer Taumluschung ist und uumlber ein- gebildete Abenteuer geweint oder gelacht hat Manchmal jedoch sind die Gefuumlhle die durch diese Bilder suggeriert werden stark genug um wie die gewoumlhnlichen Suggestio- nen danach zu streben sich in Taten umzusetzen Man hat schon oft die Geschichte von jenem Volkstheater erzaumlhlt das den Schauspieler der den Verraumlter spielte nach Schluszlig der Vorstellung schuumltzen muszligte um ihn den Angriffen der uumlber seine vermeintlichen Verbrechen empoumlrten Zuschauer zu entziehen Das ist meiner Meinung nach eins der tref- fendsten Beispiele fuumlr den geistigen Zustand der Massen und besonders fuumlr die Leichtigkeit mit der man sie beein- f luszligt Das Unwirkliche ist in ihren Augen fast ebenso wichtig wie das Wirkliche Sie haben eine auffallende Nei- gung keinen Unterschied zu machenIn der Phantasie des Volkes ist die Macht der Eroberer und die Kraft der Staaten begruumlndet Wenn man auf sie Ein- druck macht reiszligt man die Massen mit Alle bedeutenden geschichtlichen Ereignisse die Entstehung des Buddhismus des Christentums des Islams der Reformation der Revolu- tion und in unserer Zeit das drohende Hereinbrechen des Sozialismus sind die unmittelbaren oder mittelbaren Folgen starker Eindruumlcke auf die Phantasie der Massen

44 IDEEN URTEILE UND EINBILDUNGSKRAFT DER MASSEN

Auch die groszligen Staatsmaumlnner aller Zeiten und Laumlnder die unumschraumlnkten Gewaltherrscher einbegriffen haben die Volksphantasie als Stuumltze ihrer Macht betrachtet Nie- mals haben sie versucht gegen sie zu regieren bdquoIch habe den Krieg in der Vendeacutee beendigt indem ich katholisch wurdeldquo sagte Napoleon im Staatsrat bdquoin Aumlgypten habe ich dadurch Fuszlig gefaszligt daszlig ich mich zum Mohammedaner machte und die italienischen Priester gewann ich indem ich ultramontan wurde Wenn ich uumlber ein juumldisches Volk herrschte wuumlrde ich den Salomonischen Tempel wieder aufbauen lassenldquo Seit Alexander und Caumlsar hat es viel- leicht niemals ein groszliger Mann besser verstanden Ein- druck auf die Massenseele zu machen es war Napoleons staumlndige Sorge sie zu beeinflussen Von ihr traumlumte er bei seinen Siegen in seinen Reden seinen Abhandlungen bei all seinen Taten ndash und noch auf seinem Totenbett traumlumte er davonWie macht man Eindruck auf die Phantasie der Massen Wir werden es gleich sehen Einstweilen sei nur gesagt daszlig dieser Zweck nie durch den Versuch erreicht wird auf Geist und Vernunft zu wirken Antonius brauchte keine ge- lehrte Rhetorik um das Volk gegen Caumlsars Moumlrder aufzu- wiegeln Er las ihnen Caumlsars Testament vor und zeigte ihnen seinen LeichnamAlles was die Phantasie der Massen erregt erscheint in der Form eines packenden klaren Bildes das frei ist von jedem Deutungszubehoumlr und nur durch einige wunderbare Tatsachen gestuumltzt einen groszligen Sieg ein groszliges Wunder ein groszliges Verbrechen eine groszlige Hoffnung Sie pflegt die Dinge in Bausch und Bogen aufzunehmen und ohne jemals ihre Entwicklung zu beachten Hundert kleine Verbrechen oder hundert kleine Unfaumllle werden auf die Phantasie der Massen oft nicht die geringste Wirkung ausuumlben wohl aber wird sie durch ein einziges unerhoumlrtes Verbrechen ein einziges groszliges Ungluumlck tief erschuumlttert wenn es auch viel weniger blutig ist als die hundert kleinen Unfaumllle zu- sammengenommen Die groszlige Grippe-Epidemie an der

45DIE EINBILDUNGSKRAFT DER MASSEN

vor einigen Jahren in Paris fuumlnftausend Menschen inner- halb weniger Wochen starben machte auf die Volksphan- tasie wenig Eindruck Freilich wandelte sich diese Heka- tombe im wahrsten Sinne nicht in einige sichtbare Bilder sondern nur in die taumlglichen statistischen Berichte um Ein Ungluumlcksfall der statt fuumlnftausend nur fuumlnfhundert Men- schenleben kostet aber an einem einzigen Tage auf einem oumlffentlichen Platz in einem sichtbaren Geschehnis eintraumlte z B der Einsturz des Eiffelturms wuumlrde einen ungeheuren Eindruck auf die Einbildungskraft gemacht haben Der mutmaszligliche Verlust eines Ozeandampfers von dem man irrtuumlmlich glaubte er sei auf hoher See untergegangen erregte die Massenphantasie acht Tage lang auszligerordent- lich Die Statistik zeigt nun aber daszlig in demselben Jahre tausend groszlige Schiffe Schiffbruch erlitten Aber um diese allmaumlhlichen Verluste die auf andre Art recht erhebliche Opfer an Menschenleben und Handelswerten forderten kuumlmmerten sich die Massen keinen AugenblickAlso nicht die Tatsachen als solche erregen die Volksphan- tasie sondern die Art und Weise wie sie sich vollziehen Sie muumlssen durch Verdichtung ndash wenn ich so sagen darf ndash ein packendes Bild hervorbringen das den Geist erfuumlllt und ergreift Die Kunst die Einbildungskraft der Massen zu erregen ist die Kunst sie zu regieren

4 KAPITEL

Die religioumlsen Formen die alle Uumlberzeugungen der Masse annehmen

Wir haben gesehen daszlig die Massen nicht uumlberlegen daszlig sie Ideen in Bausch und Bogen annehmen oder verwerfen weder Auseinandersetzung noch Widerspruch dulden und daszlig die Einfluumlsse die auf sie wirken den Bereich ihrer Vernunft gaumlnzlich erfuumlllen und danach streben sich so- gleich in die Tat umzusetzen Wir haben gezeigt daszlig die

46 DIE RELIGIOumlSEN FORMEN DER MASSENUumlBERZEUGUNGEN

entsprechend beeinfluszligten Massen bereit sind sich fuumlr das Ideal zu opfern das man ihnen suggeriert hat Wir haben schlieszliglich festgestellt daszlig sie nur heftige und extreme Gefuumlhle kennen Die Zuneigung wird bei ihnen schnell zur Anbetung und kaum geborene Abneigung wandelt sich in Haszlig Diese allgemeinen Merkmale lassen uns die Art ihrer Uumlberzeugungen ahnenDie naumlhere Untersuchung der Uumlberzeugungen der Masse sowohl in den Zeiten des Glaubens als in den groszligen politischen Erhebungen wie etwa im vorigen Jahrhundert ergibt daszlig diese Uumlberzeugungen stets eine besondere Form aufweisen die ich nicht besser zu bezeichnen weiszlig als mit dem Namen religioumlsen GefuumlhlsDies Gefuumlhl besitzt sehr einfache Kennzeichen Anbetung eines vermeintlichen houmlheren Wesens Furcht vor der Ge- walt die ihm zugeschrieben wird blinde Unterwerfung unter seine Befehle Unfaumlhigkeit seine Glaubenslehren zu untersuchen die Bestrebung sie zu verbreiten die Neigung alle als Feinde zu betrachten die sie nicht an- nehmen Ob sich ein derartiges Gefuumlhl auf einen unsicht- baren Gott auf ein steinernes Idol auf einen Helden oder auf eine politische Idee richtet ndash sobald es die angefuumlhrten Merkmale aufweist ist es immer religioumlser Art Das Uumlber- natuumlrliche und das Wunderbare sind uumlberall darin wieder- zuerkennen Die Massen umkleiden das politische Bekennt- nis oder den siegreichen Anfuumlhrer der sie fuumlr den Augen- blick zur Schwaumlrmerei hinreiszligt mit derselben geheimnis- vollen MachtNicht nur dann ist man religioumls wenn man eine Gottheit anbetet sondern auch dann wenn man alle Kraumlfte seines Geistes alle Unterwerfung seines Willens alles Gluten des Fanatismus dem Dienst einer Macht oder eines Wesens weiht das zum Ziele und Fuumlhrer der Gedanken und Handlungen wirdMit dem religioumlsen Gefuumlhl sind gewoumlhnlich Unduldsamkeit und Fanatismus verbunden Sie sind unausbleiblich bei allen die das Geheimnis des irdischen und himmlischen

DIE RELIGIOumlSEN FORMEN DER MASSENUumlBERZEUGUNGEN 47

Gluumlckes zu besitzen glauben Die beiden Eigenschaften sind bei allen in einer Gruppe vereinigten Menschen wiederzu- finden wenn irgendein Glaube sie erhebt Die Jakobiner der Schreckenstage waren ebenso tief religioumls wie die Ka- tholiken der Inquisition und ihr grausamer Eifer ent- sprang der gleichen QuelleDie Uumlberzeugungen der Massen nehmen die Eigenschaften der blinden Unterwerfung der grausamen Unduldsamkeit und des Beduumlrfnisses nach Verbreitung an die mit dem religioumlsen Gefuumlhl verbunden sind so daszlig man also sagen kann alle ihre Uumlberzeugungen haben eine religioumlse Form Der Held dem die Masse zujubelt ist in der Tat ein Gott fuumlr sie Napoleon war es fuumlnfzehn Jahre lang und keine Gottheit hat eifrigere Anbeter gehabt auch sandte keine die Menschen leichter in den Tod Die Heiden- und Chri- stengoumltter uumlbten niemals eine vollkommenere Herrschaft uumlber die Seelen ausAlle Stifter religioumlser und politischer Glaubensbekenntnisse haben sie nur dadurch begruumlndet daszlig sie es verstanden den Massen jene Gefuumlhle des religioumlsen Fanatismus ein- zufloumlszligen die bewirken daszlig der Mensch sein Gluumlck in der Anbetung findet und ihn dazu treiben sein Leben fuumlr sein Idol zu opfern So war es zu allen Zeiten In seinem schouml- nen Buch uumlber das roumlmische Gallien macht Pustel de Cou- langes darauf aufmerksam daszlig das roumlmische Kaiserreich sich keineswegs durch seine Kraft sondern durch die reli- gioumlse Bewunderung erhielt die es einfloumlszligte bdquoEs waumlre in der Geschichte ohne Beispielldquo sagt er mit Recht bdquodaszlig eine Regierung die von der Bevoumllkerung verabscheut wird fuumlnf Jahrhunderte gewaumlhrt haumltte hellip Es waumlre unerklaumlrlich daszlig dreiszligig Legionen des Kaiserreichs hundert Millionen Menschen zum Gehorsam zwingen konntenldquo Sie gehorch- ten aber nur weil der Kaiser der die Groumlszlige Roms ver- koumlrperte einmuumltig als Gott verehrt wurde Im kleinsten Flecken des Reiches besaszlig der Kaiser seine Altaumlre bdquoIn jener Zeit sah man von einem Ende des Reiches bis zum andern in den Seelen eine neue Religion entstehen deren

48 DIE RELIGIOumlSEN FORMEN DER MASSENUumlBERZEUGUNGEN

Gottheiten die Kaiser selbst waren Einige Jahre vor dem christlichen Zeitalter errichtete ganz Gallien welches durch sechzig Staumldte vertreten wurde dem Augustus gemeinsam einen Tempel bei Lyon hellip Seine Priester die von der Gesamtheit der gallischen Staumldte gewaumlhlt wurden waren die ersten Persoumlnlichkeiten des Landes hellip Man kann un- moumlglich dies alles der Furcht und der knechtischen Unter- werfung zuschreiben Ganze Voumllker sind nicht knechtisch und sind es nicht drei Jahrhunderte lang Nicht allein die Houmlflinge verehrten den Fuumlrsten sondern Rom und nicht Rom allein auch Gallien Spanien Griechenland und AsienldquoHeutzutage besitzen die meisten groszligen Seeleneroberer keine groszligen Altaumlre mehr wohl aber Statuen oder Bilder und der Kultus den man mit ihnen treibt ist von dem fruumlheren nicht erheblich verschieden Man faumlngt an die Philosophie der Geschichte ein wenig zu verstehen wenn man diesen Angelpunkt der Psychologie der Massen recht begriffen hat Fuumlr die Massen muszlig man entweder ein Gott sein oder man ist nichtsDas sind nicht nur aberglaumlubische Anschauungen einer anderen Zeit die die Vernunft endguumlltig verscheucht hat In seinem ewigen Kampf mit der Vernunft wurde das Ge- fuumlhl nie besiegt Zwar wollen die Massen die Worte Gott- heit und Religion von denen sie so lange beherrscht wur- den nicht mehr houmlren aber zu keiner Zeit sah man sie so viele Bildwerke und Altaumlre errichten wie seit einem Jahr- hundert Die Volksbewegung die unter dem Namen Bou- langismus bekannt wurde hat bewiesen wie leicht die religioumlsen Instinkte der Massen der Erneuerung faumlhig sind Damals gab es kein Dorfwirtshaus in dem nicht das Bild des Helden zu finden war Man schrieb ihm die Macht zu allen Ungerechtigkeiten allen Uumlbeln abzuhelfen und Tau- sende von Menschen haumltten ihr Leben fuumlr ihn hingegeben Welchen Platz haumltte er in der Geschichte eingenommen wenn sein Charakter mit der Legende Schritt gehalten haumltte

49MACHT DER RELIGIOumlS GEWORDENEN UumlBERZEUGUNGEN

Auch ist es eine uumlberfluumlssige Banalitaumlt zu wiederholen die Massen beduumlrften einer Religion Denn alle politischen religioumlsen und sozialen Glaubenslehren finden bei ihnen nur Aufnahme unter der Bedingung daszlig sie eine religioumlse Form angenommen haben die sie jeder Auseinandersetzung entzieht Wenn es moumlglich waumlre die Massen zu bewegen den Atheismus anzunehmen so wuumlrde er ganz zum un- duldsamen Eifer eines religioumlsen Gefuumlhls und in seinen aumluszligeren Formen bald zu einem Kultus werden Ein merk- wuumlrdiges Beispiel bietet uns die Entwicklung der kleinen positivistischen Sekte Sie gleicht jenem Nihilisten dessen Geschichte der tiefgruumlndige Dostojewskij uns erzaumlhlt Vom Geiste erleuchtet zerbrach er eines Tages die Bildwerke der Gottheiten und Heiligen die den Altar seiner Kapelle schmuumlckten loumlschte die Kerzen aus und ersetzte ohne einen Augenblick zu zoumlgern die zerstoumlrten Bilder durch die Werke einiger atheistischer Philosophen dann zuumlndete er pietaumltvoll die Kerzen wieder an Der Gegenstand seines religioumlsen Glaubens war ein andrer geworden aber kann man behaupten daszlig sich seine religioumlsen Gefuumlhle geaumlndert hattenIch wiederhole noch einmal gewisse historische Ereignisse und zwar gerade die wichtigsten kann man nur verstehen wenn man die Form welche die Uumlberzeugungen der Mas- sen stets annehmen in Rechnung stellt Viele soziale Er- scheinungen sollten lieber von Psychologen als von Natur- forschern studiert werden Unser groszliger Historiker Taine hat die Revolution nur als Naturforscher studiert und so ist ihm die wirkliche Entwicklung der Ereignisse recht oft verborgen geblieben Er hat die Tatsachen vorzuumlglich be- obachtet aber da er die Massenpsychologie nicht genuumlgend erforscht hatte konnte sie der beruumlhmte Schriftsteller nicht immer aus den Ursachen erklaumlren Da die Tatsachen ihn durch ihre Blutigkeit und Wildheit und ihren Anarchismus erschreckten so erschienen ihm die Helden in dem groszligen Epos nur als eine Horde epileptischer Wilder die sich zuumlgellos ihren Trieben hingaben Die Gewalttaten der Re-

50 DIE RELIGIOumlSEN FORMEN DER MASSENUumlBERZEUGUNGEN

volution ihre Metzeleien ihr Beduumlrfnis nach Verbreitung ihre Kriegserklaumlrung an alle Koumlnige sind nur zu erklaumlren wenn man bedenkt daszlig sie zur Befestigung eines neuen religioumlsen Glaubens dienten Die Reformation die Bartho- lomaumlusnacht die Religionskriege die Inquisition die Schreckenstage sind Erscheinungen derselben Art unter dem Einfluszlig dieser religioumlsen Gefuumlhle die notwendig dazu fuumlh- ren mit Feuer und Schwert alles auszurotten was sich der Einfuumlhrung des neuen Glaubens entgegenstellt Das Ver- fahren der Inquisition und der Schreckenstage ist das aller wahrhaft Uumlberzeugten sie waumlren keine Glaumlubigen wenn sie anders verfuumlhrenUmwaumllzungen gleich jenen die ich erwaumlhnte sind nur moumlglich wenn die Massenseele sie ins Leben ruft Die un- umschraumlnktesten Gewaltherrscher koumlnnten sie nicht ent- fesseln Die Historiker die uns die Bartholomaumlusnacht als das Werk eines Koumlnigs zeigen kennen die Psychologie der Massen ebensowenig wie die der Koumlnige Solche Kund- gebungen koumlnnen nur der Massenseele entspringen Die unumschraumlnkteste Macht des eigenmaumlchtigsten Herrschers reicht kaum weiter als zu einer geringen Beschleunigung oder Verzoumlgerung des Zeitpunktes Nicht die Koumlnige haben die Bartholomaumlusnacht die Religionskriege verursacht und nicht Robespierre Danton oder Saint-Just waren die Ur- heber der Schreckenstage Hinter solchen Ereignissen findet man immer wieder die Seele der Massen

RELIGION OHNE GOTT ATHEISMUS 51

ZWEITES BUCH

DIE MEINUNGEN UND GLAUBENSLEHREN DER MASSEN

1 KAPITEL

Entfernte Triebkraumlfte der Glaubenslehren und Meinungen der Massen

Wir haben bisher den geistigen Zustand der Massen stu- diert Wir kennen die Art ihres Fuumlhlens Denkens Schlie- szligern Nun wollen wir sehen auf welche Weise ihre Mei- nungen und Glaubenslehren entstehen und sich befestigen Zwei verschiedene Arten von Triebkraumlften bestimmen diese Meinungen und Glaubenslehren mittelbare und unmittel- bare TriebkraumlfteDie mittelbaren Triebkraumlfte befaumlhigen die Massen zur An- nahme gewisser Uumlberzeugungen und verhindern das Ein- dringen anderer Sie bereiten den Boden auf dem man ploumltzlich neue Ideen hervorsprieszligen sieht deren Kraft und Wirkung Staunen erregen die aber nur scheinbar ploumltzlich sind Der Ausbruch und die Verwirklichung gewisser Ideen bei den Massen zeigen oft eine blitzartige Ploumltzlichkeit Doch das ist nur die oberflaumlchliche Wirkung hinter der man meistens eine lange Vorarbeit suchen muszligDieser langen Arbeit ohne die sie wirkungslos bleiben wuumlrden uumlbergeordnet sind die unmittelbaren Antriebe die die lebendige Uumlberzeugung der Massen hervorrufen ndash also der Idee ihre Gestalt geben und sie mit all ihren Folgen entfesseln Diese unmittelbaren Triebkraumlfte sind der An- laszlig fuumlr das Auftauchen der Entschluumlsse die eine Gesamt- heit zu einer jaumlhen Erhebung fuumlhren ndash durch sie bricht ein Aufruhr los oder wird ein Streik beschlossen sie brin- gen durch riesige Stimmenmehrheit einen Menschen zur Macht oder stuumlrzen eine Regierung Bei allen groszligen Ge- schehnissen der Geschichte kann man die ununterbrochene

Wirkung dieser beiden Arten von Triebkraumlften feststellen Als eins der klarsten Beispiele koumlnnte man die Franzoumlsische Revolution anfuumlhren deren mittelbare Antriebe die Kri- tiken der Schriftsteller und die Erpressungen des Adels waren Die so vorbereitete Massenseele war infolgedessen leicht aufzuruumltteln durch unmittelbare Antriebe wie die Ansprachen der Redner und den Widerstand des Hofes gegen unbedeutende ReformenZu den mittelbaren Triebkraumlften gehoumlren allgemeine Fak- toren die allen Glaubensbekenntnissen und Anschauungen zugrunde liegen das sind die Rasse die Uumlberlieferungen die Zeit die Einrichtungen und die ErziehungWir wollen ihre jeweilige Aufgabe untersuchen

sect Die Rasse

Als ein Antrieb ersten Ranges ist die Rasse zu betrachten denn sie ist allein schon viel bedeutender als alle uumlbrigen Ich habe sie in einer andern Schrift genuumlgend untersucht und brauche hier nicht ausfuumlhrlich darauf zuruumlckzukom- men Ich zeigte in jener Schrift was eine geschichtliche Masse ist und daszlig wenn sich ihre Charaktermerkmale ge- bildet haben ihre Glaubenslehren ihre Einrichtungen ihre Kunst kurz alle ihre Kulturelemente den aumluszligeren Aus- druck ihrer Seele bilden Die Kraft der Rasse ist so groszlig daszlig kein Element von einem Volk zum andern uumlbergehen koumlnnte ohne die tiefgehendsten Umwandlungen zu er- fahren Die Umgebung die Umstaumlnde die Ereignisse spie- geln die augenblicklichen sozialen Einfluumlsse wider Sie koumln- nen von bedeutender Wirkung sein aber dieser Einfluszlig ist stets nur ein augenblicklicher wenn er im Gegensatz zu den Rasseneinfluumlssen d h zu der ganzen Ahnenreihe steht

Da diese Lehre noch sehr neu ist und ohne sie die Geschichte voumlllig un- verstaumlndlich bleibt so habe ich ihrer Darlegung mehrere Kapitel meines Wer- kes bdquoDie psychologischen Gesetze der Voumllkerentwicklungldquo gewidmet Der Leser wird daraus ersehen daszlig obwohl der Schein truumlgt weder die Sprache noch die Religion noch die Kuumlnste noch irgendein Kulturelement uumlberhaupt un- veraumlndert von einem Volk zum andern uumlbergehen kann

DIE RASSE 51

Wir werden noch in mehreren Kapiteln dieser Arbeit Gelegenheit haben auf den Einfluszlig der Rasse zuruumlckzu- kommen und zu zeigen daszlig er stark genug ist die Sonder- merkmale der Massenseele zu beherrschen Daraus ergibt sich der Umstand daszlig die Massen der verschiedenen Laumln- der in ihrem Glauben und Verhalten sehr betraumlchtliche Unterschiede aufweisen und nicht auf die gleiche Weise zu beeinflussen sind

sect 2 Die Uumlberlieferungen

Die Uumlberlieferungen umfassen die Ideen Beduumlrfnisse und Gefuumlhle der Vorzeit Sie bilden die Einheit der Rasse und lasten mit ihrem ganzen Gewicht auf unsSeit die Embryologie den ungeheuren Einf luszlig der Ver- gangenheit auf die Entwicklung der Wesen gezeigt hat haben sich die biologischen Wissenschaften gewandelt und die historischen werden es auch tun wenn dieser Gedanke weiter verbreitet sein wird Noch ist er nicht hinreichend bekannt und viele Staatsmaumlnner sind damit auf dem Standpunkt der Theoretiker des vergangenen Jahrhunderts stehengeblieben daszlig sie glauben eine Gesellschaft koumlnne mit ihrer Vergangenheit brechen und allein durch die Kraft der Vernunft von Grund auf erneuert werdenEin Volk ist ein Organismus der durch die Vergangenheit geschaffen wurde Wie alle Organismen kann er sich nur durch langsame Anhaumlufung von Erbmasse veraumlndernDie wahren Fuumlhrer der Voumllker sind die Uumlberlieferungen und wie ich schon mehrmals wiederholte nur die aumluszligeren Formen veraumlndern sich leicht Ohne Uumlberlieferung d h ohne Volksseele ist keine Kultur moumlglich So bestanden denn auch die beiden groszligen Aufgaben des Menschen seit er auf der Welt ist in der Schaffung eines Netzes von Uumlberlieferungen und in ihrer Zerstoumlrung nach Verbrauch ihrer nuumltzlichen Wirkungen Keine Kultur ohne beharrende Uumlberlieferungen ohne ihre langsame Ausschaltung kein Fortschritt Die Schwierigkeit besteht darin das richtige

ENTFERNTE TRIEBKRAumlFTE DES GLAUBENS DER MASSEN56

Gleichgewicht zwischen Beharrung und Veraumlnderlichkeit zu finden Diese Schwierigkeit ist ungeheuer Hat ein Volk durch viele Geschlechter seine Gewohnheiten zu sehr er- starren lassen so kann es sich nicht mehr aumlndern und wird wie China unfaumlhig zur Vervollkommnung Selbst gewalt- same Veraumlnderungen bleiben wirkungslos denn dann wer- den entweder die zerrissenen Glieder der Kette wieder zusammengeschweiszligt und die Vergangenheit nimmt ihre Herrschaft unveraumlndert wieder auf oder die Bruchstuumlcke bleiben getrennt und dann folgt der Anarchie bald die EntartungEs ist also die Aufgabe eines Volkes die Einrichtungen der Vergangenheit zu bewahren indem es sie nur nach und nach veraumlndert Die Roumlmer im Altertum und die Eng- laumlnder in der Neuzeit sind fast die einzigen die sie ver- wirklicht habenGerade die Massen und namentlich die Massen aus denen sich die Klassen zusammensetzen sind die zaumlhesten Be- wahrer der uumlberlieferten Ideen und widersetzen sich am hartnaumlckigsten ihrem Wechsel Ich habe bereits auf den konservativen Geist der Massen hingewiesen und gezeigt daszlig viele Revolten nur auf eine Veraumlnderung von Worten hinauslaufen Gegen Ende des 8 Jahrhunderts konnte man angesichts der zerstoumlrten Kirchen der verjagten oder guillotinierten Priester der allgemeinen Verfolgung des katholischen Kultus glauben die alten religioumlsen Ideen haumltten alle Macht eingebuumlszligt und doch muszligte nach einigen Jahren infolge allgemeiner Forderungen der abgeschaffte Kultus wieder eingesetzt werden Der Bericht des alten Konventsmitgliedes Fourcroy den Taine anfuumlhrt ist in dieser Hinsicht sehr klar bdquoWas man uumlberall von der Feier des Sonntags und dem Kirchenbesuch sieht beweist daszlig die Masse der Franzosen zu den alten Gebraumluchen zuruumlckkehren will und es ist nicht mehr an der Zeit sich diesem nationalen Hang zu widersetzen Die groszlige Masse der Menschen braucht Religion einen Kultus und Priester Es ist ein Irrtum einiger moder- ner Philosophen dem ich selbst verfallen war an die Moumlglichkeit einer Bil- dung zu glauben die verbreitet genug waumlre um die religioumlsen Vorurteile zu zerstoumlren sie sind fuumlr die gruumlszlige Anzahl der Ungluumlcklichen eine Quelle des Trostes hellip Man muszlig daher der Masse des Volkes ihre Priester ihre Altaumlre und ihren Kultus lassenldquo

DIE UumlBERLIEFERUNGEN 57

Kein Beispiel koumlnnte besser die Macht der Gewohnheit uumlber die Menschenseele zeigen Die furchtbarsten Idole werden nicht in den Tempeln beherbergt und die gewalt- taumltigsten Tyrannen wohnen nicht in den Palaumlsten Sie wauml- ren leicht zu stuumlrzen Aber die unsichtbaren Herren die unsere Seelen beherrschen entziehen sich jedem Angriff und geben nur der langsamen Abnutzung durch die Jahr- hunderte nach

sect 3 Die Zeit

Einer der wirksamsten Faktoren in den gesellschaftlichen wie in den sozialen Fragen ist die Zeit Sie ist der wahre Schoumlpfer und der groszlige Zerstoumlrer Sie hat die Berge aus Sandkoumlrnern aufgebaut und die winzige Zelle der geo- logischen Urzeit zur menschlichen Wuumlrde erhoben Die Einwirkung der Jahrhunderte genuumlgt um jede beliebige Erscheinung umzuformen Mit Recht sagt man daszlig eine Ameise die Zeit genug haumltte den Montblanc abtragen koumlnnte Ein Wesen das die magische Gewalt besaumlszlige die Zeit nach Belieben zu veraumlndern haumltte die Macht die von den Glaumlubigen ihren Goumlttern zugeschrieben wirdAber wir haben uns hier nur mit dem Einfluszlig der Zeit auf die Entstehung der Anschauungen der Massen zu be- schaumlftigen Unter diesem Gesichtspunkt ist ihre Wirkung ebenfalls ungeheuer Sie haumllt die groszligen Kraumlfte wie die der Rasse die sich nicht ohne sie bilden koumlnnen in ihrer Abhaumlngigkeit Sie laumlszligt alle Glaubenslehren entstehen und absterben Von ihr empfangen sie ihre Macht und sie ent- zieht sie ihnen auch wiederDie Zeit bereitet die Meinungen und Glaubensbekenntnisse der Massen vor d h den Boden auf dem sie keimen Daraus folgt daszlig gewisse Ideen nur zu einer bestimmten Zeit dann nicht mehr zu verwirklichen sind Die Zeit haumluft unermeszligliche Uumlberreste von Glaubensbekenntnissen und Gedanken an denen die Ideen eines Zeitalters ent- springen Sie keimen nicht durch Zufall und Ungefaumlhr Ihre Wurzeln reichen tief in die Vergangenheit Wenn sie

58 ENTFERNTE TRIEBKRAumlFTE DES GLAUBENS DER MASSEN

bluumlhen so hatte die Zeit ihre Bluumlte vorbereitet und um ihren Ursprung zu erfassen muszlig man stets zuruumlckgehen Sie sind Toumlchter der Vergangenheit und Muumltter der Zu- kunft stets aber Sklavinnen der ZeitSo ist denn die Zeit unsere wahre Meisterin und man braucht sie nur walten zu lassen um zu sehen wie alle Dinge sich wandeln Heute beunruhigen uns die bedroh- lichen Anspruumlche der Massen und die Zerstoumlrungen und Umwaumllzungen die sie ahnen lassen Die Zeit allein wird es auf sich nehmen das Gleichgewicht wieder herzustellen

bdquoKeine Ordnungldquo schreibt treffend Lavisse bdquowurde an einem Tage gegruumlndet Die politischen und sozialen Orga- nisationen sind Werke die Jahrhunderte erfordern der Feudalismus bestand Jahrhunderte lang formlos und chao- tisch bevor er seine Richtlinien fand die absolute Mon- archie bestand ebenfalls durch Jahrhunderte bis sie regel- rechte Herrschaftsmittel herausbildete und es gab groszlige Verwirrungen in diesen Uumlbergangszeitenldquo

sect 4 Die politischen und sozialen Einrichtungen

Der Gedanke Einrichtungen koumlnnten den Uumlbeln der Ge- sellschaft abhelfen der Fortschritt der Nationen sei die Folge der Vervollkommnung der Verfassungen und Regie- rungen und die sozialen Umwandlungen koumlnnten sich durch Erlasse vollziehen dieser Gedanke ist noch ganz allgemein verbreitet Die Franzoumlsische Revolution nahm ihn zum Ausgangspunkt und die sozialen Lehren der Gegenwart stuumltzen sich auf ihnUnunterbrochene Erfahrungen konnten diesen fuumlrchter- lichen Wahn nicht ernstlich erschuumlttern Vergebens haben die Philosophen und Historiker versucht seine Sinnlosig- keit zu beweisen Immerhin war es ein Leichtes fuumlr sie zu zeigen daszlig alle Einrichtungen Toumlchter der Ideen Ge- fuumlhle und Sitten sind und daszlig diese Ideen Gefuumlhle und Sitten nicht dadurch umgestaltet werden daszlig man die Gesetze umgestaltet Ein Volk waumlhlt die meisten Einrich-

DIE ZEIT 59

tungen nicht nach Belieben ebensowenig wie es die Farbe seiner Augen oder Haare waumlhlt Einrichtungen und Regie- rungsformen sind ein Rasseerzeugnis Weit entfernt davon die Schoumlpfer einer Epoche zu sein sind sie deren Geschoumlpfe Die Voumllker werden nicht nach ihren augenblicklichen Lau- nen sondern ihrem Charakter gemaumlszlig regiert Die Bildung einer Staatsordnung erfordert Jahrhunderte und Jahr- hunderte braucht es zu ihrer Wandlung Die Einrichtungen haben keinen unmittelbaren Wert sie sind an sich weder gut noch schlecht Zu einer bestimmten Zeit koumlnnen sie fuumlr ein bestimmtes Volk gut und fuumlr ein anderes grund- schlecht seinEin Volk hat also keineswegs die Macht seine Einrich- tungen wirklich zu veraumlndern Gewiszlig kann es um den Preis gewaltsamer Revolutionen ihre Namen aumlndern aber der Kern bleibt derselbe Die Namen sind nur leere Eti- ketten die ein Historiker der sich mit dem wahren Wert der Dinge befaszligt nicht in Rechnung zu ziehen braucht So ist England das demokratischste Land der Welt ob- wohl es eine monarchistische Regierung hat waumlhrend in den spanisch-amerikanischen Republiken trotz ihrer demokrati- schen Verfassung die haumlrteste Despotie herrscht Nicht die Regierung sondern der Charakter der Voumllker bestimmt ihre Schicksale Diese Wahrheit habe ich in einer fruumlhe- ren Arbeit mit Hilfe bestimmter Beispiele zu begruumlnden versuchtEs ist also ein kindisches Unterfangen eine zwecklose rhetorische Uumlbung die Zeit mit der Anfertigung von Ver- fassungen zu vergeuden Die Notwendigkeit und die Zeit uumlbernehmen ihre Ausarbeitung wenn man sie nur walten laumlszligt Der groszlige Historiker Macaulay zeigt in einem Satz der von den Politikern aller lateinischen Laumlnder auswendig

Das erkennen selbst in den Vereinigten Staaten die entschiedensten Repu- blikaner Die amerikanische Zeitung bdquoForumldquo gibt dieser Meinung die ich nach der bdquoReview of Reviewsldquo vom Dezember 894 wiedergebe bestimmten Ausdruck bdquoSelbst die gluumlhendsten Feinde der Aristokratie duumlrfen nie ver- gessen daszlig heute England das demokratischste Land der Erde ist in dem die Rechte des einzelnen am meisten geachtet werden und die einzelnen die meiste Freiheit besitzenldquo

60 ENTFERNTE TRIEBKRAumlFTE DES GLAUBENS DER MASSEN

gelernt werden muumlszligte daszlig die Angelsachsen es so mach- ten Nachdem er die scheinbaren Wohltaten der Gesetze vom Standpunkt der reinen Vernunft ein Chaos von Un- sinnigkeiten und Widerspruumlchen angefuumlhrt hat vergleicht er die Dutzende von Verfassungen die in den Erschuumltte- rungen der lateinischen Voumllker Europas und Amerikas untergegangen sind mit der Verfassung Englands und zeigt daszlig diese sich nur aumluszligerst langsam stuumlckweise unter dem Einfluszlig unmittelbarer Notwendigkeit veraumlnderte aber niemals durch berechnete Vernunftgruumlnde bdquoSich nie um die Anordnung wohl aber um die Nuumltzlichkeit kuumlmmern nie eine Ausnahme beseitigen nur weil es eine Ausnahme ist nie eine Neuerung einfuumlhren es sei denn es mache sich eine Unzutraumlglichkeit fuumlhlbar und auch dann nur gerade so viel erneuern daszlig diese Unzutraumlglichkeit abgestellt wird nie einen Antrag stellen der uumlber den Einzelfall den man behandelt hinausgeht Das sind die Regeln die seit den Zeiten Johannes bis zum Zeitalter Viktorias unsere 250 Parlamente allgemein geleitet habenldquoMan muumlszligte die Gesetze und Einrichtungen eines jeden Volkes eins nach dem andern vornehmen um zu zeigen in welchem Maszlige sie der Ausdruck der Beduumlrfnisse ihrer Rasse und deshalb nicht gewaltsam umzuwandeln sind Man kann sich mit den Vorteilen und Uumlbelstaumlnden der Zentralisation philosophisch auseinandersetzen wenn wir aber sehen wie ein Volk das aus verschiedenen Rassen besteht tausendjaumlhrige Anstrengungen macht um Schritt fuumlr Schritt diese Zentralisation zu erreichen wenn wir feststellen daszlig eine groszlige Revolution deren Ziel die Zer- truumlmmerung aller Einrichtungen der Vergangenheit war sich genoumltigt sah diese Zentralisation nicht allein anzu- erkennen sondern sogar zu uumlbertreiben so koumlnnen wir sagen sie ist das Ergebnis gebieterischer Notwendigkeiten eine unmittelbare Folge des Daseins und koumlnnen nur den Mangel an Weitblick bei den Politikern die von ihrer Aufhebung reden beklagen Wenn durch einen Zufall ihre Meinung siegte so waumlre dieser Erfolg das Signal zu einer

DIE POLITISCHEN UND SOZIALEN EINRICHTUNGEN 61

tiefgreifenden Anarchie die obendrein zu einer viel druumlk- kenderen Zentralisation als der fruumlheren fuumlhren wuumlrdeAus dem Vorstehenden ist zu schlieszligen daszlig man in den Einrichtungen nicht das Mittel zu suchen hat die Seelen der Massen nachhaltig zu bewegen Gewisse Laumlnder mit demokratischen Einrichtungen wie die Vereinigten Staaten bluumlhen wunderbar auf waumlhrend andre wie die spanisch- amerikanischen Republiken trotz durchaus aumlhnlicher Ein- richtungen in der traurigsten Anarchie dahinleben Diese Einrichtungen haben ebensowenig mit der Groumlszlige der einen wie mit dem Niedergang der andern zu tun Die Voumllker werden immer von ihrem Charakter beherrscht und alle Einrichtungen die sich diesem Charakter nicht innig an- schmiegen sind nichts als ein ausgeliehenes Gewand eine voruumlbergehende Verkleidung Gewiszlig hat es blutige Kriege und gewaltige Revolutionen gegeben um Einrichtungen einzufuumlhren denen man wie den Reliquien der Heiligen die uumlbernatuumlrliche Macht zuschreibt das Gluumlck hervorzu- zaubern In gewissem Sinne koumlnnte man sagen Einrich- tungen wirken auf die Massenseele da sie solche Erhebun- gen verursachen In Wahrheit sind es nicht die Einrich- tungen die so wirken denn wir wissen daszlig sie siegend oder besiegt an sich keinerlei Wert besitzen Wenn wir ihren Siegeszug verfolgen verfolgen wir nur Taumluschungen

sect 5 Unterricht und Erziehung

An erster Stelle unter den herrschenden Gedanken unsrer Zeit steht die Idee der Unterricht habe den bestimmten Wenn man die tiefgehenden religioumlsen und politischen Uneinigkeiten welche die verschiedenen Gebiete Frankreichs trennen mit den separatistischen Ten- denzen vergleicht die in der Revolutionszeit auftraten und sich von neuem gegen Ende des deutsch-franzoumlsischen Krieges zeigten so sieht man daszlig die verschiedenen Rassen die auf unserem Boden leben noch lange nicht mit- einander verschmolzen sind Die kraftvolle Zentralisation und die Schaffung kuumlnstlicher Departements zum Zweck der Vermischung der fruumlheren Provin- zen waren gewiszlig das nuumltzlichste Werk der Revolution Koumlnnte die Dezen- tralisation von der heute kurzsichtige Geister so viel reden bewerkstelligt werden so wuumlrde sie unfehlbar zu den blutigsten Kaumlmpfen fuumlhren Das zu verkennen heiszligt unsre Geschichte voumlllig vergessen

62 ENTFERNTE TRIEBKRAumlFTE DES GLAUBENS DER MASSEN

Erfolg die Menschen zu bessern und sogar einander aumlhn- lich zu machen Nur durch seine Wiederholung ist dieser Satz schlieszliglich zu einem der unerschuumltterlichsten Saumltze der Demokratie geworden Er ist ebenso unantastbar ge- worden wie einst die Dogmen der KircheAber in diesem Punkt wie in so vielen anderen stehen die Ideen der Demokratie in schaumlrfstem Gegensatz zu den Ergebnissen der Psychologie und der Erfahrung Mehrere hervorragende Philosophen besonders Herbert Spencer konnten leicht beweisen daszlig der Unterricht den Men- schen weder sittlicher noch gluumlcklicher macht daszlig er die Instinkte und Leidenschaften des Menschen nicht aumlndert und schlecht geleitet oft mehr Schaden als Nutzen bringt Die Statistiker bestaumltigen diese Ansicht indem sie zeigen daszlig die Kriminalitaumlt mit der Verbreitung des Unterrichts oder wenigstens einer gewissen Art des Unterrichts zu- nimmt daszlig die aumlrgsten Feinde der Gesellschaft die Anar- chisten oft aus den Besten der Schule hervorgehen Ein hoher Justizbeamter Adolphe Guillot berichtet daszlig man jetzt dreitausend gebildete auf tausend ungebildete Ver- brecher rechnen kann und daszlig innerhalb fuumlnfzig Jahren das Verbrechertum von 227 auf 552 von hunderttausend Einwohnern gestiegen ist was einen Zuwachs von 33 Pro- zent bedeutet Er hat auch in Uumlbereinstimmung mit seinen Kollegen festgestellt daszlig die Kriminalitaumlt besonders bei den jungen Leuten zunimmt bei denen die unentgeltliche Pflichtschule an die Stelle des Lehrherrn getreten istGewiszlig hat niemals jemand behauptet daszlig gut geleiteter Unterricht keine praktischen sehr nuumltzlichen Ergebnisse haben koumlnnte wenn auch nicht in sittlicher Hinsicht so doch in bezug auf die Entfaltung der beruflichen Faumlhig- keiten Leider haben besonders seit dreiszligig Jahren die lateinischen Voumllker ihre Unterrichtsformen auf ganz falschen Voraussetzungen aufgebaut und beharren trotz der Beobach- tungen der hervorragendsten Koumlpfe in ihren bedauerlichen Irrtuumlmern Ich selbst habe in verschiedenen Schriften ge- Vgl bdquoPsychologie des Sozialismusldquo bdquoPsychologie der Erziehungldquo

UNTERRICHT UND ERZIEHUNG 63

zeigt daszlig unsere gegenwaumlrtige Erziehung die Mehrzahl derer denen sie zuteil wurde in Feinde der Gesellschaft verwandelt die vielfach die Gefolgschaft der schlimmsten Formen des Sozialismus bildenDie erste Gefahr dieser Erziehung die treffend als latei- nisch gekennzeichnet wird beruht auf einem psychologi- schen Grundirrtum sich einzubilden die Intelligenz ent- wickle sich durch Auswendiglernen von Lehrbuumlchern Ferner bemuumlht man sich soviel als moumlglich zu lehren und von der Volksschule bis zur Doktor- oder Staatspruumlfung hat der junge Mann sich nur mit dem Inhalt von Buumlchern voll- zustopfen ohne jemals sein Urteil oder seine Entschluszlig- kraft zu uumlben Der Unterricht besteht fuumlr ihn im Hersagen und Gehorchen bdquoAufgaben lernen eine Grammatik oder einen Abriszlig auswendig wissen gut wiederholen gut nach- machenldquo schreibt der ehemalige Unterrichtsminister Jules Simon bdquodas ist eine komische Erziehung bei der jede An- strengung nur ein Beweis des Glaubens an die Unfehl- barkeit des Lehrers ist und dazu fuumlhrt uns herabzusetzen und unfaumlhig zu machenldquoWaumlre diese Erziehung nur nutzlos so koumlnnte man sich damit begnuumlgen die ungluumlcklichen Kinder zu bedauern denen man statt vieler notwendiger Dinge lieber die Genealogie der Soumlhne Chlotars die Kaumlmpfe zwischen Neu- strien und Austrasien oder zoologische Einteilungen bei- bringt aber sie bildet eine viel ernstere Gefahr sie be- wirkt bei dem der sie genossen hat einen heftigen Wider- willen gegen die Verhaumlltnisse in denen er geboren ist und den nachdruumlcklichen Wunsch aus ihnen herauszukommen Der Arbeiter will nicht mehr Arbeiter der Bauer nicht mehr Bauer bleiben und der letzte Kleinbuumlrger sieht fuumlr seine Soumlhne keine andere Moumlglichkeit als die Laufbahn eines festbesoldeten Staatsbeamten Anstatt die Menschen fuumlr das Leben vorzubereiten bereitet die Schule sie nur fuumlr oumlffentliche Aumlmter vor in denen man ohne einen Schim- mer von Tatkraft Erfolg haben kann Sie erzeugt am Fuszlige der sozialen Leiter die proletarischen Heere die mit ihrem

64 ENTFERNTE TRIEBKRAumlFTE DES GLAUBENS DER MASSEN

Los unzufrieden und stets zum Aufstand bereit sind oben aber unsere leichtfertige zugleich skeptische und glaumlubige Bourgeoisie mit ihrem uumlbertriebenen Vertrauen zur Staats- vorsehung die sie gleichwohl unaufhoumlrlich beschimpft weil sie stets ihre eigenen Fehler der Regierung zuschiebt und unfaumlhig ist ohne die Vermittlung der Obrigkeit etwas zu unternehmenDer Staat kann nur eine kleine Anzahl der Anwaumlrter verwenden die er mit Hilfe von Handbuumlchern fabriziert und dafuumlr auszeichnet und laumlszligt die andern ohne Beschaumlf- tigung Er muszlig sich also dareinfinden die ersten zu er- naumlhren und die andern zu Feinden zu haben Von der Spitze bis zum Fuszlig der sozialen Pyramide belagert heute das riesige Heer der Anwaumlrter die verschiedenen Aumlmter Ein Kaufmann findet schwer einen Stellvertreter in den Kolonien aber es gibt Tausende von Kandidaten die sich um die bescheidensten oumlffentlichen Stellungen bemuumlhen Das Seinedepartement allein zaumlhlt zwanzigtausend be- schaumlftigungslose Lehrer und Lehrerinnen die Feld und Werkstatt verachten und sich an den Staat wenden um leben zu koumlnnen Da die Zahl der Auserwaumlhlten be- schraumlnkt ist so muszlig notwendigerweise die der Unzufrie- denen ungeheuer groszlig sein Sie sind zu allen Revolutionen bereit gleichguumlltig unter weichem Fuumlhrer und zu welchen Zielen Der Erwerb unnuumltzer Kenntnisse ist ein sicheres Mittel einen Menschen zum Empoumlrer zu machen

Uumlbrigens ist dies nicht nur eine besondere Erscheinung bei den lateinischen Voumllkern man kann sie auch in China feststellen das ebenfalls von einer festen Hierarchie von Mandarinen geleitet wird und wo das Mandarinat wie bei uns auf dem Wege von Pruumlfungen erlangt wird deren einziges Erfordernis das fehlerlose Hersagen dicker Lehrbuumlcher ist Das Heer beschaumlftigungsloser Gelehrter wird heute in China fuumlr ein wahres Nationalungluumlck gehalten Auch in Indien hat sich seitdem die Englaumlnder dort Schulen gegruumlndet um die Eingeborenen zu belehren nicht um sie zu erziehen eine besondere Klasse von Gelehrten die der Babus gebildet die zu unversoumlhnlichen Feinden der eng- lischen Macht werden wenn es ihnen nicht gelingt eine Anstellung zu er- halten Die erste Wirkung des Unterrichts bei alten Babus ob angestellt oder ohne Beschaumlftigung war ein auszligerordentliches Sinken ihrer Sittlichkeit Ich habe diesen Punkt in meinem Buch bdquoDie Kulturen Indiensldquo ausfuumlhrlich be- handelt Alle Autoren die die Halbinsel besuchten haben das ebenfalls fest- gestellt

UNTERRICHT UND ERZIEHUNG 65

Es ist offenbar zu spaumlt sich einer solchen Stroumlmung ent- gegenzustemmen Die Erfahrung allein die letzte Lehr- meisterin der Voumllker wird es uumlbernehmen uns unsern Irrtum zu zeigen Sie allein wird maumlchtig genug sein uns die Notwendigkeit des Ersatzes unserer abscheulichen Lehr- buumlcher unserer klaumlglichen Pruumlfungen durch einen berufs- maumlszligigen Unterricht zu beweisen der die Jugend befaumlhigt zu den Feldern zu den Werkstaumltten zu den kolonialen Unternehmungen zuruumlckzukehren die heute verlassen sind Diesen berufsmaumlszligigen Unterricht den alle aufgeklaumlrten Geister jetzt fordern empfingen einst unsere Vaumlter und die Voumllker die heute die Welt durch ihren Willen ihre Tatkraft ihren Unternehmungsgeist beherrschen haben ihn sich zu bewahren gewuszligt Auf bemerkenswerten Seiten seiner Buumlcher deren wesentlichste Stellen ich spaumlter an- fuumlhren werde hat Taine klar gezeigt daszlig unsere Erzie- hung einst ungefaumlhr so war wie heute die englische oder amerikanische Erziehung und er hat durch einen bedeuten- den Vergleich zwischen dem lateinischen und angelsaumlch- sischen System die Folgen der beiden Erziehungsmethoden ins hellste Licht geruumlckt Vielleicht koumlnnte man noch alle Unzutraumlglichkeiten unserer klassischen Bildung hinnehmen selbst wenn sie nur Entwurzelte und Unzufriedene heran- bildete wenn nur der oberf laumlchliche Erwerb so vieler Kenntnisse und das luumlckenlose Hersagen so vieler Lehr- buumlcher die Voraussetzungen der Intelligenz heben wuumlrde Ist das aber wirklich der Fall Ach nein Urteil Erfah- rung Tatkraft und Charakter sind die Bedingungen des Erfolges im Leben sie sind nicht aus Buumlchern zu lernen Buumlcher sind nuumltzliche Nachschlagewerke aber es ist durchaus unnuumltz lange Teilstuumlcke daraus im Kopf aufzu- speichernDaszlig der berufsmaumlszligige Unterricht die Intelligenz in einem Maszlige entwickelt das der klassische Unterricht nie erreicht hat Taine sehr gut in folgenden Zeilen gezeigt bdquoDie Ideen bilden sich nur in ihrer natuumlrlichen und regelrechten Um- gebung Ihre Keime werden durch die unzaumlhligen Wahr-

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nehmungseindruumlcke genaumlhrt die der junge Mensch taumlglich in der Werkstatt im Bergwerk beim Gericht im Arbeits- zimmer auf der Schiffswerft im Krankenhaus beim An- blick der Werkzeuge Betriebsstoffe und Unternehmungen in Gegenwart der Kunden der Arbeiter der Arbeit des gut oder schlecht ausgefuumlhrten kostspieligen oder gewinn- bringenden Unternehmens empfaumlngt Das sind die kleinen Sonderwahrnehmungen der Augen des Ohres der Haumlnde und sogar des Geruchs die unwillkuumlrlich empfangen und unbewuszligt verarbeitet werden und sich in ihm ordnen so daszlig sie ihm fruumlher oder spaumlter die und die neue Ver- bindung Vereinfachung Ersparnis Vervollkommnung oder Erfindung eingeben All dieser wertvollen Verbindungen all dieser fuumlr seine Entwicklung foumlrderlichen unentbehr- lichen Moumlglichkeiten ist der junge Franzose beraubt und zwar gerade im fruchtbaren Alter sieben oder acht Jahre ist er in einer Schule eingesperrt fern von unmittelbarer eigener Erfahrung die ihm einen genauen und lebendigen Begriff von den Dingen den Menschen und den verschie- denen Umgangsformen gegeben haumltteldquo

bdquohellip Wenigstens neun von zehn haben ihre Zeit und ihre Muumlhe mehrere Jahre ihres Lebens und zwar fruchtbare wichtige ja entscheidende Jahre verloren man rechne zunaumlchst die Haumllfte oder zwei Drittel derer die zur Pruuml- fung gehen ab ich meine die Abgewiesenen ferner von den Zugelassenen Gepruumlften und Ausgezeichneten noch die Haumllfte oder zwei Drittel naumlmlich die Uumlberarbeiteten Man hat ihnen zu viel zugemutet wenn man von ihnen ver- langte an einem bestimmten Tage auf einem Stuhl oder vor einer Tafel zwei Stunden lang fuumlr eine Menge von Wissenschaften zum lebenden Nachschlagewerk alles menschlichen Wissens zu dienen Tatsaumlchlich sind sie es an diesem Tage zwei Stunden lang wirklich oder beinahe gewesen aber einen Monat spaumlter sind sie es nicht mehr Sie koumlnnten die Pruumlfung nicht wieder bestehen ihre Ge- daumlchtnis-Errungenschaften sind zu zahlreich und druumlckend und entgleiten unaufhoumlrlich ihrem Geist und sie machen

UNTERRICHT UND ERZIEHUNG 67

keine neuen Ihre Geisteskraft hat nachgelassen der be- fruchtende Saft ist vertrocknet der erwachsene Mensch kommt zum Vorschein und oft ist es der fertige Mensch Ist der in seinem Beruf und verheiratet so ergibt er sich drein sich im Kreise und fuumlr unabsehbare Zeit immer in demselben Kreise zu bewegen er verschanzt sich hinter seinem beschraumlnkten Amt das er fehlerlos ausfuumlllt ohne das Geringste daruumlber hinaus zu tun Das ist das Durch- schnittsergebnis der Ertrag wiegt die Unkosten bestimmt nicht auf In England und Amerika wo man wie ehemals vor 789 auch bei uns in Frankreich den umgekehrten Prozeszlig durchmachte ist der Ertrag ebenso groszlig oder groumlszligerldquoDer hervorragende Historiker zeigt uns dann den Unter- schied zwischen unserm und dem angelsaumlchsischen System Dort geschieht die Belehrung nicht durch das Buch sondern durch die Sache selbst Der Techniker z B bildet sich in einer Fabrik nie in einer Schule jeder kann genau den Grad erreichen der seiner Intelligenz entspricht als Ar- beiter oder Werkmeister wenn er nicht weiterkann als Ingenieur wenn es seine Faumlhigkeiten zulassen Das Ver- fahren ist fuumlr die ganze Gesellschaft demokratischer und nuumltzlicher als wenn man die Laufbahn eines Menschen von einer mehrstuumlndigen Pruumlfung abhaumlngig macht die er im Alter von achtzehn bis zwanzig Jahren abzulegen hatbdquoIm Krankenhaus im Bergwerk in der Fabrik beim Architekten beim Anwalt macht der in jungen Jahren zu- gelassene Schuumller seine Lehr- und Probezeit durch unge- faumlhr wie bei uns ein Schreiber in einem Buumlro oder ein Malerlehrling in der Werkstatt Vorher und bis zu seinem Eintritt konnte er nur ein paar allgemeine kurzgefaszligte Kurse besuchen um einen geeigneten Rahmen zu haben dem er die Beobachtungen die er jeden Augenblick macht einfuumlgen kann Je nach Faumlhigkeit hat er in seiner freien Zeit meist Gelegenheit einige technische Kurse zu besuchen um seine taumlglichen Erfahrungen je nach deren Stand zu verknuumlpfen Bei einer derartigen Ausbildung waumlchst und

68 ENTFERNTE TRIEBKRAumlFTE DES GLAUBENS DER MASSEN

entwickelt sich die praktische Faumlhigkeit von selbst bis zu dem Grade den die Anlagen des Schuumllers erreichen koumln- nen und in der Richtung die seine kuumlnftige Taumltigkeit die besondere Arbeit der er sich von nun an widmen will er- fordert Auf diese Weise kommt in England und in den Vereinigten Staaten der junge Mann rasch dazu alles was in ihm ist aus sich herauszuholen Mit fuumlnfundzwanzig Jahren und wenn ihm die Voraussetzungen dazu nicht fehlen noch fruumlher ist er ein nuumltzlicher Arbeiter oder sogar ein selbstaumlndiger Unternehmer nicht nur ein Ge- triebe sondern noch mehr ein Antrieb ndash In Frankreich wo der umgekehrte Ausbildungsgang geherrscht hat und mit jeder Generation chinesischer wird ist die Summe der verlorenen Kraumlfte unermeszliglich groszligldquoUnd der bedeutende Philosoph gelangt zu folgendem Er- gebnis uumlber das zunehmende Miszligverhaumlltnis zwischen un- serer lateinischen Erziehung und dem Leben

bdquoAuf allen drei Stufen des Unterrichts der der Kindheit des Knaben- und des Juumlnglingsalters ist die theoretische Vorbereitung auf der Schulbank und aus Buumlchern verlaumln- gert und uumlberbuumlrdet worden im Hinblick auf die Pruumlfung den akademischen Grad das Diplom und das Patent und durch die schlechten Mittel die Anwendung eines unnatuumlr- lichen und antisozialen Bildungsganges die uumlbermaumlszligige Hinausschiebung der praktischen Lehre durch das Internat den kuumlnstlichen Drill und die mechanische Gedaumlchtnis- uumlberfuumlllung durch Uumlberarbeitung ohne Ruumlcksicht auf die Zukunft das Mannesalter und die Pflichten des Mannes die er bald uumlben muszlig durch Vernachlaumlssigung der wirk- lichen Welt in die der junge Mensch bald eintreten wird der Gesellschaft die ihn umgibt der er sich anpassen muszlig will er nicht von vornherein verzichten des menschlichen Daseinskampfes fuumlr den er zu seiner Verteidigung und um sich zu halten im voraus geruumlstet und gewappnet geuumlbt abgehaumlrtet sein muszlig Diese unentbehrliche Aus- ruumlstung diese Errungenschaft die wichtiger ist als alle anderen diese Tuumlchtigkeit des gesunden Menschenverstan-

UNTERRICHT UND ERZIEHUNG 69

des des Willens und der Nerven in unseren Schulen wird sie nicht gewonnen ganz im Gegenteil statt den Menschen tuumlchtiger zu machen machen sie ihn untuumlchtig fuumlr seine naumlchste und kuumlnftige Stellung Daher sind nach dem Ver- lassen der Schule sein Eintritt in die Welt und seine ersten Schritte auf dem Felde des praktischen Wirkens nichts als eine Reihe schmerzlicher Niederlagen aus denen er ver- wundet und fuumlr lange Zeit zermuumlrbt verkruumlppelt hervor- geht Es ist eine harte und gefaumlhrliche Probe bei der das geistige und sittliche Gleichgewicht erschuumlttert wird und Gefahr laumluft nicht wiederhergestellt zu werden Die Ent- taumluschung kam zu jaumlh und zu vollstaumlndig der Betrug war zu groszlig und der Ekel zu stark Sind wir im vorstehenden von der Massenpsychologie ab- gewichen Gewiszlig nicht Wenn wir die Ideen und Glau- bensmeinungen die heute in ihr keimen und morgen auf- gehen werden verstehen wollen so muumlssen wir wissen wie der Boden dafuumlr vorbereitet wurde Der Unterricht den die Jugend eines Landes genieszligt erlaubt uns die Schicksale dieses Landes ein wenig vorauszusehen Die Er- ziehung die der heutigen Generation zuteil wird recht- fertigt die duumlstersten Ahnungen Hand in Hand mit dem Unterricht und der Erziehung veredelt sich die Massenseele oder verdirbt Es war daher notwendig zu zeigen wie das gegenwaumlrtige System sie geformt hat und wie die Masse der Unbeteiligten und Gleichguumlltigen allmaumlhlich zu einem riesigen Heer Unzufriedener wurde das bereit ist allen Einfluumlssen der Weltverbesserer und Redner zu folgen Die Schule bildet heute Unzufriedene und Anarchisten und bereitet fuumlr die lateinischen Voumllker die Zeiten des Nieder- gangs vor

Taine Le reacutegime moderne II 894 ndash Es sind fast die letzten Seiten die Taine schrieb Sie fassen die Ergebnisse der langen Erfahrungen des groszligen Denkers ausgezeichnet zusammen Die Erziehung ist unser einziges Mittel die Seele eines Volkes ein wenig zu beeinflussen und der Gedanke ist tief- traurig daszlig es fast niemand in Frankreich gibt der zu begreifen vermag daszlig unser gegenwaumlrtiger Unterricht eine furchtbare Ursache der Entartung ist Anstatt die Jugend zu erheben erniedrigt und verdirbt er sie

70 ENTFERNTE TRIEBKRAumlFTE DES GLAUBENS DER MASSEN

2 KAPITEL

Unmittelbare Triebkraumlfte der Anschauungen der Massen

Wir haben die mittelbaren und vorbereitenden Triebkraumlfte festgestellt die der Massenseele besondere Empfaumlnglichkeit verleihen indem sie das Aufbluumlhen gewisser Gefuumlhle und Ideen bei den Massen ermoumlglichen Jetzt haben wir noch die Triebkraumlfte zu untersuchen die eine unmittelbare Handlung bewirken koumlnnen Im naumlchsten Kapitel werden wir dann sehen wie diese Triebkraumlfte zu benutzen sind damit sie all ihre Wirkungen erzielen koumlnnenDer erste Teil dieses Werkes behandelte die Gefuumlhle Ideen und Uumlberzeugungen von Gesamtheiten (collectiviteacutes) Aus ihrer Kenntnis kann man offenbar die Mittel die Massen- seele zu beeinflussen in allgemeiner Weise feststellen Wir wissen bereits was auf die Einbildungskraft der Massen Eindruck macht kennen die Macht der Uumlbertragung von Beeinflussungen besonders jenen die in bildhafter Form auftreten Da aber die moumlglichen Beeinflussungen ganz ver- schiedenen Ursprung haben so koumlnnen auch die Faktoren die auf die Massen zu wirken vermoumlgen recht verschieden sein man muszlig sie daher gesondert untersuchen Die Mas- sen sind so etwas wie die Sphinx der antiken Sage man muszlig die Fragen die ihre Psychologie uns stellt loumlsen oder darauf gefaszligt sein von ihnen verschlungen zu werden

sect Bilder Worte und Redewendungen

Beim Studium der Einbildungskraft der Massen fanden wir daszlig sie namentlich durch Bilder erregt wird Diese Bilder stehen einem nicht immer zur Verfuumlgung aber man kann sie durch geschickte Anwendung von Worten und Redewendungen hervorrufen Werden sie kunstgerecht an- gewandt so besitzen sie wirklich die geheimnisvolle Macht die ihnen einst die Adepten der Magie zuschrieben Sie rufen in der Massenseele die furchtbarsten Stuumlrme hervor

und koumlnnen sie auch besaumlnftigen Man koumlnnte allein aus den Knochen der Menschen die der Macht der Worte und Redewendungen zum Opfer fielen eine houmlhere Pyramide als die des alten Cheops erbauen Die Macht der Worte ist mit den Bildern verbunden die sie hervorrufen und voumlllig unabhaumlngig von ihrer wahren Bedeutung Worte deren Sinn schwer zu erklaumlren ist sind oft am wirkungs- vollsten So z B die Ausdruumlcke Demokratie Sozialismus Gleichheit Freiheit u a deren Sinn so unbestimmt ist daszlig dicke Baumlnde nicht ausreichen ihn festzustellen Und doch knuumlpft sich eine wahrhaft magische Macht an ihre kurzen Silben als ob sie die Loumlsung aller Fragen ent- hielten In ihnen ist die Zusammenfassung der verschie- denen unbewuszligten Erwartungen und der Hoffnung auf ihre Verwirklichung lebendigMit Vernunft und Beweisgruumlnden kann man gewisse Worte und Redewendungen nicht bekaumlmpfen Man spricht sie mit Andacht vor den Massen aus und sogleich werden die Mienen ehrfurchtsvoll und die Koumlpfe neigen sich Viele sehen in ihnen Naturkraumlfte oder uumlbernatuumlrliche Maumlchte Sie rufen in den Seelen groszligartige und unbestimmte Bilder hervor aber eben das Unbestimmte das sie verwischt ver- mehrt ihre geheimnisvolle Macht Sie lassen sich mit jenen furchtbaren Gottheiten vergleichen die hinter dem Alier- heiligsten verborgen sind und denen der Andaumlchtige nur mit Zittern nahtDa die Bilder die durch die Worte hervorgerufen werden unabhaumlngig sind von ihrem Sinn so wandeln sie sich von Zeitalter zu Zeitalter von Volk zu Volk waumlhrend die Formeln dafuumlr die gleichen bleiben Mit bestimmten Wor- ten verbinden sich zeitweilig bestimmte Bilder das Wort ist nur der Klingelknopf der sie hervorruftNicht alle Worte und Redewendungen besitzen die Macht Bilder hervorzurufen und es gibt solche die sich danach abnutzen und in der Seele nichts mehr hervorrufen Sie bleiben dann leerer Schall dessen Hauptnutzen darin be- steht allen die von ihnen Gebrauch machen das Denken

72 UNMITTELBARE TRIEBKRAumlFTE DER MASSEN-ANSCHAUUNG

zu ersparen Mit einem kleinen Vorrat von Redewen- dungen und Gemeinplaumltzen die wir in der Jugend erlern- ten besitzen wir alles Noumltige um ohne die ermuumldende Notwendigkeit nachdenken zu muumlssen durchs Leben zu gehenBetrachtet man eine bestimmte Sprache so sieht man daszlig sich die Worte aus denen sie sich zusammensetzt im Laufe der Zeit nur ziemlich langsam veraumlndern aber un- aufhoumlrlich veraumlndern sich die Bilder die sie hervorrufen oder der Sinn den man ihnen unterlegt Und in einer anderen Arbeit bin ich daher zu dem Schluszlig gekommen daszlig die genaue Uumlbersetzung einer Sprache besonders einer toten Sprache voumlllig unmoumlglich ist Was tun wir denn in Wirklichkeit wenn wir einen franzoumlsischen Ausdruck ins Lateinische Griechische oder Sanskrit uumlbertragen wollen oder selbst wenn wir nur versuchen ein Buch zu ver- stehen das vor einigen Jahrhunderten in unserer eigenen Sprache geschrieben wurde Wir uumlbertragen einfach die Bilder und Vorstellungen die das moderne Leben in un- serem Verstand erzeugt hat auf die voumlllig verschiedenen Begriffe und Bilder die das antike Leben in der Seele von Rassen hervorbrachte deren Lebensbedingungen keine Aumlhn- lichkeit mit den unsrigen zeigen Die Menschen der Revo- lutionszeit glaubten die Griechen und Roumlmer nachzuahmen und gaben nur den alten Worten einen Sinn den sie nie- mals gehabt hatten Welche Aumlhnlichkeit koumlnnte zwischen den Einrichtungen der Griechen und solchen bestehen die heute mit gleichlautenden Worten bezeichnet werden Was war eine Republik damals anderes als eine wesentlich aristokratische aus einer Vereinigung kleiner Despoten gebildete Einrichtung die eine versklavte in voumllliger Ab- haumlngigkeit gehaltene Masse beherrschte Diese kommunalen Aristokratien die sich auf Sklaverei gruumlndeten haumltten nicht einen Augenblick ohne sie bestehen koumlnnenUnd wie koumlnnte das Wort Freiheit fuumlr ein Zeitalter das die Gedankenfreiheit noch nicht einmal ahnte und keinen groumlszligeren und uumlberdies seltneren Frevel kannte als uumlber

BILDER WORTE UND REDEWENDUNGEN 73

die Goumltter die Gesetze und die Sitten der Buumlrgerschaft zu streiten dieselbe Bedeutung haben wie fuumlr uns Das Wort Vaterland bedeutete in der Seele eines Atheners oder Spar- taners die Verehrung Athens oder Spartas keineswegs aber Griechenlands das aus vielen Stadtstaaten bestand die sich fortwaumlhrend bekriegten und miteinander wetteiferten Welche Bedeutung hatte dasselbe Wort bei den wetteifern- den Staumlmmen von verschiedener Rasse Sprache und Reli- gion des alten Galliens die Caumlsar so leicht besiegte weil er unter ihnen stets Verbuumlndete hatte Rom allein verlieh Gallien ein Vaterland indem es ihm die politische und religioumlse Einheit gab Doch man braucht gar nicht so weit zuruumlckzugehen knapp zwei Jahrhunderte genuumlgen glaubt man das Wort Vaterland sei von den franzoumlsischen Prin- zen die sich wie der groszlige Condeacute mit dem Feinde gegen ihren eigenen Herrscher verbanden in seiner jetzigen Be- deutung verstanden worden Und hatte dasselbe Wort fuumlr die Emigranten nicht noch einen ganz andern Sinn als heutzutage Sie glaubten den Gesetzen der Ehre zu gehor- chen wenn sie Frankreich bekaumlmpften und gehorchten ihnen damit tatsaumlchlich von ihrem Gesichtspunkt aus da das Lehnsgesetz den Vasallen dem Lehnsherrn verband und nicht dem Lande und dort wo sich der Herr befand auch das wahre Vaterland warUnzaumlhlige Worte haben so ihre Bedeutung im Laufe der Zeit entscheidend geaumlndert Wir koumlnnen nur noch mit groszliger Muumlhe ihre fruumlhere Bedeutung verstehen Man muszlig viel lesen hat man mit Recht gesagt um nur zu begreifen was in den Augen unsrer Groszligeltern Worte wie bdquoder Koumlnigldquo und bdquodie koumlnigliche Familieldquo bedeuteten Wie steht es da erst mit schwierigeren AusdruumlckenDie Worte haben also nur veraumlnderliche und vergaumlngliche Bedeutungen die mit den Zeiten und Voumllkern wechseln Wollen wir durch sie auf die Massen wirken so muumlssen wir den Sinn kennen den sie fuumlr die Massen im gege- benen Augenblick haben nicht aber jenen den sie einst besaszligen oder den sie fuumlr Persoumlnlichkeiten von ganz be-

74 UNMITTELBARE TRIEBKRAumlFTE DER MASSEN-ANSCHAUUNG

sonderer geistiger Beschaffung haben koumlnnen Worte sind ebenso lebendig wie IdeenWenn also die Massen infolge politischer Umwaumllzungen oder nach einem Glaubenswechsel einen tiefen Widerwillen gegen die Bilder haben die durch bestimmte Worte aus- geloumlst werden so ist es die erste Aufgabe des wahren Staatsmannes die Bezeichnungen zu aumlndern ohne ndash wohl- gemerkt ndash an die Dinge selbst zu ruumlhren da diese zu sehr an eine ererbte Geistesverfassung gebunden sind als daszlig man sie aumlndern koumlnnte Der geistreiche Tocqueville hat darauf aufmerksam gemacht daszlig die Arbeit des Konsulats und des Kaisertums vor allen Dingen darin bestand die Mehrzahl der Einrichtungen der Vergangenheit mit neuen Bezeichnungen zu versehen folglich die Ausdruumlcke die in der Phantasie der Massen verhaszligte Bilder hervorriefen durch andre zu ersetzen deren Neuheit das unmoumlglich machte Die

bdquoTailleldquo wurde zur Grundsteuer die bdquoGabelleldquo zur Salz- steuer die Verbrauchssteuer zu indirekten Steuern und Zoumll- len die Meister- und Zunfttaxe zur Gewerbesteuer uswEine der wichtigsten Aufgaben der Staatsmaumlnner besteht also darin die Dinge die die Massen unter ihren alten Bezeichnungen verabscheuen mit volkstuumlmlichen oder we- nigstens bedeutungslosen Namen zu taufen Die Macht der Worte ist so groszlig daszlig gutgewaumlhlte Bezeichnungen genuuml- gen um den Massen die verhaszligtesten Dinge annehmbar zu machen Taine bemerkt ganz richtig daszlig die Jakobiner durch Berufung auf die damals sehr volkstuumlmlichen Worte

bdquoFreiheitldquo und bdquoBruumlderlichkeitldquo einen Despotismus der des Koumlnigreichs Dahomey wuumlrdig gewesen waumlre ein Tri- bunal wie die Inquisition und Menschenhekatomben gleich denen des alten Mexiko heraufbeschwoumlren konnten Die Regierungskunst besteht wie die der Rechtsanwaumllte darin daszlig man die Worte zu meistern versteht Eine schwierige Kunst denn in derselben Gesellschaft haben die gleichen Worte fuumlr die verschiedenen sozialen Schichten oft ganz verschiedene Bedeutung Sie gebrauchen anscheinend diesel- ben Worte sprechen aber nicht dieselbe Sprache

BILDER WORTE UND REDEWENDUNGEN 75

In den vorstehenden Beispielen haben wir als Haupt- ursache fuumlr den Bedeutungswandel der Worte besonders die Zeit in Betracht gezogen Wollten wir auch die Rasse heranziehen so wuumlrden wir sehen daszlig zu gleicher Zeit bei Voumllkern von gleicher Kultur aber verschiedener Rasse die gleichen Worte oft ganz verschiedenartigen Vorstellungen entsprechen Diese Unterschiede kann man ohne zahlreiche Reisen nicht kennenlernen und verstehen und ich will sie daher nicht hervorheben Ich beschraumlnke mich auf die Be- merkung daszlig gerade die gebraumluchlichsten Worte bei den verschiedenen Voumllkern die verschiedenste Bedeutung haben So z B die Ausdruumlcke bdquoDemokratieldquo und bdquoSozialismusldquo die heute soviel gebraucht werdenSie entsprechen in Wirklichkeit fuumlr die lateinische und die angelsaumlchsische Seele inhaltlich und bildlich voumlllig ent- gegengesetzten Vorstellungen Bei den lateinischen Voumllkern bedeutet das Wort Demokratie vor allem die Ausloumlschung des Willens und der Tatkraft des einzelnen vor dem Staat Dem Staat wird immer mehr aufgeladen er soll fuumlhren zentralisieren monopolisieren fabrizieren An ihn wenden sich bestaumlndig alle Parteien ohne Ausnahme Radikale Sozialisten Monarchisten Bei den Angelsachsen nament- lich bei den Amerikanern bedeutet dasselbe Wort im Gegenteil die angespannteste Entfaltung des Willens und der Persoumlnlichkeit das moumlglichste Zuruumlcktreten des Staates den man mit Ausnahme der Polizei des Heeres und der diplomatischen Beziehungen nichts leiten laumlszligt nicht einmal den Unterricht Dasselbe Wort hat also bei diesen beiden Voumllkern einen voumlllig entgegengesetzten Sinn

sect 2 Die Taumluschungen (illusions)

Seit der Morgenroumlte der Kultur sind die Voumllker immer dem Einfluszlig von Taumluschungen ausgesetzt gewesen Den

In den bdquoPsychologischen Gesetzen der Voumllkerentwicklungldquo habe ich klar auf den Unterschied hingewiesen der das lateinische Ideal der Demokratie von dem angelsaumlchsischen Ideal der Demokratie unterscheidet

76 UNMITTELBARE TRIEBKRAumlFTE DER MASSEN-ANSCHAUUNG

Schoumlpfern von Taumluschungen haben sie die meisten Tempel Bildwerke und Altaumlre errichtet Fruumlher waren es religioumlse heute sind es philosophische Taumluschungen ndash aber immer findet man diese furchtbaren Herrscherinnen an der Spitze aller Kulturen die nacheinander auf unserm Planeten bluumlhten In ihrem Namen stiegen die Tempel Chaldaumlas und Aumlgyptens die Kirchenbauten des Mittelalters empor in ihrem Namen wurde ganz Europa vor einem Jahr- hundert umgewaumllzt Es gibt nicht eine einzige unserer kuumlnstlerischen politischen oder sozialen Anschauungen die nicht ihren maumlchtigen Stempel truumlge Oft schuumlttelt sie der Mensch um den Preis furchtbarer Umwaumllzungen ab aber er scheint dazu verdammt zu sein sie immer wieder auf- zurichten Ohne sie haumltte er die primitive Barbarei nicht hinter sich lassen koumlnnen und ohne sie wuumlrde er ihr bald wieder verfallen Zweifellos sind es leere Schatten aber diese Toumlchter unserer Traumlume haben die Voumllker gezwun- gen all das zu schaffen was den Glanz der Kuumlnste und die Groumlszlige der Kultur ausmacht

bdquoWenn man alle Kunstwerke und Denkmaumller in den Mu- seen und Bibliotheken die dem Einfluszlig der Religion ihr Dasein verdanken zerstoumlren und auf den Steinen ihrer Vorhoumlfe zertruumlmmern koumlnnte was bliebe von den groszligen Traumlumen der Menschheit uumlbrigldquo schreibt ein Autor der die Summe unseres Wissens zieht bdquoDie Daseinsberech- tigung der Goumltter Helden und Dichter besteht darin den Menschen ihren Anteil an Hoffnungen und Taumluschungen zu geben ohne die sie nicht leben koumlnnen Eine Zeitlang schien die Wissenschaft diese Aufgabe zu uumlbernehmen Sie hat sich aber bei den idealhungrigen Gemuumltern um ihr Ansehen gebracht weil sie nicht mehr genug zu verspre- chen wagt und nicht genug zu luumlgen weiszligldquoDie Philosophen des vergangenen Jahrhunderts widmeten sich mit Eifer der Zerstoumlrung der religioumlsen politischen und sozialen Taumluschungen von denen unsere Vaumlter viele Jahrhunderte lang gelebt hatten Diese Zerstoumlrung lieszlig die Quellen der Hoffnung und Ergebung versiegen Hinter den

DIE TAumlUSCHUNGEN 77

geopferten Chimaumlren fanden sie die blinden Naturkraumlfte die unerbittlich sind gegen Schwaumlche und kein Mitleid kennenTrotz all ihrer Fortschritte hat die Philosophie nicht ver- mocht den Massen ein Ideal zu bieten das sie bezaubern koumlnnte Da ihnen aber Taumluschungen unentbehrlich sind so wenden sie sich unwillkuumlrlich wie die Motte dem Licht den Rednern zu die sie ihnen bieten Die groszlige Trieb- kraft der Voumllkerentwicklung war niemals die Wahrheit sondern der Irrtum Und wenn heute der Sozialismus seine Macht wachsen sieht so erklaumlrt es sich daraus daszlig er die einzige Taumluschung darstellt die noch lebendig ist Wissen- schaftliche Beweisfuumlhrungen koumlnnen seine Entwicklung nicht aufhalten Seine Hauptstaumlrke liegt darin daszlig er von Koumlpfen verteidigt wird die die Tatsachen der Wirklichkeit genuumlgend verkennen um es zu wagen den Menschen kuumlhn das Gluumlck zu versprechen Die soziale Taumluschung herrscht heute auf allen Ruinen die die Vergangenheit auftuumlrmte und ihr gehoumlrt die Zukunft Nie haben die Massen nach Wahrheit geduumlrstet Von den Tatsachen die ihnen miszlig- fallen wenden sie sich ab und ziehen es vor den Irrtum zu vergoumlttern wenn er sie zu verfuumlhren vermag Wer sie zu taumluschen versteht wird leicht ihr Herr wer sie aufzu- klaumlren sucht stets ihr Opfer

sect 3 Die Erfahrung

Die Erfahrung ist so ziemlich das einzige wirksame Mittel um der Massenseele eine Wahrheit fest einzupflanzen und zu gefaumlhrlich gewordene Taumluschungen zu zerstoumlren Dazu muszlig die Erfahrung auf einer breiten Grundlage ruhen und oft wiederholt werden Die von einer Generation gesam- melten Erfahrungen sind im allgemeinen fuumlr die folgende nutzlos darum hat es keinen Zweck geschichtliche Ereig- nisse als Beweise anzufuumlhren Ihr einziger Nutzen ist daszlig sie zeigt in welchem Maszlige die Erfahrungen in jedem Zeit- alter wiederholt werden muumlssen um irgendwelchen Einfluszlig

78 UNMITTELBARE TRIEBKRAumlFTE DER MASSEN-ANSCHAUUNG

zu gewinnen und den Erfolg zu haben auch nur einen Irrtum der mit der Massenseele verwachsen ist auszu- rottenUnser Jahrhundert und das vorhergehende werden von den Historikern der Zukunft zweifellos als eine Zeit merk- wuumlrdiger Erfahrungen bezeichnet werden Kein anderes Zeitalter hat so viele aufzuweisenDie gewaltigste Erfahrung war die Franzoumlsische Revo- lution Um zu entdecken daszlig man eine Gesellschaft nicht mit den Mitteln der reinen Vernunft von Grund auf er- neuern kann muszligten einige Millionen Menschen hinge- schlachtet und ganz Europa zwanzig Jahre lang erschuumlttert werden Um uns durch die Erfahrung zu beweisen daszlig Caumlsaren den Voumllkern die ihnen zujauchzen teuer zu stehen kommen waren innerhalb fuumlnfzig Jahren zwei vernich- tende Erfahrungen noumltig die trotz ihrer Verstaumlndlichkeit nicht uumlberzeugend genug gewesen zu sein scheinen Gleich- wohl kostete die erste drei Millionen Menschen und einen feindlichen Einmarsch die zweite eine Zerreiszligung des Lan- des und die Notwendigkeit stehender Heere Eine dritte waumlre beinahe vor kurzem gemacht worden und wird eines Tages sicherlich gemacht werden Um uns zu beweisen daszlig das riesige deutsche Heer nicht wie man uns vor 870 lehrte eine Art harmloser Nationalgarde ist war der schreckliche Krieg noumltig der uns so viel gekostet hat Um zu der Erkenntnis zu kommen daszlig das Schutzzollsystem

Die Anschauung der Massen bildete sich in diesem Fall durch die groben Verbindungen unaumlhnlicher Dinge deren Mechanik ich fruumlher erklaumlrt habe Weil damals unsere Nationalgarde aus friedlichen Kleinbuumlrgern ohne jede straffe Zucht bestand und nicht ernst zu nehmen war erweckte alles was einen aumlhnlichen Namen trug dieselben Bilder und wurde folglich fuumlr ebenso harmlos gehalten Der Irrtum der Massen wurde damals wie es bei allge- meinen Anschauungen so oft der Fall ist von den Fuumlhrern geteilt In einer Rede die Herr Thiers am 3 Dezember 867 in der Deputiertenkammer hielt wiederholte er ein Staatsmann der der Massenanschauung oft gefolgt ist Preuszligen besitze auszliger einem aktiven Heere an Zahl dem unsrigen fast gleich nur eine Nationalgarde die von derselben Art wie wir sie einmal besessen und demnach ohne Bedeutung sei ndash eine ebenso richtige Behauptung wie die beruumlhmte Prophezeiung desselben Staatsmannes uumlber die Zukunfts- losigkeit der Eisenbahnen

DIE ERFAHRUNG 79

die Voumllker die es anwenden endguumlltig zugrunde richtet werden noch unheilvolle Erfahrungen noumltig sein Diese Beispiele lieszligen sich ins Unendliche vermehren

sect 4 Die Vernunft

Bei der Aufzaumlhlung der Faktoren die imstande sind die Massenseele zu erregen koumlnnten wir uns die Erwaumlhnung der Vernunft ersparen wenn man nicht den negativen Wert ihres Einflusses aufzeigen muumlszligteWir haben bereits festgestellt daszlig die Massen durch logi- sche Beweise nicht zu beeinflussen sind und nur grobe Ideenverbindungen begreifen Daher wenden sich auch die Redner die Eindruck auf sie zu machen verstehen an ihr Gefuumlhl und niemals an ihre Vernunft Die Gesetze der Logik haben keinerlei Einfluszlig auf sie Um die Massen zu uumlberzeugen muszlig man sich zunaumlchst genau Rechenschaft geben uumlber die Gefuumlhle die sie beseelen muszlig den An- schein erwecken daszlig man sie teilt dann versuchen sie zu veraumlndern indem man mittels angedeuteter Ideenverbin- dungen gewisse zwingende Bilder hervorruft ferner muszlig man im Notfall sein Vorhaben aufgeben koumlnnen und vor

Meine ersten Beobachtungen uumlber die Kunst der Massenbeeinflussung und die schwachen Hilfsmittel die die Logik in dieser Beziehung bietet machte ich waumlhrend der Belagerung von Paris an dem Tage an dem ich den Mar- schall Vhellip nach dem Louvre dem Sitz der damaligen Regierung bringen sah weil eine wuumltende Volksmenge ihn dabei uumlberrascht haben wollte als er den Festungsplan entwendete um ihn den Preuszligen zu verkaufen Ein Re- gierungsmitglied G P hellip ein beruumlhmter Redner trat heraus um eine Ansprache an die Massen zu halten die die unverzuumlgliche Hinrichtung des Gefangenen verlangten Ich erwartete der Redner werde die Unsinnigkeit der Beschuldigung durch die Feststellung beweisen daszlig der angeklagte Marschall ausgerechnet einer der Konstrukteure der Befestigung sei deren Plan man uumlbrigens in allen Buchhandlungen kaufen konnte Zu meiner groszligen Verbluumlf- fung ndash ich war damals noch sehr jung ndash lautete die Rede ganz anders bdquoDem Recht wird Genuumlge geschehenldquo rief der Redner indem er auf den Gefangenen zuging bdquowird in unerbittlicher Weise Genuumlge geschehen Laszligt die Regierung der nationalen Verteidigung eure Sache durchfuumlhren einstweilen werden wir den Angeklagten einsperrenldquo Durch diese scheinbare Genugtuung besaumlnftigt zerstreute sich die Menge und der Marschall konnte schon nach Verlauf einer Viertelstunde seine Wohnung aufsuchen Sicherlich waumlre er totgeschlagen wor- den wenn sein Verteidiger der wuumltenden Menge die logischen Beweisgruumlnde vorgehalten haumltte die meine groszlige Jugend sehr uumlberzeugend fand

80 UNMITTELBARE TRIEBKRAumlFTE DER MASSEN-ANSCHAUUNG

allen Dingen jeden Augenblick die Gefuumlhle erraten die man erweckt Diese Notwendigkeit seine Ausdrucksweise je nach dem erzielten Erfolg im Augenblick zu veraumlndern verurteilt jede vorbereitete und eingelernte Rede von vorn- herein zur Wirkungslosigkeit Der Redner folgt seinen eignen Gedanken nicht denen seiner Zuhoumlrer und verliert schon allein durch diese Tatsache jeden EinfluszligDie logischen Koumlpfe die an die ziemlich knappen Schluszlig- ketten der Vernunft gewoumlhnt sind koumlnnen sich nicht ent- halten ihre Zuflucht zu dieser Uumlberzeugungsweise zu neh- men wenn sie sich an die Massen wenden und sind immer wieder uumlber das Fehlschlagen ihrer Beweise uumlberrascht

bdquoDie gewoumlhnlichen mathematischen Schluumlsse die sich auf den Syllogismus d h auf Identitaumltsketten gruumlnden sind notwendigldquo schreibt ein Logiker hellip bdquoIhre Notwendigkeit wuumlrde selbst die Zustimmung einer anorganischen Masse erzwingen wenn sie den Identitaumltsketten folgen koumlnnteldquo Gewiszlig aber die Menge ist ebensowenig imstande ihnen zu folgen oder sie auch nur zu verstehen wie die anorganische Masse Man mache z B den Versuch primitive Wesen Wilde oder Kinder durch ein logisches Urteil zu uumlber- zeugen und man wird einsehen wie wenig Wirkung diese Beweisfuumlhrung hatMan braucht nicht einmal bis zu den primitiven Wesen hinabzusteigen um die voumlllige Ohnmacht der Logik im Kampf gegen Gefuumlhle festzustellen Erinnern wir uns nur daran wie hartnaumlckig sich viele Jahrhunderte hindurch die religioumlsen Vorurteile gehalten haben die der einfachsten Logik widersprechen Fast zweitausend Jahre lang beugten sich die aufgeklaumlrtesten Geister unter ihre Gesetze und erst in der modernen Zeit war es uumlberhaupt moumlglich ihre Wahrheiten anzuzweifeln Das Mittelalter und die Renais- sance hatten genug aufgeklaumlrte Koumlpfe aber nicht ein ein- ziger war darunter dem die Vernunft die kindischen Seiten seines Aberglaubens enthuumlllt und auch nur einen leisen Zweifel an den Bosheiten des Teufels oder an der Not- wendigkeit der Hexenverbrennungen wachgerufen haumltte

DIE VERNUNFT 81

Ist es zu bedauern daszlig die Massen nie von der Vernunft geleitet werden Wir wagen es nicht zu behaupten Der menschlichen Vernunft waumlre es wahrscheinlich nicht ge- lungen die Menschheit mit derselben Glut und Kuumlhnheit die Bahnen der Kultur zu fuumlhren zu der ihre Trugbilder sie fortgerissen haben Die Trugbilder waren Erzeugnisse des Unbewuszligten von dem wir geleitet werden und sie waren wahrscheinlich notwendig Jede Rasse birgt in ihrer geistigen Verfassung die Gesetze ihres Schicksals und viel- leicht gehorcht sie diesen Gesetzen infolge eines untruumlg- lichen Instinktes auch dann wenn ihre unvernuumlnftigsten Aumluszligerungen in Erscheinung treten Es scheint manchmal als ob die Voumllker geheimen Kraumlften unterworfen waumlren gleich jenen die die Eichel in eine Eiche umwandeln oder den Kometen zwingen seine Bahn einzuhaltenDas wenige was wir uumlber diese Kraumlfte erforschen koumlnnen muszlig in dem allgemeinen Entwicklungsgang der Voumllker ge- sucht werden und nicht in den einzelnen Tatsachen aus denen sich diese Entwicklung zu ergeben scheint Wuumlrde man nur diese einzelnen Tatsachen in Betracht ziehen so schiene es als sei die Geschichte von ungereimten Zufaumlllen beherrscht Es war unglaubhaft daszlig ein unwissender Zim- mermann aus Galilaumla zweitausend Jahre hindurch zu einem allmaumlchtigen Gott werden konnte in dessen Namen die bedeutendsten Kulturen gegruumlndet wurden unglaubhaft war es auch daszlig einige arabische Horden die ihre Wuumlste ver- lieszligen den groumlszligten Teil der alten griechisch-roumlmischen Welt erobern konnten unglaubhaft war es endlich daszlig in einem sehr gealterten und in Rangordnungen festgelegten Europa ein einfacher Artillerieleutnant es zuwege brachte uumlber eine groszlige Anzahl von Voumllkern und Koumlnigen zu herrschenUumlberlassen wir also die Vernunft den Philosophen aber ver- langen wir nicht von ihr daszlig sie sich allzuviel in die Re- gierung der Menschen einmische Nicht vermoumlge sondern oft trotz der Vernunft bildeten sich Gefuumlhle wie Ehre Ent- sagung religioumlser Glaube Ruhmes- und Vaterlandsliebe die bis heute die groszligen Triebfedern aller Kultur gewesen sind

82 UNMITTELBARE TRIEBKRAumlFTE DER MASSEN-ANSCHAUUNG

3 KAPITEL

Die Fuumlhrer der Massen und ihre Uumlberzeugungsmittel

Die Geistesverfassung der Massen ist uns jetzt bekannt und wir wissen nun auch welche Kraumlfte auf sie wirken Jetzt haben wir zu untersuchen wie diese Kraumlfte angewandt wer- den muumlssen und durch wen sie nutzbringend in Taumltigkeit umgesetzt werden

sect Die Fuumlhrer der Massen

Sobald eine gewisse Anzahl lebender Wesen vereinigt ist einerlei ob eine Herde Tiere oder eine Menschenmenge unterstellen sie sich unwillkuumlrlich einem Oberhaupt d h einem FuumlhrerIn den menschlichen Massen spielt der Fuumlhrer eine hervor- ragende Rolle Sein Wille ist der Kern um den sich die An- schauungen bilden und ausgleichen Die Masse ist eine Herde die sich ohne Hirten nicht zu helfen weiszligSehr oft war der Fuumlhrer zuerst ein Gefuumlhrter der selbst von der Idee hypnotisiert war deren Apostel er spaumlter wurde Sie hat ihn so sehr erfuumlllt daszlig neben ihr alles verschwand und daszlig ihm nun jede gegenteilige Anschauung als Irrtum und Aberglaube erscheint So z B Robespierre der von seinen wunderlichen Ideen so hypnotisiert war daszlig er sich zu ihrer Verbreitung der Mittel der Inquisition bedienteMeistens sind die Fuumlhrer keine Denker sondern Maumlnner der Tat Sie haben wenig Scharfblick und koumlnnten auch nicht anders sein da der Scharfblick im allgemeinen zu Zweifel und Untaumltigkeit fuumlhrt Man findet sie namentlich unter den Nervoumlsen Reizbaren Halbverruumlckten die sich an der Grenze des Irrsinns befinden So abgeschmackt auch die verfochtene Idee oder das verfolgte Ziel sein mag gegen ihre Uumlberzeugung wird alle Logik zunichte Ver- achtung und Verfolgung stoumlrt sie nicht oder erregt sie nur noch mehr Persoumlnliches Interesse Familie alles wird ge-

opfert Sogar der Selbsterhaltungstrieb ist bei ihnen aus- geschaltet und zwar in solchem Maszlige daszlig die einzige Be- lohnung die sie oft anstreben das Martyrium ist Die Staumlrke ihres Glaubens verleiht ihren Worten eine groszlige suggestive Macht Die Menge houmlrt immer auf den Men- schen der uumlber einen starken Willen verfuumlgt Die in der Masse vereinigten Einzelnen verlieren allen Willen und wenden sich instinktiv dem zu der ihn besitztAn Fuumlhrern hat es den Voumllkern nie gefehlt aber sie besit- zen nicht alle die starken Uumlberzeugungen die den Apostel machen Oft sind es geschickte Redner die nur ihre eigenen Interessen verfolgen und durch Schmeicheln niedriger In- stinkte zu uumlberreden suchen Der Einf luszlig den sie aus- uumlben bleibt stets nur aumluszligerlich Die groszligen Uumlberzeugten die die Massenseele erhoben haben wie Peter von Amiens Luther Savonarola die Revolutionsmaumlnner begeisterten erst nachdem sie selbst durch einen Glauben begeistert waren Dann freilich konnten sie in den Seelen jene furcht- bare Macht erzeugen die Glaube heiszligt und den Menschen zum voumllligen Sklaven seines Traumes machtGlauben erwecken sei es religioumlser politischer oder sozialer Glaube Glaube an eine Person oder an eine Idee das ist die besondere Rolle des groszligen Fuumlhrers Von allen Kraumlf- ten die der Menschheit zur Verfuumlgung stehen war der Glaube stets eine der bedeutendsten und mit Recht schreibt ihm das Evangelium die Macht zu Berge zu versetzen Dem Menschen einen Glauben schenken heiszligt seine Kraft verzehnfachen Die groszligen geschichtlichen Ereignisse wur- den oft von unbekannten Glaumlubigen verwirklicht die nichts als ihren Glauben besaszligen Nicht die Gelehrten und Philo- sophen vor allem nicht die Skeptiker haben die groszligen Religionen geschaffen die die Welt und die riesigen Reiche die sich von der einen Erdhaumllfte bis zur andern erstreckten beherrscht habenDoch solche Beispiele passen nur fuumlr die groszligen Fuumlhrer und die sind so selten daszlig die Geschichte ihre Zahl leicht feststellen koumlnnte Sie bilden den Gipfel einer absteigenden

84 DIE FUumlHRER UND IHRE UumlBERZEUGUNGSMITTEL

Reihe von den Fuumlhrernaturen angefangen bis hinunter zum Arbeiter der in einer rauchigen Kneipe seine Genos- sen nach und nach begeistert indem er fortwaumlhrend ein paar kaum verstandene Redensarten wiederholt die nach seiner Meinung alle Traumlume und Hoffnungen verwirk- lichen wuumlrdenIn allen sozialen Schichten von der houmlchsten bis zur nied- rigsten geraumlt der Mensch sobald er nicht mehr allein- steht leicht unter die Herrschaft eines Fuumlhrers Die meisten Menschen besonders in den Massen des Volkes haben von nichts auszligerhalb ihres Berufsfaches eine klare und richtige Vorstellung Sie sind nicht imstande sich selbst zu leiten so dient ihnen der Fuumlhrer als Wegweiser Er kann zur Not aber nur sehr unzureichend durch Zeitungen ersetzt wer- den die ihren Lesern Meinungen anfertigen und Redens- arten bieten welche alles Denken ersparenDie Herrschaft der Fuumlhrer ist aumluszligerst gewaltsam und ver- dankt nur dieser Gewalt ihre Geltung Man kann oft er- leben wie leicht sie sich in unruhigsten Arbeiterschichten Gehorsam verschaffen ohne ein anderes Mittel als ihr Ansehen anzuwenden Sie bestimmen die Zahl der Arbeits- stunden die Lohntarife beschlieszligen die Streiks lassen sie zu einer bestimmten Stunde beginnen und endenHeute haben es die Fuumlhrer darauf abgesehen nach und nach die oumlffentlichen Gewalten zu ersetzen soweit man sie eroumlrtern und schwaumlchen kann Durch ihre Gewaltherrschaft erreichen diese neuen Herren daszlig die Massen ihnen viel leichter folgen als irgendeiner Regierung Verschwindet durch einen Zufall der Fuumlhrer und ist nicht sofort Ersatz da so wird die Masse wieder eine Menge ohne Zusammen- hang und Widerstandskraft Waumlhrend eines Streiks der Pariser Omnibusangestellten genuumlgte die Verhaftung der beiden Anfuumlhrer die ihn leiteten um ihm sofort ein Ende zu bereiten Nicht das Freiheitsbeduumlrfnis sondern der Diensteifer herrscht stets in der Massenseele Ihr Drang zu gehorchen ist so groszlig daszlig sie sich jedem der sich zu ihrem Herrn erklaumlrt instinktiv unterordnen

DIE FUumlHRER DER MASSEN 85

Innerhalb der Klasse der Fuumlhrer laumlszligt sich eine ziemlich scharfe Einteilung vornehmen Zu der einen Art gehoumlren die energischen willensstarken aber nicht ausdauernden Menschen zur andern viel selteneren die Menschen mit einem starken ausdauernden Willen Die ersteren sind heftig tapfer kuumlhn Sie taugen besonders dazu einen Handstreich durchzufuumlhren die Massen trotz der Gefahr mitzureiszligen und die jungen Rekruten in Helden zu ver- wandeln So waren z B im ersten Kaiserreich Ney und Murat So war auch noch zu unserer Zeit Garibaldi ein talentloser aber energischer Abenteurer dem es gelang mit einer Handvoll Menschen sich des ehemaligen Koumlnigreichs Neapel zu bemaumlchtigen obwohl es von einem regelrechten Heer verteidigt wurdeAber wenn die Energie solcher Fuumlhrer auch gewaltig ist so ist sie doch nur voruumlbergehend und uumlberdauert kaum den Aufschwung den sie erzeugten Sind die Helden in den Strom des gewoumlhnlichen Lebens zuruumlckgetaucht so geben sie die fruumlher so feurig waren Beweise von er- staunlicher Schwaumlche Sie scheinen unfaumlhig zum Nach- denken und koumlnnen sich in den einfachsten Verhaumlltnissen nicht zurechtfinden nachdem sie doch vorher die andern so gut zu leiten verstanden Diese Fuumlhrer koumlnnen ihre Aufgabe nur dann erfuumlllen wenn sie selbst unausgesetzt gefuumlhrt und angetrieben werden stets einen Menschen oder eine Idee uumlber sich fuumlhlen und genauen Verhaltungsregeln folgen muumlssenDie zweite Fuumlhrerklasse die der Menschen mit ausdauern- dem Willen uumlbt trotz ihres weniger glaumlnzenden Auftretens einen viel bedeutenderen Einfluszlig aus Zu ihnen gehoumlren die wahren Begruumlnder von Religionen oder groszligen Wer- ken Paulus Mohammed Kolumbus Lesseps Moumlgen sie intelligent beschraumlnkt oder unbedeutend sein stets wird die Welt fuumlr sie eintreten Der beharrliche Wille den sie besitzen ist eine unendlich seltene und unendlich maumlchtige Eigenschaft die sich alles unterwirft Man ist sich nicht immer klar genug daruumlber was ein starker und stetiger

86 DIE FUumlHRER UND IHRE UumlBERZEUGUNGSMITTEL

Wille vermag Nichts widersteht ihm weder die Natur noch die Goumltter noch die MenschenDas juumlngste Beispiel hat uns der beruumlhmte Ingenieur ge- geben der zwei Erdteile voneinander trennte und den Versuch durchfuumlhrte den dreitausend Jahre hindurch die groumlszligten Herrscher vergeblich unternommen hatten Er scheiterte spaumlter an einem gleichartigen Unternehmen aber dann war er alt und im Alter erlischt alles auch der WilleUm die Macht des Willens zu beweisen braucht man nur die Geschichte der Schwierigkeiten die bei dem Durch- stich des Suezkanals zu uumlberwinden waren mit allen Ein- zelheiten zu erzaumlhlen Ein Augenzeuge Doktor Cazalis hat die Ausfuumlhrung dieses Riesenwerkes in einige ergrei- fende Zeilen zusammengefaszligt wie sie dessen unsterblicher Urheber schilderte bdquoEr erzaumlhlte Tag fuumlr Tag in einzelnen Abschnitten das Gedicht vom Kanal Er erzaumlhlte von allem was er zu uumlberwinden hatte von allem Unmoumlg- lichen das er moumlglich gemacht hatte von allen Wider- staumlnden den Buumlndnissen gegen ihn den Bitterkeiten Un- faumlllen Schlappen die ihn aber nie entmutigen und lahmen konnten er dachte an England das ihn bekaumlmpfte ihn unablaumlssig angriff erinnerte an Aumlgypten und Frankreich die zoumlgerten an den franzoumlsischen Konsul der sich mehr als die andern den ersten Arbeiten widersetzte und wie man sich ihm entgegenstellte indem man die Arbeiter durch den Durst zu beeinflussen suchte und ihnen das Trinkwasser verweigerte dann sprach er vom Marine- ministerium und von den Ingenieuren von all den ernsten erfahrenen Kennern ihrer Wissenschaft die naturgemaumlszlig alle feindlich gesinnt und theoretisch von dem Fehlschlag uumlberzeugt waren den sie berechneten und in Aussicht stell- ten wie man eine Sonnenfinsternis fuumlr einen bestimmten Tag oder eine bestimmte Stunde voraussagtldquo Das Buch in dem das Leben all dieser groszligen Fuumlhrer zu schildern waumlre wuumlrde nicht viele Namen enthalten aber diese Na- men standen an der Spitze der wichtigsten Ereignisse der Kultur und Geschichte

DIE FUumlHRER DER MASSEN 87

sect 2 Die Wirkungsmittel der Fuumlhrer Behauptung Wiederholung Uumlbertragung

Wenn es sich darum handelt eine Masse fuumlr den Augen- blick mitzureiszligen und sie zu bestimmen irgend etwas zu tun etwa einen Palast zu pluumlndern sich bei der Verteidi- gung eines befestigten Platzes oder einer Barrikade toumlten zu lassen so muszlig man durch raschen Einfluszlig auf sie wir- ken Der erfolgreichste ist das Beispiel Doch ist dann not- wendig daszlig die Masse schon durch gewisse Umstaumlnde vorbereitet ist und besonders daszlig der der sie mitreiszligen will die Eigenschaft besitzt die ich spaumlter als Einf luszlig untersuchen werdeHandelt es sich jedoch darum der Massenseele Ideen und Glaubenssaumltze langsam einzufloumlszligen z B die modernen so- zialen Lehren so wenden die Fuumlhrer verschiedene Verfah- ren an Sie benutzen hauptsaumlchlich drei bestimmte Arten die Behauptung die Wiederholung und die Uumlbertragung oder Ansteckung (contagion) Ihre Wirkung ist ziemlich langsam aber ihre Erfolge sind von DauerDie reine einfache Behauptung ohne Begruumlndung und jeden Beweis ist ein sichres Mittel um der Massenseele eine Idee einzufloumlszligen Je bestimmter eine Behauptung je freier sie von Beweisen und Belegen ist desto mehr Ehrfurcht erweckt sie Die religioumlsen Schriften und die Gesetzbuumlcher aller Zeiten haben sich stets einfacher Behauptungen be- dient Die Staatsmaumlnner die zur Durchfuumlhrung einer poli- tischen Angelegenheit berufen sind die Industriellen die ihre Erzeugnisse durch Anzeigen verbreiten kennen den Wert der BehauptungDie Behauptung hat aber nur dann wirklichen Einf luszlig wenn sie staumlndig wiederholt wird und zwar moumlglichst mit denselben Ausdruumlcken Napoleon sagte es gaumlbe nur eine einzige ernsthafte Redefigur die Wiederholung Das Wie- derholte befestigt sich so sehr in den Koumlpfen daszlig es schlieszliglich als eine bewiesene Wahrheit angenommen wirdMan versteht den Einfluszlig der Wiederholung auf die Mas-

sen gut wenn man sieht welche Macht sie uumlber die auf- geklaumlrtesten Koumlpfe hat Das Wiederholte setzt sich schlieszlig- lich in den tiefen Bereichen des Unbewuszligten fest in denen die Ursachen unserer Handlungen verarbeitet werden Nach einiger Zeit wenn wir vergessen haben wer der Urheber der wiederholten Behauptung ist glauben wir schlieszliglich daran Daher die erstaunliche Wirkung der An- zeige Haben wir hundertmal gelesen die beste Schokolade sei die Schokolade X so bilden wir uns ein wir haumltten es haumlufig gehoumlrt und glauben schlieszliglich es sei wirklich so Tausend schriftliche Zeugnisse uumlberreden uns so sehr zu glauben das Y-Pulver habe die bedeutendsten Persoumlnlich- keiten von den hartnaumlckigsten Krankheiten geheilt daszlig wir uns am Ende wenn wir selbst an einem derartigen Uumlbel erkranken versucht fuumlhlen es zu probieren Lesen wir taumlglich in derselben Zeitung A sei ein ausgemachter Schuft und B ein Ehrenmann so werden wir schlieszliglich davon uumlberzeugt vorausgesetzt allerdings daszlig wir nicht zu oft in einem andern Blatt die entgegengesetzte Meinung lesen die die Eigenschaften der beiden miteinander ver- tauscht Behauptung und Wiederholung allein sind maumlchtig genug um einander bekaumlmpfen zu koumlnnenWenn eine Behauptung oft genug und einstimmig wieder- holt wurde wie das bei gewissen Finanzunternehmungen der Fall ist die jede Konkurrenz aufkaufen so bildet sich das was man eine geistige Stroumlmung (courant drsquoopinion) nennt und der maumlchtige Mechanismus der Ansteckung kommt dazu Unter den Massen uumlbertragen sich Ideen Gefuumlhle Erregungen Glaubenslehren mit ebenso starker Ansteckungskraft wie Mikroben Diese Erscheinung beob- achtet man auch bei Tieren wenn sie in Scharen zusammen sind Das Krippenbeiszligen eines Pferdes im Stall wird bald von den andern Pferden desselben Stalles nachgeahmt Ein Schreck die wirre Bewegung einiger Schafe greift bald auf die ganze Herde uumlber Die Uumlbertragung der Gefuumlhle er- klaumlrt die ploumltzlichen Paniken Gehirnstoumlrungen wie der Wahnsinn verbreiten sich gleichfalls durch Uumlbertragung

BEHAUPTUNG WIEDERHOLUNG UumlBERTRAGUNG 89

Es ist bekannt wie haumlufig der Irrsinn bei Psychiatern auf- tritt Man berichtet sogar von Geisteskrankheiten z B der Platzangst die vom Menschen auf Tiere uumlbertragen werdenDie Uumlbertragung erfordert nicht die gleichzeitige Anwesen- heit der Individuen an demselben Ort sie kann auch aus der Entfernung unter dem Eindruck gewisser Ereignisse erfolgen die alle Geister in dieselbe Richtung lenken und ihnen die besonderen Merkmale der Masse verleihen be- sonders wenn sie durch die fruumlher erwaumlhnten mittelbaren Faktoren vorbereitet sind So hat z B der Revolutions- ausbruch von 848 der von Paris ausging in jaumlher Weise auf einen groszligen Teil Europas uumlbergegriffen und mehrere Monarchien erschuumlttert Die Nachahmung der man so groszligen Einf luszlig auf die sozialen Erscheinungen zugeschrieben hat ist in Wahrheit nur eine einfache Wirkung der Uumlbertragung Da ich ihre Rolle an anderer Steile bereits beschrieben habe so be- schraumlnke ich mich auf die Wiederholung dessen was ich vor vielen Jahren daruumlber sagte und was seitdem von andern Autoren ausgefuumlhrt wurde

bdquoWie die Tiere ist der Mensch von Natur ein nachahmen- des Wesen Nachahmung ist ihm Beduumlrfnis doch wohlge- merkt nur unter der Bedingung daszlig sie leicht ist aus diesem Beduumlrfnis wird die Macht der Mode geboren Mag es sich nun um Meinungen Ideen literarische Aumluszligerungen oder einfach um die Kleidung handeln wie viele wagen es sich ihrer Herrschaft zu entziehen Nicht mit Beweis- gruumlnden sondern durch Vorbilder leitet man die Massen Jedem Zeitalter druumlckt eine kleine Anzahl von einzelnen ihr Siegel auf das die Masse unbewuszligt nachahmt Aber diese einzelnen duumlrfen sich nicht allzu weit von den uumlber- kommenen Ideen entfernen Die Nachahmung wuumlrde dann zu schwierig und ihr Einfluszlig waumlre gleich Null Deshalb

Siehe meine letzten Arbeiten bdquoPolitische Psychologieldquo bdquoMeinungen und An- schauungenldquo bdquoDie Franzoumlsische Revolution und die Psychologie der Revo- lunonenldquo

90 DIE FUumlHRER UND IHRE UumlBERZEUGUNGSMITTEL

haben die Menschen die ihrer Zeit zu sehr uumlberlegen sind keinerlei Einf luszlig Der Abstand ist zu groszlig Aus dem- selben Grunde haben die Europaumler trotz aller Vorzuumlge ihrer Kultur einen so unbedeutenden Einf luszlig auf die Voumllker des OrientsldquobdquoDie vereinigte Wirkung von Vergangenheit und gegen- seitiger Nachahmung macht alle Menschen desselben Landes und desselben Zeitalters schlieszliglich so aumlhnlich daszlig selbst bei denen deren besondere Pflicht es doch waumlre sich ihr zu entziehen bei Philosophen Gelehrten Schriftstellern Gedanken und Stil eine Familienaumlhnlichkeit zeigen die sofort die Zeit der sie angehoumlren erkennen laumlszligt Eine kurze Unterhaltung mit irgendeinem Menschen genuumlgt um seinen Lesestoff seine regelmaumlszligige Beschaumlftigung und die Umgebung in der er lebt von Grund auf erkennen zu lassen ldquoDie Ansteckung ist stark genug den Menschen nicht nur gewisse Meinungen sondern auch bestimmte Arten des Fuumlhlens aufzuzwingen Sie bewirkt die Miszligachtung von Werken wie z B der Oper bdquoTannhaumluserldquo und macht einige Jahre spaumlter aus ihren aumlrgsten Verleumdern Be- wundererUumlberzeugung und Glaube der Massen verbreiten sich nur durch den Vorgang der Uumlbertragung niemals mit Hilfe von Vernunftgruumlnden Im Wirtshause befestigen sich durch Behauptung Wiederholung und Uumlbertragung die heutigen Begriffe der Arbeiter und der Glaube der Masse ist zu allen Zeiten ebenso geschaffen worden Treffend vergleicht Renan die Begruumlnder des Christentums mit den bdquosozialisti- schen Arbeitern die ihre Ideen von Wirtshaus zu Wirts- haus verbreitenldquo Und schon Voltaire hat in bezug auf die christliche Religion festgestellt bdquomehr als hundert Jahre habe ihr nur der gemeinste Poumlbel angehangenldquoIn Beispielen analog den angefuumlhrten geht die Uumlber- tragung wenn sie sich in den Volksschichten ausgewirkt hat in die houmlheren Gesellschaftsschichten uumlber Heutzutage Gustave le Bon Der Mensch und die Gesellschaften 88 Bd 2 S 6

BEHAUPTUNG WIEDERHOLUNG UumlBERTRAGUNG 91

sehen wir daszlig die sozialistischen Lehren anfangen auch die zu ergreifen die vermutlich ihre ersten Opfer sein werden Vor der mechanischen Ansteckung tritt sogar der persoumlnliche Vorteil zuruumlckDaher zwingt sich jede volkstuumlmlich gewordene Anschau- ung schlieszliglich immer auch den houmlchsten sozialen Schichten auf so offensichtlich auch die Unsinnigkeit der siegreichen Anschauung sein mag Diese Wirkung der unteren sozialen Schichten auf die Oberklassen ist um so merkwuumlrdiger als die Glaubensanschauungen der Masse mehr oder weniger immer von einer houmlheren Idee herruumlhren die in der Um- gebung in der sie geboren wurde haumlufig ohne Wirkung blieb Die Fuumlhrer die von dieser houmlheren Idee ergriffen wurden bemaumlchtigen sich ihrer entstellen sie und gruumlnden eine Sekte die sie aufs neue entstellt und so entstellt unter den Massen verbreitet Ist sie einmal eine volkstuumlmliche Wahrheit geworden so geht sie auf irgendeine Weise zu ihrer Quelle zuruumlck und wirkt dann auf die Oberklassen eines Volkes Wohl fuumlhrt letzten Endes die Intelligenz die Welt aber sie fuumlhrt sie wahrlich von weitem Die Schoumlpfer der Ideen sind laumlngst wieder zu Staub geworden wenn als Ergebnis der Vorgaumlnge die ich beschrieben habe ihr Gedanke schlieszliglich triumphiert

sect 3 Der Nimbus (Le prestige)

Eine groszlige Macht verleiht den Ideen die durch Behaup- tung Wiederholung und Uumlbertragung verbreitet wurden zuletzt jene geheimnisvolle Gewalt die Nimbus heiszligtAlles was in der Welt geherrscht hat Ideen oder Men- schen hat sich hauptsaumlchlich durch die unwiderstehliche Kraft die sich Nimbus nennt durchgesetzt Wohl erfassen wir alle die Bedeutung des Ausdrucks Nimbus (prestige) aber man wendet ihn in so mannigfacher Weise an daszlig er nicht ganz leicht zu umschreiben waumlre Der Nimbus ver- traumlgt sich mit gewissen Gefuumlhlen wie Bewunderung oder Furcht er beruht sogar auf ihnen kann aber sehr wohl

92 DIE FUumlHRER UND IHRE UumlBERZEUGUNGSMITTEL

ohne sie bestehen Am meisten Nimbus haben die Totenalso Wesen die wir nicht fuumlrchten wie Alexander Caumlsar Mohammed Buddha Andrerseits erscheinen Wesen oder Gebilde die wir nicht bewundern z B die scheuszliglichen Gottheiten der unterirdischen Tempel Indiens mit starkem Nimbus bekleidetDer Nimbus ist in Wahrheit eine Art Zauber den eine Persoumlnlichkeit ein Werk oder eine Idee auf uns ausuumlbt Diese Bezauberung lahmt alle unsre kritischen Faumlhigkeiten und erfuumlllt unsre Seelen mit Staunen und Ehrfurcht Die Gefuumlhle die so hervorgerufen werden sind unerklaumlrlich wie alle Gefuumlhle aber wahrscheinlich von derselben Art wie die Suggestion der ein Hypnotisierter unterliegt Der Nimbus ist der maumlchtige Quell aller Herrschaft Goumltter Koumlnige und Frauen haumltten ohne ihn niemals herrschen koumlnnenMan kann die verschiedenen Arten des Nimbus auf zwei Grundformen zuruumlckfuumlhren auf den erworbenen und den persoumlnlichen Nimbus Als erworbenen Nimbus bezeichnet man den durch Namen Reichtum und Ansehen entstan- denen Nimbus Er kann vom persoumlnlichen Nimbus unab- haumlngig sein Der persoumlnliche Nimbus ist dagegen etwas Individuelles und kann mit Ansehen Ruhm und Reichtum zusammen bestehen oder durch sie verstaumlrkt werden aber auch sehr wohl unabhaumlngig davon vorhanden seinDer e r w o r b e n e oder kuumlnstliche Nimbus ist am wei- testen verbreitet Die bloszlige Tatsache daszlig jemand eine ge- wisse Stellung einnimmt ein gewisses Vermoumlgen besitzt gewisse Titel hat bildet einen Glorienschein des Einflusses so gering auch sein persoumlnlicher Wert sein mag Ein Soldat in Uniform ein Beamter in der roten Robe haben immer einen Nimbus Pascal hat die Notwendigkeit von Talar und Peruumlcke fuumlr die Richter treffend erklaumlrt ohne sie wuumlrden sie einen groszligen Teil ihrer Macht einbuumlszligen Der grimmigste Sozialist wird durch den Anblick eines Fuumlrsten oder Grafen bewegt und um einen Kaufmann nach Be-

DER NIMBUS 93

lieben zu beschwindeln genuumlgt es einen solchen Titel an- zunehmen Der Nimbus von dem ich eben sprach geht von Personen aus man kann ihm den Nimbus zur Seite stellen den Anschauungen Werke der Literatur oder Kunst usw aus- uumlben Er beruht nur auf angehaumlufter Wiederholung Da die Geschichte die Literatur- und Kunstgeschichte nur die Wiederholung derselben Urteile ist die niemand nachzu- pruumlfen versucht so wiederholt schlieszliglich jeder das was er in der Schule gelernt hat Es gibt gewisse Namen und Dinge an die niemand zu ruumlhren wagt In einem mo- dernen Leser erzeugen die Homerischen Epen unstreitig eine unermeszligliche Langeweile aber wer wagt es das zu sagen Das Parthenon ist in seinem gegenwaumlrtigen Zu- stande eine ziemlich uninteressante Ruine aber es hat solchen Nimbus daszlig man es nur noch mit seinem ganzen Anhang historischer Erinnerungen betrachten kann Es ist die Eigentuumlmlichkeit des Nimbus daszlig er verhindert die Dinge so zu sehen wie sie sind und daszlig er alle unsre Urteile lahmt Die Massen verlangen stets die einzelnen meist nach fertigen Anschauungen Der Erfolg dieser An- schauungen ist unabhaumlngig von der Wahrheit oder dem Irrtum den sie enthalten er beruht einzig und allein auf ihrem Nimbus

Man findet diesen Einfluszlig der Titel Ordensbaumlnder und Uniformen auf die Massen in allen Laumlndern selbst dort wo das Gefuumlhl persoumlnlicher Unab- haumlngigkeit zur staumlrksten Entfaltung kam Um das zu beleuchten fuumlhre ich hier eine interessante Stelle aus dem neuen Buch eines Reisenden an die von dem Einfluszlig gewisser Persoumlnlichkeiten in England handelt bdquoBei verschiedenen Begegnungen konnte ich mich von dem Rausch uumlberzeugen in den die Be- ruumlhrung mit einem Peer von England oder sein Anblick die vernuumlnftigsten Englaumlnder versetztldquo

bdquoVorausgesetzt daszlig sein Aufwind seinem Range entspricht lieben sie ihn von vornherein und ertragen in seiner Gegenwart alles von ihm mit Entzuumlk- ken Man sieht sie vor Vergnuumlgen erroumlten wenn er sich ihnen naumlhert und wenn er mit ihnen spricht so erhoumlht die Freude die sie daruumlber empfinden diese Roumlte und verleiht ihren Augen einen ungewoumlhnlichen Glanz Sie haben den Lord im Blute koumlnnte man sagen wie der Spanier den Tanz der Deutsche die Musik und der Franzose die Revolution Ihre Leidenschaft fuumlr Pferde und fuumlr Shakespeare ist weniger heftig die Befriedigung und der Stolz darauf weniger tief Das Peersbuch hat groszligen Absatz und man findet es wie die Bibel in allen Haumlndenldquo

94 DIE FUumlHRER UND IHRE UumlBERZEUGUNGSMITTEL

Ich komme nun zum p er s oumln l ic hen Nimbus Er ist von ganz andrer Beschaffenheit als der kuumlnstliche oder erwor- bene Er ist unabhaumlngig von allen Titeln allem Ansehen Die wenigen Menschen die ihn besitzen uumlben einen wahr- haft magnetischen Zauber auf ihre Umgebung aus auch auf sozial Gleichgestellte und man gehorcht ihnen wie die wilde Bestie dem Baumlndiger gehorcht den sie so leicht verschlingen koumlnnteDie groszligen Fuumlhrer der Massen wie Buddha Jesus Mo- hammed Jeanne drsquoArc Napoleon besaszligen diese Art des Einflusses in hohem Maszlige und haben sich besonders durch ihn Geltung verschafft Goumltter Helden und Glaubens- lehren setzen sie durch ohne Eroumlrterung zu dulden sobald sie darauf eingehen untergraben sie sich selbstDie groszligen Persoumlnlichkeiten die ich anfuumlhrte besaszligen ihre bezaubernde Macht schon ehe sie beruumlhmt waren und waumlren ohne sie nicht beruumlhmt geworden Es ist z B klar daszlig Napoleon auf dem Gipfel seines Ruhms allein durch seine Macht einen ungeheuren Einfluszlig hatte aber er besaszlig ihn zum Teil schon in der Anfangszeit seiner Laufbahn als er noch keine Macht hatte und voumlllig unbekannt war Als er noch ein unbekannter General durch Fuumlrsprache zum Befehlshaber des italienischen Heeres ernannt worden war trat er unter rauhe Generale die dem jungen vom Direktorium ihnen aufgezwungenen Eindringling einen ab- schreckenden Empfang bereiten wollten Aber von der ersten Minute vom ersten Zusammentreffen an ohne Re- densarten Gesten Drohungen beim ersten Anblick des kuumlnftigen groszligen Mannes waren sie zahm Taine gibt uns nach zeitgenoumlssischen Erinnerungen einen interessanten Be- richt uumlber diese Zusammenkunft

bdquoDie Divisionsgeneraumlle unter anderen Augereau ein tap- ferer grober Haudegen der stolz war auf seine groszlige Figur und seine Tapferkeit kommen voreingenommen gegen den kleinen Emporkoumlmmling den man ihnen aus Paris sendet ins Hauptlager Durch die Beschreibung die man ihnen von ihm gegeben hat ist Augereau in feind-

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seliger Stimmung von vornherein widerspenstig ein Guumlnst- ling von Barras ein General des Vendeacutemiaire ein Straszligen- general den man fuumlr einen eingesponnenen Brummbaumlren haumllt weil er immer nur nachdenkt er soll ein kleines Gesicht haben und steht in dem Ruf ein Mathematiker und Traumlumer zu sein Sie werden empfangen und Bona- parte laumlszligt auf sich warten Endlich erscheint er den Degen umgeschnallt bedeckt sich setzt seine Plaumlne auseinander gibt Ihnen seine Befehle und verabschiedet sie Augereau ist stumm geblieben erst drauszligen faszligt er sich und findet seine gewoumlhnlichen Fluumlche wieder er und Massena sind sich daruumlber einig dieser kleine Teufelskerl von General hat ihm Furcht eingefloumlszligt er kann sich den Einfluszlig nicht erklaumlren von dem er sich durch den ersten Blick uumlberwaumlltigt fuumlhlteldquoAls Napoleon ein groszliger Mann geworden war wuchs sein Einfluszlig mit seinem Ruhm und glich dem Einfluszlig den eine Gottheit auf ihre Anbeter hat General Vandamme ein revolutionaumlrer Haudegen noch brutaler und energischer als Augereau sagte eines Tages 85 als sie zusammen die Tuilerientreppe hinaufstiegen zu Marschall drsquoOrnanobdquoMein Lieber dieser Teufelskerl uumlbt auf mich einen Zau- ber aus den ich nicht begreife Das geht so weit daszlig ich der weder Gott noch Teufel fuumlrchtet in seiner Naumlhe fast wie ein Kind zu zittern beginne und er koumlnnte mich dazu bringen durch ein Nadeloumlhr ins Feuer zu gehenldquoDen gleichen Zauber uumlbte Napoleon auf alle aus die sich ihm naumlherten Der Kaiser kannte seine Wirkung wohl und wuszligte sie noch zu vermehren indem er die groszligen Persoumlnlichkeiten seiner Umgebung zu denen mehrere jener beruumlhmten Konventsmitglieder gehoumlrten die Europa so sehr gefuumlrchtet hatte etwas schlechter als Stallknechte behandelte Die zeitgenoumlssischen Be- richte sind voll von derartigen bezeichnenden Tatsachen Eines Tages fuhr Napoleon im versammelten Staatsrat Beugnot den er wie einen ungeschickten Diener behandelte grob an bdquoNun Sie groszliger Dummkopf haben Sie Ihren Kopf wiedergefundenldquo Darauf verbeugte sich Beugnot der wie ein Regiments- tambour gewachsen war sehr tief und der kleine Mann hebt die Hand und nimmt den groszligen beim Ohr wie Beugnoc schreibt bdquoein Zeichen berauschender Gunst eine vertrauliche Gebaumlrde des leutselig redenden Herrnldquo Solche Bei- spiele geben einen klaren Begriff von dem Grad der Plattheit den Nimbus hervorrufen kann sie machen die ungeheure Verachtung des groszligen Despoten fuumlr die Menschen seiner Umgebung begreiflich

96 DIE FUumlHRER UND IHRE UumlBERZEUGUNGSMITTEL

Davoust sagte als er von Marets und seiner Ergebenheit sprach bdquoWenn der Kaiser uns beiden sagte Die Inter- essen meiner Politik erfordern die Zerstoumlrung von Paris ohne daszlig es jemand erfaumlhrt und die Stadt verlaumlszligt so wuumlrde Maumlret dessen bin ich sicher das Geheimnis wahren er wuumlrde sich aber nicht enthalten koumlnnen es so weit zu verletzen daszlig er seine Familie veranlaszligte die Stadt zu verlassen Ich aber wuumlrde aus Furcht etwas zu verraten mein Weib und meine Kinder darin lassenldquoAn diese erstaunliche Macht der Bezauberung muszlig man denken will man die wunderbare Ruumlckkehr von der Insel Elba begreifen die schnelle Eroberung Frankreichs durch einen alleinstehenden Mann der gegen alle organisierten Kraumlfte eines groszligen Landes zu kaumlmpfen hatte von dem man annehmen muszligte daszlig es seiner Tyrannei muumlde war Er brauchte die ausgesandten Generale die geschworen hatten ihn gefangenzunehmen nur anzublicken Alle unterwarfen sich ihm ohne Widerstand

bdquoNapoleon landet fast allein und als Fluumlchtling der kleinen Insel Elba die sein Koumlnigreich war in Frankreichldquo schreibt General Wolseley bdquound bringt es zuwege in weni- gen Wochen ohne Blutvergieszligen die gesamte Machtorgani- sation Frankreichs unter seinem legitimen Koumlnig umzu- stoszligen hat die persoumlnliche Macht eines Menschen sich je bewunderungswuumlrdiger bekundet Wie erstaunlich ist aber die Macht die er von Anfang bis Ende dieses Feldzuges seines letzten auch uumlber die Verbuumlndeten ausuumlbte indem er sie zwang seine Entschluumlsse anzunehmen und es fehlte nicht viel so haumltte er sie zerschmettertldquoSein Nimbus uumlberlebte ihn und wuchs weiter Er machte seinen unbekannten Neffen zum Kaiser Angesichts der heutigen Erneuerung seiner Legende sieht man wie maumlchtig dieser groszlige Schatten noch ist Miszlighandelt die Menschen schlachtet sie zu Millionen ab fuumlhrt einen feindlichen Ein- bruch nach dem andern herbei alles ist euch gestattet wenn ihr genuumlgend Nimbus besitzt und das Talent ihn aufrechtzuerhalten

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Gewiszlig habe ich hier ein ganz besonderes Ausnahmebeispielherangezogen aber es war geeignet die Entwicklung der groszligen Religionen Lehren und Reiche verstaumlndlich zu machen Ohne die Macht welche der Nimbus auf die Masse ausuumlbt wuumlrde diese Entwicklung unbegreiflich seinAber der Nimbus gruumlndet sich nicht allein auf das per- soumlnliche Ansehen den militaumlrischen Ruhm und die reli- gioumlse Angst er kann auch einen unbedeutenderen Ursprung haben und doch noch betraumlchtlich sein Das neunzehnte Jahrhundert bietet uns mehrere Beispiels dafuumlr Das eine woran die Nachwelt von Zeit zu Zeit erinnert wird ist in der Geschichte des beruumlhmten Mannes gegeben der das Antlitz der Erde und die Handelsbeziehungen der Voumllker aumlnderte indem er zwei Erdteile voneinander trennte Sein Unternehmen gelang ihm durch seinen ungeheuren Willen aber auch durch den Zauber den er auf seine ganze Um- gebung ausuumlbte Um die einstimmige Gegnerschaft die er vorfand zu besiegen brauchte er sich nur zu zeigen einen Augenblick zu sprechen und die Gegner wurden durch den Zauber der von ihm ausging seine Freunde Die Eng- laumlnder bekaumlmpften sein Vorhaben besonders wuumltend er brauchte nur in England zu erscheinen um alle Stimmen fuumlr sich zu gewinnen Als er spaumlter durch Southampton kam laumluteten die Glocken waumlhrend seiner Durchreise Als er alles besiegt hatte Menschen und Dinge glaubte er nicht mehr an Hindernisse und wollte in Panama mit denselben Mitteln Suez wiederholen Aber der Glaube der Berge versetzt versetzt sie nur wenn sie nicht zu hoch sind Die Berge widerstanden und die daraus folgende Katastrophe zerstoumlrte die leuchtende Ruhmesglorie die den Helden um- gab Sein Leben lehrt wie der Einfluszlig wachsen und ver- gehen kann Nachdem er den groumlszligten Helden der Ge- schichte gleichgekommen wurde er von der Obrigkeit sei- nes Landes zum gemeinen Verbrecher gestempelt Nach seinem Tode wurde sein Sarg einsam durch gleichguumlltige

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Massen getragen Nur die Herrscher des Auslandes lieszligen seinem Andenken Ehre widerfahren Jedoch die verschiedenen Beispiele die angefuumlhrt wurden stellen nur Grenzfaumllle dar Zur genauen Begruumlndung der Psychologie des Nimbus muumlszligten sie an das Ende einer Reihe gestellt werden die von den Begruumlndern der Reli- gionen und Staaten bis zum Kleinbuumlrger reicht der durch einen neuen Anzug oder eine Auszeichnung auf seine Nachbarn Eindruck zu machen suchtZwischen den aumluszligersten Gliedern dieser Reihe liegen alle Arten des Nimbus auf den verschiedenen Kulturgebieten der Wissenschaft der Kuumlnste der Literatur usw und es zeigt sich daszlig er den Grundstoff der Uumlberzeugung bildet Das Wesen die Idee oder die Sache von denen der Nimbus ausgeht werden infolge ihrer ansteckenden

Ein auslaumlndisches Blatt die Wiener bdquoNeue Freie Presseldquo hat gelegentlich des Schicksals von Lesseps sehr scharfsinnige psychologische Bemerkungen ge- macht die daher hier mitgeteilt seien

bdquoNach der Verurteilung Ferdinands von Lesseps hat man kein Recht mehr sich uumlber das traurige Ende von Christoph Columbus zu wundern Ist Lesseps ein Gauner dann ist jede edle Taumluschung ein Verbrechen Das Altertum haumltte das Andenken von Lesseps mit einer Ruhmesglorie bekraumlnzt und ihn im Olymp den Nektarbecher leeren lassen denn er hat das Antlitz der Erde veraumlndert und Werke ausgefuumlhrt die die Schoumlpfung vervollkommnen Durch die Ver- urteilung von Lesseps hat sich der Praumlsident des Appellationsgerichtes un- sterblich gemacht denn stets werden die Voumllker den Namen des Mannes ver- langen der nicht fuumlrchtete sein Jahrhundert dadurch zu erniedrigen einen Greis mit Straumlflingsjacke zu bekleiden dessen Leben der Ruhm seiner Zeit- genossen warldquo bdquoMan rede uns hinfort nicht von unbeugsamer Gerechtigkeit dort wo buumlrokratischer Haszlig gegen alle kuumlhnen groszligen Unternehmungen herrscht Die Voumllker beduumlrfen der wagemutigen Maumlnner die an sich selbst glauben und ohne Ruumlcksicht auf ihr eigenes Ich alle Hindernisse bewaumlltigen Das Genie kann nicht vorsichtig sein mit Vorsicht konnte es den Kreis menschlicher Betaumltigung nie erweitern

hellip Ferdinand von Lesseps hat den Rausch des Triumphs und die Bitterkeit der Enttaumluschungen gekannt Suez und Panama Hier empoumlrt sich das Gemuumlt gegen die Moral des Erfolges Als es Lesseps gelang zwei Meere zu ver- binden da erwiesen ihm Fuumlrsten und Voumllker Ehre heute da er an den Felsen der Cordilleren Schiffbruch leidet ist er ein gemeiner Gauner Es ist der Krieg der Gesellschaftsklassen die Unzufriedenheit der Buumlrokraten und Be- amten die sich mittels des Strafgesetzes an denen raumlchen die sich uumlber die andern erheben moumlchten Die modernen Gesetzgeber sind in Verlegenheit an- gesichts dieser gewaltigen Ideen des Menschengeistes das Publikum versteht davon noch weniger und es faumlllt einem Staatsanwalt leicht zu beweisen daszlig Stanley ein Meuchelmoumlrder und Lesseps ein Betruumlger seildquo

99DER NIMBUS

Wirkung sofort nachgeahmt und bestimmen fuumlr ein ganzes Menschenalter die Art des Fuumlhlens und die Form des Gedankenausdrucks Uumlberdies geschieht die Nachahmung meistens unbewuszligt und das macht sie vollkommen Die modernen Maler welche die verwischten Farben und die starre Haltung gewisser Primitiver erneuern haben keine Ahnung von der Quelle ihrer Begeisterung sie glauben so sehr an ihre Urspruumlnglichkeit daszlig man an ihnen auch weiterhin nur die naiven und unfertigen Seiten bemerkt haben wuumlrde wenn nicht ein hervorragender Meister diese Kunstform wiedererweckt haumltte Die welche nach dem Muster eines beruumlhmten Neuerers ihre Leinwand mit vio- letten Schatten bedecken sehen in der Natur nicht mehr Violett als man vor fuumlnfzig Jahren sah aber sie unter- liegen dem besonderen persoumlnlichen Eindruck eines Malers der einen groszligen Nimbus zu erlangen wuszligte Aus allen Gebieten der Kunst lassen sich leicht derartige Beispiele anfuumlhrenMan ersieht aus dem Vorhergehenden daszlig an der Ent- stehung des Nimbus zahlreiche Faktoren beteiligt sein koumln- nen Einer der bedeutendsten war stets der Erfolg Jeder Mensch der Erfolg hat jede Idee die sich durchsetzt wird damit schon anerkanntDer Nimbus verschwindet immer im Augenblick des Miszlig- erfolges Der Held dem die Masse gestern zujubelte wird morgen von ihr angespien wenn das Schicksal ihn schlug Je groumlszliger der Nimbus um so heftiger der Ruumlckschlag Die Masse betrachtet dann den gefallenen Helden als ihres- gleichen und raumlcht sich dafuumlr daszlig sie sich einer Uumlberlegen- heit gebeugt hat die sie nicht mehr anerkennt Als Robespierre seinen Kollegen und einer ganzen Anzahl sei- ner Zeitgenossen den Hals abschneiden lieszlig besaszlig er einen ungeheuren Nimbus Die Verschiebung weniger Stimmen be- raubte ihn augenblicklich dieses Nimbus und die Masse folgte ihm mit ebenso vielen Verwuumlnschungen zur Guillotine wie am Tage zuvor seinen Opfern Die Glaumlubigen zertruumlmmerten stets voll Wut die Bildwerke ihrer fruumlheren Goumltter

100 DIE FUumlHRER UND IHRE UumlBERZEUGUNGSMITTEL

Durch Miszligerfolg aufgehoben ist der Nimbus schnell ver- loren Er kann sich auch abnutzen indem man ihn dis- kutiert das geht langsamer aber sicher Der diskutierte Nimbus ist kein Nimbus mehr Die Goumltter und Menschen die ihren Nimbus lange zu bewahren wuszligten haben Er- oumlrterungen nie geduldet Wer von den Massen bewundert sein will muszlig sie stets in Abstand halten

4 KAPITEL

Grenzen der Veraumlnderlichkeit der Grundanschauungen und Meinungen der Massen

sect Die unveraumlnderlichen Grundanschauungen (croyances fixes)

Es besteht ein enger Parallelismus zwischen den morpho- logischen und psychologischen Merkmalen der Lebewesen Unter den morphologischen Merkmalen finden wir gewisse unveraumlnderliche oder doch so wenig veraumlnderliche Ele- mente daszlig geologische Zeitalter noumltig sind um sie zu ver- aumlndern Neben diesen unveraumlnderlichen unreduzierbaren Elementen finden sich recht bewegliche die durch das Milieu die Kunst des Zuumlchters oder Gaumlrtners leicht so ge- wandelt werden koumlnnen daszlig sich dem oberf laumlchlichen Beobachter die Grundmerkmale verbergenDer gleichen Erscheinung begegnen wir in der sittlichen Welt Neben den unveraumlnderlichen seelischen Bestandteilen einer Rasse sind bewegliche und wechselnde Elemente vor- handen Darum finden wir bei der Untersuchung der An- schauungen und Meinungen eines Volkes stets einen festen Grund auf dem sich Anschauungen angesiedelt haben die ebenso fluumlchtig sind wie der Sand der die Felsen bedecktDie Grundanschauungen und Meinungen der Massen bilden also zwei scharfgetrennte Gruppen Zu der einen gehoumlren die staumlndigen Grundgedanken die mehrere Jahrhunderte

101GRENZEN DER VERAumlNDERLICHKEIT DER GRUNDANSCHAUUNGEN

uumlberdauern und auf denen eine ganze Kultur beruht So z B der feudale Gedanke die Ideen des Christentums und der Reformation und heutzutage die nationalen Grund- gedanken die demokratischen und sozialen Ideen Zur anderen gehoumlren die wechselnden Ansichten des Augen- blicks die meistens aus allgemeinen Gedanken abgeleitet werden und die jedes Zeitalter entstehen und vergehen sieht z B die Theorien die zu bestimmten Zeiten Kunst und Literatur beherrschen und die Romantik den Natura- lismus usw hervorbrachten So wandelbar wie die Mode wechseln sie wie die kleinen Wellen die auf der Ober- flaumlche eines Sees unaufhoumlrlich entstehen und vergehenDie Zahl der allgemeinen Grundanschauungen ist nicht groszlig Ihr Entstehen und Vergehen bilden die Houmlhepunkte in der Geschichte jeder historischen Rasse Sie bilden das eigentliche Geruumlst der KulturEine fluumlchtige Meinung haftet leicht in der Massenseele aber einen festen Glauben in ihr zu verankern ist sehr schwer ebenso schwer aber ist er wieder zu zerstoumlren wenn er sich einmal festgesetzt hat Man kann ihn wohl nur um den Preis gewaltsamer Revolutionen aumlndern und nur wenn der Glaube seine Herrschaft uumlber die Seelen fast ganz eingebuumlszligt hat Die Revolutionen helfen dann dabei die Grundanschauung endguumlltig abzuwerfen die man schon fast aufgegeben hatte deren gaumlnzliche Aufhebung aber durch die Macht der Gewohnheit verhindert wurde Be- ginnende Revolutionen sind in Wahrheit schwindende GrundanschauungenEine groszlige Grundanschauung wird an dem Tage zum Tode verurteilt an dem man anfaumlngt ihren Wert zu be- streiten Da jede allgemeine Grundanschauung nur eine Einbildung ist so kann sie nur bestehen solange sie der Pruumlfung entgehtAber selbst wenn eine Grundanschauung stark erschuumlttert ist bewahren die Einrichtungen die von ihr abgeleitet sind ihre Macht und erloumlschen nur langsam Hat sie schlieszliglich ihre Macht voumlllig eingebuumlszligt dann bricht alles

102 GRENZEN DER VERAumlNDERLICHKEIT DER GRUNDANSCHAUUNGEN

zusammen was von ihr getragen wurde Es war noch keinem Volk vergoumlnnt seine Grundanschauungen zu aumln- dern ohne gleichzeitig dazu verurteilt zu sein alle Be- standteile seiner Kultur umzuwandelnEs wandelt sie so lange um bis es eine neue allgemeine Grundanschauung angenommen hat und lebt bis dahin notgedrungen in Anarchie Die allgemeinen Grundanschau- ungen sind die notwendigen Stuumltzen der Kulturen Sie geben den Ideen ihre Richtung und sie allein erwecken das Gewissen und erschaffen das PflichtgefuumlhlDie Voumllker haben es stets als nuumltzlich empfunden sich allgemeine Glaubensanschauungen zu bilden und instinktiv erfaszligt daszlig ihr Schwinden die Stunde des Niedergangs anzeigen wuumlrde Der fanatische Kultus Roms war fuumlr die Roumlmer der Glaube der sie zu Herren der Welt machte Dieser Glaube starb und Rom ging zugrunde Erst als die Barbaren die Zerstoumlrer der roumlmischen Kultur einige einheitliche Glaubensanschauungen gewonnen hatten er- reichten sie einen gewissen Zusammenhalt und konnten die Anarchie uumlberwindenMit gutem Grund waren also die Voumllker stets unduldsam bei der Verteidigung ihrer Uumlberzeugungen So tadelnswert diese Unduldsamkeit vom philosophischen Standpunkt ist im Leben der Voumllker ist sie als eine Tugend anzusehen Um den Grund zu allgemeinen Glaubensuumlberzeugungen zu legen oder sie aufrechtzuerhalten hat das Mittelalter viele Scheiterhaufen errichtet und so viele Erfinder und Neuerer die der Folter entgangen waren muszligten in Ver- zweiflung sterben Um solche Uumlberzeugungen zu vertei- digen ist die Welt immer wieder umgestuumlrzt worden sind Millionen Menschen auf den Schlachtfeldern gefallen und werden dort noch weiterhin fallenWir haben schon gesagt daszlig sich der Einfuumlhrung einer allgemeinen Grundanschauung groszlige Schwierigkeiten ent- gegenstellen wenn sie aber endguumlltig Fuszlig gefaszligt hat ist ihre Macht lange Zeit unuumlberwindlich und mag sie philo- sophisch noch so falsch sein so draumlngt sie sich doch den

DIE UNVERAumlNDERLICHEN GRUNDANSCHAUUNGEN 103

erleuchtetsten Geistern auf Haben nicht die Voumllker Euro- pas seit fuumlnfzehn Jahrhunderten religioumlse Legenden die bei naumlherer Betrachtung ebenso barbarisch sind wie der Moloch-Mythus als unbestreitbare Wahrheiten betrachtet Der entsetzliche Widersinn des Mythus von einem Gotte der sich fuumlr den Ungehorsam eines seiner Geschoumlpfe durch furchtbare Marter an seinem Sohne raumlcht ist viele Jahr- hunderte nicht bemerkt worden Die groumlszligten Geister wie Galilei Newton Leibniz haben auch nicht einen Augen- blick daruumlber nachgedacht daszlig die Wahrheit solcher Le- genden bezweifelt werden koumlnnte Nichts beweist schla- gender die Hypnose die durch allgemeine Grundanschau- ungen bewirkt wird aber nichts zeigt auch besser die beschaumlmenden Grenzen unseres GeistesSobald der Massenseele eine neue Lehre eingepflanzt wurde beeinfluszligt sie die Einrichtungen die Kuumlnste und die Sitten Ihre Herrschaft uumlber die Seelen ist dann unumschraumlnkt Die Maumlnner der Tat denken nur an ihre Verwirklichung die Gesetzgeber nur an ihre Anwendung Philosophen Kuumlnstler Schriftsteller beschaumlftigen sich nur damit sie in verschiedene Formen zu uumlbertragenDurch die allgemeinen Grundanschauungen haben sich die Menschen jedes Zeitalters mit einem Netz von Uumlberliefe- rungen Meinungen und Gewohnheiten umgeben aus des- sen Maschen sie nicht entwischen koumlnnen und durch die sie einander immer etwas aumlhnlich werden Der unabhaumlngigste Geist denkt nicht daran sich ihnen zu entziehen Die echteste Tyrannei beherrscht die Seelen u nbew u szligt denn sie allein ist nicht zu bekaumlmpfen Tiberius Dschingiskhan Napoleon waren zweifellos furchtbare Tyrannen aber Moses Buddha Jesus Mohammed Luther haben aus ihrem Grabe heraus eine nicht weniger tiefgehende Herr- schaft uumlber die Seelen ausgeuumlbt Ein Tyrann kann durch eine Verschwoumlrung gestuumlrzt werden was vermag sie aber

Barbarisch im philosophischen Sinne wohlverstanden In Wirklichkeit haben sie eine ganz neue Kultur gegruumlndet und Jahrhunderte lang den Menschen be- zaubernde Traum- und Hoffnungsparadiese sehen lassen wie er sie nie mehr kennen wird

GRENZEN DER VERAumlNDERLICHKEIT DER GRUNDANSCHAUUNGEN104

gegen einen wohlgefestigten Glauben In ihrem heftigen Kampf gegen den Katholizismus ist unsere groszlige Revo- lution trotz der scheinbaren Zustimmung der Massen und trotz der Zerstoumlrungsmittel die von ihr ebenso unerbittlich angewandt wurden wie von der Inquisition unterlegen Die einzigen wahren Tyrannen der Menschheit sind immer die Schatten der Toten gewesen oder die Einbildungen die sie sich selbst geschaffen hatIch wiederhole Der philosophische Unsinn gewisser allge- meiner Grundanschauungen war nie ein Hindernis fuumlr ihren Triumph Dieser Triumph scheint sogar nur dann moumlglich zu sein wenn sie irgendwelchen geheimnisvollen Unsinn enthalten Die offenbare geistige Armut der sozia- listischen Lehren der Gegenwart wird nicht verhindern daszlig sie sich der Massenseele einpflanzen Ihre wahre Un- zulaumlnglichkeit im Vergleich zu jedem religioumlsen Glauben besteht einzig darin Da das Gluumlcksideal das der Glaube in Aussicht stellte nur in einem zukuumlnftigen Leben ver- wirklicht werden sollte so konnte niemand diese Ver- wirklichung bestreiten da das sozialistische Gluumlcksideal sich auf Erden verwirklichen soll so wird die Nichtigkeit der Verheiszligungen sogleich bei den ersten Verwirklichungs- versuchen an den Tag treten und der neue Glaube wird jeden Einfluszlig verlieren Seine Macht wird also nur bis zum Tage seiner Verwirklichung wachsen Und deshalb wird die neue Religion wie alle fruumlheren zunaumlchst eine zerstoumlrende Taumltigkeit ausuumlben ohne wie sie spaumlter eine schoumlpferische Rolle uumlbernehmen zu koumlnnen

sect 2 Die veraumlnderlichen Meinungen (opinions mobiles) der Massen

Uumlber den festen Glaubensanschauungen deren Macht wir darlegten liegt eine Schicht von Meinungen Ideen Ge- danken die fortwaumlhrend entstehen und vergehen Manche sind sehr vergaumlnglich und die bedeutendsten uumlberdauern kaum das Leben einer Generation Wir haben bereits fest-

DIE VERAumlNDERLICHEN MEINUNGEN 105

gestellt daszlig die Veraumlnderungen dieser Meinungen zu- weilen mehr an ihrer Oberflaumlche als in ihrem Wesen vor- gehen und immer den Stempel der Rasseneigenschaften tragen Wenn wir beispielsweise die politischen Einrich- tungen unseres Landes betrachten sehen wir daszlig die scheinbar entgegengesetzten Parteien Monarchisten Radi- kale Imperialisten Sozialisten usw voumlllig uumlbereinstim- mende Ideale haben und daszlig diese Ideale sich einzig und allein auf die geistige Verfassung unserer Rasse beziehen denn unter den gleichen Namen finden sich bei andren Rassen ganz entgegengesetzte Ideale Weder durch die Namen der Anschauungen noch durch ihre taumluschenden Anpassungen wird der Kern der Dinge veraumlndert Die Buumlrger der Revolutionszeit die ganz erfuumlllt von der latei- nischen Literatur gebannt von der roumlmischen Republik ihre Gesetze Liktorenbuumlndel Togen uumlbernahmen wurden dadurch noch keine Roumlmer weil sie unter der Herrschaft einer maumlchtigen historischen Taumluschung standenEs ist die Aufgabe des Philosophen zu erforschen was sich unter den scheinbaren Veraumlnderungen von den alten Uumlberzeugungen erhaumllt und in der Flut der Meinungen diejenigen Bewegungen herauszufinden die durch die Grundanschauungen und die Rassenseele bestimmt werden Ohne diesen philosophischen Maszligstab koumlnnte man glau- ben die Massen aumlnderten ihre politischen und religioumlsen Uumlberzeugungen haumlufig und wirklich Die ganze Geschichte der Politik der Religion der Kunst und der Literatur scheint das in der Tat zu bezeugenNehmen wir z B einen kurzen Zeitabschnitt unserer eignen Geschichte etwa von 790 bis 820 also dreiszligig Jahre die Dauer eines Menschenalters Wir sehen innerhalb dieser Zeit wie die Massen die erst monarchistisch sind revo- lutionaumlr dann imperialistisch und schlieszliglich wieder mon- archistisch werden In der Religion wenden sie sich in der gleichen Zeit vom Katholizismus zum Atheismus dann zum Deismus und kehren zu den strengsten Formen des Katho- lizismus zuruumlck Und nicht allein die Massen auch die

106 GRENZEN DER VERAumlNDERLICHKEIT DER GRUNDANSCHAUUNGEN

Fuumlhrer sind denselben Veraumlnderungen unterworfen Man sieht die groszligen Konventsmitglieder die geschworenen Feinde der Koumlnige die von Gott und Teufel nichts wissen wollen ergebene Diener Napoleons werden und unter Ludwig XVIII bei den Prozessionen fromm ihre Kerzen tragenUnd welche Wandlungen dann in den Massenanschau- ungen der folgenden siebzig Jahre Das bdquoperfide Albionldquo vom Beginn dieses Jahrhunderts wird unter den Erben Napoleons Frankreichs Verbuumlndeter Ruszligland das zwei- mal mit uns im Kriege lag und sich uumlber unsere letzten Schicksalsschlaumlge so sehr gefreut hatte wird ploumltzlich als Freund betrachtetIn der Literatur der Kunst der Philosophie geht der Wechsel noch schneller vor sich Romantik Naturalismus Mystizismus usw tauchen auf und verschwinden im raschen Wechsel Die gestern gefeierten Kuumlnstler und Schriftsteller werden morgen aufs tiefste verachtetWas sehen wir aber wenn wir diese scheinbar so tiefen Wandlungen untersuchen Alle Ansichten die im Gegen- satz stehen zu den Grundanschauungen und -gefuumlhlen der Rasse sind nur von sehr kurzer Dauer und der abgelenkte Strom nimmt rasch seinen gewohnten Lauf wieder auf Die Anschauungen die sich an keine Grunduumlberzeugung an kein Gefuumlhl der Rasse knuumlpfen und die also keinen Bestand haben koumlnnen sind allen Zufaumlllen oder wenn man will den geringsten Veraumlnderungen der Verhaumlltnisse preisgegeben Sie sind mit Hilfe von Suggestion und An- steckung entstanden sind stets fluumlchtiger Art und erschei- nen und verschwinden auch oft ebenso schnell wie die Sandduumlnen die der Wind am Meeresstrande bildetDie Anzahl der unbestaumlndigen Meinungen der Massen ist heutzutage groumlszliger als je und zwar aus drei verschiedenen GruumlndenErstens buumlszligen die alten Glaubenslehren nach und nach ihre Herrschaft ein und wirken nicht mehr wie fruumlher richtunggebend auf die Meinungen Das Erloumlschen der

DIE VERAumlNDERLICHEN MEINUNGEN 107

Gesamtuumlberzeugungen gibt Raum fuumlr eine Menge Sonder- anschauungen ohne Vergangenheit und ZukunftZweitens waumlchst die Macht der Massen immer mehr und findet immer weniger Gegengewicht so daszlig sich die auszliger- ordentliche Beweglichkeit der Ideen die wir bei ihnen fanden frei entfalten kannDrittens fuumlhrt die neuerdings so verbreitete Presse unauf- houmlrlich die entgegengesetzten Meinungen vor den Augen der Masse voruumlber Die Wirkungen die jede von ihnen eben hervorzurufen suchte werden bald von widerspre- chenden Einfluumlssen aufgehoben Keine Meinung kann sich richtig verbreiten und alle fuumlhren nur ein vergaumlngliches Dasein Sie sind tot bevor sie bekannt genug sind um allgemein zu werdenAus diesen mannigfachen Ursachen ist eine ganz neue Er- scheinung der Weltgeschichte hervorgegangen die fuumlr die heutige Zeit sehr bezeichnend ist ich meine die Unfaumlhig- keit der Regierungen die oumlffentliche Meinung zu lenkenEinst und dies Einst liegt gar nicht so weit hinter uns wurde die oumlffentliche Meinung von der Tatkraft der Re- gierung dem Einfluszlig einiger Schriftsteller und einer ganz geringen Anzahl von Zeitungen getragen Heutzutage haben die Schriftsteller allen Einfluszlig eingebuumlszligt und die Zeitungen spiegeln nur die oumlffentliche Meinung wider Und was die Staatsmaumlnner anbelangt so denken sie nicht daran sie zu lenken sondern suchen ihr nur zu folgen Ihre Furcht vor der oumlffentlichen Meinung ist fast schon Schrecken und raubt ihrer Haltung jede FestigkeitDie Meinung der Massen zeigt also das Bestreben immer mehr zum entscheidenden Lenker der Politik zu werden Sie bringt es heute schon fertig Buumlndnisse vorzuschreiben wie wir es vor kurzem bei dem russischen Buumlndnis sahen das fast ausschlieszliglich aus einer Volksbewegung hervor- gingEs ist ein sehr eigenartiges Zeichen unserer Zeit daszlig Paumlpste Koumlnige und Kaiser sich dem Brauch der Befragung durch Vertreter der Tageszeitungen unterwerfen um dem

108 GRENZEN DER VERAumlNDERLICHKEIT DER GRUNDANSCHAUUNGEN

Urteil der Massen ihre Gedanken uumlber eine bestimmte Angelegenheit zu unterbreiten Einst konnte man sagen Politik sei nicht Sache des Gefuumlhls Kann man das heute noch wenn man sieht daszlig sie sich von den Einfallen der unbestaumlndigen Massen die keine Vernunft kennen und nur vom Gefuumlhl beherrscht werden leiten laumlszligtDie Presse die einstige Leiterin der oumlffentlichen Meinung hat wie die Regierungen gleichfalls der Macht der Massen weichen muumlssen Gewiszlig besitzt sie noch eine bedeutende Macht aber doch nur weil sie lediglich die Widerspiege- lung der oumlffentlichen Meinung und ihrer unaufhoumlrlichen Schwankungen ist Sie ist zum einfachen Informations- mittel geworden und hat darauf verzichtet irgendwelche Ideen oder Lehren zu verbreiten Sie geht allen Veraumlnde- rungen des oumlffentlichen Geistes nach sie ist dazu verpflich- tet weil sie sonst Gefahr laumluft durch die Maszlignahmen der Konkurrenz ihre Leser zu verlieren Die alten ehrwuumlr- digen und einfluszligreichen Blaumltter von ehedem deren Aus- spruumlche von der vergangenen Generation noch ehrfurchts- voll wie Weissagungen angehoumlrt wurden sind verschwun- den oder zu Nachrichtenvermittlungen geworden die von unterhaltenden Neuigkeiten Gesellschaftsklatsch und ge- schaumlftlichen Anzeigen umrahmt sind Welches Blatt waumlre heute reich genug seinen Schriftleitern eigne Meinungen gestatten zu koumlnnen Und welches Gewicht koumlnnten diese Meinungen bei Lesern haben die nur unterrichtet oder unterhalten werden wollen und hinter jeder Empfehlung Berechnung wittern Die Kritik hat nicht einmal mehr die Macht ein Buch oder ein Theaterstuumlck durchzusetzen Sie kann schaden aber nicht nuumltzen Die Blaumltter sind sich der Nutzlosigkeit jeder Eigenmeinung so bewuszligt daszlig sie all- maumlhlich die literarischen Kritiken eingeschraumlnkt haben und sich damit begnuumlgen den Namen des Buches nebst zwei drei Zeilen Empfehlung zu bringen und in zwanzig Jah- ren wird es sich mit der Theaterkritik wohl ebenso ver- haltenDas Aushorchen der Meinungen ist heute die Hauptsorge

DIE VERAumlNDERLICHEN MEINUNGEN 109

der Presse und der Regierungen Welche Wirkung dies Ereignis jener Gesetzentwurf jene Rede hervorrief ist wissenswert fuumlr sie Das ist nicht leicht denn nichts ist beweglicher und wandelbarer als das Denken der Massen Man kann es erleben daszlig sie das was sie gestern bejubel- ten heute mit dem Bannfluch belegenDas Endergebnis dieses gaumlnzlichen Mangels an Meinungs- richtung und der gleichzeitigen Aufloumlsung der Grunduumlber- zeugungen ist die voumlllige Zerbroumlckelung aller Anschau- ungen und die wachsende Gleichguumlltigkeit der Massen wie der einzelnen gegen alles was ihren unmittelbaren Vorteil nicht greifbar beruumlhrt Wissenschaftliche Lehren wie der Sozialismus haben wirklich uumlberzeugte Anhaumlnger nur in den ungebildeten Schichten z B unter Berg- und Fabrik- arbeitern Der Kleinbuumlrger der halbgebildete Handwerker sind zu miszligtrauisch gewordenDie Entwicklung die seit dreiszligig Jahren so verlaumluft ist uumlberraschend In fruumlheren gar nicht so weit zuruumlckliegen- den Zeiten hatten die Meinungen noch eine allgemeine Richtung Sie wurden von der Annahme einiger Grund- uumlberzeugungen abgeleitet Allein aus der Tatsache daszlig man Monarchist war ergeben sich notwendigerweise auf den Gebieten der Geschichte und der Wissenschaft be- stimmte scharfumgrenzte Ansichten waumlhrend der Repu- blikaner ganz entgegengesetzte fuumlr sich in Anspruch nahm Ein Monarchist wuszligte genau daszlig der Mensch nicht vom Affen abstammt und ein Republikaner wuszligte nicht weni- ger genau daszlig er von ihm abstammt Der Monarchist muszligte mit Abscheu der Republikaner begeistert von der Revolution sprechen Gewisse Namen wie Robespierre Marat muszligten mit andaumlchtiger Miene andre wieder wie Caumlsar Augustus Napoleon nur unter Schmaumlhungen aus- gesprochen werden Bis zu unserer Sorbonne herauf herrschte diese kindliche GeschichtsauffassungHeute verliert jede Meinung durch Eroumlrterung und Zer- gliederung ihren Nimbus ihre Stuumltzpunkte werden schnell unsicher und es bleiben nur wenige Ideen uumlbrig die uns

110 GRENZEN DER VERAumlNDERLICHKEIT DER GRUNDANSCHAUUNGEN

zu leidenschaftlicher Parteinahme bewegen koumlnnten Der moderne Mensch verfaumlllt immer mehr der Gleichguumlltig- keitWir wollen diese allgemeine Erschoumlpfung der Anschau- ungen nicht allzusehr bedauern Daszlig sie eine Entartungs- erscheinung im Voumllkerleben ist laumlszligt sich nicht bestreiten Wohl haben die Seher Apostel Fuumlhrer mit einem Wort die Uumlberzeugten eine ganz andere Gewalt als die Ver- neiner Kritiker und Gleichguumlltigen aber wir duumlrfen nicht vergessen daszlig eine einzige Anschauung die genuumlgend Nimbus gewaumlnne um sich durchzusetzen mit Hilfe der Macht der Massen bald eine so tyrannische Gewalt er- langen wuumlrde daszlig sich alsbald alle vor ihr beugen muumlszligten und die Zeit der freien Meinungsaumluszligerung waumlre dann fuumlr lange Zeit vorbei Zeitweilig sind die Massen friedfertige Herren wie es gelegentlich Heliogabal und Tiberius auch waren aber sie haben auch wilde Launen Ist eine Kultur reif ihnen in die Haumlnde zu fallen so ist sie zu vielen Zufaumlllen ausgesetzt als daszlig sie noch lange Zeit uumlberdauern koumlnnte Wenn irgend etwas die Stunde des Niedergangs aufhalten kann so ist es nur die auszligerordentliche Ver- aumlnderlichkeit der Meinungen und die wachsende Gleich- guumlltigkeit der Massen gegen alle allgemeinen Grund- anschauungen

111DIE VERAumlNDERLICHEN MEINUNGEN

DRITTES BUCH

EINTEILUNG UND BESCHREIBUNG DER VERSCHIEDENEN ARTEN

VON MASSEN

1 KAPITEL

Einteilung der Massen

Wir haben in dieser Arbeit bisher die allgemeinen den Massen gemeinsamen Merkmale festgestellt Es bleiben uns noch die besonderen Merkmale zu erforschen die diesen allgemeinen je nach der Art der Gesamtheiten vorgeord- net sindStellen wir zunaumlchst in aller Kuumlrze eine Einteilung der Massen aufUnser Ausgangspunkt ist die einfache Menge (la simple multitude) Ihre unterste Art ist dann gegeben wenn sie sich aus Einzelwesen verschiedener Rassen zusammensetzt Ihr einziges allgemeines Band ist der mehr oder weniger geachtete Wille eines Anfuumlhrers Als Beispiel fuumlr diese Massenform koumlnnen die Barbaren verschiedener Herkunft dienen die eine Reihe von Jahrhunderten hindurch das Roumlmische Reich verheertenUumlber diesen zusammenhanglosen Massen stehen jene die unter dem Einfluszlig gewisser Faktoren gemeinsame Merk- male angenommen haben und schlieszliglich eine Rasse bilden Sie werden gelegentlich die Sondermerkmale der Massen aufweisen aber immer gemaumlszligigt durch die Eigentuumlmlich- keiten ihrer RasseDie verschiedenen Arten der Massen die bei jedem Volk zu beobachten sind lassen sich folgendermaszligen einteilen

A Ungleichartige Massen (foules heacuteteacuterogegravenes) Namenlose (z B Straszligenansammlungen) 2 Nicht namenlose (z B Geschworenengericht Parla- ment)

B Gleichartige Massen (foules homogegravenes) Sekten (politische religioumlse und andere Sekten) 2 Kasten (militaumlrische Priester- Arbeiterkaste usw) 3 Klassen (Buumlrger Bauern usw)Wir geben kurz die unterscheidenden Merkmale dieser ver- schiedenen Arten von Massen an

sect Ungleichartige Massen

Die Wesenszuumlge dieser Gesamtheiten haben wir bereits studiert Sie setzen sich aus irgendwelchen einzelnen zu- sammen Beruf oder Intelligenz sind unwichtigWir haben in dieser Arbeit gezeigt daszlig die seelische Ver- fassung der Menschen in der Masse wesentlich abweicht von der Seelenverfassung die sie als einzelne haben und daszlig vor dieser Abweichung die Intelligenz nicht rettet Wir sahen daszlig Intelligenz in den Gesamtheiten keine Rolle spielt Nur unbewuszligte Gefuumlhle koumlnnen in ihnen wirksam werdenEin Grundfaktor die Rasse macht es uns moumlglich die ver- schiedenen ungleichartigen Massen ziemlich scharf zu sondern Schon wiederholt kamen wir auf die Bedeutung der Rasse zuruumlck und zeigten daszlig sie der maumlchtigste Faktor ist der die Macht hat die menschlichen Handlungen zu bestim- men Ihre Wirkung zeigt sich auch in den Eigenschaften der Masse Eine Menge die aus irgendwelchen verschie- denen Einzelwesen die aber entweder Englaumlnder oder Chinesen sein muumlssen zusammengesetzt ist unterscheidet sich grundlegend von einer anderen Masse die etwa aus Russen Franzosen oder Spaniern bestehtDie tiefen Unterschiede die durch die ererbte geistige Konstitution in der Gefuumlhls- und Denkweise der Menschen begruumlndet werden treten klar zutage wenn unter gewissen Umstaumlnden die allerdings selten vorkommen einzelne verschiedener Nationalitaumlten zu einer einzigen Masse ver- Einzelheiten uumlber die verschiedenen Arten der Massen findet man in meinen letzten Arbeiten

115UNGLEICHARTIGE MASSEN

einigt werden so gleichartig anscheinend die Interessen sein moumlgen Die Versuche der Sozialisten auf groszligen Zusam- menkuumlnften die Vertreter der Arbeiterschaft aller Laumlnder zu vereinigen endeten stets in heftiger Zwietracht Eine lateinische Masse so revolutionaumlr oder konservativ sie auch sein mag wird sich zur Erfuumlllung ihrer Forderungen stets an den Staat wenden Sie ist stets zentralistisch und mehr oder minder monarchistisch Eine englische und amerikani- sche Masse hingegen kennt den Staat nicht und wendet sich nur an die persoumlnliche Tatkraft Eine franzoumlsische Masse haumllt vor allem viel auf Gleichheit eine englische auf Frei- heit Diese Rassen Verschiedenheiten bringen fast ebenso- viele Abarten der Masse hervor als es Voumllker gibtDie Rassenseele beherrscht also voumlllig die Massenseele Sie ist der maumlchtige Grundstoff der die Schwankungen der Massenseele bestimmt Die niederen Eigenschaften der Masse sind um so weniger betont je staumlrker die Rassenseele ist Das ist ein Grundgesetz Der Staat der Masse und die Herrschaft der Masse bedeuten die Barbarei oder die Ruumlck- kehr zur Barbarei Durch Erwerbung einer festgefuumlgten Seele schuumltzt sich die Rasse immer mehr vor unuumlberlegter Gewalt der Massen und laumlszligt die Barbarei hinter sichDie einzige Einteilung die sich fuumlr die ungleichartigen Massen auszliger ihrer Bestimmung nach Rassen durchfuumlhren laumlszligt ist die Einteilung in namenlose Massen wie die der Straszligen und nicht namenlose Massen wie z B die bera- tenden Ausschuumlsse und die Schwurgerichte Das Fehlen des Verantwortlichkeitgefuumlhls bei den ersteren und sein Vor- handensein bei den letzteren draumlngt ihre Handlungsweise oft in verschiedene Richtung

sect 2 Gleichartige Massen

Die gleichartigen Massen umfassen erstens die Sekten zweitens die Kasten drittens die KlassenDie Sekte bezeichnet den ersten Grad in der Organisation gleichartiger Massen Zu ihr gehoumlren einzelne deren Er-

116 DIE VERSCHIEDENEN ARTEN VON MASSEN

ziehung Beruf und Milieu oft sehr verschieden ist und die nur durch das Band der Uumlberzeugung miteinander verbun- den sind so z B die religioumlsen und politischen SektenDie Kaste stellt den houmlchsten Organisationsgrad dar des- sen die Masse faumlhig ist Waumlhrend die Sekte einzelne um- faszligt deren Beruf Bildung und Milieu oft sehr verschie- den sind und die sich nur durch Gemeinsamkeit der Uumlber- zeugung zusammenschlieszligen gehoumlren zur Kaste nur ein- zelne von gleichem Beruf und folglich auch ziemlich aumlhn- licher Bildung und fast gleichen Lebensverhaumlltnissen So z B die militaumlrische und die PriesterkasteDie Klasse wird von einzelnen verschiedenen Ursprungs gebildet die weder wie die Mitglieder einer Sekte durch die Uumlbereinstimmung der Uumlberzeugung noch durch die Gleichheit des Berufes wie die Mitglieder einer Kaste sondern durch bestimmte Interessen Lebensgewohnheiten und ihre Erziehung einander aumlhnlich sind So z B die Klasse der Buumlrger der Bauern uswDa ich in dieser Arbeit nur die ungleichartigen Massen zu studieren habe so werde ich mich nur mit einigen Arten dieser Gattung der Massen beschaumlftigen die ich als be- zeichnende Beispiele herausgreife

2 KAPITEL

Die sogenannten verbrecherischen Massen

Da nach einer bestimmten Erregungszeit die Massen in den Zustand einfacher unbewuszligter Automaten zuruumlckfallen die von Beeinflussungen abhaumlngig sind so scheint es schwie- rig zu sein sie in irgendeinem Falle als verbrecherisch zu bezeichnen Ich behalte jedoch diese irrige Bezeichnung bei weil sie durch die psychologischen Forschungen uumlblich ge- worden ist Gewisse Handlungen der Masse sind an sich betrachtet sicherlich verbrecherisch aber doch nur in dem- selben Sinne wie die Tat eines Tigers der einen Hindu

117GLEICHARTIGE MASSEN VERBRECHERISCHE MASSEN

verschlingt nachdem er ihn erst von seinen Jungen zu ihrer Unterhaltung hat zerfleischen lassenDie Verbrechen der Massen sind in der Regel die Folge einer starken Suggestion und die einzelnen die daran teil- nahmen sind hinterher davon uumlberzeugt einer Pflicht ge- horcht zu haben Das ist beim gewoumlhnlichen Verbrecher durchaus nicht der FallDie Geschichte der Verbrechen die durch die Massen be- gangen wurden laumlszligt dies klar erkennenAls bezeichnendes Beispiel kann man die Ermordung des Gouverneurs der Bastille du Launay anfuumlhren Nach der Eroberung dieser Festung hagelten von allen Seiten aus der aufs aumluszligerste gereizten Menge die ihn umgab Hiebe auf den Gouverneur Man schlug vor ihn zu haumlngen zu enthaupten oder an den Schweif eines Pferdes zu binden Bei dem Versuch sich zu befreien versetzte er einem der Umstehenden versehentlich einen Fuszligtritt Da machte je- mand den Vorschlag ndash dem die Menge sofort zujauchzte

ndash der Getretene solle dem Gouverneur den Hals ab- schneiden

bdquoDieser ein stellenloser Koch der halb und halb aus Neu- gierde nach der Bastille gegangen war um zu sehen was don vorging glaubt weil dies die allgemeine Ansicht ist die Tat sei patriotisch und glaubt sogar eine Auszeich- nung zu verdienen wenn er ein Ungeheuer toumltet Man gibt ihm einen Saumlbel mit dem er auf den bloszligen Hals losschlaumlgt da aber der schlechtgeschliffene Saumlbel nicht schneidet zieht er ein kleines Messer mit schwarzem Heft aus der Tasche und vollendet (da er als Koch Fleisch zu bearbeiten weiszlig) erfolgreich seine OperationldquoHier zeigt sich klar der fruumlher festgestellte Mechanismus Gehorsam gegen einen Einfluszlig der um so maumlchtiger wirkt weil er einer Gesamtheit entstammt die Uumlberzeugung des Moumlrders damit eine aumluszligerst verdienstvolle Tat getan zu haben eine Uumlberzeugung die um so natuumlrlicher ist da er auf die einmuumltige Zustimmung seiner Mitbuumlrger rechnen kann Eine derartige Tat kann vielleicht gesetzlich aber

118 DIE VERSCHIEDENEN ARTEN VON MASSEN

nicht psychologisch als Verbrechen bezeichnet werden Die allgemeinen Merkmale der sogenannten verbrecherischen Massen sind genau dieselben die wir bei allen Mas- sen festgestellt haben Beeinfluszligbarkeit Leichtglaumlubigkeit Uumlberschwang der guten und schlechten Gefuumlhle das Her- vortreten gewisser Formen der Sittlichkeit uswAlle diese Merkmale finden wir bei der Masse der Sep- tembermaumlnner wieder die in unserer Geschichte das un- seligste Andenken hinterlassen haben Sie zeigen uumlbrigens viel Aumlhnlichkeit mit den Urhebern der Bartholomaumlusnacht Die Einzelheiten des Berichtes entnehme ich Taine der sie aus zeitgenoumlssischen Erinnerungen geschoumlpft hat Es ist nicht genau bekannt wer Befehl oder Veranlassung gege- ben hat die Gefangenen abzuschlachten um die Gefaumlng- nisse zu raumlumen Ob es Danton war wie es wahrscheinlich ist oder ein anderer ist gleichguumlltig wir haben es nur mit dem maumlchtigen Einfluszlig zu tun den die mit dem Blutbade beauftragte Menge empfingDie Schar der Menschenschlaumlchter umfaszligte ungefaumlhr drei- hundert Mitglieder und zeigte vollkommen die Grundform einer ungleichartigen Masse Abgesehen von einer ganz geringen Anzahl gewerbsmaumlszligiger Bettler bestand sie na- mentlich aus Haumlndlern und Handwerkern aller Art aus Schustern Schlossern Peruumlckenmachern Maurern Ange- stellten Dienstmaumlnnern usw Unter dem Einfluszlig der emp- fangenen Suggestion sind sie wie der obenerwaumlhnte Koch voumlllig uumlberzeugt davon eine vaterlaumlndische Pflicht zu er- fuumlllen Sie uumlben ein doppeltes Amt aus das des Richters und das des Henkers und halten sich in keiner Weise fuumlr VerbrecherDurchdrungen von der Wichtigkeit ihrer Aufgabe bilden sie zunaumlchst eine Art Gerichtshof und sofort zeigt sich der beschraumlnkte Geist und das nicht weniger beschraumlnkte Rechtsgefuumlhl der Massen Angesichts der betraumlchtlichen Anzahl der Angeklagten wird zunaumlchst entschieden die Adligen die Priester die Offiziere die Diener des Koumlnigs d h diejenigen deren Beruf in den Augen eines guten

119DIE SOGENANNTEN VERBRECHERISCHEN MASSEN

Patrioten allein schon ein Schuldbeweis ist sollen in Hau- fen niedergemetzelt werden ohne daszlig es eines besonderen Urteils bedarf Im uumlbrigen wird nach Aussehen und An- sehen verurteilt Das unausgebildete Gewissen der Masse ist auf diese Weise befriedigt sie kann rechtmaumlszligig an die Abschlachtung gehen und den Instinkten der Grausamkeit deren Entstehen ich an anderer Stelle behandelt habe und die die Gesamtheiten stets in hohem Maszlige entfalten koumln- nen freien Lauf lassen Sie stehen uumlbrigens ndash das ist die Regel bei den Massen ndash einer gleichzeitigen Offenbarung entgegengesetzter Gefuumlhle nicht im Wege so z B der Empfindsamkeit die oft ebenso wie ihre Grausamkeit bis zum aumluszligersten geht bdquoSie haben das offenherzige Mitge- fuumlhl und die bewegliche Empfindlichkeit der Pariser Ar- beiter Als ein Foumlderierter vernahm daszlig man in der Abtei die Haumlftlinge seit sechsundzwanzig Stunden ohne Wasser gelassen hatte wollte er durchaus den nachlaumlssigen Pfoumlrt- ner umbringen und haumltte es getan wenn nicht die Ge- fangenen selbst fuumlr ihn gebeten haumltten Ist ein Gefangener (von ihrem fliegenden Gerichtshof) freigesprochen so wird er von den Waumlchtern und Henkern kurz von jedermann umarmt und stuumlrmisch begruumlszligtldquo Dann kehrt man zur Ab- schlachtung der uumlbrigen zuruumlck Waumlhrend des Blutbades herrscht andauernd liebenswuumlrdige Froumlhlichkeit Man singt und tanzt um die Leichen herum stellt den bdquoDamenldquo die gluumlcklich daruumlber sind zu sehen daszlig Aristokraten ge- toumltet werden Baumlnke zur Verfuumlgung Auch weiterhin wer- den Proben einer besonderen Houmlflichkeit gegeben Als sich ein Henker in der Abtei beklagt die etwas entfernter sitzenden Damen saumlhen schlecht und nur einige der An- wesenden haumltten das Vergnuumlgen die Aristokraten zu schla- gen gibt man die Richtigkeit dieser Beobachtung zu und bestimmt daszlig man die Opfer langsam zwischen zwei Reihen von Moumlrdern hindurchgehen lasse die zur Ver- laumlngerung der Qualen nur mit dem Saumlbelruumlcken schlagen duumlrfen In der Festung werden die Opfer voumlllig entkleidet eine halbe Stunde lang zerfleischt dann wenn jedermann

120 DIE VERSCHIEDENEN ARTEN VON MASSEN

alles gut gesehen hat erledigt man sie indem man ihnen den Bauch aufschlitzt Die Menschenschlaumlchter sind im uumlbrigen sehr gewissenhaft und bekunden jene Sittlichkeit auf deren Vorhandensein im Herzen der Massen wir be- reits hinwiesen Sie legen das Geld und den Schmuck der Opfer auf dem Tisch des Ausschusses niederIn allen ihren Handlungen finden sich diese unentwickel- ten Formen des Denkens die fuumlr die Massenseele bezeich- nend sind So macht irgend jemand nach einer Abschlach- tung von zwoumllf- bis fuumlnfzehnhundert Volksfeinden darauf aufmerksam ndash und seine Anregung wird sofort angenom- men ndash daszlig in den andern Gefaumlngnissen in denen alte Bettler Landstreicher jugendliche Haumlftlinge sitzen in Wahrheit nur unnuumltze Fresser eingesperrt waumlren deren man sich am besten entledige Uumlbrigens muumlszligten sich unter ihnen auch Volksfeinde befinden wie z B eine gewisse Frau Delarue die Witwe eines Giftmischers bdquoSie soll wuumltend sein im Gefaumlngnis zu sitzen wenn sie koumlnnte wuumlrde sie Paris in Brand stecken das soll sie gesagt haben das hat sie gesagt Fort mit ihrldquo Der Beweis ist uumlber- zeugend und haufenweise wird alles abgeschlachtet Inbe- griffen sogar etwa fuumlnfzig Kinder von zwoumllf bis siebzehn Jahren die ja auch Volksfeinde werden koumlnnten und folg- lich beseitigt werden muszligtenNach einer Woche der Arbeit waren all diese Maszlignahmen ausgefuumlhrt und die Menschenschlaumlchter durften von Ruhe traumlumen Da sie tief davon durchdrungen waren dem Vaterland gut gedient zu haben verlangten sie von den Machthabern eine Belohnung die Eifrigsten forderten so- gar eine AuszeichnungDie Geschichte der Kommune von 870 weist aumlhnliche Tatsachen auf Der wachsende Einfluszlig der Massen und das allmaumlhliche Zuruumlckweichen der Maumlchte vor ihnen wird sicherlich noch viele andre hinzufuumlgen

DIE SOGENANNTEN VERBRECHERISCHEN MASSEN 121

3 KAPITEL

Die Geschworenen bei den Schwurgerichten

Da wir uns hier nicht mit allen Arten der Geschworenen befassen koumlnnen so werde ich mich nur mit den wichtig- sten den Beisitzern der Schwurgerichte beschaumlftigen Sie bieten uns ein vortreffliches Beispiel fuumlr die nicht namen- lose ungleichartige Masse Wir finden hier die Beeinfluszlig- barkeit die Vorherrschaft der unbewuszligten Gefuumlhle die geringe Faumlhigkeit zum Denken den Einfluszlig der Fuumlhrer usw Ihre Beobachtung wird uns Gelegenheit geben be- merkenswerte Proben von Fehlern kennenzulernen die von Leuten begangen werden die mit der Psychologie der Gesamtheiten nicht vertraut sindDie Geschworenen sind zunaumlchst ein Beispiel fuumlr die ge- ringe Bedeutung die den geistigen Voraussetzungen der verschiedenen Wesen aus denen sich eine Masse zusam- mensetzt bei Entscheidungen zukommt Wir haben ge- sehen daszlig in einer beratenden Versammlung die aufge- fordert wird ein Urteil abzugeben die Intelligenz keine Rolle spielt wenn es sich um eine Frage handelt die nicht rein technischer Natur ist und daszlig in einer Versammlung von Gelehrten und Kuumlnstlern uumlber allgemeine Angelegen- heiten Urteile abgegeben werden die sich von denen einer Maurerversammlung kaum wesentlich unterscheiden Zu manchen Zeiten traf die Verwaltung unter den Personen die zu Geschworenen ernannt wurden eine sorgfaumlltige Auswahl sie stammten aus den aufgeklaumlrten Klassen der Lehrer Beamten wissenschaftlich Gebildeten usw Heut- zutage gehoumlren die Geschworenen hauptsaumlchlich den Klein- haumlndlern Handwerksmeistern Angestellten usw an Und zur groszligen Verwunderung der Fachschriftsteller zeigt die Statistik daszlig die Entscheidungen ganz gleich bleiben wie die Geschworenen auch zusammengesetzt sein moumlgen Selbst die Juristen die der Einrichtung der Schwurgerichte so feindlich gegenuumlberstanden muszligten die Richtigkeit dieser

Feststellung anerkennen Ein ehemaliger Schwurgerichts- praumlsident Bernard des Glajeux schreibt in seinen bdquoEr- innerungenldquo daruumlber folgendes

bdquoHeute liegt die Auswahl der Geschworenen in Wirklich- keit in den Haumlnden der Stadtraumlte die nach ihrem Belieben zulassen und ausscheiden und sich in der Hauptsache von politischen Verhaumlltnissen und Wahlsorgen leiten lassen die mit ihrer Stellung verbunden sind hellip Die Mehrzahl der Gewaumlhlten besteht aus Kauf leuten von so geringer Bedeutung daszlig man sie fruumlher nicht zugelassen haumltte und aus Beamten bestimmter Verwaltungsbehoumlrden In der Rolle des Richters vereinigen sich alle Anschauungen mit allen Berufsarten viele zeigen den Eifer der Neulinge und Menschen die den besten Willen haben begegnet man in den einfachsten Staumlnden Der Geist der Geschworenen hat sich nicht geaumlndert ihre Urteile sind sich gleichgebliebenldquoWir wollen aus diesem Satz die ganz richtigen Folgerun- gen nicht aber die recht schwachen Erklaumlrungen beibe- halten Diese Schwaumlche ist besonders erstaunlich denn die Psychologie der Massen und folglich auch der Geschwore- nen scheint meistens den Anwaumllten wie den Richtern un- bekannt gewesen zu sein Den Beweis dafuumlr liefert mir die Tatsache die derselbe Autor anfuumlhrt daszlig einer der be- ruumlhmtesten Rechtsanwaumllte des Schwurgerichts Lachaud ausnahmslos von seinem Recht Gebrauch machte die gebildeten Mitglieder der Geschworenen abzulehnen Die Erfahrung aber ndash und die Erfahrung allein ndash uumlberzeugte ihn schlieszliglich von der Zwecklosigkeit dieser Ablehnung Die Staatsanwaltschaft und die Rechtsanwaumllte haben wenigstens in Paris vollstaumlndig darauf verzichtet und doch haben sich wie des Giajeux bemerkt die Urteile nicht geaumlndert bdquosie sind weder besser noch schlechterldquoWie alle Massen werden die Geschworenen sehr stark durch Gefuumlhle und sehr wenig durch Beweisgruumlnde beeinfluszligt Ein Rechtsanwalt schreibt bdquoSie koumlnnen dem Anblick einer stillenden Frau oder der Vorfuumlhrung der Waisen nicht widerstehenldquo bdquoEine Frau braucht nur angenehm zu seinldquo

123DIE GESCHWORENEN

sagt des Glajeux bdquoso gewinnt sie das Wohlgefallen der GeschworenenldquoGegen Verbrechen von denen sie selbst betroffen werden koumlnnten und die uumlberdies gerade fuumlr die Gesellschaft die furchtbarsten sind zeigen sich die Geschworenen unerbitt- lich andrerseits sind sie gegen die sogenannten Verbrechen der Leidenschaft sehr nachsichtig Selten beurteilen sie Kindesmord unehelicher Muumltter streng und noch weniger das verlassene Maumldchen das seinen Verfuumlhrer mit Vitriol uumlberschuumlttet Sie fuumlhlen instinktiv sehr gut daszlig diese Verbrechen fuumlr die Gesellschaft wenig gefaumlhrlich sind und daszlig in einem Lande wo das Gesetz verlassene Maumldchen nicht schuumltzt ihre Rache mehr Nutzen stiftet indem sie kuumlnftige Verfuumlhrer von vornherein abschreckt Wie alle Massen werden die Geschworenen durch An- sehen stark geblendet und Praumlsident des Glajeux macht mit Recht darauf aufmerksam daszlig sie ihrer Zusammen- setzung nach zwar sehr demokratisch ihren Neigungen nach aber sehr aristokratisch seien bdquoName Geburt Reich- tum Ruhm und die Anwesenheit eines bekannten An- walts alles Auszeichnende und Glaumlnzende sind fuumlr den Angeklagten eine erhebliche UnterstuumltzungldquoEs muszlig die Hauptsorge eines guten Anwalts sein auf die Gefuumlhle der Geschworenen einzuwirken und wie bei allen Massen wenig zu begruumlnden oder Beweisfuumlhrungen nur in andeutender Form zu geben Ein englischer Anwalt der

Nebenbei bemerkt entbehrt diese Unterscheidung zwischen gesellschaftsfeind- lichen und nicht gesellschaftsfeindlichen Verbrechen die mit richtigem Instinkt von den Geschworenen gemacht wird keineswegs der Richtigkeit Das Ziel der Strafgesetze soll doch offenbar der Schutz der Gesellschaft gegen Ver- brechen nicht aber Rache sein Nun sind aber unsere Strafgesetzbuumlcher und besonders unsere Richter voumlllig von dem Rachegeist des alten urspruumlnglichen Gesetzes erfuumlllt und der Ausdruck bdquoSuumlhneldquo (vindicta) wird noch taumlglich gebraucht Der Beweis fuumlr diese Neigung der Richter ist die Weigerung vieler von ihnen das vortreffliche Gesetz Beacuteranger anzuwenden welches die Strafe des Verurteilten aufschiebt bis er ruumlckfaumlllig wird Und doch kann kein Richter daruumlber im unklaren sein ndash denn die Statistik beweist es ja ndash daszlig die Verbuumlszligung der ersten Strafe fast unfehlbar den Ruumlckfall nach sich zieht Die Richter glauben wenn sie einen Schuldigen freisprechen die Gesellschaft sei ungeraumlcht geblieben Ehe sie das zulassen schaffen sie lieber einen gefaumlhr- lichen Ruumlckfaumllligen

124 DIE VERSCHIEDENEN ARTEN VON MASSEN

wegen seiner Erfolge am Schwurgericht beruumlhmt war hat dies Verfahren ausgezeichnet geschildert

bdquoAufmerksam beobachtet er waumlhrend seiner Verteidigungs- rede die Geschworenen Der Augenblick ist guumlnstig Mit Hilfe seines Spuumlrsinnes und auch gewohnheitsmaumlszligig liest der Anwalt die Wirkung jedes Satzes jedes Wortes in den Mienen und zieht seine Schluumlsse daraus Es handelt sich vor allem darum die Mitglieder herauszufinden die im voraus fuumlr den Fall eingenommen sind Der Verteidiger versichert sich ihrer im Handumdrehen dann wendet er sich an die Mitglieder die unguumlnstig gestimmt zu sein scheinen und bemuumlht sich zu erraten warum sie gegen den Angeklagten sind Das ist der schwierigste Teil der Arbeit denn es kann auszliger dem Gerechtigkeitsgefuumlhl noch unzaumlhlige Gruumlnde geben einen Menschen verurteilen zu wollenldquoDiese wenigen Zeilen fassen die Absichten der Redner- kunst treffend zusammen und zeigen uns die Wertlosigkeit der eingelernten Rede weil man jeden Augenblick je nach dem erzielten Eindruck die Ausdrucksweise aumlndern muszlig Der Redner braucht nicht alle Mitglieder des Gerichts auf seine Seite zu bringen sondern nur die tonangebenden die die Gesamtmeinung beeinflussen Wie bei allen Massen gibt es auch hier eine kleine Anzahl von fuumlhrenden ein- zelnen bdquoIch habe die Erfahrung gemachtldquo sagt der oben erwaumlhnte Anwalt bdquodaszlig im Augenblick der Urteilsfaumlllung ein oder zwei energische Maumlnner genuumlgen um die uumlbrigen Geschworenen mitzureiszligenldquo Diese zwei oder drei Maumlnner muszlig man durch geschickte Beeinflussung uumlberzeugen Zu- erst und vor allem muszlig man ihnen gefallen Der Massen- mensch dem man gefaumlllt ist schon beinahe uumlberzeugt und gut vorbereitet alle Gruumlnde die man ihm darlegt fuumlr ausgezeichnet zu halten In einer interessanten Arbeit uumlber Lachaud finde ich folgende Anekdote

bdquoMan weiszlig daszlig Lachaud als er beim Schwurgericht ar- beitete waumlhrend der ganzen Dauer seiner Verteidigungs- reden zwei oder drei Geschworene von denen er wuszligte

DIE GESCHWORENEN 125

oder fuumlhlte daszlig sie einfluszligreich aber unzugaumlnglich waren nicht aus den Augen verlor In der Regel gelang es ihm die Widerspenstigen zu gewinnen Aber einmal fand er in der Provinz einen den er vergebens dreiviertel Stunden lang bearbeitete den ersten auf der zweiten Bank den siebenten Geschworenen Es war zum Verzweifeln Ploumltz- lich mitten im leidenschaftlichen Redefluszlig haumllt Lachaud inne und wendet sich an den Vorsitzenden des Gerichts- hofes mit den Worten Herr Praumlsident koumlnnte man nicht den Vorhang dort vorn herunterlassen den siebenten Herrn Geschworenen blendet die Sonnelsquo Der siebente Ge- schworene erroumltete laumlchelte dankte Er war der Verteidi- gung gewonnenldquoVerschiedene Autoren und zwar sehr namhafte haben in der letzten Zeit die Einrichtung der Schwurgerichte den einzigen Schutz gegen die wirklich sehr haumlufigen Irrtuumlmer einer aufsichtslosen Kaste heftig bekaumlmpft Einige moumlch- ten daszlig die Geschworenen nur aus den gebildeten Staumlnden gewaumlhlt wuumlrden Aber wir haben schon festgestellt daszlig in diesem Falle die Entscheidungen den jetzt gefaumlllten gleichen werden Andre die sich auf die Irrtuumlmer der Geschwore- nen berufen moumlchten sie abschaffen und durch Richter er- setzen Wie koumlnnen sie aber vergessen daszlig die Irrtuumlmer die den Geschworenen so oft vorgeworfen werden stets

Der Richterstand ist in der Tat der einzige Verwaltungszweig dessen Maszlig- nahmen keiner Uumlberwachung unterstellt sind Keine Revolution hat es fertig- gebracht dem demokratischen Frankreich jenes Habeas-corpus-Recht zu errin- gen auf das England so stolz ist Wir haben die Tyrannen verbannt aber in jeder Stadt verfuumlgt eine Obrigkeit nach Belieben uumlber Ehre und Freiheit der Buumlrger Ein unbedeutender Untersuchungsrichter der die Universitaumlt kaum verlieszlig hat die empoumlrende Macht die angesehensten Buumlrger gegen die er den bloszligen Verdacht einer Schuld hegt fuumlr den er niemand Rechenschaft schuldig ist ins Gefaumlngnis zu schicken Er kann sie sechs Monate ja sogar ein Jahr unter dem Vorwande der Untersuchung dort festhalten und sie schlieszliglich ohne Entschaumldigung oder Entschuldigung entlassen Der Vorladungsbefehl ist dem bdquolettre de cachetldquo dem koumlniglichen geheimen Haftbefehl gleichwertig nur mit dem Unterschied daszlig der letztere der mit Recht der alten Monarchie so zum Vorwurf gemacht wird nur sehr bedeutenden Persoumlnlichkeiten zur Verfuumlgung stand waumlhrend er sich heute in den Haumlnden einer ganzen Buumlrger- klasse befindet die keineswegs fuumlr die aufgeklaumlrteste und unabhaumlngigste gelten kann

126 DIE VERSCHIEDENEN ARTEN VON MASSEN

zuerst von den Richtern begangen wurden denn wenn der Angeklagte vor den Geschworenen erscheint so wird er bereits von verschiedenen Richtern fuumlr schuldig gehalten vom Untersuchungsrichter vom Staatsanwalt vom An- klagesenat Und sieht man denn nicht daszlig der Angeklagte seine einzige Aussicht fuumlr unschuldig erklaumlrt zu werden einbuumlszligte wenn er schlieszliglich von Richtern anstatt von Geschworenen abgeurteilt wuumlrde Die Irrtuumlmer der Ge- schworenen sind zuerst stets Irrtuumlmer der Richter gewesen An diese allein muszlig man sich halten wenn man auf be- sonders ungeheuerliche Justizirrtuumlmer wie die Verurtei- lung des Dr Xhellip stoumlszligt der auf die Anzeige eines halb- idiotischen Maumldchens das den Arzt beschuldigte er habe sie fuumlr dreiszligig Franken abortieren lassen von einem wirklich recht beschraumlnkten Untersuchungsrichter verfolgt wurde und der ohne den Entruumlstungsausbruch der Oumlffent- lichkeit der seine sofortige Begnadigung durch das Staats- oberhaupt zur Folge hatte ins Gefaumlngnis gewandert waumlre Die Ehrenhaftigkeit die dem Verurteilten von all seinen Mitbuumlrgern zuerkannt wurde lieszlig die Ungeheuerlichkeit des Irrtums besonders offenbar werden Selbst die Richter erkannten das und doch taten sie aus Kastengeist alles moumlgliche um die Unterzeichnung der Begnadigung zu ver- hindern In allen solchen Faumlllen houmlren die Geschworenen von technischen Einzelheiten die sie nicht verstehen ver- wirrt naturgemaumlszlig auf die Staatsanwaltschaft da sie sich sagen daszlig der Fall schlieszliglich von Richtern die in allen Feinheiten bewandert sind gepruumlft sei Wer sind also die wahren Urheber des Irrtums die Geschworenen oder die Richter Darum wollen wir sorgfaumlltig uumlber unsere Schwur- gerichte wachen Sie bilden vielleicht die einzige Gattung der Masse die durch keinen einzelnen zu ersetzen ist Nur sie koumlnnen die Haumlrten des Gesetzes mildern das fuumlr alle gleich im Prinzip blind sein muszlig und Sonderfaumllle nicht kennen darf Der Richter der nur den Wortlaut des Ge- setzes kennt und fuumlr Mitleid unzugaumlnglich ist wuumlrde mit seiner Berufshaumlrte den Raubmoumlrder zu derselben Strafe

DIE GESCHWORENEN 127

verurteilen wie das arme Maumldchen das zum Kindesmord gedraumlngt wird weil es von seinem Verfuumlhrer verlassen und dem Elend preisgegeben ist waumlhrend die Geschworenen sehr wohl fuumlhlen daszlig das verfuumlhrte Maumldchen viel weniger schuld ist als der Verfuumlhrer der dem Gesetz entschluumlpft und daszlig es all ihre Nachsicht verdientObwohl ich die Psychologie der Kasten so wie die der andern Massen sehr wohl kenne kann ich mir keinen Fall denken der mich wenn ich eines Verbrechens angeklagt waumlre nicht vorziehen lieszlige lieber mit Geschworenen als mit Richtern zu tun zu haben Bei den ersten haumltte ich groszlige Aussicht schuldlos erkannt zu werden bei den letz- teren nur sehr geringe Wir haben die Macht der Massen zu fuumlrchten aber noch mehr die Macht gewisser Kasten Die Massen lassen sich vielleicht uumlberzeugen die Kasten geben niemals nach

4 KAPITEL

Die Waumlhlermassen

Die Waumlhlermassen d h die Gesamtheiten die zur Wahl der Inhaber gewisser Aumlmter berufen sind bilden ungleich- artige Massen da sie aber nur in einer ganz bestimmten Frage ihre Wirksamkeit entfalten naumlmlich bei der Wahl zwischen mehreren Kandidaten so lassen sich bei ihnen nur einige der fruumlher beschriebenen Merkmale beobachten Besonders hervorragend ist die geringe Urteilsfaumlhigkeit dann der Mangel an kritischem Denken die Erregbarkeit Leichtglaumlubigkeit und Einfalt der Massen Auch entdeckt man in ihren Entscheidungen den Einfluszlig der Fuumlhrer und die Wirkung der bereits angefuumlhrten Triebkraumlfte Behaup- tung Wiederholung Nimbus und UumlbertragungSehen wir nun zu wie sie zu gewinnen sind Ihre Psycho- logie laumlszligt sich nach bewaumlhrter Methode klar ableiten Als erste Eigenschaft muszlig der Bewerber einen Nimbus

128 DIE VERSCHIEDENEN ARTEN VON MASSEN

haben Persoumlnlicher Nimbus kann nur durch Reichtum ersetzt werden Talent und selbst Genie sind keine Vor- bedingungen fuumlr den ErfolgFolglich ist der persoumlnliche Nimbus des Bewerbers um sich ohne weitere Eroumlrterungen durchsetzen zu koumlnnen von ausschlaggebender Bedeutung Daszlig die Waumlhler die in der Mehrzahl aus Arbeitern und Bauern bestehen so selten einen ihrer Leute als Vertreter waumlhlen erklaumlrt sich daraus daszlig ihre Standesgenossen keinen Nimbus bei ihnen haben Sie waumlhlen einen ihresgleichen fast nur aus nebensaumlchlichen Gruumlnden etwa um einen hochgestellten Manne einem maumlchtigen Arbeitgeber entgegenzutreten weil der Waumlhler Tag fuumlr Tag die Abhaumlngigkeit von diesem empfindet und sich so einbildet einen Augenblick seiner Herr zu seinAber der Besitz des Nimbus genuumlgt fuumlr den Bewerber nicht zur Sicherung des Erfolges Der Waumlhler haumllt darauf daszlig man seinen Begierden und Eitelkeiten schmeichelt Der Kandidat muszlig uumlbertriebene Schmeicheleien anwenden und darf kein Bedenken tragen die phantastischsten Ver- sprechungen zu machen Vor Arbeitern kann man ihre Arbeitgeber nicht genug beleidigen und schmaumlhen Den gegnerischen Bewerber wiederum muszlig man zu vernichten suchen indem man durch Behauptung Wiederholung und Uumlbertragung zu beweisen sucht er sei der aumlrgste Schuft von dem jeder wisse daszlig er etliche Verbrechen begangen habe Selbstredend ist es unnoumltig etwas vorbringen zu wollen was einem Beweis aumlhnelt Ist der Gegner ein schlechter Kenner der Massenpsychologie so wird er sich durch Beweise zu rechtfertigen suchen anstatt auf verleum- derische Behauptungen einfach mit andern ebenso verleum- derischen zu antworten und wird dann keine Aussicht auf Sieg habenDas geschriebene Programm des Kandidaten darf nicht sehr entschieden sein weil seine Gegner es ihm spaumlter ent- gegenhalten koumlnnten aber sein muumlndliches Programm kann nicht uumlbertrieben genug sein Die auszligerordentlichsten Re-

129DIE WAumlHLERMASSEN

formen duumlrfen in Aussicht gestellt werden Fuumlr den Augen- blick erzielen diese Uumlbertreibungen groszlige Wirkung und fuumlr die Zukunft verpflichten sie zu nichts Der Waumlhler kuumlm- mert sich spaumlter tatsaumlchlich nie darum ob der Gewaumlhlte sein Glaubensbekenntnis dem man begeistert zustimmte und das angeblich die Voraussetzung fuumlr das Zustande- kommen der Wahl war auch wirklich befolgt hatWir erkennen hier alle Mittel der Uumlberredung wieder die oben beschrieben wurden Wir werden sie auch in der Wirkung der Worte und R e d e w e n d u n g e n wieder- finden auf deren maumlchtige Herrschaft wir bereits hinge- wiesen haben Der Redner der die Massen zu behandeln weiszlig fuumlhrt sie nach Belieben Ausdruumlcke wie der verderb- liche Kapitalismus die gemeinen Ausbeuter der bewun- dernswerte Arbeiter die Sozialisierung der Besitztuumlmer u a rufen stets die gleiche schon etwas verbrauchte Wir- kung hervor Der Bewerber aber der eine neue Rede- wendung entdeckt die jeder bestimmten Bedeutung er- mangelt und sich daher den verschiedensten Wuumlnschen an- zupassen vermag erzielt unfehlbar Erfolg Die blutige spanische Revolution von 873 kam durch eins jener magi- schen vieldeutigen Worte zustande das jeder nach seiner Weise deuten kann Ein zeitgenoumlssischer Autor hat uumlber ihre Entstehung in so denkwuumlrdiger Weise berichtet daszlig sie wiedergegeben zu werden verdient

bdquoDie Radikalen hatten entdeckt daszlig eine einheitliche Re- publik eine verkappte Monarchie sei und ihnen zu Ge- fallen hatten die Cortes einstimmig die verbuumlndete Repu- blik ausgerufen ohne daszlig auch nur einer der Abstimmen- den haumltte sagen koumlnnen woruumlber abgestimmt wurde Aber diese Redewendung bezauberte die Welt man war wie im Rausch im Delirium Die Herrschaft der Tugend und des Gluumlcks war auf Erden gegruumlndet worden Ein Repu- blikaner dem von seinem Feind die Bezeichnung eines Verbuumlndeten versagt wurde fuumlhlte sich durch einen toumld- lichen Schimpf beleidigt Auf den Straszligen ging man mit den Worten Salud y republica federallsquo aufeinander zu

130 DIE VERSCHIEDENEN ARTEN VON MASSEN

Dann stimmte man der heiligen Zuchtlosigkeit und Selbst- herrlichkeit der Soldaten Lobeshymnen an Was war die verbuumlndete Republiklsquo Die einen verstanden darunter die Gleichberechtigung der Provinzen Einrichtungen nach dem Muster der Vereinigten Staaten oder Aufhebung der ein- heitlichen Verwaltung andre wieder dachten an die Besei- tigung aller Obrigkeit den baldigen Beginn der groszligen sozialen Abrechnung Die Sozialisten in Barcelona und Andalusien predigten die unumschraumlnkte Selbstaumlndigkeit der Gemeinden und forderten die Bildung von zehntausend unabhaumlngigen Gemeinden in Spanien die sich selbst ihre Gesetze geben und gleichzeitig Polizei und Heer aufheben wuumlrden Bald sah man daszlig sich der Aufstand in den suumld- lichen Provinzen von Stadt zu Stadt von Dorf zu Dorf ausbreitete Sobald eine Gemeinde ihr pronunciamentolsquo er- lassen hatte war ihre erste Sorge Telegraphen und Eisen- bahnen zu zerstoumlren um alle Verbindungen mit der Um- gegend und mit Madrid abzuschneiden Der elendeste Flek- ken wollte in seiner eigenen Kuumlche kochen Der Foumlderalis- mus hatte einem rohen mordbrennerischen und moumlrderi- schen Kantonalismus Platz gemacht und uumlberall wurden blutige Saturnalien gefeiertldquoWas den Einfluszlig der logischen Beweisgruumlnde auf den Geist der Waumlhler anbelangt so duumlrfte man nie den Bericht uumlber eine Wahlversammlung gelesen haben um nicht daruumlber im klaren zu sein Man tauscht dort Behauptungen Be- schimpfungen manchmal auch Puumlffe aus doch niemals Gruumlnde Es wird nur dann einen Augenblick ruhig wenn ein wuumlrdiger Teilnehmer umstaumlndlich ankuumlndigt daszlig er an den Kandidaten eine jener verwickelten Fragen richten wolle die die Zuhoumlrer immer sehr belustigen Die Zu- friedenheit der Gegner dauert aber nicht lange denn die Stimme des Vorredners wird bald von dem Geheul seiner Widersacher uumlbertoumlnt Als Schilderung der Grundform oumlffentlicher Versammlungen sind folgende Berichte anzu- sehen die aus hunderten aumlhnlicher herausgegriffen den Tageszeitungen entnommen sind

DIE WAumlHLERMASSEN 131

bdquoNachdem ein Ordner die Anwesenden ersucht hat einen Vorsitzenden zu waumlhlen bricht der Sturm los Die An- archisten stuumlrzen auf den Schauplatz um sich des Redner- pultes im Sturm zu bemaumlchtigen Die Sozialisten vertei- digen ihn energisch man stoumlszligt einander schimpft sich gegenseitig Spion Bestochener und dergleichen hellip ein Buumlr- ger zieht sich mit einem blauen Auge zuruumlck Endlich ist mitten im Tumult so gut es geht der geschaumlfts- fuumlhrende Ausschuszlig eroumlffnet und die Rednerbuumlhne bleibt dem Genossen XDer Redner geht in scharfem Zug gegen die Sozialisten los die ihn unterbrechen und schreien Trottel Bandit Schurkelsquo usw Genosse X beantwortet diese Schimpfnamen durch Darlegung einer Theorie wonach die Sozialisten Idiotenlsquo oder Possenreiszligerlsquo sindldquobdquoDie Allemanistische Partei hatte gestern abend im Saale der Kaufmannschaft in der Rue Faubourg-du-Temple eine groszlige Versammlung fuumlr das Fest der Arbeiterschaft am Mai einberufen hellip Das Losungswort war Stille und RuheGenosse Ghellip bezeichnet die Sozialisten als Trottellsquo und SchwindlerlsquoDiese Worte veranlassen Redner und Zuhoumlrer zu schimp- fen sie geraten ins Handgemenge Stuumlhle Baumlnke Tische spielen ihre Rolle usw uswldquoMan glaube ja nicht diese Art der Auseinandersetzung sei nur einer bestimmten Art von Waumlhlern eigen und ab- haumlngig von ihrer gesellschaftlichen Stellung In jeder be- liebigen Versammlung und bestuumlnde sie auch nur aus aka- demisch Gebildeten nimmt die Auseinandersetzung leicht dieselben Formen an Ich habe gezeigt daszlig die Menschen als Glieder der Masse zur geistigen Angleichung neigen dafuumlr werden wir jederzeit den Beweis finden Als Beleg diene folgender Auszug aus einem Bericht uumlber eine Ver- sammlung die ausschlieszliglich aus Studenten bestand

bdquoJe weiter der Abend vorschritt um so heftiger wurde der Tumult Ich glaube nicht daszlig ein einziger Redner zwei

132 DIE VERSCHIEDENEN ARTEN VON MASSEN

Saumltze ohne Unterbrechung vorbringen konnte Fortwaumlh- rend ertoumlnten Rufe von der einen oder anderen Seite oder von allen Seiten zugleich man klatschte Beifall man pfiff erregte Auseinandersetzungen entspannen sich zwischen ver- schiedenen Anwesenden Stoumlcke wurden drohend geschwun- gen man stampfte im Takt auf den Boden Wuumlstes Geschrei verfolgte die Stoumlrenfriede Hinaus Auf die TribuumlneHerr Chellip uumlberschuumlttet die Vereinigung mit niedertraumlch- tigen und gehaumlssigen Beiwoumlrtern wie ungeheuerlich ge- mein kaumluflich und rachsuumlchtig und erklaumlrt er wolle sie vernichten uswldquoMan konnte sich fragen wie sich unter solchen Bedingun- gen die Meinung eines Waumlhlers bilden kann Aber um eine derartige Frage zu stellen muumlszligte man sich einer erstaun- lichen Taumluschung uumlber den Grad von Freiheit hingeben dessen sich eine Gesamtheit erfreut Die Massen haben nur eingefloumlszligte nie vernuumlnftige Meinungen Diese Meinungen und Abstimmungen der Waumlhler liegen in den Haumlnden der Wahlausschuumlsse deren Fuumlhrer meistens einige Schankwirte sind die groszligen Einfluszlig auf die Arbeiter haben denen sie Kredit gewaumlhren bdquoWissen Sie was ein Wahlausschuszlig istldquoschreibt Scheacuterer einer der eifrigsten Verteidiger der Demo- kratie bdquoganz einfach der Schluumlssel zu unsren Einrichtungen das Hauptstuumlck der politischen Maschinerie Frankreich wird heute von den Ausschuumlssen regiert ldquoEs ist denn auch nicht allzu schwer die zu beeinflussen wenn der Bewerber nur einigermaszligen annehmbar ist und

Die Ausschuumlsse moumlgen sie nun Klubs Syndikate usw heiszligen bilden viel- leicht die furchtbarste Gefahr die uns durch die Macht der Massen droht Sie sind tatsaumlchlich die unpersoumlnlichste und daher druumlckendste Form der Gewalt- herrschaft Die Leiter der Ausschuumlsse die im Namen einer Gesamtheit zu sprechen und zu handeln scheinen sind aller Verantwortung enthoben und koumlnnen sich alles erlauben Der grausamste Tyrann haumltte niemals gewagt von den Verbannungen auch nur zu traumlumen die vom Revolutionsausschuszlig angeordnet wurden Sie hatten den Konvent verkleinert und regelrecht zuge- schnitten sagt Barras Solange er in ihrem Namen sprechen durfte war Ro- bespierre unumschraumlnkter Herr An dem Tage als sich der schreckliche Diktator selbstsuumlchtig von ihnen trennte schlug die Stunde seines Untergangs Herr- schaft der Massen heiszligt Herrschaft der Ausschuumlsse also der Fuumlhrer Einen haumlrteren Despotismus kann man sich nicht vorstellen

DIE WAumlHLERMASSEN 133

uumlber genuumlgende Mittel verfuumlgt Nach dem Eingestaumlndnis der Geldgeber genuumlgten drei Millionen um die vielfache Wahl des General Boulanger durchzusetzen Das ist die Psychologie der Waumlhlermassen Sie ist die gleiche wie die der andern Massen Weder besser noch schlechterIch will denn auch aus dem Vorstehenden keinen Schluszlig gegen das allgemeine Stimmrecht ziehen Haumltte ich uumlber sein Geschick zu entscheiden so wuumlrde ich es so beibe- halten wie es ist und zwar aus praktischen Gruumlnden die sich eben aus unsrer Untersuchung uumlber die Psychologie der Massen ergeben und die ich auseinandersetzen werde wenn ich erst an seine Nachteile erinnert habeDie Nachteile des allgemeinen Stimmrechts fallen ohne Zweifel zu sehr in die Augen als daszlig man sie verkennen koumlnnte Es ist nicht in Abrede zu stellen daszlig die Kulturen das Werk einer kleinen Minderheit uumlberlegener Geister ge- wesen sind diese bilden die Spitze einer Pyramide deren Stufen nach unten gemaumlszlig der Abnahme des geistigen Wer- tes breiter werden und die tieferen Schichten eines Volkes darstellen Die Groumlszlige einer Kultur darf gewiszlig nicht von dem Stimmrecht untergeordneter Elemente abhaumlngen die nichts als eine Zahl bedeuten Ohne Zweifel sind die Ab- stimmungen der Massen recht oft gefaumlhrlich Sie haben uns bereits mehrere Invasionen gekostet und mit dem Triumph des Sozialismus werden uns die Einfaumllle der Volksherr- schaft gewiszlig noch viel teuerer zu stehn kommen hellipAber diese Einwaumlnde die theoretisch tadellos sind buumlszligen fuumlr die Praxis jede Kraft ein wenn man sich der unuumlber- windlichen Macht der Ideen erinnert die in Glaubenssaumltze umgewandelt wurden Der Glaubenssatz von der Herr- schaft der Massen ist vom philosophischen Standpunkt ebensowenig zu verfechten wie die religioumlsen Glaubenssaumltze des Mittelalters aber er hat heute die unumschraumlnkte Macht Daher ist er ebenso unangreifbar wie einst unsere religioumlsen Ideen Man stelle sich einen modernen Freidenker vor der durch eine magische Gewalt ins tiefste Mittelalter versetzt wuumlrde Glaubt man etwa er wuumlrde wenn er die

134 DIE VERSCHIEDENEN ARTEN VON MASSEN

unumschraumlnkte Macht der religioumlsen Ideen die damals herrschten erkannt haumltte versucht haben sie zu bekaumlmp- fen Haumltte er daran gedacht die Existenz des Teufels und den Hexensabbath zu leugnen wenn er in die Haumlnde eines Richters gefallen waumlre der ihn unter der Anschuldigung einen Pakt mit dem Teufel geschlossen und den Hexen- sabbath besucht zu haben verbrennen lassen wollte Gegen die Uumlberzeugungen der Masse streitet man ebensowenig wie gegen Zyklone Der Glaubenssatz des allgemeinen Stimmrechts hat heute die Macht die einst die Lehren des Christentums besaszligen Redner und Schriftsteller sprechen daruumlber mit einer Achtung und mit Schmeicheleien die Ludwig XIV nicht kennengelernt hat Man muszlig ihm dieselbe Beachtung schenken wie allen religioumlsen Dogmen Die Zeit allein wirkt auf sieEs waumlre uumlbrigens um so zweckloser diese Lehre erschuumlttern zu wollen als sie offensichtliche Gruumlnde fuumlr sich hat bdquoIn Zeiten der Gleichheitldquo sagt Tocqueville treffend bdquotraut einer dem andern nicht weil alle einander aumlhnlich sind aber gerade diese Aumlhnlichkeit gibt ihnen ein fast unbe- grenztes Vertrauen in das Urteil der Allgemeinheit Denn es erscheint nicht wahrscheinlich daszlig da alle die gleiche Einsicht haben die Wahrheit nicht auf der Seite der groumlszlig- ten Zahl zu finden sein sollldquoDarf man nun annehmen die Abstimmungen der Massen wuumlrden durch die Beschraumlnkung des Stimmrechts auf die Faumlhigen ndash wenn man will ndash eine Besserung erfahren Ich kann es keinen Augenblick annehmen und zwar aus Gruumln- den die ich oben bereits angefuumlhrt habe und die in der geistigen Bedeutungslosigkeit aller Gesamtheiten liegen wie sie auch immer zusammengesetzt sein moumlgen Ich wieder- hole in der Masse gleichen sich die Menschen stets ein- ander an und die Abstimmung von vierzig Akademikern uumlber allgemeine Fragen gilt nicht mehr als die von vierzig Wassertraumlgern Ich bin ganz und gar uumlberzeugt daszlig keine der Abstimmungen die dem allgemeinen Stimmrecht so oft vorgehalten werden wie etwa die Erneuerung des Kaiser-

DIE WAumlHLERMASSEN 135

tums anders ausgefallen waumlre wenn man die Abstimmen- den ausschlieszliglich aus dem Kreise der Gelehrten und Ge- bildeten genommen haumltte Man erwirbt durch die Kenntnis des Griechischen oder der Mathematik dadurch daszlig man Architekt Tierarzt Arzt oder Advokat ist keine beson- dere Einsicht in Fragen des Gefuumlhls Alle unsere National- oumlkonomen sind gelehrte Leute in der Mehrzahl Profes- soren und Akademiker Gibt es nun eine einzige allgemeine Frage wie z B das Schutzzollsystem in der sie uumlberein- stimmten Vor den sozialen Fragen die voll sind von vielfachen Unbekannten und der Geheim- und Gefuumlhls- logik unterliegen gleichen sich alle Unwissenheiten ausWenn also auch nur von Gelehrsamkeit strotzende Waumlhler den Wahlkoumlrper bildeten so wuumlrden ihre Abstimmungen doch nicht besser sein als die von heute Sie wuumlrden sich vor allem durch ihre Gefuumlhle und ihren Parteigeist leiten lassen Wir haumltten nicht eine Schwierigkeit weniger als jetzt und obendrein die harte Tyrannei der KastenOb nun das Wahlrecht beschraumlnkt oder allgemein ist ob es in einem republikanischen oder in einem monarchischen Lande herrscht ob es in Frankreich Belgien Griechenland Portugal oder Spanien gilt uumlberall ist das Wahlrecht der Massen aumlhnlich und gibt oft die unbewuszligten Anspruumlche und Beduumlrfnisse der Rasse wieder Der Durchschnitt der Gewaumlhlten stellt fuumlr jedes Volk die Durchschnittsseele seiner Rasse dar die von einer Generation zu andern so ziemlich die gleiche bleibtUnd so kommen wir wiederum auf diesen Grundbegriff der Rasse zuruumlck dem wir schon so oft begegnet sind und auf den anderen daraus abzuleitenden Gedanken daszlig im Voumllkerleben die Einrichtungen und Regierungsformen nur eine sehr unwesentliche Rolle spielen Die Voumllker werden vor allem durch die Rassenseele geleitet d h durch die Ansammlung von Erbmasse deren Summe diese Seele bildet Die Rasse und das Getriebe der taumlglichen Beduumlrf- nisse das sind die geheimnisvollen Maumlchte die unsere Ge- schicke lenken

136 DIE VERSCHIEDENEN ARTEN VON MASSEN

5 KAPITEL

Die Parlamentsversammlungen

Die Parlamentsversammlungen gehoumlren zu den ungleich- artigen nicht namenlosen Massen Obwohl ihre Zusam- mensetzung je nach Zeiten und Voumllkern wechselt gleichen sie einander durch ihre Charaktermerkmale doch sehr Der Rasseneinfluszlig macht sich hier wohl in einer Milderung oder Verstaumlrkung bemerkbar verhindert das Heraustreten dieser Charakterzuumlge jedoch nicht Die Parlamentsver- sammlungen der verschiedenen Laumlnder wie Griechenland Italien Portugal Spanien Frankreich und Amerika wei- sen groszlige Aumlhnlichkeit in ihren Verhandlungen und Ab- stimmungen auf und uumlberlassen die Regierungen dem Kampf mit den gleichen SchwierigkeitenDie parlamentarische Regierung faszligt uumlbrigens das Ideal aller modernen Kulturvoumllker in sich zusammen Es bringt den psychologisch falschen aber allgemein anerkannten Gedanken zum Ausdruck daszlig eine Vereinigung von vie- len Menschen im gegebenen Falle faumlhiger ist eine kluge und unabhaumlngige Entscheidung zu treffen als eine kleine AnzahlIn den Parlamentsversammlungen finden sich die Grund- merkmale der Massen wieder Einseitigkeit der Ideen Erregbarkeit Beeinf luszligbarkeit Uumlberschwenglichkeit der Gefuumlhle uumlberwiegender Einfluszlig der Fuumlhrer Aber infolge ihrer besonderen Zusammensetzung weisen die parlamen- tarischen Massen einige Unterschiede auf Wir werden sie sogleich feststellenDie Einseitigkeit der Anschauungen gehoumlrt zu den aus- gepraumlgtesten Merkmalen dieser Versammlungen Man trifft bei allen Parteien namentlich der lateinischen Voumllker die unveraumlnderliche Neigung die verwickeltsten sozialen Fra- gen durch die einfachsten begrifflichen Grundsaumltze und durch allgemeine Gesetze zu loumlsen die in jedem Falle an- gewandt werden koumlnnen

Natuumlrlich sind die Grundsaumltze bei jeder Partei verschie-den aber allein durch die Tatsache ihrer Vereinigung zu Massen haben die einzelnen stets die Neigung den Wert dieser Grundsaumltze zu uumlberschaumltzen und sie zu den aumluszliger- sten Folgerungen zu treiben Uumlbrigens vertreten die Parla- mente hauptsaumlchlich die aumluszligersten AnsichtenDer vollkommenste Typus der Einseitigkeit der Versamm- lungen wurde durch die Jakobiner der groszligen Franzoumlsi- schen Revolution verwirklicht Da sie alle Dogmatiker und Logiker waren die den Kopf voll verschwommener Ge- meinplaumltze hatten bemuumlhten sie sich unbekuumlmmert um die Tatsachen feste Grundsaumltze anzuwenden und man hat mit Recht behauptet sie haumltten die Revolution erlebt ohne sie zu sehen Sie bildeten sich ein mit einigen Glau- benssaumltzen eine Gesellschaft von Grund auf umgestalten und eine verfeinerte Kultur auf eine laumlngst uumlberschrittene Stufe der gesellschaftlichen Entwicklung zuruumlckbringen zu koumlnnen Die gleiche voumlllige Einseitigkeit praumlgt sich auch in den Mitteln aus die sie zur Verwirklichung ihres Trau- mes anwandten In Wirklichkeit beschraumlnkten sie sich auf die gewaltsame Zerstoumlrung dessen was sie stoumlrte Uumlbrigens beseelte alle Girondisten Bergpartei Thermidorianer usw derselbe GeistDie parlamentarischen Massen sind Einfluumlssen sehr zugaumlng- lich und die Suggestion geht hier wie bei den uumlbrigen Massen von Fuumlhrern aus die ein Nimbus umgibt Doch hat in den Parlamentsversammlungen die Beeinflussung sehr klare Grenzen die wir abstecken muumlssenUumlber alle Fragen lokalen Interesses hat jedes Mitglied einer Versammlung feste unverruumlckbare Ansichten die durch kein Beweismittel zu erschuumlttern sind Nicht einmal das Talent eines Demosthenes koumlnnte die Abstimmung eines Abgeordneten uumlber Fragen des Schutzzollsystems oder das Branntweinprivileg aumlndern ndash worin sich die Forde- rungen einfluszligreicher Waumlhler aumluszligern Die vorangegangene Beeinflussung durch die Waumlhler hat solches Uumlbergewicht

138 DIE VERSCHIEDENEN ARTEN VON MASSEN

daszlig alle andern Einfluumlsse aufgehoben sind und eine unbe- dingte Festigkeit der Meinung aufrechterhalten wird In allgemeinen Fragen aber dem Sturz eines Ministeriums der Auflage einer neuen Steuer usw bestehen keine fest- gelegten Meinungen und die Suggestionen koumlnnen sich auswirken wenn auch nicht ganz so stark wie in einer gewoumlhnlichen Masse Jede Partei hat ihre Fuumlhrer die bis- weilen gleichstarken Einf luszlig ausuumlben Der Abgeordnete befindet sich also zwischen entgegengesetzten Einfluumlssen und es kann nicht ausbleiben daszlig er unsicher wird Daher sieht man ihn zuweilen schon nach einer Viertelstunde in entgegengesetztem Sinne abstimmen und einem Gesetz einen Zusatz beifuumlgen der es aufhebt etwa den Industriellen das Recht der Auswahl und der Entlassung ihrer Arbeiter neh- men und dann diese Maszlignahmen durch einen Zusatz so ziemlich wieder fuumlr unguumlltig erklaumlrenDaher zeigt eine Kammer in jeder Legislaturperiode neben sehr festen Anschauungen andere ganz unbestimmte Da aber im Grunde die allgemeinen Fragen die meisten sind so herrscht Unentschiedenheit vor die durch die staumlndige Furcht vor dem Waumlhler genaumlhrt wird dessen verborgener Einfluszlig dem der Fuumlhrer stets das Gegengewicht zu halten weiszligUnd doch sind in den Auseinandersetzungen wenn die Teilnehmer nicht von vornherein festgelegte Meinungen haben die Fuumlhrer die eigentlichen HerrenFuumlhrer sind offenbar notwendig denn man findet sie als Parteihaumlupter in allen Laumlndern Sie sind die wahren Herren der Versammlungen Die Menschen die in den Massen vereinigt sind wuumlrden ohne Fuumlhrer nicht fertig werden und so zeigen die Abstimmungen im allgemeinen nur die Anschauungen einer kleinen MinderheitIch wiederhole die Fuumlhrer wirken nur sehr wenig durch Auf diese schon im voraus durch die Beduumlrfnisse der Waumlhler festgelegten Ansichten bezieht sich offenbar folgende Bemerkung eines alten englischen Parlamentariers bdquoIn den fuumlnfzig Jahren meiner Anwesenheit in Westminster habe ich Tausende von Reden gehoumlrt und nur wenige haben meine Ansichten veraumlndert aber nicht eine einzige hat auf meine Abstimmung Einfluszlig gehabtldquo

DIE PARLAMENTSVERSAMMLUNGEN 139

ihre Beweisgruumlnde sehr stark aber durch ihren Nimbus Wenn irgendein Umstand ihn aufhebt verlieren sie jeden EinfluszligDieser Fuumlhrernimbus ist persoumlnlich und hat nichts mit Namen und Beruumlhmtheit zu tun Jules Simon gibt uns recht eigenartige Beispiele dafuumlr wenn er uumlber die groszligen Maumlnner der Versammlung von 848 der er beiwohnte sagt

bdquoNoch zwei Monate vor seiner Allgewalt war Louis Na- poleon nichtsVictor Hugo bestieg die Rednertribuumlne Aber er hatte keinen Erfolg Man houmlrte ihn an wie man Felix Pyat anhoumlrte aber er hatte nicht den gleichen Beifall Ich liebe seine Ideen nichtlsquo sagte mir Vaulabelle uumlber Felix Pyat aber er ist einer der groumlszligten Schriftsteller und der groumlszligte Redner Frankreichslsquo Der seltene und maumlchtige Geist eines Edgar Quinet galt nichts Er hatte seinen volkstuumlmlichen Augenblick vor Eroumlffnung der Versammlung gehabt in der Versammlung kam er nicht aufDie politischen Versammlungen sind die Staumltten der Welt wo der Glanz des Genies am wenigsten zur Geltung kommt Man rechnet hier nur mit einer Beredsamkeit die der Zeit und dem Ort angepaszligt ist und mit Diensten die man den Parteien erwiesen hat nicht dem Vaterland Damit Lamartine 848 und Thiers 87 zur Anerkennung gelangten bedurfte es der dringenden unabweisbaren Wichtigkeit als treibender Kraft Als die Gefahr voruumlber war verschwand mit der Furcht auch die DankbarkeitldquoIch habe die Stelle nur der Tatsachen wegen wiedergege- ben die sie enthaumllt nicht wegen der versuchten Erklaumlrun- gen sie zeigen nur eine mittelmaumlszligige Psychologie Eine Masse wuumlrde ihren Charakter als Masse ja sogleich ver- lieren wenn sie den Fuumlhrern ihre Dienste moumlgen sie nun dem Vaterland oder der Partei geleistet worden sein in Anrechnung braumlchte Die Masse unterliegt dem Nimbus des Fuumlhrers ohne daszlig ein Gefuumlhl des Vorteils oder der Dankbarkeit dabei mitspielt

140 DIE VERSCHIEDENEN ARTEN VON MASSEN

Der Fuumlhrer der uumlber genuumlgend Nimbus verfuumlgt besitzt denn auch eine fast unumschraumlnkte Macht Man kennt die ungeheure Wirkung die ein beruumlhmter Abgeordneter dank seines Nimbus den er dann infolge gewisser finanzieller Vorkommnisse augenblicklich einbuumlszligte jahrelang ausgeuumlbt hat Auf ein bloszliges Zeichen von ihm wurden Minister ge- stuumlrzt Ein Schriftsteller hat in folgenden Zeilen die Trag- weite seines Wirkens klar gezeichnet

bdquoHerrn Chellip besonders verdanken wir es daszlig wir Ton- king dreimal so teuer erkaufen muszligten als es haumltte sein duumlrfen daszlig wir auf Madagaskar nur eine unsichere Stel- lung gewonnen haben daszlig wir uns ein ganzes Reich am unteren Niger rauben lieszligen daszlig wir in Aumlgypten unsere Vorherrschaft eingebuumlszligt haben ndash Die Theorien von Herrn Chellip haben uns mehr Gebiet gekostet als die Nie- derlagen Napoleons IldquoWir duumlrfen dem Fuumlhrer deswegen nicht zu sehr zuumlrnen Gewiszlig ist es uns teuer zu stehen gekommen aber ein gro- szliger Teil seines Einflusses hing mit seiner Anschmiegung an die oumlffentliche Meinung zusammen die in kolonialen Fra- gen keineswegs die von heute war Selten schreitet ein Fuumlhrer der oumlffentlichen Meinung voran fast immer be- gnuumlgt er sich damit ihre Irrtuumlmer anzunehmenDie Uuml b e r r e du n g s m i t t e l der Fuumlhrer sind abgesehen von ihrem Nimbus die Faktoren die wir schon wieder- holt aufgezaumlhlt haben Um sie geschickt zu handhaben muszlig der Fuumlhrer wenigstens unbewuszligt die Psychologie der Massen erfaszligt haben und wissen wie man zu ihnen zu sprechen hat Vor allem muszlig er den bezaubernden Ein- fluszlig der Worte Redewendungen und Bilder kennen Er muszlig eine besondere Beredsamkeit besitzen die aus ener- gischen Behauptungen die nicht zu beweisen sind und eindrucksvollen von ganz allgemeinen Urteilen umrahm- ten Bildern zusammengesetzt ist Diese Art Beredsamkeit findet man in allen Versammlungen das englische Parla- ment das ausgeglichenste von allen inbegriffen

bdquoWir koumlnnen bestaumlndig die Verhandlungen im Unterhause

DIE PARLAMENTSVERSAMMLUNGEN 141

verfolgenldquo bemerkt der englische Philosoph Maine bdquowo alle Verhandlungen im Austausch recht schwacher Gemein- plaumltze und grober Anzuumlglichkeiten bestehn Auf die Ein- bildungskraft einer reinen Demokratie uumlbt diese Art allge- meiner Redensarten eine erstaunliche Wirkung aus Es wird immer leicht zu erreichen sein daszlig eine Masse allge- meinen Versicherungen zustimmt die mit packenden Wor- ten vorgebracht werden obwohl sie sich nie bewahrheitet haben und ihre Verwirklichung vielleicht gar nicht moumlg- lich istldquoWie die angefuumlhrte Stelle zeigt kann die Bedeutung der bdquoSchlagworteldquo gar nicht uumlberschaumltzt werden Schon oumlfter haben wir die besondere Macht der Worte und Redewen- dungen betont die so gewaumlhlt wurden daszlig sie nur recht lebhafte Bilder hervorrufen Folgender Satz aus der Rede eines Fuumlhrers in Versammlungen gibt uns eine ausreichende Probe davon

bdquoAn dem Tage da einmal dasselbe Schiff den unlauteren Politiker und den moumlrderischen Anarchisten nach den Fiebergebieten der Verbannung bringt werden sie sich mit- einander unterhalten koumlnnen und werden sich gegenseitig als die beiden komplementaumlren Seiten derselben Gesell- schaftsordnung erscheinenldquoDas so hervorgerufene Bild ist klar und treffend und alle Gegner des Redners fuumlhlen sich dadurch getroffen Sie sehen mit einemmal die Fiebergebiete das Fahrzeug das sie hinfuumlhren koumlnnte denn gehoumlren sie nicht vielleicht zu der recht unbestimmt abgegrenzten Klasse der bedrohten Politiker Es befaumlllt sie also die gleiche dumpfe Furcht wie sie die Konventsmitglieder empfunden haben muumlssen die durch die unbestimmten Reden Robespierres mehr oder weniger mit der Guillotine bedroht wurden und ihm unter dem Druck dieser Furcht stets nachgabenDie Fuumlhrer neigen alle dazu in die unwahrscheinlichsten Uumlbertreibungen zu verfallen Der Redner von dem ich soeben einen Satz anfuumlhrte konnte ohne groszligen Protest hervorzurufen behaupten daszlig die Bankiers und Priester

142 DIE VERSCHIEDENEN ARTEN VON MASSEN

Bombenwerfer bezahlten und die Verwaltungsraumlte der groszligen Finanzgesellschaften die gleiche Strafe verdienten wie die Anarchisten Auf die Massen wirken solche Mittel immer Die Behauptung ist nie zu stark der Ton nie zu drohend Nichts schuumlchtert die Zuhoumlrer mehr ein Durch Widerspruch fuumlrchten sie fuumlr Verraumlter oder Mitschuldige zu geltenDiese besondere Beredsamkeit hat wie gesagt stets alle Versammlungen beherrscht in kritischen Zeiten ist sie nur ausgepraumlgter In dieser Hinsicht ist es interessant die Re- den der groszligen Revolutionsredner zu lesen Sie fuumlhlten sich verpflichtet sich alle Augenblicke zu unterbrechen um das Verbrechen zu verdammen und die Tugend zu preisen dann brachen sie in Verwuumlnschungen gegen die Tyrannen aus und schwuren frei leben oder sterben zu wollen Die Anwesenden erhoben sich klatschten stuumlrmisch Beifall und lieszligen sich dann beruhigt wieder niederZuweilen gibt es einen intelligenten und gebildeten Fuumlh- rer doch das schadet ihm in der Regel mehr als es ihm nuumltzt Die Intelligenz die die Verbundenheit aller Dinge erkennt die Verstehen und Erklaumlren ermoumlglicht macht nachgiebig und vermindert die Kraft und Gewalt der Uumlberzeugungen erheblich die die Apostel noumltig haben Die groszligen Fuumlhrer aller Zeiten die der Revolution hauptsaumlch- lich waren sehr beschraumlnkt und haben deshalb den groumlszlig- ten Einfluszlig ausgeuumlbtDie Reden des beruumlhmtesten unter ihnen Robespierre ver- bluumlffen oft durch ihre Zusammenhanglosigkeit Wenn man sie liest findet man keine annehmbare Erklaumlrung fuumlr die ungeheure Rolle des maumlchtigen Diktators

bdquoGemeinplaumltze und Weitschweifigkeiten paumldagogischer Be- redsamkeit und lateinischer Bildung im Dienste einer eher kindlichen als platten Seele die sich beim Angriff wie bei der Verteidigung auf das komm doch ranlsquo von Schuumllern zu beschraumlnken scheint Nicht ein Gedanke keine Wen- dung kein Einfall ndash es ist die Langeweile in houmlchster Stei- gerung Man houmlrt verdrieszliglich auf zu lesen und hat Lust

DIE PARLAMENTSVERSAMMLUNGEN 143

mit dem liebenswuumlrdigen Camille Desmoulins achlsquo zu seufzenldquoMan erschrickt wenn man bedenkt welche Macht ein Mann der sich mit einem Nimbus zu umgeben weiszlig durch die Verbindung von starker Uumlberzeugung mit auszligerge- woumlhnlicher Beschraumlnktheit des Geistes erlangt Das sind jedoch die notwendigen Vorbedingungen um die Hinder- nisse zu uumlbersehen und um wollen zu koumlnnen Instinktiv erkennen die Massen in diesen kraftvoll Uumlberzeugten die Gebieter die sie brauchenDer Erfolg einer Rede in einer Parlamentsversammlung haumlngt fast ausschlieszliglich vom Nimbus des Redners ab keineswegs von den Gruumlnden die er vorbringtDer unbekannte Redner dessen Rede gute Beweisgruumlnde aber nur Beweisgruumlnde enthaumllt hat keine Aussicht auch nur angehoumlrt zu werden Ein ehemaliger Abgeordneter Herr Descubes hat das Bild des einfluszliglosen Abgeordneten in folgenden Zeilen entworfen

bdquoSobald er die Rednerbuumlhne bestiegen hat nimmt er aus seiner Mappe einen Aktenstoszlig den er planmaumlszligig vor sich ausbreitet und beginnt voll ZuversichtEr schmeichelt sich die Uumlberzeugung die ihn beseelt auf die Gemuumlter der Houmlrer uumlbertragen zu koumlnnen Er hat seine Beweisgruumlnde erwogen steckt uumlbervoll von Zahlen und Beweisen und ist uumlberzeugt recht zu haben Jeder Widerstand wird vor der Klarheit seiner Darlegungen schwinden Er beginnt im Vertrauen auf sein gutes Recht und die Aufmerksamkeit seiner Kollegen die gewiszlig nichts mehr wuumlnschen als sich vor der Wahrheit beugen zu duumlrfenEr spricht ndash und sofort wundert er sich uumlber die Bewe- gung im Saale und den Laumlrm der so entsteht er ist uumlber- rascht und etwas aufgeregtWarum wird es nicht ruhig Weshalb diese allgemeine Un- aufmerksamkeit Was denken denn die die sich miteinan- der unterhalten Welch dringender Grund veranlaszligt einen andern seinen Platz zu verlassen

144 DIE VERSCHIEDENEN ARTEN VON MASSEN

Auf seinem Gesicht zeigt sich Unruhe er runzelt die Stirn haumllt inne Durch den Vorsitzenden ermutigt faumlhrt er mit erhobener Stimme fort Dieselbe Unaufmerksamkeit Er uumlberanstrengt seine Stimme wird unruhig der Laumlrm um ihn herum steigert sich Er houmlrt sich selbst nicht mehr haumllt wieder inne dann spricht er so gut es geht weiter aus Furcht sein Stillschweigen koumlnne den peinlichen Ruf Schluszliglsquo heraufbeschwoumlren Der Laumlrm wird unertraumlglichldquo

In einem gewissen Grade der Erregung gleichen die Parla- mentsversammlungen voumlllig den gewoumlhnlichen ungleich- artigen Massen und ihre Gefuumlhle weisen folglich die Eigentuumlmlichkeit auf stets uumlberschwenglicher Art zu sein Sie lassen sich dann zu den groumlszligten Heldentaten oder zu den aumlrgsten Ausschreitungen hinreiszligen Der einzelne houmlrt auf er selbst zu sein und wird fuumlr Maszlignahmen stimmen die seinen persoumlnlichen Vorteilen ganz entgegengesetzt sindDie Geschichte der Revolution zeigt in welchem Maszlige die Versammlungen unbewuszligt werden und Beeinflussungen unterworfen sein koumlnnen die ihren Vorteilen ganz wider- sprechen Es war fuumlr den Adel ein ungeheures Opfer auf seine Vorrechte zu verzichten und doch geschah es in jener beruumlhmten Nacht der Konstituante Der Verzicht auf ihre Unverletzlichkeit bedeutete fuumlr die Konventsmitglieder eine staumlndige Todesdrohung und doch leisteten sie ihn und fuumlrchteten nicht einander gegenseitig zu dezimieren ob- wohl sie genau wuszligten daszlig das Schafott dem heute ihre Kollegen zugefuumlhrt wurden morgen ihnen selbst bevor- stand Aber da sie jenen Grad von Automatismus erreicht hatten den ich geschildert habe konnte kein Bedenken sie hindern sich den Einfluumlssen hinzugeben die sie be- zwangen Folgende Stelle aus den Erinnerungen Billaud- Varennes der zu ihnen gehoumlrt ist in dieser Hinsicht durch- aus allgemeinguumlltig bdquoDie Entscheidungen die man uns so sehr vorwirft wollten wir noch zwei ja einen Tag vorher meistens selbst nicht die Krise allein rief sie hervorldquo Nichts ist zutreffender

DIE PARLAMENTSVERSAMMLUNGEN 145

Dieselben Erscheinungen des Unbewuszligten traten waumlhrend aller stuumlrmischen Sitzungen des Konvents auf

bdquoSie billigen und beschlieszligen was sie verabscheuenldquo sagt Taine bdquonicht allein Dummheiten und Torheiten auch Ver- brechen Ermordung Unschuldiger Freundesmord Ein- muumltig und unter dem lebhaftesten Beifall schicken die Linke und die Rechte vereint Danton ihr natuumlrliches Oberhaupt den groumlszligten Foumlrderer und Fuumlhrer der Revo- lution aufs Schafott Einmuumltig und unter groumlszligtem Beifall stimmt die Rechte mit der Linken vereint fuumlr die aumlrgsten Beschluumlsse der revolutionaumlren Regierung Einmuumltig und unter Rufen der Bewunderung und Begeisterung unter leidenschaftlichen Zustimmungskundgebungen fuumlr Collot drsquoHerbois Couthon Robespierre haumllt der Konvent durch unvorbereitete vielfache Wiederwahl die moumlrderische Re- gierung aufrecht obwohl die Zentrumspartei sie wegen ihrer Mordtaten haszligt und die Bergpartei sie verabscheut weil ihre Reihen durch sie gelichtet werden Zentrum und Berg Mehr- und Minderheit enden damit ihren eignen Selbstmord zu foumlrdern Am 22 Prairial hat sich der ganze Konvent ergeben am 8 Thermidor waumlhrend der ersten Viertelstunde nach der Rede Robespierres abermalsldquoDas Bild mag duumlster erscheinen dennoch ist es wahrheits- getreu Die genuumlgend erregten und beeinf luszligten Parla- mentsversammlungen weisen dieselben Kennzeichen auf Sie werden zur beweglichen Herde die jedem Antrieb ge- horcht Folgende Schilderung der Versammlung von 848 die wir dem Parlamentarier Spuller verdanken dessen demokratische Gesinnung nicht angezweifelt werden kann ist ganz allgemeinguumlltig ich entnehme sie der bdquoRevue liteacuteraireldquo Man findet darin all die uumlberschwenglichen Ge- fuumlhle der Massen die ich beschrieben habe und die auszliger- ordentliche Beweglichkeit die imstande ist von einem Augenblick zum andern die Stufenleiter verschiedenster Gefuumlhle zu durchlaufen

bdquoZwietracht Eifersucht und Argwohn im Wechsel mit blindem Vertrauen und schrankenlosen Hoffnungen haben

146 DIE VERSCHIEDENEN ARTEN VON MASSEN

die Republikanische Partei ins Verderben gefuumlhrt Ihre Ahnungslosigkeit kann nur mit ihrem Miszligtrauen gegen alles verglichen werden Kein Sinn fuumlr Gesetzlichkeit kein Geist der Ordnung nur Furcht und Illusionen ohne Maszlig Bauer und Kind sind darin gleich Ihre Ruhe wetteifert mit ihrer Ungeduld Ihre Wildheit ist ebenso groszlig wie ihre Folgsamkeit Das ist die Eigentuumlmlichkeit eines un- reifen Temperaments und des Mangels an Erziehung Nichts setzt sie in Erstaunen alles verwirrt sie Zitternd feige und zugleich unverzagt und heldenhaft werden sie sich in die Flammen werfen und doch vor einem Schatten zuruumlckweichenWirkungen und Beziehungen der Dinge sind ihnen unbe- kannt Ebenso schnell entmutigt wie erregt sind sie allen Schrecken ausgesetzt entweder himmelhoch jauchzend oder zu Tode betruumlbt und haben nie den noumltigen Grad und das passende Maszlig Beweglicher als das Wasser spiegeln sie alle Farben wider und nehmen alle Formen an Auf wel- cher Grundlage muumlszligte sich eine Regierung aufbauen von der man hoffen koumlnnte daszlig sie bei ihnen festen Fuszlig fas- sen wuumlrdeldquoZum Gluumlck aumluszligern sich die Eigenschaften die wir schilder- ten nicht staumlndig in den Parlamentsversammlungen Diese sind nur in gewissen Augenblicken Massen In vielen Faumlllen bewahren die einzelnen die ihnen angehoumlren ihre Eigen- art und daher kann auch eine Versammlung vorzuumlgliche sachgemaumlszlige Gesetze ausarbeiten Allerdings sind diese Ge- setze von einem Fachmann im stillen Arbeitszimmer ent- worfen und das angenommene Gesetz ist in Wahrheit das Werk eines einzelnen Nur die Fachleute bewahren die Versammlungen vor allzu sinnlosen unerprobten Maszlig- nahmen Sie werden dann voruumlbergehend Fuumlhrer die Ver- sammlung wirkt nicht auf sie sondern sie wirken auf die VersammlungTrotz aller Schwierigkeiten ihrer Arbeitsweise bilden die Parlamentsversammlungen die beste Regierungsform die die Voumllker bisher gefunden haben um sich vor allem moumlg-

DIE PARLAMENTSVERSAMMLUNGEN 147

lichst aus dem Joch persoumlnlicher Tyrannei zu befreien Sie sind jedenfalls das Ideal einer Regierung wenigstens fuumlr Philosophen Denker Schriftsteller Kuumlnstler und Gelehrte kurz fuumlr alle die den Gipfel einer Kultur bildenSie bergen eigentlich nur zwei ernstliche Gefahren in sich die uumlbermaumlszligige Verschwendung der Finanzen und die zu- nehmende Beschraumlnkung der persoumlnlichen Freiheit Die erste Gefahr ist die notwendige Folge der Anspruumlche und der Kurzsichtigkeit der Waumlhlermassen Wenn ein Parla- mentsmitglied einen Antrag stellt der offensichtlich demo- kratischen Anschauungen entspricht z B auf Altersver- sorgung aller Arbeiter oder Gehaltszulage fuumlr Bahnwaumlrter Lehrer usw so wagen die andern Abgeordneten aus Furcht vor den Waumlhlern nicht sich den Anschein zu geben als ob sie deren Vorteile durch Ablehnung der vorgeschlagenen Maszlignahme geringschaumltzten Sie wissen wohl daszlig dadurch der Staatshaushalt stark belastet und die Auflegung neuer Steuern noumltig werden wird Doch bei der Abstimmung gibt es kein Zoumlgern Waumlhrend die Folgen der Ausgaben- vermehrung in weiter Ferne liegen und fuumlr sie keine unan- genehmen Wirkungen haben koumlnnten sich die Folgen einer ablehnenden Abstimmung schon am naumlchsten Tage wenn sie vor die Waumlhler treten muumlssen bemerkbar machenAn diese erste Ursache fuumlr die Uumlberspannung der Aus- gaben reiht sich eine andre nicht weniger gebieterische die Verpflichtung alle Ausgaben fuumlr rein oumlrtliche Beduumlrf- nisse zu bewilligen Kein Abgeordneter kann sich ihnen widersetzen weil sie ebenfalls Forderungen der Waumlhler darstellen und weil jeder Abgeordnete nur dann das Nouml- tige fuumlr seinen Wahlkreis erlangen kann wenn er den ent- sprechenden Forderungen seiner Kollegen zustimmt Die Die Zeitschrift bdquoLrsquoEconomisteldquo gab in ihrer Nummer vom 6 April 895 einen seltsamen Uumlberblick uumlber die Jahresunkosten die die Interessen der Waumlhler verursachen besonders die Eisenbahnen Um Langayes (Stadt von 3 000 Einwohnern) die auf einem Berge liegt mit Puy zu verbinden be- willigte man eine Bahn die 5 Millionen kostete Um Beaumont (3 500 Ein- wohner) mit Castel-Sarrazin zu verbinden bewilligte man 7 Millionen Die Verbindung des Dorfes Oust (523 Einwohner) mit dem Dorfe Seix ( 200 Ein- wohner) kostete 7 Millionen Um Prades mit dem Marktflecken Olette (747

DIE VERSCHIEDENEN ARTEN VON MASSEN148

zweite der oben erwaumlhnten Gefahren die unvermeidliche Beschraumlnkung der Freiheit durch die Parlamente ist zwar weniger sichtbar aber doch Tatsache Sie ist eine Folge der zahllosen stets einschraumlnkenden Gesetze deren Auswir- kungen die kurzsichtigen Parlamente nicht bemerken und fuumlr die zu stimmen sie sich verpflichtet fuumlhlenDiese Gefahr muszlig wohl unvermeidlich sein denn selbst England wo sich gewiszlig die vollkommenste Art der parla- mentarischen Regierung zeigt und der Abgeordnete am unabhaumlngigsten vom Waumlhler ist vermochte ihr nicht zu entgehen Herbert Spencer hatte in einer fruumlheren Arbeit gezeigt daszlig die Zunahme der scheinbaren die Abnahme der wirklichen Freiheit zur Folge haben muumlsse In einer spaumlteren Schrift bdquoDer Einzelne gegen den Staatldquo nimmt er diese Behauptung wieder auf und sagt uumlber das eng- lische Parlament folgendes

bdquoSeit dieser Zeit hat die Gesetzgebung den Lauf genom- men den ich voraussagte Diktatorische Maszlignahmen die sich rasch vervielfachten haben das staumlndige Bestreben die persoumlnliche Freiheit zu beschraumlnken und zwar in zwei- facher Weise jedes Jahr wird eine immer groumlszligere Anzahl gesetzlicher Forderungen erlassen die der fruumlheren Hand- lungsfreiheit des Buumlrgers Beschraumlnkung auferlegen und ihn zu Handlungen zwingen die er fruumlher nach Belieben be-

Einwohner) zu verbinden gab man 6 Millionen usw Allein das Jahr 895 verbrauchte 90 Millionen fuumlr Eisenbahnschienen fuumlr die nicht das geringste allgemeine Interesse vorhanden ist Andere Ausgaben die ebenfalls Waumlhler- beduumlrfnissen entspringen sind nicht weniger schwerwiegend Das Gesetz uumlber die Altersversorgung der Arbeiter wird nach Aussage des Finanzministers im Jahre die Mindestsumme von 65 Millionen nach Leroy-Beaulieu von der Akademie 800 Millionen kosten Das ununterbrochene Anwachsen solcher Aus- gaben muszlig notwendigerweise zum Bankrott fuumlhren Viele Staaten Europas Portugal Griechenland Spanien die Tuumlrkei sind dabei angelangt andere werden bald soweit sein Aber man braucht sich nicht viel darum zu kuumlm- mern da das Publikum ohne groszligen Widerspruch nach und nach die Kuumlrzung von vier Fuumlnfteln aller Zinszahlungen der verschiedenen Laumlnder angenommen hat Derartige sinnreiche Bankrotte machen es also moumlglich die gefaumlhrdeten Haushaltplaumlne wieder ins Gleichgewicht zu bringen Die Kriege der Sozialis- mus die wirtschaftlichen Kaumlmpfe werden uns uumlbrigens noch genug andre Katastrophen bringen und in einer Zeit allgemeinen Zerfalls muszlig man sich damit begnuumlgen in den Tag hineinzuleben ohne allzusehr an das Morgen zu denken das sich unsrer Macht entzieht

DIE PARLAMENTSVERSAMMLUNGEN 149

gehen oder unterlassen konnte Gleichzeitig haben immer druumlckendere Lasten besonders oumlrtliche Abgaben von vorn- herein die Freiheit beschraumlnkt indem sie den Teil seines Einkommens den er nach Belieben ausgeben konnte ver- minderten und den Teil vergroumlszligerten der ihm weggenom- men wurde um je nach dem guten Willen der Beamten ausgegeben zu werdenldquoDiese immer mehr zunehmende Freiheitsbeschraumlnkung zeigt sich in allen Laumlndern in einer besonderen Weise auf die Spencer nicht hingewiesen hat Die Schaffung jener un- zaumlhligen gesetzlichen Maszlignahmen allgemeinbeschraumlnkender Art fuumlhrt notwendig zur Erhoumlhung der Zahl der Macht und des Einflusses der Beamten die mit ihrer Durchfuumlh- rung beauftragt werden Sie haben also alle Aussicht die wahren Gebieter der Kulturlaumlnder zu werden Ihre Macht ist um so groumlszliger als nur die Beamtenkaste als einzige die unverantwortlich unpersoumlnlich und auf Lebenszeit ange- stellt ist dem unaufhoumlrlichen Machtwechsel entgeht Nun gibt es aber keine Gewaltherrschaft die haumlrter ist als diese die in dieser dreifachen Gestalt auftrittDie fortwaumlhrende Schaffung von Gesetzen und Beschraumln- kungsmaszlignahmen die die unbedeutendsten Lebensaumluszlige- rungen mit byzantinischen Foumlrmlichkeiten umgeben hat das verhaumlngnisvolle Ergebnis den Bereich in dem sich der Buumlrger frei bewegen kann immer mehr einzuengen Als Opfer des Irrtums daszlig durch Vermehrung der Gesetze Freiheit und Gleichheit besser gesichert wuumlrden nehmen die Voumllker nur druumlckendere Fesseln auf sichSie nehmen sie nicht ungestraft auf sich Gewohnt jedes Joch zu tragen kommen sie schlieszliglich dahin es aufzu- suchen und buumlszligen zuletzt alle Urspruumlnglichkeit und Kraft ein Sie sind nur noch wesenlose Schatten Automaten willenlos ohne Widerstand und KraftWenn der Mensch in sich selbst die Spannkraft nicht mehr findet muszlig er sie anderswo suchen Mit der zunehmenden Gleichguumlltigkeit und Ohnmacht der Buumlrger muszlig die Be- deutung der Regierungen nur noch mehr wachsen Sie

GESCHICHTSPHILOSOPHISCHES ERGEBNIS150

muumlssen notgedrungen den Geist der Initiative der Unter- nehmung und Fuumlhrung besitzen den der Buumlrger verloren hat Sie haben alles zu unternehmen zu leiten zu schuumlt- zen So wird der Staat zu einem allmaumlchtigen Gott Die Erfahrung lehrt aber daszlig die Macht solcher Gottheiten weder von Dauer noch sehr stark warDie fortschreitende Einschraumlnkung aller Freiheiten bei ge- wissen Voumllkern trotz einer Ungebundenheit die ihnen Frei- heit vortaumluscht scheint eine Folge ihres Alters und ebenso- sehr der Regierung zu sein Sie ist ein Vorzeichen fuumlr die Entartung der bisher noch keine Kultur entgehen konnteWenn man aus den Lehren der Vergangenheit Schluumlsse zieht und nach den Anzeichen urteilt die uumlberall in Er- scheinung treten so sind mehrere unserer modernen Kul- turen auf dieser Stufe des houmlchsten Greisenalters das der Entartung vorangeht angelangt Bestimmte Entwicklungs- formen scheinen fuumlr alle Voumllker unabwendbar zu sein da sich dieser Verlauf in der Geschichte so oft wiederholt Es ist leicht die Stufen dieser Entwicklung ganz allgemein zu kennzeichnen und mit dieser Zusammenfassung soll unsre Arbeit abgeschlossen werden

Wenn wir in groszligen Zuumlgen die Entstehung der Groumlszlige und des Niedergangs der Kulturen der Vergangenheit be- trachten so sehen wir folgendesBeim Erwachen dieser Kulturen einen zusammengewehten Haufen von Menschen verschiedenster Abstammung zu- faumlllig vereinigt durch Wanderungen Uumlberfaumllle und Er- oberungen Von verschiedenem Blut verschiedener Sprache und ebenso verschiedenen Anschauungen haumllt diese Men- schen kein andres Band zusammen als das halb anerkannte Gesetz eines Haumluptlings In ihrem verworrenen Haufen finden sich die psychologischen Merkmale der Massen im houmlchsten Maszlige Sie zeigen den Zusammenhang fuumlr den Augenblick den Heldenmut die Schwaumlchen die Trieb- handlungen und die Gewalttaumltigkeiten Nichts ist bei ihnen von Dauer Sie sind Barbaren

GESCHICHTSPHILOSOPHISCHES ERGEBNIS 151

Dann vollendet die Zeit ihr Werk Gleichheit der Umgebung wiederholte Kreuzungen das Beduumlrfnis eines Gemeinschafts- lebens fangen langsam an zu wirken Die verschiedenen Bestandteile des Haufens beginnen zu verschmelzen und eine Rasse zu bilden d h ein Aggregat mit gemeinsamen Eigen- schaften und Gefuumlhlen die sich durch Vererbung immer mehr befestigen Die Masse ist ein Volk geworden und dies Volk kann sich aus der Barbarei erhebenEs wird sie aber erst dann voumlllig hinter sich haben wenn es sich nach langen Anstrengungen unaufhoumlrlich wieder- holten Kaumlmpfen und unzaumlhligen Ansaumltzen ein Ideal er- rungen hat Die Beschaffenheit dieses Ideals ist nicht wich- tig Ob es der Kultus Roms die Macht Athens oder der Triumph Allahs ist es wird imstande sein allen einzelnen der Rasse die sich bilden will vollkommene Einheit des Fuumlhlens und Denkens zu verleihenNun kann eine neue Kultur mit ihren Einrichtungen Glaubensformen und Kuumlnsten entstehen Von ihrem Wunschtraum fortgerissen wird die Rasse nach und nach alles gewinnen was Glanz Kraft Groumlszlige verleiht Zu- weilen wird sie zweifellos Masse sein aber hinter den be- weglichen und wechselnden Eigenschaften der Masse wird das feste Gefuumlge die Rassenseele stehen welche die Schwin- gungsweite eines Volkes genau bestimmt und den Zufall regeltNach Vollendung ihrer schoumlpferischen Wirkung aber be- ginnt die Zeit jenes Zerstoumlrungswerk dem weder Goumltter noch Menschen entgehen Ist die Kultur auf einer gewissen Houmlhe der Macht und Mannigfaltigkeit angelangt so houmlrt sie auf zu wachsen und sobald sie zu wachsen aufhoumlrt ist sie zu raschem Niedergang bestimmt Bald schlaumlgt die Stunde des AltersDiese unentrinnbare Stunde ist stets durch das Verblassen des Ideals gekennzeichnet das die Rassenseele erhob In dem Maszlige als dieses Ideal abstirbt beginnen alle von ihm geschaffenen religioumlsen politischen und gesellschaftlichen Gebilde zu wanken

152 DIE VERSCHIEDENEN ARTEN VON MASSEN

Mit dem fortschreitenden Schwinden ihres Ideals verliert die Rasse mehr und mehr alles was ihren Zusammenhalt ihre Einheit und Staumlrke bildete Der einzelne kann an Persoumlnlichkeit und Verstand wachsen gleichzeitig tritt aber an die Stelle des Gemeinschaftsegoismus der Rasse die uumlbermaumlszligige Entfaltung des Einzelegoismus die von einer Schwaumlchung des Charakters und einer Verringerung der Tatkraft begleitet wird Was ein Volk eine Einheit einen Block bildete wird zuletzt ein Haufen zusammen- hangloser einzelner die nur noch kuumlnstlich durch Uumlber- lieferungen und Einrichtungen zusammengehalten werden Dann geschieht es daszlig die Menschen die durch ihre Nei- gungen und Anspruumlche voneinander getrennt sind sich nicht mehr regieren koumlnnen und danach verlangen in den unbedeutendsten Handlungen gefuumlhrt zu werden und daszlig der Staat seinen verzehrenden Einfluszlig ausuumlbtMit dem endguumlltigen Verlust des fruumlheren Ideals verliert die Rasse zuletzt auch ihre Seele sie ist dann nur noch eine Menge alleinstehender einzelner und wird wieder was sie am Ausgangspunkt war eine Masse Sie zeigt all ihre fluumlchtigen unbestaumlndigen und zukunftslosen Eigen- schaften Die Kultur ist ohne jede Festigkeit und allen Zufaumlllen preisgegeben Der Poumlbel herrscht und die Bar- baren dringen vor Noch kann die Kultur glaumlnzend schei- nen weil sie das aumluszligere Ansehen bewahrt das von einer langen Vergangenheit geschaffen wurde tatsaumlchlich aber ist sie ein morscher Bau der keine Stuumltze mehr hat und beim ersten Sturm zusammenbrechen wirdAus der Barbarei von einem Wunschtraum zur Kultur gefuumlhrt dann sobald dieser Traum seine Kraft eingebuumlszligt hat Niedergang und Tod ndash in diesem Kreislauf bewegt sich das Leben eines Volkes

153GESCHICHTSPHILOSOPHISCHES ERGEBNIS

ERLAumlUTERUNGEN

Zu S XXV GOBLET DrsquoALVIELLA Graf Eugegravene belgischer Religionshisto- riker und liberaler Politiker 846ndash925S 7 TARDE Gabriel franzoumlsischer Psychologe und Soziologe urspruumlnglich Kriminalist 843ndash904 n seinen Hauptwerken bdquoDie Gesetze der Nachahmung (89) bdquoDie soziale Logikldquo (894) und bdquoDie sozialen Gesetzeldquo (898) werden Nachahmung Gegensaumltzlichkeit und Anpassung als die entscheidenden Fak- toren des Soziallebens bezeichnetS 7 SIGHELE Scipio italienischer Kriminalist Soziologe und Psychologe 868ndash93 Hauptwerk bdquoDie verbrecherische Masseldquo (892)S 3 SPENCER Herbert englischer Philosoph 820ndash903 vertrat die Auf- fassung daszlig der Weltprozeszlig auf einem dauernden Wechsel zwischen einem zusammenhanglosen und einem zusammenhaumlngenden Zustand beruhe dem so- ziologisch der Wechsel zwischen der Betonung der Individualitaumlt und der Hin- neigung zur Gleichfoumlrmigkeit in der Masse entspreche Hauptwerk bdquoSystem der synthetischen Philosophieldquo (862ndash93 0 Bde)S 20 GENERAL Georges Boulanger (837ndash9) 886 frz Kriegsminister dann Korpskommandeur hatte 887 anlaumlszliglich einer deutsch-franzoumlsischen Spannung versucht Frankreich in einen neuen Krieg mit Deutschland zu treiben 888 dienstentlassen erstrebte er mit Hilfe der von ihm entfachten Volksbewegung (Boulangismus) eine Staatsumwaumllzung und die Errichtung einer Diktatur in Frankreich muszligte jedoch ins Ausland fliehen und endete in Bruumlssel durch Selbstmord nachdem er in Abwesenheit wegen Veruntreuung von Staats- geldern verurteilt worden warS 2 L a n g s on Grenzort in Tongking (Franz Indochina) in dessen Naumlhe die Chinesen nachdem sie uumlberall uumlber die Grenze zuruumlckgeworfen waren 884 in einem Gefecht mit franzoumlsischen Truppen die Oberhand behielten K h a r t u m die Hauptstadt des englisch-aumlgyptischen Sudan wurde 885 von den aufstaumlndischen Madhisten erobert wobei der Kommandeur der eingeschlossenen englischen Expeditionsarmce ermordet wurde Vom t a r p e j i s c he n Fe l s e n am Suumldabhang des kapitolinischen Huumlgels wurden im alten Rom die zum Tode verurteilten Aufruumlhrer und Vaterlandsverraumlter hinabgestuumlrztS 28 WOLSELEY Garnet Joseph engl Feldmarschall 833ndash93 Verfasser mehrerer kriegsgeschichtlicher AbhandlungenS 28 DrsquoHARCOURT Georges 808ndash83 873 frz Botschafter in Wien spaumlter in London urspruumlnglich Offizier hatte an der Schlacht bei dem oberitalieni- schen Dorf Solferino teilgenommen die mit dem Sieg der verbuumlndeten Franzosen und Italiener uumlber die Oumlsterreicher endete (24 6 859)S 37 TAINE Hippolyte bedeutender frz Historiker Philosoph und Kritiker 828ndash93 Seine beruumlhmte bdquoGeschichte Frankreichsldquo (876ndash93 6 Bde unvoll- endet) schrieb er um nachzuweisen daszlig die unter Napoleon durchgefuumlhrte

Zentralisierung der Staatsgewalt und die dadurch bewirkte Ausschaltung derInitiative des einzelnen Staatsbuumlrgers an der Niederlage Frankreichs von 870 7 schuld seiS 48 FUSTEL DE COULANGES Numa Denis frz Historiker 830ndash89 Haupt- werk bdquoDas roumlmische Gallien die germanische Invasion und das fraumlnkische Koumlnigreichldquo (888ndash9 4 Bde)S 49 BOULANGISMUS s d Erlaumluterungen zu 20S 59 LAVISSE Ernest frz Historiker 842ndash922 Herausgeber und Mitver- fasser d groszligen Geschichtspublikation bdquoHistoire geacuteneacuteraleldquo (893ndash90 2 Bde)S 60 MACAULAY Thomas engl Historiker und liberaler Politiker 800ndash59 Verfasser der heute noch viel gelesenen bdquoGeschichte Englands (848ndash59 4 Bde)S 64 CHLOTAR (I) fraumlnkischer Koumlnig aus dem Geschlecht der Merowinger Nach seinem Tode (56) zerfiel das Frankenreich in die Teile N e u s t r i e n von der Scheidemuumlndung bis zur Loire) Au s t r a s i e n (Mosel- und Maas- gebiet) und BurgundS 75 TOCQUEVILLE Alexis de frz Diplomat und Historiker 805ndash59 Sein Hauptwerk bdquoDas Ancien reacutegime und die Franzoumlsische Revolutionldquo (856 2 Bde) enthaumllt viele kritische Bemerkungen uumlber MassenpsychologieS 79 THIERS Adolphe einer der bedeutendsten frz Staatsmaumlnner 797 bis 877 seit 836 mehrmals Ministerpraumlsident 87ndash73 Praumlsident der Republik Politisch liberal aber ohne tieferes Verstaumlndnis fuumlr soziale Probleme verherr- lichte in seinen z T mehrbaumlndigen Geschichtswerken die Ideale der Franz Revolution ebenso wie den NationalismusS 87 Mit dem b e r uuml h mt e n I n g e n i e u r ist Ferdinand Lesseps (805 bis 94) gemeint der aber nicht selbst Ingenieur sondern frz Diplomat gewesen ist Ihm ist der 869 vollendete aber nicht von ihm entworfene Bau des Suez- kanals zu danken Auch an der Gruumlndung der Panama-Gesellschaft war er maszliggebend beteiligt Als dieses Unternehmen 888 zusammenbrach wobei viele Aktionaumlre ruiniert wurden kam es zu einem groszligen Skandalprozeszlig in dem Lesseps 893 wegen Betrugs verurteilt wurde (Vgl auch S 6 f)S 9 RENAN Ernest frz Orientalist und Religionshistoriker 823ndash92 Eines seiner Hauptwerke ist die bdquoGeschichte der Anfaumlnge des Christentumsldquo (866 bis 83 7 Bde) sein bekanntestes bdquoDas Leben Jesuldquo (863)S 33 SCHERER Edmond frz Publizist 85ndash89 Fuumlhrer des liberalen Prote- stantismus in FrankreichS 40 SIMON Jules frz Philosoph und Politiker 84ndash96 848 Mitglied der verfassunggebenden Nationalversammlung 876 77 Ministerpraumlsident Schrieb u a bdquoDie Regierung Thiersldquo (878 2 Bde) ndash PYAT Feacutelix frz linksradikaler Journalist 80ndash89 war 848 Oberst der Pariser Nationalgarde 87 Mitglied der Pariser Kummune ndash VAULABELLE Achille de frz Historiker u Politiker 799ndash864 war 848 Unterrichtsminister ndash VICTOR HUGO der bekannte frz Dichter 802ndash85 war 848 Abgeordneter der Nationalversammlung muszligte nach dem Staatsstreich Louis Napoleons (85) fliehen und schrieb seine be- ruumlhmten sozialen Romane als Emigrant auf den englischen Kanalinseln ndash QUINET Edgar frz Dichter und Publizist 803ndash75 war 848ndash50 Mitglied der Nationalversammlung wurde 852 verbannt und 87 in der Nationalver- sammlung von Bordeaux und Versailles einer der Fuumlhrer der aumluszligersten Linken

ndash LAMARTINE Alphonse de frz Dichter 790ndash869 war unter Karl X und Louis Philippe im diplomatischen Dienst bekannte sich aber offen zur Repu-

ERLAumlUTERUNGEN 157

blikanischen Partei und wurde 848 als Mitglied der vorlaumlufigen RegierungAuszligenministerS 42 MAINE Henry James Summer engl Jurist und Rechtsphilosoph 822 bis 88 hat zahlreiche Werke uumlber Rechtsgeschichte und ihre Beziehung zur all- gemeinen Sozialgeschichte verfaszligtS 45 BILLAUD-VARENNES Jean Nicolas 756ndash89 Advokat Vorsitzender des Jakobinerclubs und Mitglied des Konvents erst Anhaumlnger Robespierres dann an dessen Sturz beteiligt Seine Memoiren erschienen 893S 46 COLLOT DrsquoHERBOIS Jean Marie Schauspieler und Buumlhnenschriftsteller 75ndash96 Als erfolgreicher Volksredner wurde er Mitglied des Konvents dann des Wohlfahrtsausschusses und war insbesondere fuumlr die Massenhinrichtungen in Lyon (793) verantwortlich ndash COUTHON Georges Advokat 755ndash94 Mitglied der Nationalversammlung dann des Konvents mitbeteiligt an der Niederwerfung des Lyoner Aufstandes Als Anhaumlnger Robespierres wurde er nach dessen Tod hingerichtet ndash SPULLER Eugegravene frz Politiker u Journalist 835ndash96 war 870ndash7 Sekretaumlr Gambettas 887 und 893ndash94 Unterrichts- minister 889ndash90 Auszligenminister Schrieb u a eine bdquoParlamentsgeschichte der Zweiten Republikldquo (89)S 49 LEROY-BEAULIEU Pierre Paul frz Nationaloumlkonom 843ndash96 gruumln- dete 873 das Wochenblatt bdquoLrsquoEconomiste franccedilaisraquo

156 ERLAumlUTERUNGEN

ISBN 3-520-09915-2

Das beruumlhmte in alle Weltsprachen uumlbersetzte Buch des franzoumlsischen Arztes und Soziologen uumlber die Seele der Massen und die Gesetze ihrer Beeinflussung und Fuumlhrung hat sich ndash trotz oder auch wegen mancher provozierender These ndash uumlber Jahrzehnte hinweg und bis in die Gegenwart hinein als eine der staumlrksten Anregungen fuumlr Psychologie und Soziologie erwiesen

  • Psychologie der Massen
    • Inhaltsverzeichnis
    • Einfuumlhrung
    • Literatur
    • Vorwort zur ersten Auflage
    • Einleitung Das Zeitalter der Massen
    • Erstes Buch Die Massenseele
      • 1 Kapitel Allgemeine Kennzeichen der Massen Das psychologische Gesetz von ihrer seelischen Einheit
      • 2 Kapitel Gefuumlhle und Sittlichkeit der Massen
        • sect 1 Triebhaftigkeit Beweglichkeit und Erregbarkeit der Massen
        • sect 2 Beeinfluszligbarkeit und Leichtglaumlubigkeit der Massen
        • sect 3 Uumlberschwang (exageacuteration) und Einseitigkeit (simplisme) der Massengefuumlhle
        • sect 4 Unduldsamkeit Herrschsucht (autoritarisme) und Konservatismus der Massen
          • 3 Kapitel Ideen Urteile und Einbildungskraft der Massen
            • sect 1 Die Ideen der Massen
            • sect 2 Die Urteile der Massen
            • sect 3 Die Einbildungskraft der Massen
              • 4 Kapitel Die religioumlsen Formen die alle Uumlberzeugungen der Masse annehmen
                • Zweites Buch Die Meinungen und Glaubenslehren der Massen
                  • 1 Kapitel Entfernte Triebkraumlfte der Glaubenslehren und Meinungen der Massen
                    • sect 1 Die Rasse
                    • sect 2 Die Uumlberlieferungen
                    • sect 3 Die Zeit
                    • sect 4 Die politischen und sozialen Einrichtungen
                    • sect 5 Unterricht und Erziehung
                      • 2 Kapitel Unmittelbare Triebkraumlfte der Anschauungen der Massen
                        • sect 1 Bilder Worte und Redewendungen
                        • sect 2 Die Taumluschungen (illusions)
                        • sect 3 Die Erfahrung
                        • sect 4 Die Vernunft
                          • 3 Kapitel Die Fuumlhrer der Massen und ihre Uumlberzeugungsmittel
                            • sect 1 Die Fuumlhrer der Massen
                            • sect 2 Die Wirkungsmittel der Fuumlhrer Behauptung Wiederholung Uumlbertragung
                            • sect 3 Der Nimbus (Le prestige)
                              • 4 Kapitel Grenzen der Veraumlnderlichkeit der Grundanschauungen und Meinungen der Massen
                                • sect 1 Die unveraumlnderlichen Grundanschauungen (croyances fixes)
                                • sect 2 Die veraumlnderlichen Meinungen (opinions mobiles) der Massen
                                    • Drittes Buch Einteilung und Beschreibung der verschiedenen Arten von Massen
                                      • 1 Kapitel Einteilung der Massen
                                        • sect 1 Ungleichartige Massen
                                        • sect 2 Gleichartige Massen
                                          • 2 Kapitel Die sogenannten verbrecherischen Massen
                                          • 3 Kapitel Die Geschworenen bei den Schwurgerichten
                                          • 4 Kapitel Die Waumlhlermassen
                                          • 5 Kapitel Die Parlamentsversammlungen
                                            • Erlaumluterungen
Page 4: Psychologie der Massen - Alex Brunner

Titel der franzoumlsischen Originalausgabe PSYCHOLOGIE DES FOULES

Autorisierte Uumlbersetzung von Rudolf Eisler Bearbeitet von Rudolf Marx

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek

Le Bon Psychologie der Massen ndash 5 Aufl ndash Stuttgart Kroumlner 982 (Kroumlners Taschenausgabe Bd 99) ISBN 3 520 0995 2

copy 9 by Alfred Kroumlner Verlag in StuttgartAlle Rechte vorbehalten Printed in Germany

Druck Omnitypie Stuttgart

INHALTSVERZEICHNIS

Einfuumlhrung von Prof Dr Peter R Hofstaumltter XIII

Literatur XXXVII

Vorwort zur Auflage XXXIX

Einleitung Das Zeitalter der Massen Entwicklung des gegenwaumlrtigen Zeitalters middot Die groszligen Kulturwenden sind die Folge von Wandlungen im Denken der Voumllker middot Der Glaube der Neuzeit an die Macht der Massen middot Er veraumlndert die hergebrachte Politik der Staaten middot Wie sich das Emporkommen der Volksklassen vollzieht und wie sie ihre Macht ausuumlben middot Die Syndikate middot Notwendige Folgen der Macht der Massen middot Sie koumlnnen nur eine zerstoumlrerische Rolle spielen middot Durch sie vollendet sich die Aufloumlsung der zu alt gewordenen Kulturen middot Allgemeine Unkenntnis der Psychologie der Massen middot Wichtigkeit des Studiums der Massen fuumlr Gesetzge- ber und Staatsmaumlnner

Erstes Buch DIE MASSENSEELE

Kapitel Allgemeine Kennzeichen der Massen middot Das psy- chologische Gesetz von ihrer seelischen Einheit 0

Was kennzeichnet eine Masse vom psychologischen Gesichtspunkt middot Eine zahlenmaumlszligige Menge von Einzelnen bildet noch keine Masse middot Besondere Eigentuumlmlichkeiten der psychologischen Massen middot Unveraumlnderliche Richtung der Gedanken und Gefuumlhle der einzelnen die sie bilden und Ausloumlschung ihrer Persoumlnlichkeit middot Die Masse wird stets vom Unbewuszligten beherrscht middot Zuruumlcktreten des Gehirnlebens und Vorherrschen des Ruumlckenmarklebens middot Verminderung des Verstandes und voumlllige Umwandlung der Gefuumlhle middot Die veraumlnderten Gefuumlhle koumlnnen besser oder schlechter sein als die der einzelnen aus denen die Menge besteht middot Die Masse wird ebensoleicht heldenhaft wie verbrecherisch

INHALTSVERZEICHNIS

2 Kapitel Gefuumlhle und Sittlichkeit der Massen 9

sect Triebhaftigkeit Beweglichkeit und Erregbarkeit der Massen middot Die Masse ist der Spielball aller aumluszligeren Reize deren unaufhoumlrliche Schwankungen sie widerspiegelt middot Die Antriebe denen sie gehorchen sind so gebieterisch daszlig der persoumlnliche Vorteil zuruumlcktritt middot Bei den Massen ist nichts vorbedacht middot Wirkungskraft der Rassesect 2 Beeinfluszligbarkeit und Leichtglaumlubigkeit der Massen middot Ihre Empfaumlnglich- keit fuumlr Beeinfluszligungen middot Die in ihrem Gemuumlt hervorgerufenen Bilder werden fuumlr Wirklichkeit gehalten middot Warum diese Bilder fuumlr alle einzelnen aus denen eine Masse besteht gleichartig sind Angleichung der Gelehrten und des Einfaumlltigen in einer Masse middot Verschiedene Beispiele von Taumluschungen denen alle Mitglieder in einer Masse unterliegen middot Unmoumlglichkeit der Zeugenschaft der Massen irgendwelchen Glauben beizumessen middot Die Einmuumltigkeit zahlrei- cher Zeugen ist einer der schlechtesten Beweise den man zur Erhaumlrtung einer Tatsache beibringen kann middot Geringer Wert der Geschichtswerkesect 3 Uumlberschwang und Einseitigkeit der Massengefuumlhle middot Die Massen kennen weder Zweifel noch Ungewiszligheit und ergehen sich stets in Uumlbertreibungen middot Ihre Gefuumlhle sind stets uumlberschwenglichsect 4 Unduldsamkeit Herrschsucht und Konservatismus der Massen middot Ursachen dieser Gefuumlhle Unterwuumlrfigkeit der Massen vor einer starken Macht middot Die augenblicklichen revolutionaumlren Triebe der Massen hindern sie nicht houmlchst ruumlckstaumlndig zu sein middot Sie sind instinktiv Feinde von Veraumlnderung und Fort- schrittsect 5 Sittlichkeit der Massen middot Die Sittlichkeit der Massen kann je nach den Einfluumlssen viel niedriger oder viel houmlher sein als die der einzelnen die sie bilden Erklaumlrung und Beispiele middot Die Massen werden selten durch den Eigennutz geleitet der meist den einzigen Antrieb fuumlr den einzelnen bildet middot Versittlichende Wirkung der Massen

3 Kapitel Ideen Urteile und Einbildungskraft der Massen 38

sect Die Ideen der Massen middot Grundlegende und nebensaumlchliche Ideen middot Wie entgegengesetzte Vorstellungen gleichzeitig bestehen koumlnnen Wandlungen die die houmlheren Ideen durchmachen muumlssen um fuumlr die Massen annehmbar zu werden middot Die soziale Bedeutung der Vorstellungen ist unabhaumlngig von dem Wahrheitsgehalt den sie in sich tragen koumlnnensect 2 Die Urteile der Massen middot Die Massen sind nicht durch Beweisgruumlnde zu beeinflussen middot Die Urteile der Massen sind stets sehr niedriger Art middot Die Vorstellungen die sie assoziieren haben nur den Schein von Analogie und Folgerichtigkeitsect 3 Die Einbildungskraft der Massen middot Macht der Massenphantasie middot Sie denken in Bildern die ohne jegliche Verbindung aufeinander folgen middot Die

VIII

INHALTSVERZEICHNIS

Massen nimmt besonders die wunderbare Seite der Dinge gefangen middot DasWunderbare und das Sagenhafte sind die wahren Traumlger der Kulturen middot Die Volksphantasie war stets der Stuumltzpunkt der Macht aller Staatsmaumlnner middot Auf welche Weise die Tatsachen auf die Einbildungskraft der Massen Eindruck machen koumlnnen

4 Kapitel Die religioumlsen Formen die alle Uumlberzeugungen der Masse annehmen 46

Wodurch das religioumlse Gefuumlhl gebildet wird middot Es ist unabhaumlngig von der Anbetung einer Gottheit middot Seine Merkmale middot Macht der Uumlberzeugungen die religioumlse Formen angenommen haben middot Verschiedene Beispiele middot Die Volksgoumlt- ter sind nie ganz verschwunden middot Neue Formen ihrer Wiedergeburt middot Religioumlse Formen des Atheismus middot Bedeutung dieser Begriffe in historischer Hinsicht middot Die Reformation die Bartholomaumlusnacht die Schreckenstage und alle aumlhnli- chen Ereignisse sind die Folgen der religioumlsen Gefuumlhle der Massen und nicht des Willens einzelner Persoumlnlichkeiten

Zweites BuchDIE MEINUNGEN DER UND GLAUBENSLEHREN

MASSEN

Kapitel Entfernte Triebkraumlfte der Glaubenslehren und Meinungen der Massen 54

Vorbereitende Ursachen der Massenuumlberzeugungen Das Auftreten von Glaubenslehren in den Massen ist die Folge vorangehender Verarbeitung middot Untersuchung der verschiedenen Ursachen dieser Glaubensuumlberzeugungen sect Die Rasse middot Ihr auszligerordentlicher Einfluszlig middot Sie zeigt die Wirkungen der Vorfahrensect 2 Die Uumlberlieferungen middot Sie sind die Zusammenfassung der Rassenseele middot Soziale Bedeutung der Uumlberlieferungen middot Wodurch sie schaumldlich werden nachdem sie notwendig gewesen sind middot Die Massen sind die zaumlhesten Bewah- rer der uumlberlieferten Ideensect 3 Die Zeit Sie bereitet allmaumlhlich die Einfuumlhrung der Glaubenslehren vor dann ihre Zerstoumlrung middot Dank ihrer erhebt sich die Ordnung aus dem Chaossect 4 Die politischen und sozialen Einrichtungen middot Irrige Auffassung von ihrer Aufgabe middot Ihr Einfluszlig ist aumluszligerst gering Sie sind Wirkungen nicht Ursachen middot Die Voumllker koumlnnen sich nicht die Einrichtungen aussuchen die ihnen am besten erscheinen middot Sie sind Etiketten die mit derselben Aufschrift die ver- schiedensten Dinge decken middot Wie die Verfassungen entstehen koumlnnen middot Die

IX

INHALTSVERZEICHNIS

Notwendigkeit gewisser theoretisch schlechter Einrichtungen wie z B derZentralisation fuumlr gewisse Voumllkersect 5 Unterricht und Erziehung middot Irrigkeit der herrschenden Anschauungen uumlber den Einfluszlig des Unterrichts auf die Massen middot Statistische Nachweise middot Entsittlichende Wirkung der klassischen Bildung middot Die Wirkung die der Unterricht ausuumlben koumlnnte middot Beispiele die die verschiedenen Voumllker bieten

2 Kapitel Unmittelbare Triebkraumlfte der Anschauungen der Massen 7

sect Bilder Worte und Redewendungen middot Magische Macht der Worte und Redewendungen Die Macht der Worte knuumlpft sich an Bilder die durch sie hervorgerufen werden und ist unabhaumlngig von ihrem wahren Sinn middot Diese Bilder wechseln mit jedem Zeitalter und mit jeder Rasse middot Abnutzung der Worte middot Beispiele fuumlr die auszligerordentliche Veraumlnderlichkeit der Bedeutung einiger sehr gebraumluchlicher Worte middot Es ist politisch nuumltzlich alte Dinge mit neuen Namen zu taufen wenn die Ausdruumlcke mit denen man sie fruumlher bezeichnete auf die Massen einen unguumlnstigen Eindruck machen middot Der Rasse gemaumlszlige verschiedenartige Bedeutung der Worte middot Verschiedenartiger Sinn des Wortes bdquoDemokratieldquo in Europa und Amerikasect 2 Die Taumluschungen Ihre Wichtigkeit middot Man findet sie in Anfaumlngen jeder Kultur middot Soziale Notwendigkeit der Taumluschungen middot Die Massen ziehen sie stets den Wahrheiten vorsect 3 Die Erfahrung Die Erfahrung allein kann notwendig gewordene Wahr- heiten in der Massenseele befestigen und gefaumlhrlich gewordene Taumluschungen zerstoumlren middot Die Erfahrung wirkt nur bei haumlufiger Wiederholung middot Was die Erfahrungen kosten die noumltig sind um die Massen zu uumlberzeugensect 4 Die Vernunft middot Nichtigkeit ihres Einflusses auf die Massen middot Man wirkt auf sie nur durch Beeinflussung ihrer unbewuszligten Gefuumlhle middot Die Rolle der Logik in der Geschichte middot Die verborgenen Ursachen der unwahrscheinlichen Ereignisse

3 Kapitel Die Fuumlhrer der Massen und ihre Uumlberzeugungs- mittel 83

sect Die Fuumlhrer der Massen middot Urspruumlngliches Beduumlrfnis aller Massen einem Fuumlhrer zu gehorchen middot Psychologie der Fuumlhrer middot Sie allein koumlnnen Vertrauen erwecken und die Massen organisieren middot Notwendige Gewaltherrschaft der Fuumlhrer middot Einteilung der Fuumlhrer middot Die Macht des Willenssect 2 Die Wirkungsmittel der Fuumlhrer middot Behauptung Wiederholung Uumlbertra- gung middot Die verschiedenen Aufgaben dieser Faktoren middot Wie die Uumlbertragung sich von den niederen zu den houmlheren Gesellschaftsschichten fortpflanzen

X

INHALTSVERZEICHNIS

kann middot Eine volkstuumlmliche Anschauung wird bald zur allgemeinen An- schauungsect 3 Nimbus middot Erklaumlrung und Einteilung des Nimbus middot Erworbener und persoumlnlicher Nimbus middot Beispiele middot Verlust des Nimbus

4 Kapitel Grenzen der Veraumlnderlichkeit der Grundanschau- ungen und Meinungen der Massen 0

sect Die unveraumlnderlichen Grundanschauungen Unveraumlnderlichkeit gewisser Gesamtuumlberzeugungen middot Sie sind die Fuumlhrer einer Kultur middot Schwierigkeit sie auszurotten middot Inwiefern Unduldsamkeit bei den Voumllkern eine Tugend ist middot Die philosophische Sinnwidrigkeit einer Gesamtuumlberzeugung schadet ihrer Aus- breitung nichtsect 2 Die veraumlnderlichen Meinungen der Massen Aumluszligerste Veraumlnderlichkeit der Anschauungen die nicht aus altgemeinen Glaubensuumlberzeugungen her- vorgehen middot Scheinbare Veraumlnderungen der Ideen und Uumlberzeugungen in weni- ger als einem Jahrhundert middot Tatsaumlchliche Grenzen dieser Wandlungen Die Elemente auf die sich die Veraumlnderung erstreckt Das Schwinden allgemeiner Glaubensuumlberzeugungen und die auszligerordentliche Verbreitung der Presse heutzutage machen die modernen Ansichten immer veraumlnderlicher middot Wie die Anschauungen der Massen uumlber die meisten Angelegenheiten zur Gleichguumll- tigkeit neigen middot Unfaumlhigkeit der Regierungen wie ehedem die Anschauungen zu lenken middot Die Zersplitterung der Anschauungen verbinden in der heutigen Zeit ihre Tyrannei

Drittes BuchEINTEILUNG UND BESCHREIBUNG DER VERSCHIE-

DENEN ARTEN VON MASSEN

Kapitel Einteilung der Massen 4

sect Ungleichartige Massen middot Ihre Unterscheidungsmerkmale middot Einfluszlig der Rasse middot Die Massenseele ist um so schwaumlcher als die Rassenseele staumlrker ist Die Rassenseele stellt die Stufe der Kultur die Massenseele die Stufe der Barbarei darsect 2 Gleichartige Massen middot Einteilung middot Sekten Kasten Klassen

2 Kapitel Die sogenannten verbrecherischen Massen 7

Die sogenannten verbrecherischen Massen middot Eine Masse kann nur juristisch nicht psychologisch verbrecherisch sein middot Voumlllige Unbewuszligtheit der Massen- handlungen middot Verschiedene Beispiele middot Psychologie der Septembermaumlnner middot Ihre Urteile ihre Empfindsamkeit Grausamkeit und Sittlichkeit

XI

XII INHALTSVERZEICHNIS

3 Kapitel Die Geschworenen bei den Schwurgerichten 22

Die Geschworenen der Schwurgerichte middot Allgemeine Eigenschaften der Ge- schworenen middot Die Statistik zeigt daszlig ihre Entscheidungen unabhaumlngig sind von ihrer Zusammensetzung middot Wie auf die Geschworenen Eindruck gemacht wird middot Geringe Wirkung der Logik middot Art der Verbrechen die von den Geschworenen milde und solcher die streng beurteilt werden middot Uumlberre- dungsweisen beruumlhmter Rechtsanwaumllte middot Nutzen der Geschworenen und die groszlige Gefahr daszlig sie durch Richter ersetzt werden

4 Kapitel Die Waumlhlermassen 28

Allgemeine Eigenschaften der Waumlhlermassen middot Wie man sie uumlberzeugt middot Wel- che Eigenschaften der Wahlkandidat haben muszlig middot Notwendigkeit des Nimbus middot Warum Arbeiter und Bauern so selten ihre Vertreter aus ihrer Mitte waumlhlen middot Macht der Worte und Redewendungen uumlber den Waumlhler middot Allgemeines Bild der Wahlversammlungen middot Wie sich die Anschauungen des Waumlhlers bilden middot Die Macht der Ausschuumlsse middot Sie bilden die schlimmste Form der Tyrannei middot Die Revolutionsausschuumlsse middot Trotz seines geringen psychologischen Wertes ist das allgemeine Stimmrecht unersetzlich middot Warum die Abstimmungen die glei- chen bleiben wuumlrden auch wenn man das Stimmrecht auf eine bestimmte Buumlrgerklasse beschraumlnkte middot Das allgemeine Stimmrecht in allen Laumlndern

5 Kapitel Die Parlamentsversammlungen 37

Die parlamentarischen Massen zeigen die meisten allgemeinen Eigenschaften der nicht namenlosen ungleichartigen Massen middot Einseitigkeit der Anschauun- gen middot Die Beeinfluszligbarkeit und ihre Grenzen middot Unverruumlckbar feste und fluumlch- tige Meinungen middot Warum Unentschiedenheit vorherrscht middot Die Rolle der Fuumlhrer middot Ursache ihres Einflusses middot Sie sind die wahren Leiter einer Versamm- lung deren Abstimmung also nur die einer kleinen Minderheit ist Unum- schraumlnkte Macht der Fuumlhrer middot Die Mittel ihrer Redekunst Worte und Bilder middot Psychologische Notwendigkeit daszlig die Fuumlhrer eine allgemeine Uumlberzeugung haben und beschraumlnkt sind middot Unmoumlglichkeit fuumlr den Fuumlhrer seine Beweis- gruumlnde ohne Nimbus durchzusetzen middot Uumlberschwang sowohl der guten als auch der schlechten Gefuumlhle in den Versammlungen middot Automatismus der sich unter gewissen Umstaumlnden herausbildet middot Die Sitzungen des Konvents middot Ein Fall daszlig eine Versammlung die Massenkennzeichen verliert middot Einfluszlig der Fachleute auf die technischen Fragen middot Vorteile und Gefahren der parlamenta- rischen Regierungsweise in allen Staaten middot Sie hat sich den Beduumlrfnissen der Gegenwart angepaszligt fuumlhrt aber zu wirtschaftlicher Verschwendung und all- maumlhlichen Freiheitsbeschraumlnkungen middot Geschichtsphilosophisches Ergebnis

Erlaumluterungen 54

EINFUumlHRUNG

von Peter R Hofstaumltter

Die Massenpsychologie die der vierundfuumlnfzigjaumlhrige Gustave Le Bon (842ndash93) im Jahr 895 veroumlffentlichte ist wie wenige andere ein Erfolgsbuch dessen Thesen bereits so sehr zum Gemeingut der gebildeten Welt geworden sind daszlig manche es gar nicht mehr fuumlr noumltig halten es auch zu nennen wenn sie ihre eigenen Urteile ganz unwillkuumlrlich in die Worte des franzoumlsischen Autors kleiden Bis- weilen geschieht auch das Umgekehrte daszlig naumlmlich Le Bon eigene Gedanken unterschoben werden Er ist eben zum Begriff geworden Daran hat sich seit dem Jahr 908 in dem die von dem Wiener Philosophen Rudolf Eisler stammende Uumlbersetzung in erster Auflage erschien auch in Deutschland kaum etwas geaumlndert Wer etwas auf sich hielt und darum gesonnen war von der anonymen Masse gebuumlhrenden Abstand zu halten glaubte bei Le Bon jede Art von Unterstuumltzung zu finden Gegebenenfalls konnte man natuumlrlich auch Horaz zitieren mit dessen bdquoodi profanum vulgus et arceoldquo (Oden III ) und damit bekunden daszlig man den uneingeweihten Poumlbel haszligt und sich fern haumlltVielfach hat dabei allerdings der fluumlssige Text zum leichten Daruumlber- Hinweg-Lesen verfuumlhrt Immerhin enthalten ja schon die Worte die hauptsaumlchlichen Aussagen des Buches Die bdquoMasseldquo kommt vom griechischen bdquoBrotteigldquo (maza) den man kneten (massein) muszlig die

bdquofoulesldquo des Originaltextes leiten sich vom lateinischen bdquofulloldquo dem bdquoWalkerldquo oder bdquoTuchmacherldquo her und die englische bdquocrowdldquo ist dem mittelhochdeutschen bdquokrotenldquo stammverwandt das so viel wie

bdquopressenldquo bedeutet In jedem Fall hat man es mit dem Gestaltlosen dem Amorphen zu tun das erst durch aumluszligere Einwirkung geformt wird Dazu haben sich professionelle Gestalter ndash Politiker Propa- gandisten und Demagogen ndash nur allzugern aufgerufen gefuumlhltSo gelesen ist Le Bons Lehre verfuumlhrerisch bzw sogar irrefuumlhrend und wohl auch etwas zu billig Man muszlig genauer zusehen um zu merken daszlig der Autor hier und in den ein Jahr zuvor erschienenen

bdquoLois psychologiques de lrsquoeacutevolution des peuplesldquo in verschluumlsselter Weise die Geschichte von dem Erdenkloszlig erzaumlhlt aus dem Gott den Von A Seiffhart 922 ins Deutsche uumlbertragen und bei S Hirzel Leipzig als bdquoPsycholo- gische Grundgesetze in der Voumllkerentwicklungldquo erschienen

Menschen machte und dem er nach dem Suumlndenfall verhieszlig bdquoDubist Erde und sollst zu Erde werdenldquo ( Mose 3 9) Seine Version lautete Ihr Voumllker seid aus dumpfen Massen hervorgegangen und es liegt an euch ndash eurem Suumlndenfall ndash wie bald ihr wieder in amorphe Massen zerfallen werdet bdquoDie Masse ist das Ende das radikale Nichtsldquo so hat das Oswald Spengler im bdquoUntergang des Abendlan- desldquo (922) ausgedruumlcktDie Sache ist aber womoumlglich noch ernster denn bdquodas radikale Nichtsldquo ist mitten im Leben der Voumllker enthalten und kann als

bdquopsychologische Masseldquo in jedem Moment zum Vorschein kommen Das erinnert an Freuds Todestrieb der in zahllosen Varianten der Aggression der Destruktion und der Selbstzerstoumlrung das Leben gefaumlhrdet Wie Freud darin ein Kennzeichen des bdquoDaumlmonischenldquo sah (920) ist auch fuumlr Le Bon die Masse ein daumlmonisches Wesen bdquoso etwas wie die Sphinx der antiken Sageldquo (S 7) 2

I Der Arzt und das Schicksal

Dr Gustave Le Bon lieszlig sich als Arzt von der Vorstellung leiten daszlig Kulturen wie Lebewesen sich im Aufsteigen entfalten ihren Formenreichtum zeigen dann aber bdquonach Vollendung ihrer schoumlpfe- rischen Wirkung hellip mit dem fortschreitenden Schwinden ihres Ide- als hellip mehr und mehr alles verlieren was ihren Zusammenhalt ihre Einheit und Staumlrke bildeteldquo Sie zerfallen was bleibt ist

bdquohellip nur noch eine Menge alleinstehender Einzelner hellip eine Masse hellip Der Poumlbel herrscht und die Barbaren dringen vor Noch kann die Kultur glaumlnzend scheinen weil sie das aumluszligere Ansehen bewahrt das von einer langen Vergangenheit geschaffen wurde tat- saumlchlich aber ist sie ein morscher Bau der keine Stuumltze mehr hat und beim ersten Sturm zusammenbrechen wirdldquo (S 53)Er betrachtete es als seine Aufgabe diese Entwicklung die er im Prinzip fuumlr unvermeidlich hielt so lange wie moumlglich hinauszuzouml- gern wie eben auch ein Arzt im vollen Wissen um die Sterblichkeit seiner Patienten bestrebt ist deren Leben und Wohlbefinden zu erhalten Wo es sich um Seuchen handelt will ein Hygieniker natuumlr- lich auch sich selbst davor schuumltzen von ihnen befallen zu werden

2 Bei Zitaten aus Le Bons bdquoPsychologie der Massenldquo ist nur die Seitenzahl angegeben bei solchen aus anderen Werken dieses Autors wird jeweils die Jahreszahl vorangesetzt

XIV EINFUumlHRUNG

fuumlr Le Bon bedurfte es dazu der Einsicht in die Funktionsweise derKrankheit bdquoDie Kenntnis der Psychologie der Massen ist heute das letzte Hilfsmittel fuumlr den Staatsmann der hellip nicht allzusehr von ihnen beherrscht werden willldquo (S 6)Als bdquoein Menschheitsziel von houmlchster Invarianzldquo bezeichnete auch der Dichter Hermann Broch (886ndash95) bdquodie gluumlcklichen Normali- taumltsperioden der Menschheit tunlichst zu verlaumlngernldquo obwohl seine im amerikanischen Exil entworfene bdquoMassenwahntheorieldquo ebenfalls ein mit dem Charakter der bdquoUnentrinnbarkeitldquo ausgezeichnetes

bdquoGesetz der psychischen Zyklenldquo enthieltIm Todesjahr Le Bons ndash 93 ndash nahm ein deutscher Arzt der Psychiater und Philosoph Karl Jaspers (883ndash969) das Thema in der Abhandlung uumlber bdquodie geistige Situation der Zeitldquo auf Als Band 000 der hochangesehenen bdquoSammlung Goumlschenldquo war das Buumlchlein so etwas wie eine Jubilaumlumsschrift die fuumlr das Denken der Weimarer Republik in hohem Maszlige als repraumlsentativ galt Seine These lautete

bdquoEs beginnt heute der letzte Feldzug gegen den Adel Statt auf politischem und soziologischem Felde wird er in den Seelen selbst gefuumlhrtldquo indem sich bdquodie Instinkte des Massemenschen hellip wie schon oumlfters gefaumlhrlicher als je mit religioumlskirchlichen und politisch absolutistischen Instinkten (vereinigen) um die universale Nivellie- rung in der Massenordnung mit einer Weihe zu versehenldquo (S 74) Der Adel den er meinte war nicht eine irgendwie privilegierte Schicht sondern so etwas bdquowie die unsichtbare Kirche eines corpus mysticum hellip der selbstseienden Geisterldquo (S 76) die als Minoritaumlt Geschichte machen Somit sei jetzt bdquodas Problem des menschlichen Adels hellip die Rettung der Wirksamkeit der Besten welche die Wenigsten sindldquo (S 73)Jaspers beruft sich ausdruumlcklich auf Le Bon der bdquodie Eigenschaften der Masse hellip als Impulsivitaumlt Suggestibilitaumlt Intoleranz Wandel- barkeit usw trefflich analysiert hatldquo (S 35) Als typische Zuumlge wer- den weiterhin aufgezaumlhlt bdquoEntscheidung durch Majoritaumlten Haszlig gegen jeden hervorragenden Einzelnen Forderung der Gleichheit ruumlcksichtslose Isolierung oder Ausschlieszligung jeder Besonderheit welche nicht repraumlsentativ fuumlr alle ist Verfolgung des Uumlberragen- denldquo (S 73) Allerdings sind bdquoMassemenschen hellip anzuerkennen sofern sie dienen leisten aufblickend den Impuls eines moumlglichen Aufschwungs kennen das heiszligt sofern sie selbst das sind was die Wenigen entschieden sindldquo (S 78)Nach dem zweiten Weltkrieg beurteilte Jaspers die Situation nicht wesentlich anders bdquoDie Verwandlung von Volk in Publikum und

EINFUumlHRUNG XV

Masse ist heute unaufhaltsamldquo heiszligt es 949 in bdquoVom Ursprung undZiel der Geschichteldquo (S 26) denn bdquoMassen entstehen wo Men- schen ohne eigentliche Welt ohne Herkunft und Boden verfuumlgbar und auswechselbar werdenldquo (S 25) Der Philosoph prangerte dabei

bdquodie Minderwertigkeit der Vielen des Durchschnittsldquo an bdquoderen Dasein durch den Massendruck alles bestimmtldquo In diesem Sinne so meinte er ist Masse bdquodie Erscheinung einer geschichtlichen Lage unter bestimmten Bedingungen (und) keineswegs endguumlltig minder- wertigldquo es sei naumlmlich auch moumlglich bdquodaszlig in den Massen selber die vernuumlnftig ringende Arbeit wirklichen Geistes sich entwickleldquo (S 27) Auch hier gewinnt schlieszliglich der Arzt die OberhandNoch einmal zuruumlck zum Jahr 93 in dem Le Bon starb Damals forderte eine Kommission des Voumllkerbundes repraumlsentative Vertreter des internationalen Geisteslebens zu einem brieflichen Meinungsaus- tausch auf bei dem Albert Einstein im Hinblick auf die Moumlglichkeit der Kriegsverhuumltung Freud die Frage stellte bdquoWie ist es moumlglich daszlig sich die Masse hellip bis zur Raserei und Selbstopferung entflam- men laumlszligtldquo Man denkt unwillkuumlrlich an Le Bons These bdquowenn die Massen geschickt beeinflusst werden koumlnnen sie heldenhaft und opferwillig seinldquo (S 3) Freud der sich schon 92 (in bdquoMassen- psychologie und Ich-Analyseldquo) sehr intensiv mit dem franzoumlsischen Autor beschaumlftigt hatte blieb auch seinerseits im Rahmen von dessen Vorstellungen bdquoEs ist ein Stuumlck hellip der angeborenen und nicht zu beseitigenden Ungleichheit der Menschen daszlig sie in Fuumlhrer und in Abhaumlngige zerfallen Die letzteren sind die uumlbergroszlige Mehrheit sie beduumlrfen einer Autoritaumlt welche fuumlr sie Entscheidungen faumlllt denen sie sich meist bedingungslos unterwerfen Hier waumlre anzuknuumlpfen man muumlszligte mehr Sorge als bisher aufwenden um eine Oberschicht selbstaumlndig denkender der Einschuumlchterung unzugaumlnglicher nach Wahrheit ringender Menschen zu erziehen denen die Lenkung der unselbstaumlndigen Massen zufallen wuumlrdeldquo (Ges W XVI S 24) Das war ndash abermals aus aumlrztlicher Sicht ndash ein Vorschlag zur Gesell- schafts-Hygiene der als herrschende Elite bdquoeine Gemeinschaft von Menschenldquo postulierte bdquodie ihr Triebleben der Diktatur der Ver- nunft unterworfen habenldquo Ihnen entsprechen im Konzept von Jas- pers bdquodie selbstseienden Menschenldquo jene bdquoBesten hellip die sie selbst sind im Unterschied von denen die in sich nur eine Leere fuumlhlen keine Sache als ihre kennen sich selber fliehenldquo (93 S 74) Man kennt sie auch aus zahlreichen Publikationen Le Bons z B aus der thesenartigen Zusammenfassung seiner Leitgedanken in den bdquoApho- rismes du temps preacutesentldquo (93) die von der Gesellschaft eine hoch-

XVI EINFUumlHRUNG

qualifizierte Fuumlhrung fuumlr die Massen verlangen damit deren dynami-sche Energie in die fuumlr das allgemeine Wohlergehen erforderliche Aktivitaumlt geleitet werde

II Werke und Tage

Als Arzt so berichtet Le Bon (S 80) habe er im Jahr 870 bei der Belagerung von Paris erstmalig die unheimliche Beeinfluszligbarkeit von Massen beobachtet Der erst 29-jaumlhrige war damals Chefarzt einer Lazarettabteilung fuumlr seine Verdienste wurde er nach dem Krieg zum Offizier der Ehrenlegion ernanntAls Autor hatte er sich bis dahin erst durch eine Arbeit uumlber den Scheintod und uumlber vorzeitige Bestattungen (866) bekannt gemacht Das Thema war fuumlr ihn nicht uncharakteristisch denn in einem gewissen Sinn sind auch die ohne eigenen Willen agierenden Mitglie- der einer Masse bdquoScheintoteldquo Sie erinnern an gehorsame Medien die auf den Befehl eines Hypnotiseurs hin sich regen oder erstarren ohne spaumlter zu wissen warum und wieso Untaten die sie in diesem Zustand begangen haben koumlnnten waumlren bdquovielleicht gesetzlich aber nicht psychologisch als Verbrechenldquo zu bezeichnen (S 8 f) Die Pariser Kommune von 870 7 die Le Bon im Zusammenhang mit revolutionaumlren Greueltaten erwaumlhnt (S 2) forderte Uumlberlegungen dieser Art zweifellos heraus Sie sind uns nach 945 nicht erspart gebliebenAuf das gleiche Problem waren auch schon die Kriminologen Gabriel Tarde (843ndash904) und Scipio Sighele (868ndash93) gesto- szligen in deren Schriften manche Formulierungen aus der bdquoPsycholo- gie des foulesldquo von 895 vorweggenommen sind so z B bei Tarde in bdquoLes lois de lrsquoimitationldquo (890) die Darstellung der Gesellschaft als eine stufenweise herabfallende bdquoKaskade sukzessiver Magnetisatio- nenldquo d h hypnotischer Beeinf lussungen die sie im ganzen zu einem Fall von Somnambulismus (Schlafwandeln) macht bdquoSehr oft war der Fuumlhrer zuerst ein Gefuumlhrter der selbst von der Idee hynoti- siert war deren Apostel er spaumlter wurdeldquo heiszligt es bei Le Bon (S 83) fuumlr den das bdquoil a lui-mecircme eacuteteacute hypnotiseacuteldquo ganz gewiszlig keine bloszlige Phrase war bdquoSorgfaumlltige Beobachtungen scheinen (naumlmlich) zu beweisen daszlig ein einzelner der lange Zeit im Schoszlige einer wirken- den Masse eingebettet war sich hellip in einem besonderen Zustand befindet der sich sehr der Verzauberung naumlhert die den Hypnoti- sierten unter dem Einfluszlig des Hypnotiseurs uumlberkommtldquo (S 6)

EINFUumlHRUNG XVII

Die hypnotischen Phaumlnomene und deren therapeutische Verwertbar-keit faszinierten gerade um diese Zeit durch die Arbeiten von J M Charcot (835ndash893) in Paris und H Bernheim (840ndash99) in Nancy eine breite Oumlffentlichkeit Zwischen 88 und 89 schrieb in Wien der Arzt Arthur Schnitzler seinen bdquoAnatolldquo der mit einer Hypnose-Szene beginnt waumlhrend sich Sigmund Freud ndash ausgeruumlstet mit einem Stipedium seiner Fakultaumlt ndash auf mehreren Reisen in Paris und in Nancy mit den neuen Methoden vertraut machte Viele Jahre spaumlter (92) hat er in bdquoMassenpsychologie und Ich-Analyseldquo den Vergleich umgekehrt bdquoDie Hypnose hat ein gutes Anrecht auf die Bezeichnung eine Masse zu zweitldquo (Ges W XIII S 42)Le Bon selbst scheint die aumlrztliche Praxis weniger gelockt zu haben als einerseits die hygienische Betreuung der Bevoumllkerung insgesamt und andererseits die Forschung die sich ndash dem Geist der Zeit folgend ndash zunaumlchst im Rahmen der phrenologischen Tradition ent- faltete Die von Franz Joseph Gall (758ndash828) aufgestellte Hypo- these daszlig der knoumlcherne Schaumldel Ruumlckschluumlsse auf die staumlrkere und schwaumlchere Ausbildung der darunterliegenden Gehirnpartien und damit auf die Begabungen und Charakterzuumlge eines Menschen zulasse war allerdings im letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts nicht mehr aufrechtzuerhalten Jedoch bemuumlhte man sich mit gro- szligem Eifer um den Nachweis eines Zusammenhanges zwischen Schauml- delvolumen bzw Gehirngroumlszlige und Intelligenz Die Wege die dabei eingeschlagen wurden und die Irrwege auf die viele gerieten schil- dert neuerdings S J Gould (98) sehr anschaulich Den bdquoGroszlig- kopfertenldquo waumlre eine solche ganz objektive Bestaumltigung ihrer Uumlberle- genheit nicht unlieb gewesen Paul Broca (824ndash880) der 86 das motorische Sprachzentrum im Gehirn entdeckt hatte eroumlffnete 867 in Paris ein anthropologisches Laboratorium in dem sich Le Bon laumlngere Zeit mit Schaumldelmessungen beschaumlftigteSeine 879 publizierten bdquoRecherches anatomiques et matheacutematiques sur les variations de volume du cerveau et sur leurs relations avec lrsquointelligenceldquo wurde mit einem Preis der Akademie der Wissenschaf- ten ausgezeichnet Das Hauptergebnis ist von wesentlicher Bedeu- tung fuumlr Le Bonrsquos Theorie der Kultur- und Voumllkerentwicklung bdquoDer Durchschnittsunterschied des Schaumldels bei zwei Voumllkern ist niemals sehr bedeutend hellip Vergleicht man (aber) die Schaumldel der verschie- denen Menschenrassen aus vergangener und gegenwaumlrtiger Zeit so erkennt man die Rassen deren Schaumldelvolumen die groumlszligten indivi- duellen Abweichungen aufweist als die in der Kultur am houmlchsten

XVIII EINFUumlHRUNG

stehenden und bemerkt daszlig in dem Maszlige wie eine Rasse in derKultur fortschreitet die Schaumldel der Individuen aus denen sie besteht sich immer mehr differenzierenldquo (894 S 33)Was die Gruppen voneinander unterscheidet sind somit nicht ndash wie noch Broca zeigen wollte ndash die Durchschnittswerte der Verteilungen sondern deren Streuungsweiten um den gemeinsamen Mittelwert Aus Gruumlnden die mehr mit dem Lebensstandard als mit der Kultur der Voumllker zu tun haben duumlrften ist das nicht unplausibel aber diese Frage braucht hier nicht entschieden zu werden Von grundlegender Bedeutung war jedoch fuumlr Le Bonrsquos Denken der Schluszlig den er aus seinem Ergebnis zog bdquodaszlig (naumlmlich) die Kultur uns nicht zur intel- lektuellen Gleichheit sondern zu einer immer groumlszliger werdenden Ungleichheit fuumlhrtldquo (894 S 33) Das ist der Ansatzpunkt seines Buches uumlber die bdquopsychologischen Grundgesetze der Voumllkerentwick- lungldquoDen in ihrer Eigenart zu maximaler Besonderheit ausgepraumlgten Ein- zelindividuen entsprechen bei Jaspers die bdquoselbstseienden Men- schenldquo deren bdquoNaumlhe das Beste (ist) was heute geschenkt werden kannldquo (S 75)Auch wenn dies Le Bon und Jaspers gleichermaszligen zuruumlckgewiesen haumltten stellt sich angesichts des unverkennbaren Narziszligmus der groszligen Einzelnen ndash bzw ihrer Verkuumlnder ndash die Erinnerung an die kulturelle Pose jener bdquohochmuumltigen Kasteldquo ein die Baudelaire 863 beschrieben hat deren bdquobrennendes Beduumlrfnisldquo darin bestand bdquosich innerhalb der Grenzen des Geziemenden eine Originalitaumlt zu schaf- fen eine Art Kult mit sich selberldquo Die Rede ist vom bdquoDandysmusldquo und dessen bdquoculte de soi-mecircmeldquo jenem bdquoletzten Aufleuchten des Heroismus in Zeiten des Verfallsldquo der bdquohauptsaumlchlich in Uumlbergangs- epochen (erscheint) wenn die Demokratie noch nicht allmaumlchtig ist und die Aristokratie noch nicht gaumlnzlich abgewirtschaftet hatldquoGewiszlig der Dandy ist in unseren Augen ein laumlcherliches Zerrbild des

bdquoHeroismusldquo aber die zeitliche Einordnung dieses bdquoAuf leuchtensldquo stimmt genau bdquoDie furchtbare Dekadenz der lateinischen Rasseldquo beklagte Le Bon in seiner Voumllkerpsychologie von 894 ebenso wie das die Schriftsteller J K Huysmans (bdquoGegen den Strichldquo 884) Paul Bourget (bdquoDer Schuumllerldquo 889) und Maurice Barreacutes (bdquoDie Ent- wurzeltenldquo 898) tatenJ Peacuteladan dessen Roman bdquoFinis Latinorumldquo (898) als 3 Band der 2-baumlndigen Reihe bdquoLa deacutecadence latineldquo (884ndash925) erschien hatte dem Unheil sogar durch die Gruumlndung eines mystischen

EINFUumlHRUNG XIX

Rosenkreuzer-Bundes (888) zu wehren versucht Aumlhnliche Gedan-ken bewegten in Deutschland Stefan George der sich 889 in Paris fuumlr Baudelaires Dandy-Ideal begeistert hatte In den bdquoBlaumlttern fuumlr die Kunstldquo veroumlffentlichte er 902 ein Weihespiel das den Titel traumlgt

bdquoDie Aufnahme in den Ordenldquo Darin verkuumlndet der Groszligmeister dem Juumlngling bdquoDen Voumllkern ungeahnt ist hier in hut hellip Die vor der Allerstarrung wahrt die glut ndash hellip Kein wachtet der vor ihr sein blut erwaumlgeldquoMan schwaumlrmte fuumlr die Gralsritter und fuumlr Wagners bdquoParsivalldquo Nicht einmal Freud widerstand als ihm Ernest Jones die Idee eines geheimen Leitungsgremiums der Psychoanalyse einfluumlsterte jedoch bestand er in seinem Brief vom 26 Dezember 92 ausdruumlcklich darauf bdquodaszlig die Existenz des Bundes und seine Aktionen ein absolu- tes Geheimnis zu bleiben haumlttenldquo So ganz im Verborgenen wirken wollte man aber doch auch wieder nicht und so trug denn jeder der sieben Herren einen goldenen mit einer antiken Gemme gezierten Ring am FingerDie Gefahr wie sie in Paris die Retter sahen schilderte am 0 April 886 die Zeitung bdquoLe Deacutecadentldquo nach Mario Praz wie folgt bdquoEs waumlre der Gipfel des Wahnsinns sich den Stand der Dekadenz den wir erreicht haben nicht klarzumachen Religion Sitten Gerechtig- keit ndash alles verfaumlllt hellip Die Gesellschaft loumlst sich unter der Wirkung einer zersetzenden Zivilisation auf Der moderne Mensch ist uumlbersaumlt- tigt Verfeinerung der Begierden der Empfindungen des Geschmacks des Luxus der Vergnuumlgungen Neurose Hysterie Hypnotismus Morphiumsucht wissenschaftliche Scharlatanerie uumlberspannte Verehrung von Schopenhauers Philosophie sind die Vorboten des sozialen VerfallsldquoAus Wien lieszlig sich 893 mit einem Aufsatz uumlber Gabriele DrsquoAnnun- zio der 29-jaumlhrige Hugo von Hofmannsthal in der gleichen Tonart vernehmen bdquoHeute scheinen zwei Dinge modern zu sein Die Ana- lyse des Lebens und die Flucht aus dem Leben hellip Modern sind alte Moumlbel und junge Nervositaumlten hellip Wir haben nichts als ein senti- mentales Gedaumlchtnis einen gelaumlhmten Willen und die unheimliche Gabe der Selbstverdoppelung Wir schauen unserem Leben zu hellip Wir hellip Ich rede von ein paar tausend Menschen in den groszligen europaumlischen Staumldten verstreut hellip Sie fuumlhlen sich mit schmerzlicher Deutlichkeit als Menschen von heute sie verstehen sich miteinander und das Privilegium dieser geistigen Freimaurerei ist fast das einzige was sie im guten Sinn vor den uumlbrigen voraushaben hellipldquo (Werke

XX EINFUumlHRUNG

VIII S 75 f) Abermals ein Orden der Wenigen im Kontrast zubdquoden uumlbrigenldquoMan sprach in Paris und in Wien vom bdquoFin de siegravecleldquo als ginge es um den bdquoUntergang des Abendlandesldquo jedoch litt man in Frankreich das tonangebend war im wesentlichen unter den Spannungen die der Schweizer Publizist P Seippel 905 auf die Formel bdquoles deux Francesldquo gebracht hatte Die Geister schieden sich am Phaumlnomen der Franzoumlsischen Revolution von 789 in der die einen den hoffnungs- vollen Aufbruch in eine neue Zeit erblickten die anderen aber den Anfang vom Ende In der Tat bedurfte es der schweren Staatskrise von 877 bis der 4 Juli im Gedenken an den Bastille-Sturm zum Staatsfeiertag werden konnteLe Bon stand auf Seiten der Traditionalisten jedoch distanzierte er sich von den bdquoLieblingsschriftstellern der jetzigen Bourgeoisieldquo (S 3)

ndash gemeint waren damit offenbar Huysmans (848ndash907) Barreacutes (862ndash923) und Charles Peacuteguy (873ndash94) ndash jenen bdquoNeubekehr- tenldquo mit ihrem bdquoverzweifeltem Appell an die sittlichen Kraumlfte der Kircheldquo er setzte als Arzt auf die heilende Wirkung der Wissen- schaftWie jene erblickte er aber im Sozialismus den er immer wieder ndash vor allem in der bdquoPsychologie du socialismeldquo (898) ndash angriff die Negation von Kultur bdquoDer Sozialismusldquo heiszligt es in der Voumllkerpsy- chologie bdquoscheint zur Zeit die schwerste Gefahr zu sein von der die europaumlischen Voumllker bedroht werden (er) stellt den neuen Glauben der ungeheuren Menge der Enterbten darldquo (894 S 36) Nicht viel anders klang es in Baudelaires Dandy-Aufsatz von 863 bdquoAber leider erstickt der steigende Schlamm der Demokratie der sich uumlber alles legt und alles gleichmacht Tag um Tag diese letzten Vertreter des menschlichen Stolzesldquo ndash die DandiesObwohl er von den Modenarren die sich selbst bisweilen bdquoles incroyablesldquo ndash die Unglaublichen ndash nannten kaum sehr viel gehal- ten haben duumlrfte war Le Bon im Prinzip der gleichen Ansicht wie sie bdquoSobald der Sozialismus ein Land unterjocht hat besteht seine einzige Aussicht sich einige Zeit zu erhalten darin daszlig er alle die Individuen bis auf das Letzte verschwinden laumlszligt die eine so groszlige Uumlberlegenheit besitzen um sich ndash wenn auch nur in geringem Maszlige

ndash uumlber den niedrigsten Durchschnitt zu erhebenldquo (894 S 30) Voumlllig grundlos waren solche Aumlngste nicht sie konnten sich einerseits auf die Erfahrungen mit der Pariser Kommune von 87 berufen und andererseits auf das anarchistische Programm Bakunins

EINFUumlHRUNG XXI

wie es z B in den bdquoDaumlmonenldquo Dostojewski (87 72) schildern laumlszligtbdquoDas Hauptprinzip ist die Gleichheit Ais erstes wird das gesamte Bildungsniveau gesenkt hellip Wir brauchen keine Hochbegabten hellip wir werden jedes Genie im Keim ersticken Alles wird auf einen Nenner gebracht volle Gleichheit hergestelltldquoFuumlr Le Bon kann Gleichheit jedenfalls bdquonur im Untergeordneten bestehen sie ist der dunkle druumlckende Traum vulgaumlrer Mittelmaumlszligig- keit hellip Sollte Gleichheit in der Welt herrschen so muumlszligte man allmaumlhlich alles was den Wert einer Rasse ausweist auf das Niveau des am tiefsten stehenden was diese Rasse besitzt herabdruumlckenldquo (894 S 23) Genau das aber sind bdquodie Forderungen der Massenldquo die heute bdquonach und nach immer deutlicher (werden sie) laufen auf nichts Geringeres hinaus als auf den gaumlnzlichen Umsturz der gegen- waumlrtigen Gesellschaft um sie jenem primitiven Kommunismus zuzufuumlhren der vor dem Beginn der Kultur der normale Zustand aller menschlichen Gesellschaft warldquo (S 3)Es ist das Hauptresultat seiner Schaumldelmessungen von dem er sich unbeirrt leiten laumlszligt Je differenzierter umso houmlher Gleichheit ist unten bei den Massen bdquoAllein durch die Tatsache Glied einer Masse zu sein steigt der Mensch also mehrere Stufen von der Leiter der Kultur hinabldquo (S 7) Dort wo die Individualitaumlt verschwindet gilt das bdquoGesetz der seelischen Einheit (de lrsquouniteacute mentale) der Massenldquo Oswald Spengler umschrieb es ohne Le Bon auch nur zu nennen im bdquoUntergang des Abendlandesldquo (922) bdquoEine zufaumlllige Menge wird auf der Straszlige zusammengeballt sie hat ein Bewuszligtsein ein Fuumlhlen eine Sprache bis die kurzlebige Seele erlischt und jeder seines Weges gehtldquo (II S 22)Daszlig ein Mensch aus einem vergleichsweise so geringem Anlaszlig sogleich bdquomehrere Stufen von der Leiter der Kulturldquo hinabsteigt ist schwer vorzustellen ndash es sei denn man spraumlche mit Freud von der

bdquoRegression der seelischen Taumltigkeit auf eine fruumlhere Stufe wie wir sie bei Wilden oder bei Kindern zu finden nicht erstaunt sindldquo (92 S 29) Genau das geschieht auch in der Hypnose durch die bdquoder Hypnotiseur beim Subjekt ein Stuumlck von dessen archaischer Erb- schaftldquo weckt bdquoDer unheimliche zwanghafte Charakter der Mas- senbildung der sich in ihren Suggestionserscheinungen zeigt kann also wohl mit Recht auf ihre Abkunft von der Urhorde zuruumlckge- fuumlhrt werdenldquo meinte Freud (92 S 42)Urhorden hat Le Bon so wenig jemals gesehen wie Freud aber er kannte aus eigener Anschauung die Restbestaumlnde sozusagen die Kadaver groszliger Kulturen Nationen oder Rassen Zwischen den drei

XXII EINFUumlHRUNG

Begriffen pflegte er uumlbrigens nicht besonders genau zu unterschei-den in einer romanischen Sprache denkend erschienen ihm ganz unwillkuumlrlich die Rassen als die bdquoWurzelnldquo aus denen sich ndash von einer Nation gepf legt ndash die Kultur wie ein Gewaumlchs entfaltet In die Rolle des Leichenbeschauers geriet der Arzt durch seine voumllkerkundlichen Studien bdquoDer Mensch und die Gesellschaften ihr Ursprung und ihre Geschichteldquo (88) und bdquoDie Kultur der Araberldquo (884) die ihm notwendig erschienen nachdem die Schaumldelmessun- gen zu der Korrelation zwischen kulturellem Niveau und Differen- ziertheit gefuumlhrt hatten Auf Grund dieser Arbeiten erhielt er 884 von der Franzoumlsischen Akademie den Auftrag in Indien die buddhi- stischen Baudenkmaumller zu inventarisieren Hier sah er nun zwischen den Zeugen einer unstreitig groszligen Vergangenheit das Elend der kolonialen Gegenwart Mengen von Menschen denen ihre Geschichte nichts mehr bedeutet und die der Fremde der mit ihnen nicht einmal reden konnte als Individuen kaum voneinander zu unterscheiden vermochte Sie sehen fuumlr ihn alle gleich aus Das ist die Masse schlechthin der Endzustand des Zerfalls bdquoDann geschieht es daszlig die Menschen hellip sich nicht mehr regieren koumlnnen und danach verlangen in den unbedeutensten Handlungen gefuumlhrt zu werden hellip Mit dem endguumlltigen Verlust des fruumlheren Ideals verliert die Rasse zuletzt auch ihre Seeie sie ist dann nur noch eine Menge alleinstehender Einzelnerldquo (S 53)Zunaumlchst fanden diese Beobachtungen ihren Niederschlag in mehre- ren Buumlchern bdquoDie Kulturen Indiensldquo (887) bdquoDie fruumlhen Kulturen des Orients (889) und bdquoDie Kunstdenkmaumller Indiensldquo (89) Ihnen folgten dann aber in schnellem Tempo die Schriften in denen Le Bon mit dem Einsatz allrsquo seiner Uumlberredungskunst den europauml- ischen Nationen und in erster Linie Frankreich das indische Schick- sal ersparen wollte das sich mit der im Fin de siegravecle mancherorts liebend gepflegten Dekadenz bereits anzudeuten schien bdquoDie psy- chologischen Grundgesetze der Voumllkerentwicklungldquo (894) bdquoDie Psychologie der Massenldquo (895) bdquoDie Psychologie des Sozialismusldquo (898) bdquoDie Psychologie der Erziehungldquo (902) bdquoDie politische Psycholgieldquo (902) sowie bdquoDie franzoumlsische Revolution und die Psy- chologie der Revolutionenldquo (903)Nach naturphilosophischen Abhandlungen (bdquoDie Evolution der Materieldquo 905 und bdquoDie Evolution der Kraumlfteldquo 907) wandte sich

bdquoDie Welt des alten Indienldquo uumlbers von H Leonhardt Verlag Herbig Muumlnchen 974

EINFUumlHRUNG XXIII

Le Bon der inzwischen die Leitung der Bibliothegraveque de Philosophiescientifique uumlbernommen hatte waumlhrend des Weltkrieges und nach diesem noch einmal der Politik zu bdquoDie psychologischen Lehren des europaumlischen Kriegesldquo (96) bdquoDie Psychologie der neuen Zeitldquo (920) bdquoDie Welt aus dem Gleichgewichtldquo (923) und bdquoDie gegen- waumlrtige Entwicklung der Weltldquo (927)Die Hektik seines Publizierens hat etwas Unheimliches an sich den Schluumlssel zum Verstaumlndnis enthaumllt eine Bemerkung in der bdquoPsycholo- gie des foulesldquo bdquoDie Massen sind so etwas wie die Sphinx der antiken Sage man muszlig die Fragen die ihre Psychologie uns stellt loumlsen oder darauf gefaszligt sein von ihnen verschlungen zu werdenldquo (S 7)Die Symbolisten haben mit dem Maler Gustave Moreau (826ndash894) an der Spitze bdquodie sinnbildliche Gottheit unzerstoumlrbarer Wollust die Goumlttin der unsterblichen Hysterieldquo (Huysmans 884)

bdquodas unbewuszligte Geschoumlpf ldquo (Moreau) ndash die Sphinx oder auch Salome ndash immer wieder als die groszlige faszinierende Gefahr darge- stellt an der in der dekadenten Hingabe der maumlnnliche Kulturwille scheitern muszlig In Peacuteladans Romanen verfaumlllt von den zur Rettung der Kultur erkorenen Helden einer nach dem anderen diesem Schicksal und in den nachgelassenen Notizen aus Baudelaires letz- tem Lebensjahr (867) wird ganz unumwunden festgestellt bdquoDie Frau ist das Gegenteil des Dandy also muszlig sie Grauen erregenldquo In den romanischen Sprachen ist auch der Tod ndash la mort ndash ein Femi- ninum vielleicht die Ruumlckkehr in den Mutterschoszlig der Erde Le Bon kannte das Grauen aus Indien wo er ndash wie es scheint ndash das Thema seiner Erstlingsschrift den Scheintod uumlberhaupt nicht mehr in Erwaumlgung gezogen hatte Jetzt ndash Freud auch darin verwandt ndash sah er sich zur Uumlbernahme der Oumldipus-Rolle verpflichtet

III Gruppen ndash nicht Massen

Von den Vielen den bdquoPolloildquo deren bloszlige Anzahl fuumlr Stefan George bereits bdquoFrevelldquo ist sprach Platon meist im Ton gnadenloser Gering- schaumltzung Daszlig bdquodie Meisten schlecht sindldquo das Maszlig aber das Beste weiszlig man aus den Merkspruumlchen welche die Sieben Weisen dem abendlaumlndischen Denken mit auf den Weg gegeben haben Diese Thesen stammen wann und wo immer sie auftreten aus dem Kampf um die Demokratie bzw gegen ein allgemeines Wahlrecht Beson-

XXIV EINFUumlHRUNG

ders gern wird mit ihnen auf das Scherbengericht (Ostrakismos)hingewiesen durch das Kleisthenes in Athen seine Reformen (509 507 v Chr) gegen das Wiedererstarken der Adelspartei absichern wollte Es bedurfte dabei bloszlig eines Quorums von 6 000 Buumlrgern um eine missliebige Persoumlnlichkeit binnen zehn Tagen zum Verlassen des Landes zu zwingen ohne daszlig es erforderlich gewesen waumlre ihr irgendwelche Vergehen nachzuweisenDas System bleibt unheimlich auch wenn bdquosoviel man weiszlig hellip der Ostrakismos in Athen erfolgreich nur etwa zehnmal zur Anwendung (kam) ehe man ihn aufgabldquo (Tarkiainen 972) Hier ist deutlich die

bdquoNivellierungldquo am Werk vor der Le Bon warnte Umso erstaunli- cher ist daszlig Aristoteles in seiner bdquoPolitikldquo (284 b) einen sehr milden Vergleich waumlhlte bdquoAuch der Chormeister wird doch den nicht im Chor mitsingen lassen dessen Stimme an Kraft und Schoumln- heit die des ganzen Chores uumlbertrifftldquo Er zog daraus den Schluszlig

bdquodie Idee des Scherbengerichts (habe) bei anerkannten Uumlberlegenhei- ten ein gewisses Recht vom Standpunkt des Staates aus Besser (sei) es freilich wenn der Gesetzgeber von vornherein die ganze Verfas- sung so einrichtet daszlig es eines solchen Heilmittels nicht bedarfldquo Die Nivellierung als bdquoHeilmittelldquo ndash bdquoiatreialdquo heiszligt es im Griechi- schen ndash auch Aristoteles war Arzt (iatros)Man kann sich wenn man Le Bonrsquos Ansichten teilt zwar auf viele Vorlaumlufer berufen ndash insbesondere auf Platon ndash nicht aber auf Aristoteles der nicht nur in der bdquoPolitikldquo sondern auch in der bdquoMetaphysikldquo fuumlr Mitbestimmungsverfahren plaumldierte bdquoObwohl kein einzelner (die Wahrheit) angemessen zu erreichen vermag koumln- nen wir doch nicht alle dabei versagen jeder stellt eine Behauptung auf uumlber die Natur und als einzelner traumlgt er nichts oder nur wenig zur Erkenntnis bei aber aus der Vereinigung aller resultiert etwas Groszliges an Wissenldquo (993 b) bdquoDaher beurteilen ja auch die Vielen die Werke von Musikern und Dichtern am besten naumlmlich der eine diese der andere jene Seite an denselben aile zusammen aber das Ganzeldquo (28 b)Die Diskussion entbrennt immer wieder Niccolograve Macchiavelli (467ndash527) der in Florenz nach dem Sturz der Medici (494) als Republikaner ziemlich bald (489) zu hohen Staatsaumlmtern aufgestie- gen ist die er 52 nach der Ruumlckkehr der Medici auch prompt wieder verliert kennt zwar auch den Spruch bdquoWer dem Volk ver- traut hat auf Sand gebautldquo (Chi fonda in sul populo fonda in sul fango) aber er haumllt ihn fuumlr ein bdquoabgedroschenes Sprichwortldquo (pro-

EINFUumlHRUNG XXV

verbio trito) das nur unter bestimmten Voraussetzungen gilt (IlPrincipe 53 cap IX) Grundsaumltzlich aber meint er bdquodaszlig ein Volk kluumlger und bestaumlndiger und von richtigerem Urteil ist als ein Fuumlrst Nicht ohne Grund sagt man daher Volkes Stimme Gottes Stimme Die oumlffentliche Meinung prophezeit so wunderbar richtig als saumlhe sie vermoumlge einer verborgenen Kraft ihr Wohl und Wehe vorausldquo (Discorsi 53ndash59 I cap 58) Ein wenig wie pro domo gespro- chen klingt der Zusatz bdquoMan sieht auch daszlig das Volk bei der Besetzung der Aumlmter eine viel bessere Wahl trifft als ein Fuumlrstldquo ndash aber im Grunde war das ja auch die aristotelische Lehrmeinung Die nicht weniger plausible Gegenthese findet sich bei Descartes im

bdquoDiscours de la Meacutethodeldquo (II 4) bdquoStimmenmehrheit ist kein Beweis angesichts von schwer zu entdeckenden Wahrheiten denn es ist weit wahrscheinlicher (plus vraisemblable) daszlig ein Mensch allein sie fin- det als ein ganzes Volkldquo Obwohl sich diese Uumlberlegung durch eine einfache Rechnung bestaumltigen laumlszligt fuumlhrt sie auf einen Irrweg Geht man naumlmlich davon aus daszlig jedes Einzelindividuum eine von seiner Begabung Bildung und Motivation abhaumlngige Wahrscheinlichkeit p

fuumlr die Loumlsung eines bestimmten Problems besitzt dann liegt deren Wert zwischen Null und Eins 000 le pi le 00 Die Findewahr- scheinlichkeit einer groszligen Anzahl von n Personen (pn) entspraumlche aber dem Produkt aller Einzelwerte das zweifellos sehr viel kleiner als der einzelne pi-Wert ist pn = pi ∙ pi2 hellip pin lt pi

Zur Veranschaulichung diene eine Untersuchung von P R Laughlin und seinen Mitarbeitern (975) in der amerikanischen College-Stu- denten zuerst einzeln die 5 Aufgaben eines recht schwierigen Tests der verbalen Intelligenz bearbeiteten Die durchschnittliche Loumlsungs- wahrscheinlichkeit belief sich fuumlr Einzelpersonen auf pi = 042 waumlhrend sie fuumlr Dreiergruppen auf p3 = 058 anstieg die Gruppen waren somit im Schnitt erfolgreicher als die Einzelnen Die Empirie spricht fuumlr Aristoteles und Macchiavelli aber gegen Descartes und Le Bon obwohl rechnerisch Descartes natuumlrlich Recht behaumllt das Pro- dukt von 042 ∙ 042 ∙ 042 = 007 ist sehr viel kleiner als die Trefferwahrscheinlichkeit einer EinzelpersonSofern es sich um eine Gruppe handelt ist es freilich auch gar nicht erforderlich daszlig jedes ihrer Mitglieder alle Teilaufgaben loumlst man kann sich die Arbeit ganz im Sinne des Aristoteles so teilen daszlig bdquoder eine diese der andere jene Seite (beurteilt) alle zusammen aber das Ganzeldquo Versagen wuumlrde daher ein Team nur wenn keines seiner Mitglieder einen Treffer erzielt Die Wahrscheinlichkeit dafuumlr belaumluft

EINFUumlHRUNGXXVI

sich auf das Produkt der drei individuellen Nicht-Finde-Wahrschein-lichkeiten von qi = ndash pi = 058 somit auf 058 ∙ 058 ∙ 058 = 020 Gegenuumlber dieser kollektiven Nicht-Finde-Wahrscheinlichkeit hat daher die Dreiergruppe eine kollektive Finde-Wahrscheinlichkeit von p3 = ndash qi

3 = 080Im Experiment sind die Erfolge der Gruppen hinter diesem Wert mit p3 = 058 erheblich zuruumlckgeblieben obwohl sie ndash wie gesagt ndash houmlher lagen als die einzelnen Finde-Wahrscheinlichkeiten von im Schnitt 042 Das ist wenn man den hier vorgestellten Ansatz empi- risch uumlberpruumlft fast immer der Fall denn dieser beschreibt ein Optimum fuumlr dessen Erreichung eine Reihe von noch zu eroumlrtern- den Voraussetzungen besteht Zunaumlchst aber ist festzuhalten daszlig Experimentalgruppen in der Regel bei intellektuellen Suchaufgaben besser abschneiden als die durchschnittliche Einzelperson das schlieszligt jedoch keineswegs die Moumlglichkeit aus daszlig diese oder jene Einzelperson auch die optimale Gruppenleistung weit uumlberbieten kannDas Modell der kollektiven Optimalleistung das in den Fuumlnfziger- jahren von mehreren Autoren fast gleichzeitig formuliert wurde (P R Hofstaumltter 97) laumlszligt sich zu dem Ausdruck verallgemeinern daszlig die Wahrscheinlichkeit des Sucherfolges einer aus n Personen bestehenden Gruppe dem Komplimentaumlrwert der n-ten Potenz der durchschnittlichen Nicht-Finde-Wahrscheinlichkeit (qi) entsprichtpn = ndash qi

n Bedenkt man allerdings wie stark pn mit zunehmender Gruppengroumlszlige (n) selbst bei geringen Ausgangswerten ansteigt ver- liert das Modell einiges an Glaubwuumlrdigkeit Bei einer an sich gerin- gen individuellen Findewahrscheinlichkeit von pi = 00 braumlchten es n = 30 Personen bereits auf eine kollektive Findewahrscheinlichkeit von p30 = 096 der Erfolg waumlre ihnen damit nahezu sicher Im Extrem uumlbersteigert wuumlrde die Maxime daher lauten Man nehme eine genuumlgend groszlige Anzahl von Dummkoumlpfen dann laumlszligt sich jedes Problem nahezu mit Sicherheit loumlsen Das aber ist natuumlrlich barer UnsinnLe Bon haumltte zweifellos seinen Spaszlig gehabt an dieser Utopie demo- kratischer Wunschtraumlume obwohl er von seinen Schaumldelmessungen her durchaus Sinn fuumlr mathematisch-statistische Uumlberlegungen hatte Ernsthaft erwaumlgenswert wird unser Ansatz erst durch die Beruumlck- sichtigung der ihm innewohnenden vier Bedingungen die ndash sieht man genauer zu ndash eine nach der anderen Eigenschaften von Massen ausschlieszligen Was zunaumlchst die bdquoDummkoumlpfeldquo anlangt ist festzu-

EINFUumlHRUNG XXVII

stellen daszlig Personen mit einer absoluten Nicht-Finde-Wahrschein-lichkeit von qi = 00 nichts zur Verringerung des Produkts der q- Werte beitragen Ihre Beteiligung an der gemeinsamen Suchleistung wuumlrde daher bloszlig durch einen uumlberhoumlhten Wert von n den Ansatz verfaumllschen Vorausgesetzt wird daher zunaumlchst daszlig alle individuel- len pi-Werte groumlszliger als Null sindAn zweiter Stelle gilt daszlig die einfache Multiplikation von Wahr- scheinlichkeiten nur dann zulaumlssig ist wenn es sich dabei um unab- haumlngige Wahrscheinlichkeiten handelt Ausgeschaltet werden daher nach den Dummkoumlpfen nun auch die bloszligen Nachahmer die in den Suchvorgang keine eigene d h unabhaumlngige Findewahrscheinlich- keit einbringen Das Modell verlangt somit nicht nur einen gewissen Grad von Intelligenz sondern auch die im Charakter begruumlndete Selbstaumlndigkeit die Bereitschaft auf eigene Faust unter Umstaumlnden auch einen Fehler zu riskieren und bisweilen eine nicht unerhebliche Widerstandskraft gegenuumlber Einfluumlssen aus der Umwelt Bis zu den

bdquoselbstseienden Menschenldquo von Jaspers braucht man diese Forde- rung freilich nicht hinaufzuschraubenAn dritter Stelle wird eine gewisse Gruppenloyalitaumlt in dem Sinn verlangt daszlig der eine der etwas gefunden zu haben glaubt den anderen seinen Befund auch prompt mitteilt Man nennt das die Kommunikations-Bedingung deren Einhaltung bei den Gruppen- mitgliedern eine gemeinsame Sprache ein gemeinsames Ziel und zusaumltzlich die fuumlr Uumlberlegung und Verstaumlndigung erforderliche Zeit voraussetzt In besonderem Maszlige unterliegen dieser Bedingung in unserer Gesellschaft die als bdquoProfessorenldquo bezeichneten Such-Spezia- listen deren Titel sie zwar nicht zu Gestaumlndnissen dafuumlr aber zur Mitteilung ihrer Forschungsergebnisse verpflichtet damit diese in der allgemeinen Diskussion uumlberpruumlft werden koumlnnen Von Kennern der Verhaumlltnisse ist zu erfahren daszlig auch dafuumlr Charaktereigen- schaften erforderlich sind Auch wenn diese vorhanden sind wird es mit zunehmender Personenzahl immer schwieriger und bald sogar unmoumlglich daszlig jeder sich mit jedem austauscht Die Gruppengrouml- szligen die in dem Modell einen so positiven Effekt hat wird auf diese Weise in der Praxis allmaumlhlich zu einem wesentlichen Hindernis fuumlr dessen AnwendungAm schwierigsten ist sowohl zu schildern als auch zu befriedigen die an vierter Stelle in dem Modell enthaltene sog Akzeptierungsbedin- gung die vorsieht daszlig die Gruppe als ganze in der Lage ist jeden echten Fund zu akzeptieren bzw jeden Fehler als solchen abzuleh-

EINFUumlHRUNGXXVIII

nen Akademische Gremien sind ndash wie man aus der Wissenschafts-geschichte weiszlig ndash nicht immer in der Lage gewesen dieser Forde- rung gerecht zu werden da diese ja auf Seiten der Gesamtgruppe so etwas wie Allwissenheit voraussetzt Das waumlre unsinnig Wir muumlssen uns daher ersatzweise mit Regeln und Strategien begnuumlgen wie sie z B fuumlr die Urteilsfindung in Geschworenenprozessen entwickelt wurden bdquoZweier oder dreier Zeugen Mundldquo fordert schon die Bibel (5 Mose 7 6) Wuumlrde man von Geschworenen nur einstimmige Entscheidungen annehmen muumlszligten vergleichsweise viele Verfahren an der Unmoumlglichkeit scheitern ein Urteil zu finden Geringer ist diese Gefahr wenn eine Jury nur mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit (8 von 2 oder 4 von 6 Stimmen) zu entscheiden braucht

Es ist kaum zu vermeiden daszlig sich an dieser Stelle fruumlher oder spaumlter die Frage nach den Qualifikationen erhebt die eine Person besitzen muszlig oder wenigstens sollte um an kollektiven Such- und Entscheidungsprozessen mitwirken zu koumlnnen Die Erinnerung an den bisweilen mit mehr Brutalitaumlt als Sachverstand gefuumlhrten Streit um die Zusammensetzung akademischer Gremien der bei uns noch kaum ein Jahrzehnt zuruumlckliegt zeigt erschreckend deutlich wie leicht eine fuumlr rationale Leistung bestimmte Gruppe zur Masse im Sinn Le Bons degenerieren kann Auf jeden Fall ist man nun wieder in der Politik wo Machtkonstellationen uumlber Mitbestimmungsrechte zu entscheiden pflegenMacchiavelli der sich in den bdquoDiscorsildquo mit dem roumlmischen Histori- ker Livius auseinandersetzte hat dessen These zuruumlckgewiesen es sei bdquodie Natur der Menge daszlig sie entweder sklavisch dient oder uumlbermuumltig herrschtldquo (XXIV 25) Haec natura multitudinis est aut servit humiliter aut superbe dominatur bdquoWas unsere Geschichts- schreiber von der Natur der Menge sagen gilt nicht fuumlr eine durch Gesetze gezuumlgelte Menge wie die roumlmische sondern fuumlr eine zuumlgel- lose wie die syrakusanische welche die Verbrechen rasender und zuumlgelloser Menschen beging hellip Denn ein Volk mit guter Verfas- sung wird bestaumlndig klug und dankbar sein so gut wie ein Fuumlrst ja mehr als ein Fuumlrstldquo (I cap 58)Der hier vorgenommenen Einschraumlnkung auf bdquodurch Gesetze gezuuml- gelte Mengenldquo entsprechen im Teilbereich der intellektuellen Such- leistungen die Voraussetzungen fuumlr das Wahrscheinlichkeitsmodell Da ihnen gerecht zu werden an sich schon schwierig ist und mit zunehmender Gruppengroumlszlige immer schwieriger wird liegt die empirisch ermittelte Erfolgswahrscheinlichkeit von Gruppen wie in

EINFUumlHRUNG XXIX

dem vorhin geschilderten Beispiel fast immer deutlich unter demtheoretischen Optimalwert z B also bei p3 = 058 statt bei 080 Daran knuumlpft sich sofort die empirische Frage nach den situativen Bedingungen welche fuumlr die Erfuumlllung der rationalen Voraussetzun- gen guumlnstig bzw schaumldlich sind Als eher schaumldlich erweist sich wie der amerikanische Psychologe I L Janis (972) gezeigt hat das

bdquoGruppendenkenldquo (groupthink) d h der intellektuelle Gruppen- zwang fuumlr den es eine Reihe von Symptomen gibt ein uumlbersteigertes Selbstvertrauen der Gruppe das emotional bedingte Pochen auf die Gemeinsamkeit des Denkens Fuumlhlens und Urteilens sowie die Angst einzelner Gruppenmitglieder davor sie koumlnnten als illoyal erscheinen Wenn die Dinge in einem Team so liegen ndash und das ist besonders leicht dort der Fall wo an der Spitze eine Persoumlnlichkeit mit hohem Prestige steht ndash versagt die gruppeninterne Kritik an den Plaumlnen leicht es herrscht dann zuviel EintrachtZur Veranschaulichung wird in der Fachliteratur gerne das Kuba- Unternehmen von Praumlsident Kennedy im April 96 herangezogen das mit der Landung in der Schweinebucht klaumlglich scheiterte Es laumlszligt sich zeigen daszlig zum Zeitpunkt der geplanten Invasion zahlrei- che Tatsachen bekannt waren die in ihrer Gesamtheit das Vorhaben als viel zu riskant haumltten erscheinen lassen muumlssen Sie wurden aber von dem Stab zu dem Kennedy das Praumlsidialamt umgestaltet hatte und der unter seinem Vorsitz tagte nicht in ausreichender Weise beachtet Man wollte Entschluszligkraft zeigen nachdem der vorherge- gangenen Eisenhower-Administration deren Zaudern zum Vorwurf gemacht worden war Das Ergebnis war ndash ganz nuumlchtern betrachtet

ndash ein Verstoszlig gegen die Voraussetzungen des Suchmodells die Mitglieder des Stabes verstanden nicht ihre Unabhaumlngigkeit zu wah- ren einzelne verzichteten auf die Kommunikation abweichender Ansichten und insgesamt wurde daher eine falsche Loumlsung akzep- tiertEtwas Aumlhnliches scheint 980 Praumlsident Carter bei dem Versuch passiert zu sein die amerikanischen Geiseln aus Teheran herauszu- holen Es faumlllt auf daszlig in beiden Faumlllen die Amtsinhaber eine Auf- bruchsstimmung erzeugt hatten von der auch die Kabinettsrunde erfaszligt wurde bdquoIn gewissen historischen Augenblicken kann ein hal- bes Dutzend Menschen eine psychologische Masse ausmachenldquo heiszligt es bei Le Bon (S ) nach dessen Meinung bdquosich in der Masse die Menschen stets einander angleichen (weshalb) die Abstimmung von vierzig Akademiemitgliedern uumlber allgemeine Fragen nicht mehr gilt als die von vierzig Wassertraumlgernldquo (S 35)

XXX EINFUumlHRUNG

Eine Gruppe ndash und das trifft auch fuumlr Regierungsmannschaften zundash die nicht zur bdquopsychologischen Masseldquo werden will muszlig daher auf die Erhaltung von Distanz zwischen ihren Mitgliedern achten obwohl sich mit dem Gefuumlhl menschlicher Naumlhe ein Erlebnis der Geborgenheit einzustellen pflegt in dem manche Autoren ndash Elias Canetti z B ndash eine bdquoEntladungldquo von Angst und damit das Haupt- motiv fuumlr den Anschluszlig an eine Masse erblickenDie Staumlrke dieses Gefuumlhls der menschlichen Naumlhe bzw der Aurakti- vitaumlt eines Du haumlngt dabei ndash wie wir aus Experimenten von D Byrne (974) wissen ndash sehr erheblich vom Vorhandensein gemeinsa- mer Ansichten und Uumlberzeugungen abJe bedrohlicher eine Situation erscheint umso staumlrker wird das Beduumlrfnis nach der Naumlhe von Gleichgesinnten (S Schachter 959) bzw das Bestrebenldquo die Last der Freiheit loszuwerdenldquo (bdquoEscape from freedomldquo E Fromm 94) bdquoDie Massen hellip scheinen dazu verurteilt zu sein unaufhoumlrlich von der wildesten Anarchie zum druumlckendsten Despotismus zu taumelnldquo meinte Le Bon (894 S 33) bdquoSie scheinen inbruumlnstig die Freiheit zu lieben in Wirklich- keit weisen sie diese immer von sich und verlangen staumlndig vom Staat ihnen Ketten zu schmiedenldquoDas war nicht mehr als eine Variation uumlber die These des Livius mit der sich Macchiavelli auseinandergesetzt hat bdquoaut servit humiliter aut superbe dominaturldquo ndash wobei in Erinnerung zu bringen ist daszlig

bdquodominorldquo trotz seiner Passivform bdquoich herrscheldquo heiszligt Beide ndash Livius und Le Bon uumlbersehen allerdings die Abhaumlngigkeit ihrer Behauptung von bestimmten Rahmenbedingungen bei deren Fehlen ihre These schlicht falsch wird obwohl es natuumlrlich nicht wenige Beispiele fuumlr ihre Richtigkeit gibt vornehmlich in Epochen der groszligen Arbeitslosigkeit der Kriegsangst und der wirtschaftlichen RezessionWas seine Forschungsstrategie anlangt hat Le Bon einen wichtigen Vorschlag des Francis Bacon aus dem bdquoNovum organum scien- tiarumldquo (620) unberuumlcksichtigt gelassen naumlmlich die Sammlung der negativen Instanzen d h der Faumllle in denen ein Effekt nicht in Erscheinung tritt obwohl er auf Grund der Erfahrung mit aumlhnlichen Faumlllen erwartet wird Bei der Erforschung des Wesens der Waumlrme gehoumlrten fuumlr Bacon in die bdquoTable of Deviationldquo unter anderem z B die Beobachtungen daszlig die Strahlen des Mondes und der Sterne sowie das Licht der Gluumlhwuumlrmchen nicht warm sind Sein systemati- sches Vorgehen fuumlr das die eben angedeutete Trennung von Licht

EINFUumlHRUNG XXXI

und Waumlrme nur ein kleines Beispiel ist wurde immerhin mit derseiner Zeit weit vorauseilenden Erkenntnis belohnt daszlig Waumlrme eine Form der Bewegung kleinster Partikel ist (Nov Org II 20)Haumltte Le Bon die Situationen genauer betrachtet in denen aus meh- reren Menschen keine bdquopsychologische Masseldquo wird waumlre er wahr- scheinlich zum Begruumlnder der Gruppendynamik geworden So aber trifft ihn Bacons Vorwurf der zugleich eine interessante sozial- und denk-psychologische Erkenntnis enthaumllt bdquoWenn der Verstand von Anfang an bejahend (d h unter ausschlieszliglicher Beruumlcksichtigung von positiven Instanzen) vorzugehen versucht ndash und das geschieht immer wenn er sich selber uumlberlassen ist ndash so entspringen daraus phantasievolle Meinungen und Vermutungen ungenuumlgend definierte Begriffe und Grundannahmen die jeden Tag revidiert werden muumls- senldquo (II 5) Um gedanklich mit dem Nichtvorhandensein an sich erwarteter Erscheinung zu operieren bedarf es in der Tat erheblicher Selbstdisziplin Daszlig sie in Massensituationen fehlt macht Massen fuumlr propagandistische Behauptungen und fuumlr Klischeevorstellungen so anfaumlllig

IV Risiko und Verantwortung

Was Le Bon berichtet wirkt uumlber weite Strecken so uumlberaus plausi- bel weil in Gruppen fast immer zahlreiche Prozesse ablaufen die deren Bestand gefaumlhrden indem sie aus ihnen bdquopsychologische Mas- senldquo werden lassen Typisch dafuumlr ist ein Versuchsergebnis das 962

ndash im Jahr nach dem Kuba-Desaster ndash aumluszligerst beunruhigend wirkte ndash so sehr daszlig dem Phaumlnomen mittlerweile mehr als vierhundert Einzeluntersuchungen gewidmet wurdenEs ging in der Diplomarbeit die der bis dahin voumlllig unbekannte Herr Stoner der Management-Hochschule des Massachusetts Insti- tute of Technology vorlegte um den sog bdquoRisiko-Schubldquo der zustande kommt wenn sich eine Gruppe auf die Voraussetzungen einigen soll die erfuumlllt sein muumlssen damit eine bestimmte Entschei- dung getroffen oder empfohlen werden kann Bei den einschlaumlgigen Versuchen werden Situationen geschildert in denen jeweils zwei Alternativen zur Auswahl stehen Ein Ingenieur kann z B bei der groszligen Firma fuumlr die er schon seit mehreren Jahren arbeitet in einer relativ bescheidenen Position bleiben oder er kann in einem neuen Unternehmen eine interessantere und besser bezahlte Stellung uumlber-

XXXII EINFUumlHRUNG

nehmen Wie verlockend das Angebot ist haumlngt u a von der wirt-schaftlichen Soliditaumlt der neuen Firma ab Zu beantworten haben die Versuchspersonen daher ndash zunaumlchst einzeln und dann nach einer Diskussion als Gruppe ndash die Frage wie groszlig die Chancen fuumlr eine gedeihliche Entwicklung der neuen Firma sein muumlszligten damit fuumlr den Ingenieur ein Stellenwechsel in Betracht kaumlme Zur Auswahl stehen fuumlr die Antwort die Proportionen 0 bis 9 0 Wer nur wenig an Sicherheit beansprucht wird vielleicht schon bei einem Chancenverhaumlltnis von 3 0 den Wechsel in Erwaumlgung ziehen er gilt damit als besonders risikobereit waumlhrend ein anderer der lieber auf bdquoNummer Sicherldquo setzt ein Chancenverhaumlltnis von 8 0 verlan- gen koumlnnteDas Ergebnis Nach der Diskussion liegt der Sicherheitsanspruch auf den sich die Mitglieder einigen in der Regel niedriger als der Mittelwert ihrer individuellen Schaumltzungen vor der Diskussion Das heiszligt aber ihre Risikobereitschaft hat zugenommen es ist ein

bdquoRisiko-Schubldquo erfolgtDas ist deshalb so beunruhigend weil wir im allgemeinen damit rechnen daszlig Gruppen ndash Expertengremien oder politische Koumlrper- schaften ndash bedachtsamer urteilen als Einzelpersonen und daszlig sie sich weder von den bdquoFalkenldquo noch von den bdquoTaubenldquo zu einem allzugro- szligen Risiko hinreiszligen lassen Genau das aber trifft nicht zu Die Gruppenentscheidung ist fast immer extremer als die mittlere Indivi- dualentscheidung Man spricht allerdings heute lieber von einem Polarisations-Effekt weil Diskussionen nicht immer zu einem ver- ringerten Sicherheitsanspruch fuumlhren (E Witte 979) Ihr Resultat kann auch in umgekehrter Richtung ein uumlberhoumlhter Sicherheitsan- spruch sein durch den unter Umstaumlnden reale Chancen verpaszligt werden koumlnnen Auch das ndash die Untaumltigkeit angesichts von Moumlg- lichkeiten ndash kann gefaumlhrlich bzw bdquoriskantldquo sein Ein nicht geringer Teil der gegenwaumlrtig in der Bundesrepublik ablaufenden Diskussio- nen hat genau dieses Problem zum Gegenstand das Risiko naumlmlich das ein etwaiger Verzicht auf Kernkraftwerke mit sich bringen koumlnnteGruppen diskutieren um zu einer Entscheidung zu gelangen und um handeln zu koumlnnen In diesem Sinn duumlrfte der Polarisations- Effekt durchaus zweckmaumlszligig sein da er ihnen das sprichwoumlrtliche Schicksal des buridanischen Esels erspart Erreicht wird die erhoumlhte Entscheidungsfaumlhigkeit bisweilen allerdings mit Hilfe einer gefaumlhrli- chen Illusion bei der Erinnerungen an die Massenpsychologie

EINFUumlHRUNG XXXIII

anklingen Gemeint ist die ungemein entlastende Vorstellung eslieszlige sich im Fall eines Misserfolges einer Kollektiventscheidung die Gesamtschuld unter den Beteiligten so aufteilen daszlig auf jeden ein- zelnen im Sinne einer bdquoDiffusion der Verantwortungldquo nur ein gerin- ger Bruchteil kommt Eine solche Vorstellung wirkt enthemmendWas alle in einer bestimmten Situation tun kann man schlieszliglich niemandem vorwerfen Es muszlig so heiszligt es fuumlr ein solches Verhal- ten daher aumluszligere in den Umstaumlnden gelegene Gruumlnde geben nicht aber innere Gruumlnde des eigenen Wesens deren man sich spaumlter einmal vielleicht schaumlmen muumlszligte Das ist der Inhalt der in den letzten Jahren entwickelten Theorie der Kausalitaumlts-Zuschreibung (bdquoAttributionldquo H H Kelley u a 980 W Herkner 980) die zwischen bdquoexternalerldquo und bdquoinfernalerldquo Zuschreibung unterscheidet Verantwortung uumlbernehmen heiszligt das eigene Tun bdquointernalldquo aus der eigenen Persoumlnlichkeit deren Faumlhigkeiten Erfahrungen und Motiven ableiten Massen interpretieren dagegen in der Regel bdquoexter- nalldquo Sie sind in ihrem Selbstbild fast immer unschuldig bzw sogar

bdquoOpferldquo der vorherrschenden Verhaumlltnisse Man frage nur randalie- rende Demonstranten Nicht selten berufen sich Massen wenn etwas schiefgegangen ist auf einen Fuumlhrer der dann schnell zum Suumlndenbock wird bdquoDer Nimbus verschwindet immer im Augen- blick des Miszligerfolges Der Held dem die Masse gestern zujubelte wird morgen von ihr angespien hellipldquo meinte Le Bon (S 00)Die Massen mit ihrem bdquounstillbaren Beduumlrfnis regiert zu werdenldquo (894 S 7) zeigen bdquosich selbst uumlberlassen daszlig sie ihrer Zuumlgellosig- keit uumlberdruumlssig instinktiv der Knechtschaft zusteuernldquo (S 34) Beschrieben wird hier einerseits die bdquoautoritaumlre Persoumlnlichkeitldquo im Sinne T W Adornos (950) andererseits bdquodie einsame Masseldquo David Riesmans (950) deren Angehoumlrige sich der Auszligenlenkung uumlberlassen indem sie ihr Tun an dessen Resonanz ruumlckkoppeln Finden sie in der Umwelt Zustimmung machen sie weiter stoszligen sie auf Ablehnung oder Widerstand drehen sie blitzschnell um In beiden Faumlllen wird das auf Unselbstaumlndigkeit oder auch auf Gehor- sam programmierte Individuum dem innengelenkten Menschen gegenuumlbergestellt der sich in erster Linie seinem persoumlnlichen Gewissen verpflichtet fuumlhlt und der es aushaumllt bisweilen sogar mit sich selbst uneins zu seinDiese Begriffsbildungen zu denen man noch den von der Psycho- analyse entwickelten bdquoanalen Typusldquo (908) hinzunehmen kann weisen samt und sonders auf den von Le Bon und den meisten

XXXIV EINFUumlHRUNG

Autoren des Fin de siegravecle befuumlrchteten Untergang des eigenstaumlndigenIndividuums in der Masse hin Im Sinne Heinrich Manns wird es da zum bloszligen bdquoUntertanldquo (96) In dem Aufsatz bdquoReichstagldquo (9) hat ihn der Dichter vorwegnehmend wie folgt beschrieben bdquodieser widerwaumlrtig interessante Typus des imperialistischen Untertanen des Chauvinisten ohne Mitverantwortung des in der Masse ver- schwindenden Machthabers des Autoritaumltsglaumlubigen wider besseres WissenldquoBei Le Bon sind es um die gleiche Zeit ndash in den bdquoLehren aus dem europaumlischen Kriegldquo (96) ndash ebenfalls ganz speziell die Deutschen denen er Autoritaumltsglaumlubigkeit vorwirft bdquoZu den allgemeinen Cha- rakterzuumlgen die man fast bei jedem Deutschen heutzutage findet gehoumlrt neben der Unterwuumlrfigkeit gegenuumlber jeder offiziellen Auto- ritaumlt und ihrer Kameraderie ein hochmuumltiges Gefuumlhl der kollektiven Uumlberlegenheitldquo (96 S 7) Das freilich ist eine recht genaue Uumlber- setzung der Massenformel des Livius bdquoaut servit humiliter aut superbe dominaturldquo Jedoch weiszlig Le Bon noch mehr bdquoMan beob- achtet bei den Intellektuellen ebenso wie beim einfachen Volk den Mangel an Erziehung die Brutalitaumlt und das voumlllige Fehlen ritterli- chen Geistesldquo (96 S 72) bdquoDer Theorie nach ist Deutschland zwar christlich aber der friedfertige Jesus der Bibel ist dort zu einer ebenso wilden Gottheit geworden wie der altertuumlmliche Odin der pausenlos von Eroberungen und Massakern traumlumtldquo (96 S 47) Immerhin einen bdquoArchetypus Wotanldquo hat C G Jung bei den Deutschen 935 auch festgestellt er schreibt ihm zu daszlig er bdquoals autonomer Faktor kollektive Wirkungen erzeugt und dadurch ein Bild seiner eigenen Natur entwirft In Ruhezeiten dagegen (sei) einem die Existenz des Archetyps Wotan unbewuszligt wie eine latente Epilepsieldquo Derlei Gehaumlssigkeiten muumlssen ertragen werden Noch heute sehr bitter zu lesen ist aber Le Bons Resuumlmee aus dem ersten Weltkrieg bdquoEin Volk von Gott dazu auserwaumlhlt die Welt zu erobern und zu beherrschen gibt eine solche Mission nicht so leicht auf Deutschland wird darauf nicht verzichten bevor es nicht meh- rere Male (plusieurs fois) besiegt worden istldquo (96 S 353)Der Autor der Massenpsychologie hat selbst Propaganda getrieben

ndash auf deutscher Seite taten das ebenfalls nicht wenige Schriftsteller und Gelehrte ndash Thomas Mann unter ihnen Im Wiener Kriegsarchiv widmeten sich zur gleichen Zeit Stefan Zweig und Alfred Polgar neben anderen einer Taumltigkeit die Hofmannsthal wenig respektvoll als bdquoHeldenfrisierenldquo bezeichnete ndash man bereitete die Kriegsberichte

EINFUumlHRUNG XXXV

fuumlr den Genuszlig des Publikums entsprechend zu Es besteht somitkein Grund sich gegenseitig etwas nachzutragen freilich ist auch dafuumlr keiner ersichtlich daszlig die linke Antibougeoisie der Weimarer Zeit und weit daruumlber hinaus so gerne bereit war die schon im Altertum formulierten Massenattribute ganz speziell den Deutschen so zuzuschreiben als handelte es sich um die Ergebnisse neuester ForschungAn einige ihrer Angehoumlrigen wandte sich 935 der kurz zuvor aus der orthodoxen Schule ausgeschlossene Psychoanalytiker Wilhelm Reich bdquoSie vernachlaumlssigen die hilflose fuumlhrungsbeduumlrftige ja oft autoritaumltssuumlchtige Struktur der Masse Sie sehen nur deren Freiheits- sehnsucht doch diese Sehnsucht darf mit der Faumlhigkeit frei zu sein hellip nicht verwechselt werdenldquo (935 S 7) Den Schluszlig aus solchen und aumlhnlichen Beobachtungen hatte Lenin schon 902 in Muumlnchen gezogen indem er sich vornahm nicht auf die Spontanei- taumlt der Arbeitermassen sondern auf eine Geheimorganisation streng ausgelesener und sorgfaumlltig geschulter bdquoBerufsrevolutionaumlreldquo zu set- zen bdquoWas den Appell an die Masse zur Aktion betrifft so wird das von selbst kommen sobald es eine energische politische Agitation lebendige und aufruumlttelnde Enthuumlllungen geben wirdldquo denn bdquodas politische Klassenbewuszligtsein kann dem Arbeiter nur von auszligen gebracht werdenldquo heiszligt es in bdquoWas tunldquo (S 08 u 7)Der Zeitgeist der vor Grotesken nicht zuruumlckschreckt will es daszlig genau im gleichen Jahr und ebenfalls in Muumlnchen Stefan George

bdquoDie Aufnahme in den Ordenldquo als Weihespiel entwarf der Juumlngling antwortet darin dem Groszligmeister bdquoDer von den dunklen maumlchten fast verwirrte hellip Dankt dem geboumlte das genesung bringt hellip Zu welchem joch ihr seinen nacken zwingt hellip Um eure ruhe bittet der verirrteldquoIm gleichen Jahr 902 lieszlig in Paris der Neo-Rosenkreuzer Peacuteladan unter dem Titel bdquoPereatldquo den 5 Band der bdquoDeacutecadence Latineldquo erscheinen waumlhrend Le Bon seine bdquoPolitische Psychologieldquo veroumlf- fentlichteKein Zweifel die Diktatoren kannten ob sie nun auf einen nationa- len oder auf einen internationalen Sozialismus zusteuerten den Autor nur zu gut der 894 gemeint hatte bdquoder Sozialismus wird uumlbrigens ein viel zu druumlckendes Regime sein als daszlig er von Dauer sein koumlnnteldquo (894 S 38) Man muszlig hinzusetzen Sie die Diktato- ren hatte Le Bon sich als Leser uumlberhaupt nicht gewuumlnscht

XXXVI EINFUumlHRUNG

LITERATUR

ADORNO T W u a The authoritarian personality New York 950 (dt Studien zum autoritaumlren Charakter Frankfurt 973)BAUDELAIRE CH Der Dandy (863) in Ausgewaumlhlte Werke hgb v Franz Blei Muumlnchen o JBROCH H Massenwahntheorie hgb v P M Luumltzeler Frankfurt 979BYRNE D An introduction to personality Englewood Cliffs 974CANETTI E Masse und Macht Duumlsseldorf 978 2DE MAN H Vermassung und Kulturverfall Bern 950FREUD S Jenseits des Lustprinzips (920) Ges W XIIIFREUD S Massenpsychologie und Ichanalyse (92) Ges W XIIIFREUD S Warum Krieg (932) Ges W XVIFROMM E Escape from freedom New York 94 (dt Die Furcht vor der Freiheit Zuumlrich 945)GOULD S J The mismeasure of man New York 98HAGEMANN W Der Mythos der Masse Beitr z Publizistik Bd 4 Heidel- berg 95HERKNER W (Hgb) Attribution Psychologie der Kausalitaumlt Bern 980HOFSTAumlTTER P R Gruppendynamik Kritik der Massenpsychologie Rein- bek 97 2HOFSTAumlTTER P R Einfuumlhrung in die Sozialpsychologie Stuttgart 973 5 Kroumlner TA Nr 295HOFSTAumlTTER P R Individuum und Gesellschaft Berlin 973JANIS I L Victims of group think Boston 972JASPERS K Die geistige Situation der Zeit Berlin 93JASPERS K Vom Ursprung und Ziel der Geschichte Frankfurt 955 2JUNG C G Wotan Neue Schweiz Rundschau 3 93536KELLEY H H u a Attribution theory and research in Ann Rev Psy- chol 3 980KRONER B Massenpsychologie und kollektives Verhalten in C F Grau- mann (Hgb) Sozialpsychologie Handbuch d Psychol Bd 7 Goumlttin- gen 972LAUGHLIN P R u a Group size member activity and social decision schemes on a intellective task in J personality and social Psychol 3 975LENIN W Was tun (902) Berlin (Ost) 97MACCHIAVELLI N Discorsi sopra la prima Deca di Tito Livio uumlbers v F v Oppeln-Bronikowski Koumlln 965MACCHIAVELLI N Der Fuumlrst uumlbers von R Zorn Stuttgart 955 Kroumlner TA Nr 235MAC DOUGALL The group mind Cambridge 920MILGRAM S u TOCH H Collective behavior crowds and social move- ments in Handbook of social Psychol vol 4 Reading 969MOEDE W Experimentelle Massenpsychologie Leipzig 920

ORTEGA Y GASSET J Der Aufstand der Massen (930) Stuttgart 957PICARD E Gustave Le Bon et son œuvre Paris 909PRAZ M Liebe Tod und Teufel die schwarze Romantik (948) Muumlnchen 98REICH W Masse und Staat (935) enthalten in Massenpsychologie des Faschismus Koumlln 97 2REIWALD P Vom Geist der Massen Zuumlrich 948 3RIESMAN D u a The lonely crowd New Haven 950 (dt Die einsame Masse Reinbek 958)SCHACHTER S The psychology of affiliation Stanford 959SCHICKEDANZ H J (Hgb) Der Dandy Texte und Bilder aus dem 9 Jahrhundert Dortmund 980SCHONAUER F Stefan George Reinbek 960SHAW M E Groupdynamics the psychology of small group behavior New York 976 2SMELSER N J Theorie des kollektiven Verhaltens Koumlln 972SPENGLER O Der Untergang des Abendlandes Muumlnchen 9822SUCHANEK-FROumlHLICH S Kulturgeschichte Frankreichs Stuttgart 968 Kroumlner TA Nr 358TARKIAINEN T Die athenische Demokratie Muumlnchen 972WITTE E H Das Verhalten in Gruppensituationen Goumlttingen 979

LITERATURXXXVIII

VORWORT ZUR ERSTEN AUFLAGE

Meine fruumlhere Arbeit war der Darstellung der Rassenseele gewid- met Hier wollen wir die Massenseele untersuchenDer Inbegriff der gemeinsamen Merkmale die allen Angehoumlrigen einer Rasse durch Vererbung zuteil wurden macht die Seele dieser Rasse aus Wenn sich jedoch eine gewisse Anzahl solcher einzelnen massenweise zur Tat vereinigt so zeigt sich daszlig sich aus dieser Vereinigung bestimmte neue psychologische Eigentuumlmlichkeiten ergeben die zu den Rassenmerkmalen hinzukommen und sich zuweilen erheblich von ihnen unterscheidenDie organisierten Massen haben zu allen Zeiten eine wichtige Rolle im Voumllkerleben gespielt niemals aber in solchem Maszlige wie heute Die unbewuszligte Wirksamkeit der Massen die an die Stelle der bewuszligten Tatkraft der einzelnen tritt bildet ein wesentliches Kenn- zeichen der Gegenwart Ich habe versucht das schwierige Problem der Massen in streng wissenschaftlicher Weise zu behandeln also methodisch und unbekuumlmmert um Meinungen Theorien und Dok- trinen Nur so glaube ich kommt man zur Erkenntnis der Wahr- heit besonders wenn es sich wie hier um eine Frage handelt die die Geister lebhaft erregt Der Forscher der sich um die Erklaumlrung einer Erscheinung bemuumlht hat sich um die Interessen die durch seine Untersuchung beruumlhrt werden koumlnnen nicht zu kuumlmmern Ein ausgezeichneter Denker Goblet drsquoAlviella hat in einer seiner Schrif- ten gesagt ich gehoumlre keiner zeitgenoumlssischen Kritik an und traumlte zuweilen in Gegensatz zu gewissen Folgerungen aller Schulen Hof- fentlich verdient die vorliegende Arbeit das gleiche Urteil Zu einer Schule gehoumlren heiszligt deren Vorurteile und Standpunkte teilen muumlssenIch muszlig jedoch dem Leser erklaumlren warum ich aus meinen Studien Schluumlsse ziehe welche von denen abweichen die sich auf den ersten Blick daraus ergeben z B wenn ich den auszligerordentlichen geisti- gen Tiefstand der Massen feststelle und doch behaupte es sei unge-

Psychologische Gesetze der Voumllkerentwicklung

XXXIX

achtet dieses Tiefstandes gefaumlhrlich die Organisation der MassenanzutastenSorgfaumlltige Beobachtung der geschichtlichen Tatsachen hat mir naumlm- lich stets gezeigt daszlig es ganz und gar nicht in unserer Macht steht die sozialen Organismen die ebenso kompliziert sind wie andere Organisationen jaumlh tiefgehenden Umwandlungen zu unterwerfen Zuweilen ist die Natur radikal doch nicht so wie wir es verstehen daher gibt es nichts Traurigeres fuumlr ein Volk als die Leidenschaft der groszligen Umgestaltungen so vortreff lich sie theoretisch scheinen moumlgen Nuumltzlich waumlren sie nur dann wenn es moumlglich waumlre die Seelen der Voumllker ploumltzlich zu aumlndern Die Zeit allein hat diese Macht Die Menschen werden von Ideen Gefuumlhlen und Gewohn- heiten geleitet von Eigenschaften die in ihnen selbst stecken Ein- richtungen und Gesetze sind Offenbarungen unserer Seele der Aus- druck ihrer Beduumlrfnisse Da die Einrichtungen und Gesetze von der Seele ausgehen wird sie von ihnen nicht beeinfluszligtDas Studium der sozialen Erscheinungen laumlszligt sich nicht von dem der Voumllker trennen bei denen sie sich gebildet haben Philosophisch betrachtet koumlnnen diese Erscheinungen unbedingten Wert haben praktisch aber sind sie nur von bedingtem WertMan muszlig also beim Studium einer sozialen Erscheinung dieselbe Sache nacheinander von zwei ganz verschiedenen Gesichtspunkten aus betrachten Wir sehen demnach daszlig die Lehren der reinen Vernunft sehr oft denen der praktischen entgegengesetzt sind Es gibt keine Tatsachen auch nicht auf physischem Gebiet auf die sich diese Unterscheidung nicht anwenden lieszlige Vom Gesichtspunkt der unbedingten Wahrheit aus sind ein Wuumlrfel ein Kreis unveraumlnderli- che geometrische Figuren die mittels feststehender Formeln genau zu bestimmen sind Fuumlr den Gesichtssinn koumlnnen diese geometri- schen Figuren sehr mannigfache Formen annehmen In der Wirk- lichkeit kann die Perspektive den Wuumlrfel in eine Pyramide oder in ein Quadrat den Kreis in eine Ellipse oder Gerade verwandeln Und diese angenommenen Formen sind von viel groumlszligerer Bedeutung als die wirklichen denn sie sind die einzigen die wir sehen und die sich photographisch oder zeichnerisch wiedergeben lassen Das Unwirk- liche ist in gewissen Faumlllen wahrer als das Wirkliche Es hieszlige die Natur umformen und unkenntlich machen wollte man sich die Dinge in ihren streng geometrischen Formen vorstellen In einer Welt deren Bewohner die Dinge nur abbilden oder photographieren koumlnnten jedoch nicht beruumlhren wuumlrde man nur sehr schwer zu

VORWORT ZUR ERSTEN AUFLAGEXL

einer genauen Vorstellung ihrer Form gelangen und die Kenntnisdieser Form die nur einer geringen Zahl von Gelehrten zugaumlnglich waumlre wuumlrde nur schwaches Interesse weckenDer Philosoph der die sozialen Erscheinungen studiert muszlig sich vor Augen halten daszlig sie neben ihrem theoretischen auch prakti- schen Wert haben und daszlig dieser vom Gesichtspunkt der Kulturent- wicklung der einzig bedeutsame ist Das muszlig ihn sehr vorsichtig machen gegen die Folgerungen welche die Logik ihm zunaumlchst einzugeben scheint Auch andere Gruumlnde veranlassen ihn zur Zuruumlckhaltung Die sozialen Tatsachen sind so verwickelt daszlig man sie in ihrer Gesamtheit nicht umfassen und die Wirkungen ihrer wechselseitigen Beeinflussung nicht voraussagen kann Auch schei- nen sich hinter den sichtbaren Tatsachen oft Tausende von unsicht- baren Ursachen zu verbergen Die sichtbaren sozialen Tatsachen scheinen die Folgen einer riesigen unbewuszligten Wirkungskraft zu sein die nur zu oft unserer Untersuchung unzugaumlnglich ist Die wahrnehmbaren Erscheinungen lassen sich den Wogen vergleichen welche der Oberflaumlche des Ozeans die unterirdischen Erschuumltterun- gen mitteilen die in seinen Tiefen vorgehen und die wir nicht kennen In den meisten Faumlllen zeigt die Handlungsweise der Massen eine auszligerordentlich niedrige Geistigkeit aber in anderen Handlun- gen scheinen sie von jenen geheimnisvollen Kraumlften gelenkt zu wer- den welche die Alten Schicksal Natur Vorsehung nannten die wir als die Stimmen der Toten bezeichnen und deren Macht wir nicht verkennen koumlnnen so unbekannt uns auch ihr Wesen ist Oft scheint es als ob die Voumllker in ihrem Schoszlig verborgene Kraumlfte tragen von denen sie gefuumlhrt werden Kann etwas verwickelter logischer wunderbarer sein als eine Sprache Und entspringt nicht dies wohlgeordnete und feine Gebilde der unbewuszligten Massenseele Die gelehrtesten Hochschulen verzeichnen nur die Regeln dieser Sprachen waumlren aber nicht imstande sie zu schaffen Wissen wir sicher ob die genialen Ideen der groszligen Maumlnner ausschlieszliglich ihr eigenes Werk sind Zweifellos sind sie stets Schoumlpfungen einzelner Geister aber die unzaumlhligen Koumlrnchen die den Boden fuumlr den Keim dieser Ideen bilden hat die Massenseele sie nicht erzeugtGewiszlig uumlben die Massen ihre Wirkungskraft stets unbewuszligt aus Aber vielleicht ist gerade dies Unbewuszligte das Geheimnis ihrer Kraft In der Natur gibt es Wesen die nur aus Instinkt handeln und Taten vollbringen deren wunderbare Mannigfaltigkeit wir anstaunen Der Gebrauch der Vernunft ist fuumlr die Menschheit nochraquo zu neu und zu

VORWORT ZUR ERSTEN AUFLAGE XLI

unvollkommen um die Gesetze des Unbewuszligten enthuumlllen zu koumln-nen und besonders um es zu ersetzen Der Anteil des Unbewuszligten an unseren Handlungen ist ungeheuer und der Anteil der Vernunft sehr klein Das Unbewuszligte ist eine Wirkungskraft die wir noch nicht erkennen koumlnnen Wollen wir uns also in den engen aber sicheren Grenzen der wissenschaftlich erkennbaren Dinge halten und nicht auf dem Felde unbestimmter Vermutungen und nichtiger Vor- aussetzungen umherirren so duumlrfen wir nur die Erscheinungen fest- stellen die uns zugaumlnglich sind und muumlssen uns damit begnuumlgen Jede Folgerung die wir aus unseren Beobachtungen ziehen ist mei- stens voreilig denn hinter den wahrgenommenen Erscheinungen gibt es solche die wir undeutlich sehen und hinter diesen wahr- scheinlich noch andere die wir uumlberhaupt nicht erkennen

Le Bon

XLII VORWORT ZUR ERSTEN AUFLAGE

EINLEITUNG

DAS ZEITALTER DER MASSEN

Die groszligen Erschuumltterungen welche den Kulturwenden vorangehen scheinen auf den ersten Blick durch bedeut- same politische Veraumlnderungen bestimme zu sein durch Voumllkerinvasion oder durch den Sturz von Herrscherhaumlu- sern Eine aufmerksame Untersuchung dieser Ereignisse enthuumlllt jedoch hinter ihren scheinbaren Ursachen als wahre Ursache eine tiefgehende Veraumlnderung in den Anschauun- gen der Voumllker Das sind nicht die wahren historischen Erschuumltterungen die uns durch ihre Groumlszlige und Heftigkeit verwundern Die einzigen Veraumlnderungen von Bedeutung

ndash die einzigen aus welchen die Erneuerung der Kulturen hervorgeht ndash vollziehen sich innerhalb der Anschauungen der Begriffe und des Glaubens Die bemerkenswerten Er- eignisse der Geschichte sind die sichtbaren Wirkungen der unsichtbaren Veraumlnderungen des menschlichen Denkens Wenn diese groszligen Ereignisse so selten sind so hat das seinen Grund darin daszlig es nichts Bestaumlndigeres in einer Rasse gibt als das Erbgut ihrer GefuumlhleDas gegenwaumlrtige Zeitalter bildet einen jener kritischen Zeitpunkte in denen das menschliche Denken im Begriff ist sich zu wandelnDa die Ideen der Vergangenheit obwohl halb zerstoumlrt noch sehr maumlchtig und die Ideen die sie ersetzen sollen erst in der Bildung begriffen sind so ist die Gegenwart eine Periode des Uumlberganges und der AnarchieWas aus diesem notwendig etwas chaotischen Zeitraum einmal hervorgehen wird ist im Augenblick nicht leicht zu sagen Auf welchem Grundgedanken wird sich die kuumlnf-

tige Gesellschaft aufbauen Wir wissen es noch nicht Schon jetzt aber kann man voraussehen daszlig sie bei ihrer Or- ganisation mit einer neuen Macht der juumlngsten Herrscherin der Gegenwart zu rechnen haben wird mit der Macht der Massen Auf den Ruinen so vieler einst fuumlr wahr gehal- tener und jetzt toter Ideen so vieler Maumlchte die durch Revolutionen nach und nach gebrochen worden sind hat diese Macht allein sich erhoben und scheint bald die aumln- dern aufsaugen zu wollen Waumlhrend alle unsre alten An- schauungen schwanken und verschwinden und die alten Gesellschaftsstuumltzen eine nach der andern einstuumlrzen ist die Macht der Massen die einzige Kraft die durch nichts be- droht wird und deren Ansehen immer mehr waumlchst Das Zeitalter in das wir eintreten wird in Wahrheit das Z eit a lter der Ma ssen seinVor kaum einem Jahrhundert bestanden die Haupttrieb- kraumlfte der Ereignisse in der uumlberlieferten Politik der Staaten und dem Wettstreit der Fuumlrsten Die Meinung der Massen galt in den meisten Faumlllen gar nichts Heute gelten die politischen Uumlberlieferungen die persoumlnlichen Bestre- bungen der Herrscher und deren Wettstreit nur noch wenig Die Stimme des Volkes hat das Uumlbergewicht er- langt Sie schreibt den Koumlnigen ihr Verhalten vor In der Seele der Massen nicht mehr in den Fuumlrstenberatungen bereiten sich die Schicksale der Voumllker vorDer Eintritt der Volksklassen in das politische Leben ihre fortschreitende Umwandlung zu fuumlhrenden Klassen ist eines der hervorstechendsten Kennzeichen unsrer Uumlber- gangszeit Dieser Eintritt wird nicht durch das allgemeine Stimmrecht gekennzeichnet das lange Zeit so wenig ein- fluszligreich und anfangs so leicht zu lenken war Die Geburt der Macht der Masse entstand zuerst durch die Verbrei- tung gewisser Gedankengaumlnge die langsam von den Gei- stern Besitz ergriffen sodann durch die allmaumlhliche Ver- einigung der einzelnen zur Verwirklichung der bisher theo- retischen Anschauungen Die Vereinigung ermoumlglichte es den Massen sich wenn auch nicht sehr richtige so doch

2 DAS ZEITALTER DER MASSEN

wenigstens ganz bestimmte Ideen von ihren Interessen zu bilden und das Bewuszligtsein ihrer Kraft zu erlangen Sie gruumlnden Syndikate denen sich alle Machthaber unterwer- fen Arbeitsboumlrsen die allen Wirtschaftsgesetzen zum Trotz die Bedingungen der Arbeit und des Lohnes zu regeln suchen Sie entsenden in die Parlamente Abgeordnete denen aller Unternehmungsgeist alle Selbstaumlndigkeit fehlt und die oft nur zu Wortfuumlhrern der Ausschuumlsse die sie gewaumlhlt hatten herabgewuumlrdigt wurdenHeute werden die Forderungen der Massen nach und nach immer deutlicher und laufen auf nichts Geringeres hinaus als auf den gaumlnzlichen Umsturz der gegenwaumlrtigen Gesell- schaft um sie jenem primitiven Kommunismus zuzufuumlhren der vor dem Beginn der Kultur der normale Zustand aller menschlichen Gemeinschaft war Begrenzung der Arbeits- zeit Enteignung von Bergwerken Eisenbahnen Fabriken und Boden gleiche Verteilung aller Produkte Abschaffung aller oberen Klassen zugunsten der Volksklassen usw ndash das sind ihre ForderungenJe weniger die Masse vernuumlnftiger Uumlberlegung faumlhig ist um so mehr ist sie zur Tat geneigt Die Organisation hat ihre Kraft ins Ungeheure gesteigert Die Glaubenslehren die wir auftauchen sehen werden bald die Macht der alten Glaubenslehren besitzen d h die tyrannische und herrische Kraft welche sich aller Auseinandersetzung entzieht Das goumlttliche Recht der Massen wird das goumlttliche Recht der Koumlnige ersetzenDie Lieblingsschriftsteller der jetzigen Bourgeoisie die am besten deren etwas beschraumlnkte Ideen ihre kurzsichtigen Anschauungen ihren allgemeingehaltenen Skeptizismus und oft uumlbermaumlszligigen Egoismus schildern geraten vor der neuen Macht die sie heranwachsen sehen voumlllig auszliger Fassung und richten um die Verwirrung der Geister zu bekaumlmpfen einen verzweifelten Appell an die sittlichen Kraumlfte der Kirche die sie einst so gering schaumltzten Sie sprechen vom Bankrott der Wissenschaft und erinnern uns an die Leh- ren der geoffenbarten Wahrheiten Aber diese Neubekehr-

3ENTWICKLUNG DES GEGENWAumlRTIGEN ZEITALTERS

ten vergessen daszlig die Gnade wenn sie sie wirklich be- ruumlhrte doch nicht die gleiche Macht uumlber jene Seelen hat die sich wenig um das Jenseits kuumlmmern Die Massen wol- len heute die Goumltter nicht mehr die ihre ehemaligen Her- ren gestern noch verleugneten und zerstoumlren halfen Die Fluumlsse flieszligen nicht zu ihren Quellen zuruumlckDie Wissenschaft hat mitnichten Bankrott gemacht und hat nichts mit der gegenwaumlrtigen Anarchie der Geister oder mit der neuen Macht zu tun die in ihrem Schoszlige empor- waumlchst Sie hat uns die Wahrheit verheiszligen oder wenig- stens die Erkenntnis der Zusammenhaumlnge die unsrem Ver- stande zugaumlnglich sind sie hat uns niemals den Frieden und das Gluumlck versprochen In uumlberlegener Gleichguumlltigkeit gegen unsre Gefuumlhle houmlrt sie unsre Klagen nicht und nichts ver- mag uns die Taumluschungen wiederzugeben die sie vertriebAllgemeine Symptome die bei allen Nationen erkennbar sind zeigen uns das reiszligende Anwachsen der Macht der Massen Was es auch bringen mag wir werden es ertragen muumlssen Alle Anschuldigungen sind nur nutzloses Gerede Vielleicht bedeutet der Aufstieg der Massen eine der letzten Etappen der Kulturen des Abendlandes die Ruumlckkehr zu jenen Zeiten verworrener Anarchie die stets dem Auf- bluumlhen einer neuen Gesellschaft voranzugehen scheinen Aber wie waumlre er zu verhindernBisher bestand die Aufgabe der Massen offenbar in diesen groszligen Zerstoumlrungen der alten Kulturen Die Geschichte lehrt uns daszlig in dem Augenblick da die moralischen Kraumlfte das Ruumlstzeug einer Gesellschaft ihre Herrschaft verloren haben die letzte Aufloumlsung von jenen unbewuszlig- ten und rohen Massen welche recht gut als Barbaren ge- kennzeichnet werden herbeigefuumlhrt wird Bisher wurden die Kulturen von einer kleinen intellektuellen Aristokratie geschaffen und geleitet niemals von den Massen Die Mas- sen haben nur Kraft zur Zerstoumlrung Ihre Herrschaft bedeutet stets eine Stufe der Aufloumlsung Eine Kultur setzt feste Regeln Zucht den Uumlbergang des Triebhaften zum Vernuumlnftigen die Vorausberechnung der Zukunft uumlber-

DAS ZEITALTER DER MASSEN4

haupt einen hohen Bildungsgrad voraus ndash Bedingungen fuumlr welche die sich selbst uumlberlassenen Massen voumlllig unzu- gaumlnglich sind Vermoumlge ihrer nur zerstoumlrerischen Macht wirken sie gleich jenen Mikroben welche die Aufloumlsung geschwaumlchter Koumlrper oder Leichen beschleunigen Ist das Gebaumlude einer Kultur morsch geworden so fuumlhren die Massen seinen Zusammenbruch herbei Jetzt tritt ihre Hauptaufgabe zutage Ploumltzlich wird die blinde Macht der Masse fuumlr einen Augenblick zur einzigen Philosophie der GeschichteWird es sich mit unsrer Kultur ebenso verhalten Es ist zu befuumlrchten aber wir wissen es noch nichtWir muumlssen uns damit abfinden die Herrschaft der Massen zu ertragen da unvorsichtige Haumlnde allmaumlhlich alle Schran- ken die jene zuruumlckhalten konnten niedergerissen haben Wir kennen diese Massen von denen man jetzt so viel spricht Die Psychologen von Fach die nicht in ihrer Naumlhe leben haben sie stets ignoriert und sich mit ihnen nur in bezug auf die Verbrechen beschaumlftigt zu denen sie faumlhig sind Zweifellos gibt es verbrecherische Massen aber es gibt auch tugendhafte heroische und noch viele anders- artige Massen Die Massenverbrechen bilden lediglich einen Sonderfall ihres Seelenlebens und lassen ihre geistige Be- schaffenheit nicht besser erkennen als die eines Einzel- wesens von dem man nur seine Laster kenntDoch offen gestanden Alle Herren der Erde alle Reli- gions- und Reichsstifter die Apostel aller Glaubensrichtun- gen die hervorragenden Staatsmaumlnner und in einer be- scheideneren Sphaumlre die einfachen Haumlupter kleiner mensch- licher Gemeinschaften waren stets unbewuszligte Psychologen mit einer instinktiven und oft sehr sicheren Kenntnis der Massenseele weil sie diese gut kannten wurden sie so leicht Machthaber Napoleon erfaszligte wunderbar das Seelen- leben der franzoumlsischen Massen aber er verkannte oft voumlllig die Massenseele fremder Rassen Diese Unkenntnis Uumlbrigens verstanden sich seine kluumlgsten Ratgeber nicht besser darauf Tal- leyrand schrieb ihm Spanien wuumlrde seine Soldaten als Befreier empfangen Es empfing sie wie Raubtiere Ein mit den Erbinstinkten der Rasse vertrauter Psychologe haumltte diesen Empfang leicht voraussehen koumlnnen

DIE MASSEN ALS ZERSTOumlRERINNEN DER KULTUR 5

veranlaszligte ihn namentlich in Spanien und Ruszligland Kriege zu fuumlhren die seinen Sturz vorbereiteten

Die Kenntnis der Psychologie der Massen ist heute das letzte Hilfsmittel fuumlr den Staatsmann der diese nicht etwa beherrschen ndash das ist zu schwierig geworden ndash aber wenig- stens nicht allzusehr von ihnen beherrscht werden willDie Massenpsychologie zeigt wie auszligerordentlich wenig Einfluszlig Gesetze und Einrichtungen auf die urspruumlngliche Natur der Massen haben und wie unfaumlhig diese sind Mei- nungen zu haben auszliger jenen die ihnen eingefloumlszligt wur- den Regeln welche auf rein begrifflichem Ermessen be- ruhen vermoumlgen sie nicht zu leiten Nur die Eindruumlcke die man in ihre Seele pflanzt koumlnnen sie verfuumlhren Darf z B ein Gesetzgeber der eine neue Steuer auflegen will die theoretisch gerechteste waumlhlen Keinesfalls Die unge- rechteste kann praktisch fuumlr die Massen die beste sein wenn sie am unauffaumllligsten und leichtesten in Erscheinung tritt Auf diese Weise wird eine noch so hohe indirekte Steuer allezeit von der Masse angenommen werden Wenn sie taumlglich pfennigweise fuumlr Konsumartikel entrichtet wird stoumlrt sie die Gewohnheiten nicht und beeinfluszligt sie wenig Man lege an ihrer Stelle eine proportionale auf einmal zu entrichtende Steuer auf die Loumlhne oder anderen Einkom- men mag sie auch theoretisch zehnmal weniger hart sein als die andre so wird sie heftigen Widerspruch erregen An Stelle der taumlglichen Pfennige die man nicht spuumlrt tritt naumlmlich eine verhaumlltnismaumlszligig hohe Geldsumme die am Zahl- tag riesig groszlig erscheint und sehr nachdruumlcklich empfunden wird Sie waumlre nur dann unbemerkt verbraucht worden wenn sie Pfennig fuumlr Pfennig zur Seite gelegt worden waumlre aber ein so wirtschaftliches Gebaren wuumlrde ein Maszlig von Voraus- sicht beweisen dessen die Massen unfaumlhig sindDies Beispiel enthuumlllt sonnenklar ihre geistige Verfassung Einem Psychologen wie Napoleon ist sie nicht entgangen aber die Gesetzgeber weiche die Massenseele nicht beachten wuumlr- den sie nicht verstehen Die Erfahrung hat ihnen noch nicht

6 DAS ZEITALTER DER MASSEN

genuumlgend bewiesen daszlig die Menschen sich niemals von den Vorschriften der reinen Vernunft leiten lassenSo lieszlige sich die Massenpsychologie noch auf vieles andere anwenden Ihre Kenntnis wirft hellstes Licht auf zahlreiche historische und oumlkonomische Erscheinungen die ohne sie voumlllig unverstaumlndlich bleibenSelbst wenn es lediglich das Interesse unsrer Neugier be- friedigte verdiente das Studium der Massenpsychologie in Angriff genommen zu werden denn es ist ebenso inter- essant die Triebkraumlfte der menschlichen Handlungen zu entraumltseln wie die eines Minerals oder einer PflanzeUnser Studium der Massenseele wird nur einen kurzen Uumlberblick eine bloszlige Zusammenfassung unsrer Unter- suchungen bieten koumlnnen Man darf von ihr nicht mehr als einige anregende Gesichtspunkte verlangen Andere werden das Gebiet besser bearbeiten Heute ist es noch jungfraumlulicher Boden den wir beackern

Die wenigen Autoren die sich mit dem Studium der Psychologie der Massen abgeben haben ihre Untersuchungen nur hinsichtlich der Verbrechen ange- stellt Da ich diesem Stoffgebiet nur ein kurzes Kapitel gewidmet habe so verweise ich den Leser auf die Arbeiten von Tarde und die Schrift von Sighele bdquoDie verbrecherische Masseldquo Die letztere Arbeit enthaumllt keinen ein- zigen neuen Gedanken des Autors gibt aber eine Zusammenstellung von Tat- sachen die der Psychologe verwerten kann uumlbrigens sind meine Schluszlig- folgerungen betreffs der Kriminalitaumlt und Moralitaumlt der Massen denen der beiden Autoren die ich nannte ganz entgegengesetztMan wird in meinen verschiedenen Arbeiten besonders in meiner Schrift bdquoDie Psychologie des Sozialismusldquo einige Ergebnisse aus den Gesetzen finden welche die Massenpsychologie beherrschen Diese Gesetze Sassen sich auszligerdem auf den verschiedensten Gebieten anwenden Der Direktor des Koumlnigl Konservatoriums in Bruumlssel A Gevaert hat von den Gesetzen die ich in einer Abhandlung uumlber Musik darlegte welche er treffend als bdquoMassenkunstldquo bezeichnete eine bemerkenswerte Anwendung gemacht bdquoIhre beiden Schriftenldquo schrieb mir dieser ausgezeichnete Lehrer bei Uumlbersendung seiner Abhandlung bdquohaben mir die Loumlsung eines von mir fruumlher als unloumlslich betrachteten Problems gebracht die erstaunliche Eignung jeder Masse ein neues oder altes ein einheimisches oder fremdes ein einfaches oder zusammengesetztes Tonstuumlck zu empfinden vorausgesetzt daszlig es schoumln gespielt wird und daszlig die Musiker einen begei- sterten Dirigenten habenldquo Herr Gevaert zeigt vortrefflich warum bdquoein Werk welches ausgezeichneten Musikern bei Durchsicht der Partitur in der Einsam- keit ihres Zimmers unverstaumlndlich blieb oft von einem jeder technischen Bil- dung ermangelnden Auditorium ohne weiteres erfaszligt wirdldquo Ebenso ausge- zeichnet erklaumlrt er weshalb diese aumlsthetischen Eindruumlcke keinerlei Spuren hinterlassen

DIE MASSEN UND DER STAATSMANN 7

ERSTES BUCH

DIE MASSENSEELE

1 KAPITEL

Allgemeine Kennzeichen der Massen Das psychologische Gesetz von ihrer seelischen Einheit

Im gewoumlhnlichen Wortsinn bedeutet Masse eine Vereinigung irgendwelcher einzelner von beliebiger Nationalitaumlt belie- bigem Beruf und Geschlecht und beliebigem Anlaszlig der Ver- einigungVom psychologischen Gesichtspunkt bedeutet der Ausdruck bdquoMasseldquo etwas ganz anderes Unter bestimmten Umstaumlnden und nur unter diesen Umstaumlnden besitzt eine Versammlung von Menschen neue von den Eigenschaften der einzelnen die diese Gesellschaft bilden ganz verschiedene Eigentuumlm- lichkeiten Die bewuszligte Persoumlnlichkeit schwindet die Ge- fuumlhle und Gedanken aller einzelnen sind nach derselben Richtung orientiert Es bildet sich eine Gemeinschaftsseele die wohl veraumlnderlich aber von ganz bestimmter Art ist Die Gesamtheit ist nun das geworden was ich mangels eines besseren Ausdrucks als organisierte Masse oder wenn man lieber will als psychologische Masse bezeichnen werde Sie bildet ein einziges Wesen und unterliegt dem Gesetz der see- lischen Einheit der Massen (loi de lrsquouniteacute mentale des foules) Die Tatsache daszlig viele Individuen sich zufaumlllig zusammen- finden verleiht ihnen noch nicht die Eigenschaften einer organisierten Masse Tausend zufaumlllig auf einem oumlffentlichen Platz ohne einen bestimmten Zweck versammelte einzelne bilden keineswegs eine Masse im psychologischen Sinne Da- mit sie die besonderen Wesenszuumlge der Masse annehmen be- darf es des Einflusses gewisser Reize deren Wesensart wir zu bestimmen haben

Das Schwinden der bewuszligten Persoumlnlichkeit und die Orien- tierung der Gefuumlhle und Gedanken nach einer bestimmten Richtung die ersten Vorstoumlszlige der Masse auf dem Weg sich zu organisieren erfordern nicht immer die gleich- zeitige Anwesenheit mehrerer einzelner an einem einzigen Ort Tausende von getrennten einzelnen koumlnnen im ge- gebenen Augenblick unter dem Einfluszlig gewisser heftiger Gemuumltsbewegungen etwa eines groszligen nationalen Ereig- nisses die Kennzeichen einer psychologischen Masse an- nehmen Irgendein Zufall der sie vereinigt genuumlgt dann daszlig ihre Handlungen sogleich die besondere Form der Massenhandlungen annehmen In gewissen historischen Augenblicken kann ein halbes Dutzend Menschen eine psychologische Masse ausmachen waumlhrend hunderte zu- faumlllig vereinigte Menschen sie nicht bilden koumlnnen Anderer- seits kann bisweilen ein ganzes Volk ohne sichtbare Zu- sammenscharung unter dem Druck gewisser Einfluumlsse zur Masse werdenHat sich eine psychologische Masse gebildet so erwirbt sie vorlaumlufige aber bestimmbare allgemeine Merkmale Diesen allgemeinen Merkmalen gesellen sich besondere Kennzeichen veraumlnderlicher Art hinzu je nach den Ele- menten aus denen die Masse sich zusammensetzt und durch die ihre geistige Struktur zu veraumlndern istDie psychologischen Massen lassen sich also einteilen Das Studium dieser Einteilung wird uns zeigen daszlig eine hete- rogene d h aus ungleichartigen Elementen zusammen- gesetzte Masse mit homogenen d h aus mehr oder minder aumlhnlichen Elementen zusammengesetzten Massen (Sekten Kasten Klassen) allgemeine Kennzeichen gemein hat und auszligerdem noch Besonderheiten aufweist durch die sie sich voneinander unterscheiden lassenBevor wir uns aber mit den verschiedenen Arten der Masse befassen muumlssen wir zuerst die allgemeinen Kenn- zeichen untersuchen Wir werden gleich dem Naturforscher vorgehen der mit der Beschreibung der allgemeinen Merk- male der Mitglieder einer Familie beginnt bevor er sich

WAS IST EINE MASSE 11

mit den besonderen Merkmalen befaszligt welche die Unter- scheidung der Gattungen und Arten dieser Familie ermoumlg- lichenDie genaue Schilderung der Massenseele ist nicht leicht weil ihre Organisation nicht bloszlig nach Rasse und Zu- sammensetzung der Gesamtheit sondern auch nach der Natur und dem Grade der Anreize schwankt denen diese Gesamtheit unterliegt Aber dieselbe Schwierigkeit besteht fuumlr das psychologische Studium jedes beliebigen Wesens Nur in Romanen aber nicht im wirklichen Leben haben die einzelnen einen bestaumlndigen Charakter aufzuweisen Allein die Gleichfoumlrmigkeit der Umgebung schafft die sicht- bare Gleichartigkeit der Charaktere Ich habe anderwaumlrts gezeigt daszlig alle geistigen Beschaffenheiten Charaktermoumlg- lichkeiten enthalten die sich unter dem Einf luszlig eines jaumlhen Umgebungswechsels offenbaren koumlnnen So befanden sich unter den wildesten grausamsten Konventmitgliedern gutmuumltige Buumlrger die unter normalen Verhaumlltnissen fried- liche Notare oder ehrsame Beamte geworden waumlren Als der Sturm voruumlber war nahmen sie ihren Normalcharakter als friedliche Buumlrger wieder an Unter ihnen fand Napo- leon seine willigsten DienerDa wir hier nicht alle Stufen der Massenbildung studieren koumlnnen werden wir sie besonders in dem Zustand ihrer vollendeten Organisation ins Auge fassen Wir werden auf diese Weise sehen was sie werden koumlnnen aber nicht was sie immer sind Allein in diesem fortgeschrittenen Organisationszustand bauen sich auf dem unveraumlnderlichen und vorherrschenden Rassenuntergrunde gewisse neue und besondere Merkmale auf und es vollzieht sich die Wen- dung aller Gefuumlhle und Gedanken der Gesamtheit nach einer uumlbereinstimmenden Richtung So allein offenbart sich was ich oben das psychologische Gesetz der seelischen Einheit der Massen genannt habeVerschiedene psychische Kennzeichen der Massen haben sie gemein mit alleinstehenden Individuen waumlhrend andere im Gegenteil nur bei Gesamtheiten anzutreffen sind Wir

12 ALLGEMEINE KENNZEICHEN DER MASSEN

wollen zunaumlchst die besonderen Merkmale studieren um ihre Bedeutung recht aufzuzeigenDas Uumlberraschendste an einer psychologischen Masse ist welcher Art auch die einzelnen sein moumlgen die sie bilden wie aumlhnlich oder unaumlhnlich ihre Lebensweise Beschaumlfti- gungen ihr Charakter oder ihre Intelligenz ist durch den bloszligen Umstand ihrer Umformung zu Masse besitzen sie eine Art Gemeinschaftsseele vermoumlge deren sie in ganz andrer Weise fuumlhlen denken und handeln als jedes von ihnen fuumlr sich fuumlhlen denken und handeln wuumlrde Es gibt gewisse Ideen und Gefuumlhle die nur bei den zu Massen verbundenen einzelnen auftreten oder sich in Handlungen umsetzen Die psychologische Masse ist ein unbestimmtes Wesen das aus ungleichartigen Bestandteilen besteht die sich fuumlr einen Augenblick miteinander verbunden haben genau so wie die Zellen des Organismus durch ihre Ver- einigung ein neues Wesen mit ganz anderen Eigenschaften als denen der einzelnen Zellen bildenIn Widerspruch zu einer Anschauung die sich befremd- licherweise bei einem so scharfsinnigen Philosophen wie Herbert Spencer findet gibt es in dem Haufen der eine Masse bildet keineswegs eine Summe und einen Durch- schnitt der Bestandteile sondern Zusammenfassung und Bildung neuer Bestandteile genau so wie in der Chemie sich bestimmte Elemente wie z B die Basen und Saumluren bei ihrem Zustandekommen zur Bildung eines neuen Koumlr- pers verbinden dessen Eigenschaften von denen der Koumlr- per die an seinem Zustandekommen beteiligt waren voumll- lig verschieden sindEs ist leicht festzustellen inwieweit sich der einzelne in einer Masse vom alleinstehenden einzelnen unterscheidet weniger leicht aber ist die Aufdeckung der Ursachen dieser VerschiedenheitUm diesen Ursachen wenigstens einigermaszligen naumlherzu- kommen muszlig man sich zunaumlchst an die Feststellung der modernen Psychologie erinnern daszlig nicht nur im orga- nischen Leben sondern auch in den Vorgaumlngen des Ver-

GESETZ VON DER SEELISCHEN EINHEIT DER MASSEN 13

standes die unbewuszligten Erscheinungen eine ausschlagge- bende Rolle spielen Das bewuszligte Geistesleben bildet nur einen sehr geringen Teil im Vergleich zum unbewuszligten Seelenleben Der geschickteste Analytiker der schaumlrfste Beobachter kann nur eine sehr kleine Anzahl bewuszligter Triebfedern die ihn fuumlhren entdecken Unsere bewuszligten Handlungen entspringen einer unbewuszligten Grundlage die namentlich durch Vererbungseinfluumlsse geschaffen wird Diese Grundlage enthaumllt die zahllosen Ahnenspuren aus denen sich die Rassenseele aufbaut Hinter den eingestandenen Ursachen unserer Handlungen gibt es zweifellos geheime Gruumlnde die wir nicht eingestehen hinter diesen aber liegen noch gehei- mere die wir nicht einmal kennen Die Mehrzahl unserer taumlglichen Handlungen ist nur die Wirkung verborgener Triebkraumlfte die sich unserer Kenntnis entziehenDurch die unbewuszligten Bestandteile die der Rassenseele zugrunde liegen aumlhneln sich alle einzelnen dieser Rasse durch ihre bewuszligten Anlagen dagegen ndash Fruumlchte der Erziehung vor allem aber einer besonderen Erblichkeit ndash unterscheiden sie sich voneinander Menschen von ver- schiedenartigster Intelligenz haben aumluszligerst aumlhnliche Triebe Leidenschaften und Gefuumlhle In allem was Gegenstand des Gefuumlhls ist Religion Politik Moral Sympathien und Antipathien usw uumlberragen die ausgezeichnetsten Men- schen nur selten das Niveau der gewoumlhnlichen einzelnen Zwischen einem groszligen Mathematiker und seinem Schuster kann verstandesmaumlszligig ein Abgrund klaffen aber hinsicht- lich des Charakters ist der Unterschied oft nichtig oder sehr geringEben diese allgemeinen Charaktereigenschaften die vom Unbewuszligten beherrscht werden und der Mehrzahl der normalen Angehoumlrigen einer Rasse ziemlich gleichmaumlszligig eigen sind werden in den Massen vergemeinschaftlicht In der Gemeinschaftsseele verwischen sich die Verstandes- faumlhigkeiten und damit auch die Persoumlnlichkeit der einzel- nen Das Ungleichartige versinkt im Gleichartigen und die unbewuszligten Eigenschaften uumlberwiegen

14 ALLGEMEINE KENNZEICHEN DER MASSEN

Eben die Vergemeinschaftlichung der gewoumlhnlichen Eigen- schaften erklaumlrt uns warum die Massen niemals Hand- lungen ausfuumlhren koumlnnen die eine besondere Intelligenz beanspruchen Die Entscheidungen von allgemeinem In- teresse die von einer Versammlung hervorragender aber verschiedenartiger Leute getroffen werden sind jenen welche eine Versammlung von Dummkoumlpfen treffen wuumlrde nicht merklich uumlberlegen Sie koumlnnen in der Tat nur die mittelmaumlszligigen Allerweltseigenschaften vergemeinschaft- lichen Die Masse nimmt nicht den Geist sondern nur die Mittelmaumlszligigkeit in sich auf Es hat nicht wie man so oft wiederholt die bdquoganze Welt mehr Geist als Voltaireldquo sondern Voltaire hat zweifellos mehr Geist als die bdquoganze Weltldquo wenn man unter dieser die Massen verstehtBeschraumlnkten sich aber die Individuen der Masse auf Ver- schmelzung ihrer allgemeinen Eigenschaften so ergaumlbe sich daraus nur ein Durchschnitt aber nicht wie wir sagten eine Schoumlpfung neuer Eigentuumlmlichkeiten Wie bilden sich diese neuen Eigentuumlmlichkeiten Das haben wir jetzt zu untersuchenDas Auftreten besonderer Charaktereigentuumlmlichkeiten der Masse wird durch verschiedene Ursachen bestimmt Die erste dieser Ursachen besteht darin daszlig der einzelne in der Masse schon durch die Tatsache der Menge ein Gefuumlhl unuumlberwindlicher Macht erlangt welches ihm gestattet Trieben zu froumlnen die er fuumlr sich allein notwendig gezuumlgelt haumltte Er wird ihnen um so eher nachgeben als durch die Namenlosigkeit und demnach auch Unverantwortlichkeit der Masse das Verantwortungsgefuumlhl das die einzelnen stets zuruumlckhaumllt voumlllig verschwindetEine zweite Ursache die geistige Uumlbertragung (contagion mentale) bewirkt gleichfalls das Erscheinen der besonderen Wesenszuumlge der Masse und zugleich ihre Richtung Die Uumlbertragung ist leicht festzustellen aber noch nicht zu er- klaumlren man muszlig sie den Erscheinungen hypnotischer Art zuordnen mit denen wir uns sogleich beschaumlftigen werden In der Masse ist jedes Gefuumlhl jede Handlung uumlbertragbar

DIE MASSE VOM UNBEWUSSTEN BEHERRSCHT 15

und zwar in so hohem Grade daszlig der einzelne sehr leicht seine persoumlnlichen Wuumlnsche den Gesamtwuumlnschen opfert Diese Faumlhigkeit ist seiner eigentlichen Natur durchaus ent- gegengesetzt und nur als Bestandteil einer Masse ist der Mensch dazu faumlhigNoch eine dritte und zwar die wichtigste Ursache ruft in den zur Masse vereinigten einzelnen besondere Eigenschaf- ten hervor welche denen der alleinstehenden einzelnen voumlllig widersprechen ich rede von der Beeinfluszligbarkeit (suggestibilite) von der die obenerwaumlhnte geistige Uumlbertra- gung uumlbrigens nur eine Wirkung istUm diese Erscheinung zu verstehen muumlssen wir uns ge- wisse neue Entdeckungen der Physiologie vergegenwaumlrti- gen Wir wissen heute daszlig ein Mensch in einen Zustand versetzt werden kann der ihn seiner bewuszligten Persoumln- lichkeit beraubt und ihn allen Einfluumlssen des Hypnotiseurs der ihm sein Bewuszligtsein genommen hat gehorchen und Handlungen begehen laumlszligt die zu seinem Charakter und seinen Gewohnheiten in schaumlrfstem Gegensatz stehen Sorg- faumlltige Beobachtungen scheinen nun zu beweisen daszlig ein einzelner der lange Zeit im Schoszlige einer wirkenden Masse eingebettet war sich alsbald ndash durch Ausstroumlmungen die von ihr ausgehen oder sonst eine noch unbekannte Ur- sache ndash in einem besonderen Zustand befindet der sich sehr der Verzauberung naumlhert die den Hypnotisierten unter dem Einfluszlig des Hypnotiseurs uumlberkommt Da das Verstandesleben des Hypnotisierten lahmgelegt ist wird er der Sklave seiner unbewuszligten Kraumlfte die der Hypnoti- seur nach seinem Belieben lenkt Die bewuszligte Persoumlnlich- keit ist voumlllig ausgeloumlscht Wille und Unterscheidungsver- moumlgen fehlen alle Gefuumlhle und Gedanken sind in die Sinne verlegt die durch den Hypnotiseur beeinfluszligt werdenUngefaumlhr in diesem Zustand befindet sich der einzelne als Glied einer Masse Er ist sich seiner Handlungen nicht mehr bewuszligt Waumlhrend bei ihm wie beim Hypnotisierten gewisse Faumlhigkeiten aufgehoben sind koumlnnen andere auf einen Zustand houmlchster Uumlberspannung getrieben werden

16 ALLGEMEINE KENNZEICHEN DER MASSEN

Unter dem Einfluszlig einer Suggestion wird er sich mit un- widerstehlichem Ungestuumlm auf gewisse Taten werfen Und dies Ungestuumlm ist in den Massen noch unwiderstehlicher als bei den Hypnotisierten weil die fuumlr alle einzelnen gleiche Suggestion durch Gegenseitigkeit waumlchst Die ein- zelnen in einer Masse die eine hinreichend starke Persoumln- lichkeit haben um dem Einfluszlig zu widerstehen sind in zu geringer Anzahl vorhanden und der Strom reiszligt sie mit Houmlchstens koumlnnen sie vermittels eines anderen Einflusses eine Ablenkung versuchen Ein gluumlcklicher Ausdruck ein im rechten Augenblick angewandter bildlicher Vergleich hat oft die Massen von den blutigsten Taten abgehaltenDie Hauptmerkmale des einzelnen in der Masse sind also Schwinden der bewuszligten Persoumlnlichkeit Vorherrschaft des unbewuszligten Wesens Leitung der Gedanken und Gefuumlhle durch Beeinflussung und Uumlbertragung in der gleichen Rich- tung Neigung zur unverzuumlglichen Verwirklichung der ein- gefloumlszligten Ideen Der einzelne ist nicht mehr er selbst er ist ein Automat geworden dessen Betrieb sein Wille nicht mehr in der Gewalt hatAllein durch die Tatsache Glied einer Masse zu sein steigt der Mensch also mehrere Stufen von der Leiter der Kultur hinab Als einzelner war er vielleicht ein gebildetes Indivi- duum in der Masse ist er ein Triebwesen also ein Barbar Er hat die Unberechenbarkeit die Heftigkeit die Wildheit aber auch die Begeisterung und den Heldenmut urspruumlng- licher Wesen denen er auch durch die Leichtigkeit aumlhnelt mit der er sich von Worten und Vorstellungen beeinflussen und zu Handlungen verfuumlhren laumlszligt die seine augenschein- lichsten Interessen verletzen In der Masse gleicht der ein- zelne einem Sandkorn in einem Haufen anderer Sand- koumlrner das der Wind nach Belieben emporwirbeltAus diesem Grunde sprechen Schwurgerichte Urteile aus die jeder Geschworene als einzelner miszligbilligen wuumlrde Parlamente nehmen Gesetze und Vorlagen an die jedes Mitglied einzeln ablehnen wuumlrde Einzeln genommen waren die Maumlnner des Konvents aufgeklaumlrte Buumlrger mit fried-

UMWANDLUNG DER GEFUumlHLE DES EINZELNEN 17

lichen Gewohnheiten Zur Masse vereinigt zauderten sie nicht unter dem Einfluszlig einiger Fuumlhrer die offenbar un- schuldigsten Menschen aufs Schafott zu schicken brachen unter Auszligerachtlassung ihres eignen Vorteils deren Un- verletzlichkeit und verringerten ihre ScharNicht nur in seinen Handlungen weicht das Glied der Masse von seinem normalen Ich ab Schon bevor es jede Unabhaumlngigkeit einbuumlszligte haben sich seine Gedanken und Gefuumlhle umgeformt und zwar so daszlig der Geizige zum Verschwender der Zweif ler zum Glaumlubigen der Ehren- mann zum Verbrecher der Hasenfuszlig zum Helden wird Der Verzicht auf alle seine verbrieften Vorrechte den der Adel in einem Augenblick der Begeisterung in der be- ruumlhmten Nacht vom 4 August 789 leistete waumlre sicher- lich von seinen Mitgliedern als einzelnen niemals ange- nommen wordenAus den vorstehenden Beobachtungen ist zu schlieszligen daszlig die Masse dem alleinstehenden Menschen intellektuell stets untergeordnet ist Hinsichtlich der Gefuumlhle aber und der durch sie bewirkten Handlungen kann sie unter Umstaumln- den besser oder schlechter sein Es haumlngt alles von der Art des Einflusses ab unter dem die Masse steht Das haben die Schriftsteller die die Masse nur vom kriminellen Ge- sichtspunkt studiert haben vollstaumlndig verkannt Gewiszlig ist die Masse oft verbrecherisch oft aber auch heldenhaft Man bringt sie leicht dazu sich fuumlr den Triumph eines Glaubens oder einer Idee in den Tod schicken zu lassen begeistert sie fuumlr Ruhm und Ehre daszlig sie sich wie im Zeitalter der Kreuzzuumlge fast ohne Brot und Wasser zur Befreiung des goumlttlichen Grabes von den Unglaumlubigen oder wie im Jahre 793 zur Verteidigung des vaterlaumlndi- schen Bodens fortreiszligen laumlszligt Gewiszlig ein unbewuszligtes Hel- dentum aber durch solche Heldentaten vollzieht sich die Geschichte Wollte man nur die mit kalter Uumlberlegung ausgefuumlhrten Groszligtaten auf das Aktivkonto der Voumllker schreiben so wuumlrden in den Weltannalen nur wenige ver- zeichnet sein

18 ALLGEMEINE KENNZEICHEN DER MASSEN

2 KAPITEL

Gefuumlhle und Sittlichkeit der Massen

Nach diesem allgemeinen Hinweis auf die Hauptkenn- zeichen der Massen kommen wir nun zur Untersuchung der EinzelheitenVerschiedene besondere Eigenschaften der Massen wie Triebhaftigkeit (impulsiviteacute) Reizbarkeit (irritabiliteacute) Un- faumlhigkeit zum logischen Denken Mangel an Urteil und kritischem Geist Uumlberschwang der Gefuumlhle (exageacuteration des sentiments) und noch andere sind bei Wesen einer nied- rigeren Entwicklungsstufe wie beim Wilden und beim Kinde ebenfalls zu beobachten Ich streife diese Uumlberein- stimmung nur im Voruumlbergehen denn ihre Ausfuumlhrung wuumlrde uumlber den Rahmen dieser Arbeit hinausgehen Sie waumlre unnoumltig fuumlr alle mit der Psychologie der Primitiven Vertrauten und fuumlr jene die nichts von ihr wissen ohne rechte UumlberzeugungskraftIch gehe nun die verschiedenen Merkmale die sich bei der Mehrzahl der Massen leicht beobachten lassen der Reihe nach durch

sect Triebhaftigkeit Beweglichkeit und Erregbarkeit der Massen

Bei der Untersuchung ihrer grundlegenden Charakterzuumlge sagten wir daszlig die Masse beinahe ausschlieszliglich vom Un- bewuszligten geleitet wird Ihre Handlungen stehen viel oumlfter unter dem Einfluszlig des Ruumlckenmarks als unter dem des Gehirns Die vollzogenen Handlungen koumlnnen ihrer Aus- fuumlhrung nach vollkommen sein da sie aber nicht vom Ge- hirn ausgehen so handelt der einzelne nach zufaumllligen Reizen Die Masse ist der Spielball aller aumluszligeren Reize deren unaufhoumlrlichen Wechsel sie widerspiegelt Sie ist also die Sklavin der empfangenen Anregungen Der allein- stehende einzelne kann ja denselben Reizen unterliegen

wie die Masse da ihm aber sein Gehirn die unangenehmen Folgen des Nachgebens zeigt so gehorcht er ihnen nicht Physiologisch laumlszligt es sich so erklaumlren daszlig der alleinste- hende einzelne die Faumlhigkeit zur Beherrschung seiner Emp- findungen hat die Masse aber nicht dazu imstande istDie mannigfachen Triebe denen die Massen gehorchen koumlnnen je nach dem Anreiz edel oder grausam heldenhaft oder feige sein stets aber sind sie so unabweisbar daszlig der Selbsterhaltungstrieb vor ihnen zuruumlcktrittDa die Reize die auf eine Masse wirken sehr wechseln und die Massen ihnen immer gehorchen so sind sie natuumlr- lich aumluszligerst wandelbar Daher sehen wir sie auch in dem- selben Augenblick von der blutigsten Grausamkeit zum unbedingtesten Heldentum oder Edelmut uumlbergehen Die Masse wird leicht zum Henker ebenso leicht aber auch zum Maumlrtyrer Aus ihrem Herzen floumlssen die Stroumlme von Blut die fuumlr den Triumph jedes Glaubens notwendig sind Man braucht nicht zu den Zeitaltern der Helden zuruumlck- zugehen um zu erkennen wozu die Massen faumlhig sind Nie markten sie bei einem Aufstand um ihr Leben und erst vor wenigen Jahren haumltte ein General der ploumltzlich volkstuumlmlich geworden war wenn er es verlangt haumltte leicht hunderttausend Menschen gefunden bereit sich fuumlr seine Sache toumlten zu lassenNichts ist also bei den Massen vorbedacht Sie koumlnnen unter dem Einfluszlig von Augenblicksreizen die ganze Folge der entgegengesetzten Gefuumlhle durchlaufen Sie gleichen den Blaumlttern die der Sturm aufwirbelt nach allen Rich- tungen verstreut und wieder fallen laumlszligt Die Betrachtung gewisser revolutionaumlrer Massen wird uns einige Beispiele fuumlr die Veraumlnderlichkeit ihrer Gefuumlhle gebenDiese Veraumlnderlichkeit macht sie schwer regierbar beson- ders wenn ein Teil der oumlffentlichen Gewalt in ihre Haumlnde gefallen ist Wuumlrden die Notwendigkeiten des Alltags- lebens nicht eine Art unsichtbarer Regelung der Ereignisse herausbilden so koumlnnten die Demokratien nicht bestehen Wenn auch die Massen die Dinge leidenschaftlich be-

20 GEFUumlHLE UND SITTLICHKEIT DER MASSEN

gehren so wollen sie sie doch nicht fuumlr lange Zeit Sie sind ebenso unfaumlhig zu ausdauerndem Wollen wie zum DenkenDie Masse ist nicht nur triebhaft und wandelbar Gleich dem Wilden laumlszligt sie nicht zu daszlig sich zwischen ihre Be- gierde und die Verwirklichung dieser Begierde ein Hinder- nis erhebt um so weniger als ihre Uumlberzahl ihr das Ge- fuumlhl unwiderstehlicher Macht gewaumlhrt Fuumlr den einzelnen in der Masse schwindet der Begriff des Unmoumlglichen Der alleinstehende einzelne ist sich klar daruumlber daszlig er allein keinen Palast einaumlschern keinen Laden pluumlndern koumlnnte und die Versuchung dazu kommt ihm kaum in den Sinn Als Glied einer Masse aber uumlbernimmt er das Machtbe- wuszligtsein das ihm die Menge verleiht und wird der ersten Anregung zu Mord und Pluumlnderung augenblicklich nach- geben Ein unerwartetes Hindernis wird wuumltend zertruumlm- mert Wenn der menschliche Organismus dauernde Wut zulieszlige so koumlnnte man die Wut als den normalen Zustand der gehemmten Masse bezeichnenDie Erregbarkeit Triebhaftigkeit und Veraumlnderlichkeit der Massen sowie das gesamte Empfinden des Volkes das wir zu untersuchen haben werden stets durch die grundlegen- den Rasseeigenschaften abgewandelt Sie bilden den festen Boden in dem alle unsere Gefuumlhle wurzeln Ohne Zweifel sind die Massen reizbar und triebhaft aber in den mannig- fachsten Abstufungen Der Unterschied zwischen einer la- teinischen und einer angelsaumlchsischen Masse z B ist auf- fallend Die juumlngsten Ereignisse unserer Geschichte geben ein sprechendes Bild davon Im Jahre 870 hat die Ver- oumlffentlichung eines einfachen Telegramms mit dem Bericht uumlber eine angeblich einem Botschafter zugefuumlgte Beleidigung genuumlgt einen Wutausbruch zu entfachen der zur unmittel- baren Ursache eines furchtbaren Krieges wurde Einige Jahre spaumlter erzeugte die telegraphische Anzeige einer un- bedeutenden Schlappe bei Langson einen neuen Ausbruch der den sofortigen Sturz der Regierung herbeifuumlhrte Zu gleicher Zeit erregte die viel schwerere Niederlage einer

TRIEBHAFTIGKEIT BEWEGLICHKEIT ERREGBARKEIT 21

englischen Expedition bei Khartum nur eine sehr schwache Bewegung in England und kein Ministerium fiel Uumlberall sind die Massen weibisch die weibischsten aber sind die lateinischen Massen Wer sich auf sie stuumltzt kann sehr hoch und sehr schnell steigen aber stets in der Naumlhe des tarpeji- schen Felsens und mit der Gewiszligheit eines Tages hinunter- gestuumlrzt zu werden

sect 2 Beeinfluszligbarkeit und Leichtglaumlubigkeit der Massen

Als einen der allgemeinen Charakterzuumlge bezeichneten wir die uumlbermaumlszligige Beeinf luszligbarkeit und wiesen nach wie ansteckend eine Beeinflussung in jeder Menschenansamm- lung ist woraus sich die blitzschnelle Gerichtetheit der Gefuumlhle in einem bestimmten Sinne erklaumlrt So parteilos man sich die Masse auch vorstellt so befindet sie sich doch meistens in einem Zustand gespannter Erwartung der die Beeinflussung beguumlnstigt Die erste klar zum Ausdruck gebrachte Beeinflussung teilt sich durch Uumlbertragung augen- blicklich allen Gehirnen mit und gibt sogleich die Gefuumlhls- richtung an Bei allen Beeinfluszligten draumlngt die fixe Idee danach sich in eine Tat umzuformen Ob es sich darum handelt einen Palast in Brand zu stecken oder sich zu opfern die Masse ist mit der gleichen Leichtigkeit dazu bereit Alles haumlngt von der Art des Anreizes ab nicht mehr wie beim alleinstehenden einzelnen von den Bezie- hungen zwischen der eingegebenen Tat und dem Maszlig der Vernunft das sich ihrer Verwirklichung widersetzen kann So muszlig die Masse die stets an den Grenzen des Unbe- wuszligten umherirrt allen Einfluumlssen unterworfen ist von der Heftigkeit ihrer Gefuumlhle erregt wird welche allen Wesen eigen ist die sich nicht auf die Vernunft berufen koumlnnen alles kritischen Geistes bar von einer uumlbermaumlszligigen Leichtglaumlubigkeit sein Nichts erscheint ihr unwahrschein- lich und das darf man nicht vergessen wenn man begrei-

22 GEFUumlHLE UND SITTLICHKEIT DER MASSEN

fen will wie leicht die unwahrscheinlichsten Legenden und Berichte zustande kommen und sich verbreiten Die Entstehung von Legenden die so leicht in den Massen umlaufen ist nicht nur die Folge vollkommener Leicht- glaumlubigkeit sondern auch der ungeheuerlichen Entstellun- gen welche die Ereignisse in der Phantasie der Menschen- ansammlungen erfahren Der einfachste Vorfall von der Masse gesehen ist sofort ein entstelltes Geschehnis Sie denkt in Bildern und das hervorgerufene Bild loumlst eine Folge anderer Bilder aus ohne jeden logischen Zusammen- hang mit dem ersten Diesen Zustand verstehen wir leicht wenn wir bedenken welche sonderbaren Vorstellungs- reihen zuweilen ein Erlebnis in uns hervorruft Die Ver- nunft beweist die Zusammenhanglosigkeit dieser Bilder aber die Masse beachtet sie nicht und vermengt die Zusaumltze ihrer entstellenden Phantasie mit dem Ereignis Die Masse ist unfaumlhig das Persoumlnliche von dem Sachlichen zu unter- scheiden Sie nimmt die Bilder die in ihrem Bewuszligtsein auftauchen und sehr oft nur eine entfernte Aumlhnlichkeit mit der beobachteten Tatsache haben fuumlr WirklichkeitDie Entstellungen mit denen eine Masse ein Ereignis um- formt dessen Zeuge sie gewesen ist scheinen unzaumlhlig und von verschiedener An zu sein da die Menschen aus denen die Masse besteht von sehr verschiedenem Temperament sind Aber so ist es nicht Infolge der Uumlbertragung sind die Entstellungen durch die einzelnen einer Gemeinschaft alle von gleicher Art und gleichem Wesen Die erste Ent- stellung die ein Glied der Gesamtheit vorbringt formt den Kern des ansteckenden Einflusses Bevor der heilige Georg allen Kreuzfahrern auf den Mauern von Jerusalem er- schien war er sicher zuerst nur von einem von ihnen wahrgenommen worden Durch Beeinflussung und Uumlber-

Wer noch die Belagerung von Paris mitgemacht hat erlebte viele Faumllle dieser Leichtglaumlubigkeit der Massen an die unwahrscheinlichsten Dinge Ein brennendes Wachslicht in einem houmlheren Stockwerk galt sofort fuumlr ein Zeichen das man den Belagerern geben wollte Zwei Sekunden Uumlberlegung wuumlrden bewiesen haben daszlig man unmoumlglich aus einer Entfernung von mehreren Meilen dieses Kerzenlicht sehen kann

BEEINFLUSSBARKEIT UND LEICHTGLAumlUBIGKEIT 23

tragung wurde das gemeldete Wunder sofort von allen angenommenSo vollzieht sich der Vorgang von Kollektivhalluzina- tionen die in der Geschichte so haumlufig sind und alle klas- sischen Merkmale der Echtheit zu haben scheinen da es sich hier um Erscheinungen handelt die von Tausenden von Menschen festgestellt wurdenDie geistige Beschaffenheit der einzelnen aus denen die Masse besteht widerspricht nicht diesem Grundsatz Denn diese Eigenschaften sind bedeutungslos In dem Augenblick da sie zu einer Masse gehoumlren werden der Ungebildete und der Gelehrte gleich unfaumlhig zur BeobachtungDiese Behauptung mag widersinnig klingen Um sie zu beweisen muumlszligte man auf eine groszlige Anzahl historischer Tatsachen zuruumlckgreifen und dazu wuumlrden mehrere Baumlnde nicht genuumlgenDa ich aber den Leser doch nicht unter dem Eindruck un- bewiesener Behauptungen lassen moumlchte so will ich einige Beispiele anfuumlhren die ich auf gut Gluumlck aus der groszligen Anzahl die man zitieren koumlnnte herausgreifeDer folgende Fall wurde gewaumlhlt weil er besonders all- gemeinguumlltig fuumlr Kollektivhalluzinationen ist Er wirkte sich auf eine Menge aus die aus den verschiedensten ein- zelnen ndash unwissenden und gebildeten ndash bestand Er wird von dem Schiffsleutnant Julien Feacutelix in seinem Buch uumlber die Meeresstroumlmungen nebenher berichtet und ist auch in die bdquoRevue Scientifiqueldquo aufgenommen wordenDie Fregatte bdquoLa Belle-Pouleldquo kreuzte auf See um die Korvette bdquoLe Berceauldquo wiederzufinden von der sie durch einen heftigen Orkan getrennt worden war Es war am hellen lichten Tage Ploumltzlich signalisiert die Wache ein Schiff in Seenot Die Mannschaft richtet ihre Blicke auf die bezeichnete Stelle und alle Offiziere und Matrosen sehen deutlich ein menschenbeladenes Wrack welches von kleinen Fahrzeugen auf denen Notsignale flatterten ge- schleppt wurde Admiral Desfosseacutes lieszlig ein Boot bemannen um den Schiffbruumlchigen zu Hilfe zu eilen Waumlhrend sie sich

24 GEFUumlHLE UND SITTLICHKEIT DER MASSEN

naumlherten sahen die im Boot befindlichen Matrosen und Offiziere bdquoMassen von Menschen sich hin und her bewegen die Haumlnde ausstrecken und vernahmen den dumpfen und verworrenen Laumlrm einer groszligen Anzahl Stimmenldquo Als das Boot angekommen war fand man nichts weiter vor als einige mit Blaumlttern bedeckte Baumaumlste die sich von der benachbarten Kuumlste losgerissen hatten Vor einem so hand- greiflichen Beweis schwindet die TaumluschungDies Beispiel enthuumlllt ganz klar den Verlauf der Kollektiv- taumluschungen wie wir ihn beschrieben haben Auf der einen Seite eine Masse im Zustand gespannter Aufmerksamkeit auf der andern eine Suggestion die von der Wache ausgeht die ein schiffbruumlchiges Fahrzeug auf dem Meer signalisiert eine Suggestion die durch Uumlbertragung von allen Anwesen- den Offizieren wie Matrosen aufgenommen wirdEine Masse braucht nicht zahlreich zu sein um die Faumlhig- keit richtigen Sehens zu verlieren und die wirklichen Tat- sachen durch davon abweichende Taumluschungen zu ersetzen Die Versammlung einiger einzelner bildet eine Masse und selbst wenn es hervorragende Gelehrte waumlren so wuumlrden sie doch alle fuumlr die Dinge die auszligerhalb ihres Faches liegen die Massenkennzeichen annehmen Das Be- obachtungsvermoumlgen und der kritische Geist eines jeden von ihnen schwinden sofortEin scharfsinniger Psychologe Davey liefert uns dafuumlr ein recht merkwuumlrdiges Beispiel welches vor kurzem in den

bdquoAnnales des Sciences psychiquesldquo mitgeteilt wurde und es verdient hier berichtet zu werden Davey berief eine Versammlung ausgezeichneter Beobachter ein unter ihnen den hervorragenden englischen Forscher Wallace und fuumlhrte ihnen nachdem er sie die Gegenstaumlnde untersuchen und beliebig hatte versiegeln lassen alle klassischen Phauml- nomene des Spiritismus vor Materialisation von Geistern Schiefertafelschrift usw Nachdem er hierauf von diesen beruumlhmten Beobachtern schriftliche Berichte erhalten hatte in welchen erklaumlrt wurde die beobachteten Erscheinungen seien nur auf uumlbernatuumlrlichem Wege moumlglich gewesen ent-

BEEINFLUSSBARKEIT UND LEICHTGLAumlUBIGKEIT 25

huumlllte er ihnen daszlig sie das Ergebnis sehr einfacher Kniffe waren bdquoDas Erstaunliche an diesem Versuch Daveysldquo schreibt der Verfasser des Berichts bdquoist nicht die Bewun- derung der Kunststuumlcke als solcher sondern die auszliger- ordentliche Geistlosigkeit der Berichte welche die unein- geweihten Zeugen daruumlber abgaben Denn die Zeugen haben zahlreiche und genaue Berichte geliefert die voumlllig irrig sind die aber wenn man ihre Schilderungen fuumlr richtig haumllt zu dem Ergebnis fuumlhren daszlig die geschilderten Vorgaumlnge durch Betrug nicht zu erklaumlren sind Die von Davey ersonnenen Methoden waren so einfach daszlig man sich uumlber die Kuumlhnheit wundert mit der er sie anwandte er besaszlig aber eine solche Macht uumlber den Geist der Masse daszlig er ihr das was sie nicht sah als gesehen aufzwingen konnteldquo Diese Macht hat der Hypnotiseur immer uumlber den Hypnotisierten Sieht man aber wie sie sich auf uumlber- legene von vornherein miszligtrauische Geister auswirkt dann begreift man mit welcher Leichtigkeit die gewoumlhn- lichen Massen zu taumluschen sindEs gibt unzaumlhlige aumlhnliche Beispiele Vor einigen Jahren gaben die Zeitungen die Geschichte von zwei kleinen er- trunkenen Maumldchen wieder die aus der Seine gezogen wurden Diese Kinder wurden zuerst in bestimmtester Weise von einem Dutzend Zeugen erkannt Vor so uumlber- einstimmenden Aussagen schwand auch der leiseste Zweifel des Untersuchungsrichters er lieszlig den Totenschein aus- fertigen In dem Augenblick aber da man sich zur Beerdi- gung anschickte entdeckte man durch Zufall daszlig die mit den Opfern Identifizierten noch voumlllig lebendig waren und kaum eine entfernte Aumlhnlichkeit mit den ertrunkenen Klei- nen besaszligen Wie in mehreren der fruumlher angefuumlhrten Beispiele hatte die Behauptung des ersten Zeugen der das Opfer einer Taumluschung war zur Beeinflussung aller an- deren genuumlgtIn solchen Faumlllen ist der Ausgangspunkt fuumlr die Beein- flussung stets die Taumluschung die durch mehr oder weniger unbestimmte Erinnerungen in einem einzelnen erzeugt

26 GEFUumlHLE UND SITTLICHKEIT DER MASSEN

wird auszligerdem die Uumlbertragung durch Mitteilung dieses ersten Irrtums Ist der erste Beobachter leicht erregbar so genuumlgt es oft daszlig der Leichnam den er zu erkennen glaubt abgesehen von aller wirklichen Aumlhnlichkeit eine Besonderheit etwa eine Narbe oder ein Bekleidungsmerk- mal aufzuweisen hat wodurch bei ihm die Vorstellung einer andern Person ausgeloumlst werden kann Die einge- bildete Vorstellung kann dann zum Kern einer Art Kri- stallisation werden welche den Bereich des Verstandes er- greift und allen kritischen Geist lahmt Der Beobachter sieht dann nicht mehr die Sache selbst sondern das Bild das in seiner Seele aufgetaucht ist Auf diese Weise erklaumlrt sich das vermeintliche Wiedererkennen von Kinderleichen durch die Muumltter wie in dem folgenden schon alten Fall an dem sich die beiden Arten von Beeinflussung deren Ab- lauf ich erklaumlrt habe deutlich offenbaren

bdquoDas Kind wurde von einem anderen Kinde erkannt ndash das sich irrte Die Reihe des unrichtigen Wiedererkennens lief nun ab Und nun geschah etwas sehr Merkwuumlrdiges An dem Tage nachdem die Leiche durch einen Schuumller wiedererkannt worden war schrie eine Frau auf Ach mein Gott das ist mein Kindlsquo Man fuumlhrte sie zur Leiche sie untersucht die Kleider und stellt eine Narbe an der Stirn fest Gewiszliglsquo sagte sie es ist mein armer Junge der seit Ende Juli vermiszligt wird Man wird ihn mir ent- fuumlhrt und getoumltet habenlsquo Die Frau war Hausmeisterin in der Rue de Four und hieszlig Chavandret Man lieszlig ihren Schwager kommen und dieser sagte ohne Zoumlgern Das ist der kleine Philibertlsquo Mehrere Bewohner der Straszlige ganz abgesehen von seinem Lehrer fuumlr den die Schulmedaille ausschlaggebend war erkannten in dem Kinde von la Villette Philibert Chavandret Nun Nachbarn Schwager Lehrer und Mutter hatten sich geirrt Sechs Wochen spaumlter war die Identitaumlt des Kindes festgestellt Es war ein Knabe aus Bordeaux der dort getoumltet und mit der Post nach Paris gebracht worden war ldquo bdquoEclairldquo vom 2 April 895

BEEINFLUSSBARKEIT UND LEICHTGLAumlUBIGKEIT 27

Wir koumlnnen wieder feststellen daszlig dies bdquoErkennenldquo meistens bei Frauen und Kindern also gerade bei den erregbarsten Wesen vorkommt Es zeigt gleichzeitig wie wenig Wert solche Zeugnisse vor Gericht haben koumlnnen Besonders Kinderaus- sagen sollten nie herangezogen werden Die Richter wieder- holen immer man luumlge in diesem Alter nicht das ist ein Gemeinplatz Besaumlszligen sie eine etwas tiefere psychologische Bildung so wuumlszligten sie ganz im Gegenteil in diesem Alter luumlgt man stets Gewiszlig ist die Luumlge harmlos sie bleibt aber dennoch eine Luumlge Besser wuumlrde die Verurteilung eines An- geklagten nach dem Spiel bdquoKopf oder Schriftldquo erfolgen als wie so oft geschehen nach dem Zeugnis eines KindesUm aber auf die Beobachtungen zuruumlckzukommen die von den Massen gemacht werden so koumlnnen wir daraus schlieszligen daszlig die Kollektivbeobachtungen die verfehltesten von allen sind und daszlig sie meistens nur die einfache Taumluschung eines einzelnen sind die durch Uumlbertragung alle andern beeinfluszligt hat Unzaumlhlige Faumllle beweisen daszlig man gegen die Zeugenschaft der Masse das groumlszligte Miszligtrauen hegen muszlig Tausende von Menschen erlebten den beruumlhmten Reiterangriff der Schlacht bei Sedan und doch ist es unmoumlg- lich aus den widersprechenden Berichten von Augenzeugen festzustellen von wem er kommandiert wurde Der englische General Wolseley hat in einem neuen Buch den Beweis er- bracht daszlig man bis jetzt uumlber die wichtigsten Ereignisse der Schlacht bei Waterloo obwohl Hunderte von Zeugen sie beglaubigt hatten in groumlszligtem Irrtum befangen war

Wissen wir auch nur von einer einzigen Schlacht wie sie sich wirklich ab- gespielt hat Ich zweifle sehr daran Wir kennen Sieger und Besiegte aber wahrscheinlich weiter nichts Was drsquoHarcourt uumlber die Schlacht von Solferino berichtet die er teils mitgemacht und teils gesehen hat laumlszligt sich auf alle Schlachten anwenden bdquoDie Generaumlle (natuumlrlich durch Hunderte von Aussagen unterrichtet) setzen ihre offiziellen Berichte auf die mit der Verbreitung der Berichte betrauten Offiziere aumlndern diese Schriftstuumlcke und setzen die end- guumlltige Fassung fest der Generalstabschef kritisiert und erneuert sie nochmals Man bringt sie zum Feldmarschall er ruft Sie befinden sich in einem voumllli- gen Irrtumlsquo und nimmt eine neue Uumlberarbeitung vor Von dem urspruumlnglichen Bericht bleibt fast nichts stehenldquo DrsquoHarcourt erzaumlhlt dies als Beweis der Un- moumlglichkeit die Wahrheit uumlber das packendste und aufs genaueste beobachtete Ereignis festzustellen

28 GEFUumlHLE UND SITTLICHKEIT DER MASSEN

All diese Beispiele zeigen ich wiederhole es wie wenig Wert die Zeugenschaft der Massen hat Die Lehrbuumlcher der Logik zaumlhlen die Uumlbereinstimmung zahlreicher Zeugen zur Klasse der sichersten Beweise die man zur Erhaumlrtung einer Tatsache erbringen kann Aber was wir von der Psychologie der Massen wissen zeigt wie sehr sie sich in diesem Punkte taumluschen Die Ereignisse die von der groumlszlig- ten Anzahl von Personen beobachtet wurden sind sicher am zweifelhaftesten Zu erklaumlren eine Tatsache sei von Tausenden von Zeugen gleichzeitig festgestellt worden heiszligt erklaumlren daszlig das wirkliche Ereignis von dem ange- nommenen Bericht im allgemeinen erheblich abweichtAus dem Vorstehenden folgt klar daszlig die Geschichtswerke als reine Phantasiegebilde zu betrachten sind Es sind Phantasieberichte schlecht beobachteter Ereignisse nebst nachtraumlglich ersonnenen Erklaumlrungen Haumltte uns die Ver- gangenheit nicht ihre Literaturdenkmaumller ihre Kunst- und Bauwerke hinterlassen so wuumlszligten wir nicht die geringste Tatsache von ihr Kennen wir ein einziges wahres Wort uumlber das Leben der groszligen Maumlnner die in der Menschheit eine hervorragende Rolle spielten Houmlchstwahrscheinlich nicht Im Grunde hat uumlbrigens ihr tatsaumlchliches Leben recht wenig Interesse fuumlr uns Die legendaumlren Helden nicht die wirklichen Helden haben Eindruck auf die Massen ge- machtLeider sind die Legenden selbst nicht von Dauer Die Phantasie der Massen formt sie je nach den Zeiten und den Rassen um Vom grausamen Jehova der Bibel bis zum Gott der Liebe der heiligen Therese ist ein groszliger Schritt und der in China verehrte Buddha hat mit dem in Indien angebeteten keinen Zug gemeinEs bedarf nicht des Ablaufs von Jahrhunderten damit sich die Heldenlegende in der Phantasie der Massen wandelt diese Wandlung erfolgt oft innerhalb weniger Jahre Wir haben in unsern Tagen erlebt wie sich die Legende eines der groumlszligten Helden der Geschichte in weniger als fuumlnfzig Jahren wiederholt veraumlndert hat Unter den Bourbonen

BEEINFLUSSBARKEIT UND LEICHTGLAumlUBIGKEIT 39

wurde Napoleon zu einer idyllischen menschenfreundlichen und freisinnigen Persoumlnlichkeit einem Freunde der Armen die wie der Dichter sagt sein Andenken in ihrer Huumltte fuumlr lange Zeit bewahren wuumlrden Dreiszligig Jahre spaumlter war der gutmuumltige Held zu einem grausamen Despoten gewor- den zu einem Usurpator von Macht und Freiheit der drei Millionen Menschen nur zur Befriedigung seines Ehrgeizes geopfert hatte Gerade jetzt wandelt sich die Legende wieder Wenn einige Dutzend Jahrhunderte daruumlber hin- gegangen sind werden die zukuumlnftigen Forscher angesichts dieser widersprechenden Berichte vielleicht das Dasein des Helden bezweifeln wie wir bisweilen das Dasein Buddhas bezweifeln und werden dann in ihm nur einen Sonnen- mythus oder eine Fortentwicklung der Herkulessage er- blicken Zweifellos werden sie sich uumlber diese Ungewiszligheit leicht troumlsten denn da sie eine bessere psychologische Er- kenntnis haben werden als wir heutzutage so werden sie wissen daszlig die Geschichte nur Mythen zu verewigen vermag

sect 3 Uumlberschwang (exageacuteration) und Einseitigkeit (simplisme) der Massengefuumlhle

Alle Gefuumlhle gute und schlechte die eine Masse aumluszligert haben zwei Eigentuumlmlichkeiten sie sind sehr einfach und sehr uumlberschwenglich Wie in so vielen andern naumlhert sich auch in dieser Beziehung der einzelne der einer Masse angehoumlrt den primitiven Wesen Gefuumlhlsabstufungen nicht zugaumlnglich sieht er die Dinge grob und kennt keine Uumlber- gaumlnge Der Uumlberschwang der Gefuumlhle in der Masse wird noch dadurch verstaumlrkt daszlig er sich durch Suggestion und Uumlbertragung sehr rasch ausbreitet und daszlig Anerkennung die er erfaumlhrt seinen Spannungsgrad erheblich steigertDie Einseitigkeit und Uumlberschwenglichkeit der Gefuumlhle der Massen bewahren sie vor Zweifel und Ungewiszligheit Den Frauen gleich gehen sie sofort bis zum Aumluszligersten Ein aus- gesprochener Verdacht wird sogleich zu unumstoumlszliglicher

30 GEFUumlHLE UND SITTLICHKEIT DER MASSEN

Gewiszligheit Ein Keim von Abneigung und Miszligbilligung den der einzelne kaum beachten wuumlrde waumlchst beim Ein- zelwesen der Masse sofort zu wildem HaszligDie Heftigkeit der Gefuumlhle der Massen wird besonders bei den ungleichartigen Massen durch das Fehlen jeder Verantwortlichkeit noch gesteigert Die Gewiszligheit der Straflosigkeit die mit der Groumlszlige der Menge zunimmt und das Bewuszligtsein einer bedeutenden augenblicklichen Ge- walt bedingt durch die Masse ermoumlglichen der Gesamtheit Gefuumlhle und Handlungen die dem einzelnen unmoumlglich sind In den Massen verlieren die Dummen Ungebildeten und Neidischen das Gefuumlhl ihrer Nichtigkeit und Ohn- macht an seine Stelle tritt das Bewuszligtsein einer rohen zwar vergaumlnglichen aber ungeheuren KraftUngluumlcklicherweise ruft der Uumlberschwang schlechter Ge- fuumlhle bei den Massen den vererbten Rest der Instinkte des Urmenschen herauf die beim alleinstehenden und verant- wortlichen einzelnen durch die Furcht vor Strafe gezuumlgelt werden So erklaumlrt sich die Neigung der Massen zu schlim- men AusschreitungenWenn die Massen geschickt beeinfluszligt werden koumlnnen sie heldenhaft und opferwillig sein Sie sind es sogar in viel houmlherem Maszlige als der einzelne Wir werden beim Studium der Massenmoral bald Gelegenheit haben auf diesen Punkt zuruumlckzukommenDa die Masse nur durch uumlbermaumlszligige Empfindungen erregt wird muszlig der Redner der sie hinreiszligen will starke Aus- druumlcke gebrauchen Zu den gewoumlhnlichen Beweismitteln der Redner in Volksversammlungen gehoumlrt Schreien Be- teuern Wiederholen und niemals darf er den Versuch machen einen Beweis zu erbringenDie gleiche Uumlbertreibung der Gefuumlhle verlangt die Masse von ihren Helden Ihre Eigenschaften und hervorragenden Tugenden muumlssen stets vergroumlszligert werden Im Theater fordert die Masse von dem Helden des Dramas Tugenden einen Mut und eine Moral wie sie im Leben niemals vor- kommen

UumlBERSCHWANG UND EINSEITIGKEIT 31

Man spricht mit Recht von der besonderen Optik des Thea- ters Zweifellos ist sie vorhanden aber ihre Gesetze haben nichts mit dem gesunden Menschenverstand und der Logik zu tun Die Kunst zur Masse zu sprechen ist von unter- geordnetem Rang erfordert jedoch ganz besondere Faumlhig- keiten Beim Lesen gewisser Stuumlcke kann man sich ihren Erfolg oft nicht erklaumlren Im allgemeinen sind die Theater- direktoren selbst uumlber den Erfolg sehr im Ungewissen wenn ihnen die Stuumlcke eingereicht werden denn um ur- teilen zu koumlnnen muumlszligten sie sich in eine Masse verwan- deln Wenn wir uns mit Einzelheiten befassen koumlnnten waumlre es leicht auch noch den bedeutenden Einfluszlig der Rasse aufzuzeigen Das Drama das in dem einen Lande die Masse begeistert hat oft in einem andern keinen oder nur einen durchschnittlichen Achtungserfolg weil es nicht die Kraumlfte spielen laumlszligt die das neue Publikum bewegen koumlnntenIch brauche nicht besonders zu betonen daszlig der Uumlber- schwang der Massen sich nur auf die Gefuumlhle und in keiner Weise auf den Verstand erstreckt Die Tatsache der bloszligen Zugehoumlrigkeit des einzelnen zur Masse bewirkt wie ich bereits zeigte eine betraumlchtliche Senkung der Voraussetzun- gen seines Verstandes In seinen Untersuchungen uumlber die Massenverbrechen hat Tarde das gleichfalls festgestellt

Dadurch erklaumlrt es sich auch daszlig gewisse Theaterstuumlcke die von allen Direktoren zuruumlckgewiesen wurden zuweilen auszligerordentliche Erfolge er- zielen wenn ihre Auffuumlhrung doch zufaumlllig zustande kommt Der Erfolg des Coppeacuteeschen Stuumlckes bdquoPour la Couronneldquo das zehn Jahre lang trotz des Namens seines Autors von allen Direktoren der ersten Theater abgelehnt wurde ist bekannt bdquoCharleys Tanteldquo wurde nach einer ganzen Reihe von Ablehnungen auf Kosten eines Boumlrsenmaklers aufgefuumlhrt und erzielte in Frank- reich zweihundert in England uumlber tausend Auffuumlhrungen Ohne die ge- nannte Erklaumlrung daszlig sich die Theaterdirektoren nicht in die Seele der Masse versetzen koumlnnen waumlre es unbegreiflich daszlig maszliggebende Einzelne die Wert darauf legen sich nicht durch schwere Irrtuumlmer bloszligzustellen solche Fehlurteile faumlllen koumlnnen

32 GEFUumlHLE UND SITTLICHKEIT DER MASSEN

sect 4 Unduldsamkeit Herrschsucht (autoritarisme) und Konservatismus der Massen

Die Massen kennen nur einfache und uumlbertriebene Gefuumlhle Meinungen Ideen Glaubenssaumltze die man ihnen einfloumlszligt werden daher nur in Bausch und Bogen von ihnen ange- nommen oder verworfen und als unbedingte Wahrheiten oder ebenso unbedingte Irrtuumlmer betrachtet So geht es stets mit Uumlberzeugungen die auf dem Wege der Beeinflussung nicht durch Nachdenken erworben wurden Jedermann weiszlig wie unduldsam die religioumlsen Glaubenssaumltze sind und welche Gewaltherrschaft sie uumlber die Seelen ausuumlbenDa die Masse in das was sie fuumlr Wahrheit oder Irrtum haumllt keinen Zweifel setzt andererseits ein klares Bewuszligt- sein ihrer Kraft besitzt so ist sie ebenso eigenmaumlchtig wie unduldsam Der einzelne kann Widerspruch und Ausein- andersetzung anerkennen die Masse duldet sie niemals In den oumlffentlichen Versammlungen wird der leiseste Wider- spruch eines Redners sofort mit Wutgeschrei und groben Schmaumlhungen beantwortet und wenn der Redner beharr- lich ist folgen leicht Taumltlichkeiten und der Redner wird hinausgeworfen Ohne die einschuumlchternde Anwesenheit der Sicherheitsbehoumlrde wuumlrde man oft den Gegner lynchen Herrschsucht und Unduldsamkeit finden sich bei allen Ar- ten der Massen aber in ganz verschiedenen Graden und hier kommt wieder der Grundbegriff der Rasse zur Gel- tung die alles Fuumlhlen und Denken der Menschen beherrscht Herrschsucht und Unduldsamkeit sind besonders bei den lateinischen Massen ausgebildet und zwar in solchem Maszlige daszlig es ihnen fast gelungen ist das Gefuumlhl der per- soumlnlichen Unabhaumlngigkeit das bei den Angelsachsen so maumlchtig ist bei ihnen voumlllig zu vernichten Die lateinischen Massen haben nur Gefuumlhl fuumlr die Gesamt-Unabhaumlngigkeit ihrer Sekte und bezeichnend fuumlr diese Unabhaumlngigkeit ist das Beduumlrfnis alle Andersglaumlubigen sofort und gewaltsam fuumlr ihren eigenen Glauben zu gewinnen Von der Inquisi- tion angefangen konnten sich bei den lateinischen Voumllkern

die Jakobiner aller Zeiten niemals zu einem andern Frei- heitsbegriff aufschwingenHerrschsucht und Unduldsamkeit sind fuumlr die Massen sehr klare Gefuumlhle die sie ebenso leicht ertragen wie sie sie in die Tat umsetzen Die Massen erkennen die Macht an und werden durch Guumlte die sie leicht fuumlr eine Art Schwauml- che halten nur maumlszligig beeinfluszligt Niemals galten ihre Sym- pathien den guumltigen Herren sondern den Tyrannen von denen sie kraftvoll beherrscht wurden Ihnen haben sie stets die groumlszligten Denkmaumller errichtet Wenn sie den ge- stuumlrmten Despoten gern mit Fuumlszligen treten so geschieht das weil er seine Macht eingebuumlszligt hat und in die Reihe der Schwachen eingereiht wird die man verachtet und nicht fuumlrchtet Das Urbild des Massenhelden wird stets Caumlsaren- charakter zeigen Sein Helmbusch verfuumlhrt sie seine Macht floumlszligt ihnen Achtung ein und sein Schwert fuumlrchten sieStets bereit zur Auflehnung gegen die schwache Obrigkeit beugt sich die Masse knechtisch vor einer starken Herr- schaft Ist die Haltung der Obrigkeit schwankend so wen- det sich die Masse die stets ihren aumluszligersten Gefuumlhlen folgt abwechselnd von der Anarchie zur Sklaverei von der Sklaverei zur AnarchieUumlbrigens wuumlrde man die Psychologie der Massen ganz miszligverstehen wenn man an die Vorherrschaft ihrer revo- lutionaumlren Triebe glaubte Nur ihre Gewalttaten taumluschen uns uumlber diesen Punkt Die Ausbruumlche der Empoumlrung und Zerstoumlrung sind immer nur von kurzer Dauer Die Massen werden zu sehr vom Unbewuszligten geleitet und sind also dem Einfluszlig uralter Vererbung zu sehr unterworfen als daszlig sie nicht aumluszligerst beharrend sein muumlszligten Wenn sie sich selbst uumlberlassen werden erlebt man bald daszlig sie ihrer Zuumlgellosigkeit uumlberdruumlssig instinktiv der Knecht- schaft zusteuern Die kuumlhnsten und schroffsten Jakobiner stimmten Bonaparte entschieden zu als er alle Freiheiten aufhob und seine eiserne Hand schwer fuumlhlen lieszligDie Geschichte der Voumllkerrevolutionen ist fast unverstaumlnd- lich wenn man die von Grund aus beharrenden Trieb-

34 GEFUumlHLE UND SITTLICHKEIT DER MASSEN

kraumlfte der Massen verkennt Sie wuumlnschen zwar die Namen ihrer Einrichtungen zu wechseln und um diesen Wechsel zu vollziehen machen sie zuweilen sogar groszlige Revolu- tionen durch aber der Kern dieser Einrichtungen ist zu sehr Ausdruck der erblichen Beduumlrfnisse der Rasse als daszlig sie nicht immer wiederkehren muumlszligten Die unauf- houmlrliche Veraumlnderlichkeit der Massen erstreckt sich nur auf ganz aumluszligerliche Dinge In Wahrheit haben sie nicht weiter erklaumlrbare Beharrungsinstinkte und wie alle Primitiven eine fetischistische Ehrfurcht vor den Uumlberlieferungen einen unbewuszligten Abscheu vor allen Neuerungen die ihre realen Lebensbedingungen aumlndern koumlnnten Haumltte die De- mokratie in der Zeit der Erfindung der mechanischen Web- stuumlhle der Dampfmaschine der Eisenbahnen die Macht besessen uumlber die sie heute verfuumlgt so waumlre die Verwirk- lichung dieser Erfindungen unmoumlglich gewesen Es ist ein Gluumlck fuumlr den Fortschritt der Kultur daszlig die Uumlbermacht der Massen erst dann geboren wurde als die groszligen Ent- deckungen der Wissenschaft und der Industrie vollendetwaren

sect 5 Sittlichkeit der Massen

Wenn wir mit dem Begriff Sittlichkeit den Sinn fuumlr die Achtung vor gewissen sozialen Gebraumluchen und die be- staumlndige Unterdruumlckung eigennuumltziger Antriebe verbinden dann liegt es auf der Hand daszlig die Massen zu triebhaft und veraumlnderlich sind um fuumlr Sittlichkeit empfaumlnglich zu sein Wenn wir aber unter dem Begriff der Sittlichkeit das augenblickliche Auftreten gewisser Eigenschaften wie Ent- sagung Ergebenheit Uneigennuumltzigkeit Selbstaufopferung Rechtsgefuumlhl verstehen so koumlnnen wir sagen die Massen sind oft eines sehr hohen Maszliges von Sittlichkeit faumlhigDie wenigen Psychologen die sich mit dem Studium der Massen befaszligt haben taten es nur in bezug auf ihre ver- brecherischen Handlungen Und in Anbetracht der Haumlufig- keit solcher Taten haben sie die Massen als sittlich sehr tiefstehend beurteilt

SITTLICHKEIT 35

Gewiszlig erbringen sie oft den Beweis dafuumlr aber wie kommtdas Nur weil die Triebe zerstoumlrerischer Wildheit Uumlber- reste aus der Urzeit sind die in jedem von uns schlum- mern Fuumlr den einzelnen waumlre es zu gefaumlhrlich diese Triebe zu befriedigen waumlhrend ihm sein Untertauchen in einer unverantwortlichen Masse durch die ihm Straflosig- keit gesichert ist voumlllige Freiheit der Triebbefriedigung gewaumlhrt Da wir diese Zerstoumlrungstriebe gewoumlhnlich nicht an unseren Mitmenschen ausuumlben koumlnnen so beschraumlnken wir uns darauf sie an Tieren auszulassen Derselben Quelle entspringen die Jagdleidenschaft und die Grausamkeit der Massen Die Masse die ein wehrloses Opfer langsam zu Tode quaumllt gibt den Beweis feiger Grausamkeit fuumlr den Philosophen aber ist sie in hohem Maszlige mit der Grausam- keit der Jaumlger verwandt die dutzendweise zusammen- kommen um mit Vergnuumlgen zu sehen daszlig ihre Hunde einem ungluumlcklichen Hirsch den Bauch aufreiszligenWenn nun die Masse imstande ist Mordtaten Brandstif- tungen und Verbrechen aller Art zu begehen so ist sie ebenso zu Taten der Hingabe Aufopferung und Uneigen- nuumltzigkeit faumlhig sogar in houmlherem Maszlige als der einzelne Besonders wirkt man auf den einzelnen in der Masse wenn man sich auf die Gefuumlhle fuumlr Ruhm und Ehre Re- ligion und Vaterland beruft Die Geschichte ist voller Bei- spiele dieser Art wie sie die Kreuzzuumlge bieten und die Freiwilligen von 793 Nur die Gesamtheiten sind groszliger Uneigennuumltzigkeit und Aufopferung faumlhig Wie viele Mas- sen haben sich fuumlr Uumlberzeugungen und Ideen die sie kaum verstanden heldenhaft hinschlachten lassen Massen die in Streik treten streiken oft wohl mehr um einem Kampfruf zu folgen als um einen Lohnzuschlag zu erlangen Das persoumlnliche Interesse ist bei den Massen selten eine maumlch- tige Triebkraft waumlhrend es bei dem einzelnen fast den ausschlieszliglichen Antrieb bildet Es ist wahrlich nicht der Eigennutz der die Massen in so viele Kriege fuumlhrte die fuumlr ihren Verstand unbegreiflich waren und in denen sie

36 GEFUumlHLE UND SITTLICHKEIT DER MASSEN

sich so leicht niedermetzeln lieszligen wie die Lerchen die durch den Spiegel des Jaumlgers hypnotisiert werdenSelbst die ausgemachtesten Schufte nehmen oft allein durch die Tatsache der Vereinigung in einer Masse sehr strenge moralische Grundsaumltze an Taine zeigt daszlig die Menschen- schlaumlchter der Septembertage [792] die bei ihren Opfern vorgefundenen Brieftaschen und Schmuckstuumlcke die sie leicht an sich nehmen konnten auf den Tisch der Ausschuumlsse nieder- legten Die heulende wimmelnde elende Volksmasse die in der Revolution vom Jahre 848 in die Tuilerien eindrang nahm nichts von den Gegenstaumlnden die sie blendeten und von denen ein jeder Brot fuumlr viele Tage bedeutet haumltteDiese Versittlichung des einzelnen durch die Masse ist ge- wiszlig keine feste Regel aber sie ist haumlufig zu beobachten und selbst unter viel weniger ernsten Umstaumlnden als den von mir angefuumlhrten Wie ich bereits sagte verlangt die Masse im Theater von dem Helden des Dramas uumlbertrie- ben hohe Tugenden und selbst eine Zuhoumlrerschaft die aus niedrigen Elementen zusammengesetzt ist erweist sich oft- mals als sehr pruumlde Der berufsmaumlszligige Lebemann der Zu- haumllter der Bummler und Sportvogel murrt oft bei einer etwas gewagten Szene oder einer schluumlpfrigen Rede die doch im Vergleich zu ihren uumlbrigen Unterhaltungen recht harmlos istFroumlnen die Massen also oft niedrigen Instinkten so bieten sie manchmal auch wieder Beispiele hochsittlicher Hand- lungsweise Wenn Uneigennuumltzigkeit Entsagung bedin- gungslose Hingabe an ein eingebildetes oder wirkliches Ideal sittliche Tugenden sind dann kann man sagen daszlig die Massen diese Tugenden oft in einem so hohen Grade besitzen wie ihn die weisesten Philosophen selten erreicht haben Gewiszlig uumlben sie diese Tugenden unbewuszligt aus aber darauf kommt es nicht an Haumltten die Massen zuweilen nachgedacht und ihren eigenen Vorteil wahrgenommen dann haumltte sich vielleicht keine Kultur auf der Oberflaumlche unseres Planeten entfaltet und die Menschheit waumlre ohne Geschichte geblieben

SITTLICHKEIT 37

3 KAPITEL

Ideen Urteile und Einbildungskraft der Massen

sect Die Ideen der Massen

Die Untersuchungen einer fruumlheren Arbeit von mir uumlber die Bedeutung der Ideen fuumlr die Entwicklung der Voumllker haben bewiesen daszlig sich jede Zivilisation aus einer ge- ringen Anzahl selten erneuter Grundideen entwickelt Ich habe dort dargelegt wie sich diese Ideen in der Seele der Massen festsetzen wie muumlhsam sie in sie eindringen und welche Macht sie dann gewinnen Ich zeigte wie die gro- szligen historischen Umwaumllzungen meistens aus der Veraumln- derung dieser Grundideen entstehenDa ich diesen Gegenstand hinreichend behandelt habe so moumlchte ich nicht darauf zuruumlckkommen und will mich dar- auf beschraumlnken einige Worte uumlber die Ideen zu sagen die den Massen zugaumlnglich sind und unter welchen Formen sie sie erfassenMan kann sie in zwei Klassen einteilen Zu der einen zaumlhlen wir die zufaumllligen und fluumlchtigen Ideen die unter dem Einfluszlig des Augenblicks entstehen z B die Vorliebe fuumlr eine Person oder eine Lehre Zu der anderen die Grundideen denen Umgebung Vererbung Glaube groszlige Dauerhaftigkeit verleihen wie z B die religioumlsen Glau- benssaumltze von ehemals die demokratischen und sozialen Ideen von heuteMan kann sich die Grundideen als die Wassermasse eines langsam dahinstroumlmenden Flusses die fluumlchtigen Ideen als die kleinen immer wechselnden Wellen vorstellen die seine Oberflaumlche erregen und obwohl ohne wirkliche Be- deutung sichtbarer sind als der Fluszliglauf selbstIn unseren Tagen geraten die Grundanschauungen von denen unsere Vaumlter lebten immer mehr ins Wanken und gleichzeitig erweisen sich die Einrichtungen die auf ihnen beruhen als voumlllig erschuumlttert Taumlglich bilden sich viele

jener kleinen fluumlchtigen Ideen von denen ich eben sprach aber nur wenige von ihnen scheinen uumlberwiegenden Ein- fluszlig gewinnen zu sollenWelche Ideen den Massen auch suggeriert werden moumlgen zur Wirkung koumlnnen sie nur kommen wenn sie in sehr einfacher Form aufzunehmen sind und sich in ihrem Geist in bildhafter Erscheinung widerspiegeln Kein Band logi- scher Uumlbereinstimmung oder Folgerichtigkeit verbindet diese Vorstellungsbilder miteinander sie koumlnnen einander vertreten wie die Glaumlser der Laterna magica die der Vor- fuumlhrer der Schachtel entnimmt in der sie uumlbereinander- geschichtet lagen Man wird also einsehen daszlig in der Masse die entgegengesetztesten Vorstellungen einander fol- gen Unter dem Einfluszlig einer der verschiedenen in ihrem Verstand aufgespeicherten Ideen folgt die Masse dem Zu- fall des Augenblicks und wird infolgedessen die verschie- denartigsten Taten begehen Der voumlllige Mangel an kriti- schem Geist laumlszligt sie die Widerspruumlche nicht sehenDiese Erscheinung tritt uumlbrigens nicht nur bei den Massen auf Man trifft sie auch bei vielen einzelnen nicht nur bei Primitiven Ich habe es bei gelehrten Hindus die an unse- ren europaumlischen Universitaumlten studierten und promovier- ten beobachtet Ohne die feste Grundlage ihrer ererbten religioumlsen oder sozialen Ideen im geringsten zu beeintraumlch- tigen hatte sich daruumlber eine Schicht abendlaumlndischer mit jenen nicht verwandter Anschauungen gelegt Bei zufaumllligen Gelegenheiten kamen nun bald diese bald jene in Worten oder Taten zum Vorschein und derselbe Mensch zeigte so die offensichtlichsten Widerspruumlche Freilich Wider- spruumlche mehr scheinbarer als wirklicher Art denn nur die ererbten Vorstellungen sind beim einzelnen maumlchtig genug um zu Triebkraumlften seines Verhaltens zu werden Nur dann wenn der Mensch infolge von Kreuzungen aus ver- schiedenen Erbmassen beeinfluszligt wird koumlnnen sich seine Handlungen wirklich von einem Augenblick zum anderen voumlllig widersprechen Es ist unnoumltig diese Erscheinungen hier besonders zu betonen obwohl sie von wesentlicher

DIE IDEE DER MASSEN 39

psychologischer Bedeutung sind Meiner Meinung nach be- darf es zu ihrem Verstaumlndnis wenigstens zehnjaumlhriger Rei- sen und BeobachtungenDa die Ideen den Massen nur in sehr einfacher Gestalt zu- gaumlnglich sind muumlssen sie sich um volkstuumlmlich zu werden oft voumlllig umformen Wenn es sich um hochwertige philo- sophische oder wissenschaftliche Ideen handelt kann man die grundlegenden Veraumlnderungen feststellen deren sie beduumlrfen um von Stufe zu Stufe bis zum Standort der Massen hinabzusteigen Diese Veraumlnderungen sind beson- ders abhaumlngig von der Rasse der die Masse angehoumlrt doch sie verkleinern oder vereinfachen stets Daher gibt es in Wahrheit vorn sozialen Gesichtspunkt keine Rangordnung der Ideen d h mehr oder weniger hohe Anschauungen Schon durch die Tatsache daszlig eine Idee zu den Massen gelangt und hier zu wirken vermag wird sie beinahe all dessen entkleidet was ihre Groumlszlige und Erhabenheit aus- machteDer Wert einer Idee ihrer Rangordnung nach ist uumlbrigens bedeutungslos nur die von ihr erzeugten Wirkungen sind zu beachten Die christlichen Ideen des Mittelalters die demokratischen Ideen des 8 Jahrhunderts die sozialisti- schen Ideen der Gegenwart stehen gewiszlig nicht besonders hoch man kann sie in philosophischer Beziehung als ziem- lich armselige Irrtuumlmer betrachten aber ihre Bedeutung war und ist ungeheuer und noch lange werden sie die wesentlichsten Mittel zur Fuumlhrung der Staaten bleibenAber selbst wenn die Idee die Veraumlnderung durchgemacht hat durch die sie fuumlr die Massen annehmbar wurde wirkt sie nur wenn sie ndash durch verschiedene Vorgaumlnge die noch zu erforschen sind ndash in das Unbewuszligte eingedrungen und zu einem Gefuumlhl geworden ist Diese Umwandlung dauert im allgemeinen sehr langeMan darf nicht glauben eine Idee koumlnne durch den Beweis ihrer Richtigkeit selbst bei gebildeten Geistern Wirkungen erzielen Man wird davon uumlberzeugt wenn man sieht wie wenig Einfluszlig die klarste Beweisfuumlhrung auf die Mehrzahl

40 IDEEN URTEILE UND EINBILDUNGSKRAFT DER MASSEN

der Menschen hat Der unumstoumlszligliche Beweis kann von einem geuumlbten Zuhoumlrer angenommen worden sein aber das Unbewuszligte in ihm wird ihn schnell zu seinen ur- spruumlnglichen Anschauungen zuruumlckfuumlhren Sehen wir ihn nach einigen Tagen wieder wird er aufs neue mit genau denselben Worten seine Einwaumlnde vorbringen Er steht tatsaumlchlich unter dem Einfluszlig fruumlherer Anschauungen die aus Gefuumlhlen gewachsen sind und nur sie wirken auf die Motive unserer Worte und TatenHat sich aber eine Idee endlich in die Seele der Massen eingegraben dann entwickelt sie eine unwiderstehliche Macht und es ergibt sich eine ganze Reihe von Wirkungen Die philosophischen Ideen die zur Franzoumlsischen Revolu- tion fuumlhrten brauchten fast ein Jahrhundert um in der Volksseele Wurzel zu fassen Man weiszlig welche unwider- stehliche Gewalt sie dann entfalteten Der Ansturm eines ganzen Volkes zur Eroberung der sozialen Gleichheit zur Verwirklichung begrifflicher Rechte und idealer Freiheiten erschuumltterte die abendlaumlndische Welt bis auf den Grund Zwanzig Jahre lang fielen die Voumllker uumlbereinander her und Europa lernte Hekatomben kennen die mit denen des Dschingiskhan und Tamerlan zu vergleichen sind Nie trat so klar zutage was die Leidenschaft der Ideen die die Faumlhigkeit haben die Richtung der Gefuumlhle zu aumlndern her- vorbringen kannIdeen brauchen lange Zeit um sich in der Masse festzu- setzen und sie brauchen nicht weniger Zeit um wieder daraus zu verschwinden Auch sind die Massen in bezug auf Ideen immer mehrere Generationen hinter den Wissen- schaftlern und Philosophen zuruumlck Alle Staatsmaumlnner wis- sen heute wieviel Irrtum in den Grundideen steckt die ich soeben anfuumlhrte da aber ihr Einfluszlig noch sehr stark ist so sind sie genoumltigt nach Grundsaumltzen zu regieren an deren Wahrheit sie nicht mehr glauben

DIE IDEE DER MASSEN 41

sect 2 Die Urteile der Massen

Man kann nicht mit unbedingter Bestimmtheit sagen daszlig Massen durch Schluszligfolgerungen nicht zu beeinf lussen waumlren Aber die Beweise die sie anwenden und die wel- che auf sie wirken scheinen vom Standpunkt der Logik so untergeordneter Art daszlig man sie allein mit Hilfe der Analogie als Schluumlsse gelten lassen kannDie untergeordneten Schluszligfolgerungen beruhen ebenso wie die houmlherentwickelten auf Ideenverbindungen aber die von den Massen in Verbindung gebrachten Ideen sind nur durch Aumlhnlichkeit und Aufeinanderfolge verknuumlpft Sie verketten sich wie die des Eskimo der aus Erfahrung weiszlig daszlig das Eis ein durchsichtiger Koumlrper im Munde schmilzt und der daraus schlieszligt daszlig Glas ebenfalls ein durch- sichtiger Koumlrper auch im Munde schmelzen muumlsse oder wie die des Wilden der sich einbildet wenn er das Herz eines tapferen Feindes verzehre erwerbe er dessen Tapfer- keit oder auch wie die des Arbeiters der von seinem Arbeitgeber ausgebeutet wurde und daraus schlieszligt daszlig alle Unternehmer Ausbeuter seienVerknuumlpfung aumlhnlicher Dinge wenn sie auch nur ober- flaumlchliche Beziehungen zueinander haben und vorschnelle Verallgemeinerung von Einzelfaumlllen das sind die Merk- male der Massenlogik Schluszligfolgerungen solcher Art wer- den den Massen durch geschickte Redner immer wieder vorgesetzt Von ihnen allein lassen sie sich beeinflussen Eine logische Kette unumstoumlszliglicher Urteile wuumlrde fuumlr die Massen voumlllig unfaszligbar sein und deshalb darf man sagen daszlig sie gar nicht oder falsch urteilen und durch Logik nicht zu beeinflussen sind Oft staunen wir beim Lesen uumlber die Schwaumlche gewisser Reden die ungeheuren Ein- druck auf ihre Zuhoumlrer gemacht haben aber man vergiszligt daszlig sie dazu bestimmt waren Massen hinzureiszligen und nicht dazu von Philosophen gelesen zu werden Der Red- ner der mit der Masse in inniger Verbindung steht weiszlig die Bilder hervorzurufen durch die sie verfuumlhrt wird

Gelingt ihm das so ist sein Ziel erreicht und ein Band voll Reden wiegt die wenigen Phrasen nicht auf durch die es gelang die Seelen so zu verfuumlhren daszlig sie sich uumlber- zeugen lieszligenEs ist uumlberfluumlssig zu bemerken daszlig die Unfaumlhigkeit der Massen richtig zu urteilen ihnen jede Moumlglichkeit kriti- schen Geistes raubt das heiszligt die Faumlhigkeit Wahrheit und Irrtum voneinander zu unterscheiden und ein scharfes Urteil abzugeben Die Urteile die die Massen annehmen sind nur aufgedraumlngte niemals gepruumlfte Urteile Viele einzelne erheben sich in dieser Beziehung nicht uumlber die Masse Die Leichtigkeit mit der gewisse Meinungen all- gemein werden haumlngt vor allem mit der Unfaumlhigkeit der meisten Menschen zusammen sich auf Grund ihrer beson- deren Schluumlsse eine eigne Meinung zu bilden

sect 3 Die Einbildungskraft der Massen

Die auffallende Einbildungskraft der Massen ist wie bei allen Wesen fuumlr die logisches Denken nicht in Frage kommt leicht aufs tiefste zu erregen Die Bilder die in ihrem Geist durch eine Person ein Ereignis einen Un- gluumlcksfall hervorgerufen werden sind fast so lebendig wie die wirklichen Dinge Die Massen befinden sich ungefaumlhr in der Lage eines Schlaumlfers dessen Denkvermoumlgen im Augenblick aufgehoben ist so daszlig in seinem Geist Bilder von aumluszligerster Heftigkeit aufsteigen die sich aber schnell verfluumlchtigen wuumlrden wenn die Uumlberlegung mitzureden haumltte Fuumlr die Massen die weder zur Uumlberlegung noch zum logischen Denken faumlhig sind gibt es nichts Unwahrschein- liches Vielmehr die unwahrscheinlichsten Dinge sind in der Regel die auffallendstenDaher werden die Massen stets durch die wunderbaren und legendaumlren Seiten der Ereignisse am staumlrksten er- griffen Das Wunderbare und das Legendaumlre sind tatsaumlch- lich die wahren Stuumltzen einer Kultur Der Schein hat in der Geschichte stets eine groumlszligere Rolle gespielt als das

DIE EINBILDUNGSKRAFT DER MASSEN 43

Sein Das Unwirkliche hat stets den Vorrang vor dem WirklichenDie Massen koumlnnen nur in Bildern denken und lassen sich nur durch Bilder beeinflussen Nur diese schrecken oder verfuumlhren sie und werden zu Ursachen ihrer Taten Darum haben auch Theatervorstellungen die das Bild in seiner klarsten Form geben stets einen ungeheuren Einfluszlig auf die Massen Fuumlr den roumlmischen Poumlbel bildeten einst Brot und Spiele das Gluumlcksideal Dies Ideal hat sich im Laufe der Zeiten wenig geaumlndert Nichts erregt die Phantasie des Volkes so stark wie ein Theaterstuumlck Alle Versammelten empfinden gleichzeitig dieselben Gefuumlhle und wenn sie sich nicht sofort in Taten umsetzen so geschieht das nur weil auch der unbewuszligte Zuschauer nicht im Zweifel sein kann daszlig er das Opfer einer Taumluschung ist und uumlber ein- gebildete Abenteuer geweint oder gelacht hat Manchmal jedoch sind die Gefuumlhle die durch diese Bilder suggeriert werden stark genug um wie die gewoumlhnlichen Suggestio- nen danach zu streben sich in Taten umzusetzen Man hat schon oft die Geschichte von jenem Volkstheater erzaumlhlt das den Schauspieler der den Verraumlter spielte nach Schluszlig der Vorstellung schuumltzen muszligte um ihn den Angriffen der uumlber seine vermeintlichen Verbrechen empoumlrten Zuschauer zu entziehen Das ist meiner Meinung nach eins der tref- fendsten Beispiele fuumlr den geistigen Zustand der Massen und besonders fuumlr die Leichtigkeit mit der man sie beein- f luszligt Das Unwirkliche ist in ihren Augen fast ebenso wichtig wie das Wirkliche Sie haben eine auffallende Nei- gung keinen Unterschied zu machenIn der Phantasie des Volkes ist die Macht der Eroberer und die Kraft der Staaten begruumlndet Wenn man auf sie Ein- druck macht reiszligt man die Massen mit Alle bedeutenden geschichtlichen Ereignisse die Entstehung des Buddhismus des Christentums des Islams der Reformation der Revolu- tion und in unserer Zeit das drohende Hereinbrechen des Sozialismus sind die unmittelbaren oder mittelbaren Folgen starker Eindruumlcke auf die Phantasie der Massen

44 IDEEN URTEILE UND EINBILDUNGSKRAFT DER MASSEN

Auch die groszligen Staatsmaumlnner aller Zeiten und Laumlnder die unumschraumlnkten Gewaltherrscher einbegriffen haben die Volksphantasie als Stuumltze ihrer Macht betrachtet Nie- mals haben sie versucht gegen sie zu regieren bdquoIch habe den Krieg in der Vendeacutee beendigt indem ich katholisch wurdeldquo sagte Napoleon im Staatsrat bdquoin Aumlgypten habe ich dadurch Fuszlig gefaszligt daszlig ich mich zum Mohammedaner machte und die italienischen Priester gewann ich indem ich ultramontan wurde Wenn ich uumlber ein juumldisches Volk herrschte wuumlrde ich den Salomonischen Tempel wieder aufbauen lassenldquo Seit Alexander und Caumlsar hat es viel- leicht niemals ein groszliger Mann besser verstanden Ein- druck auf die Massenseele zu machen es war Napoleons staumlndige Sorge sie zu beeinflussen Von ihr traumlumte er bei seinen Siegen in seinen Reden seinen Abhandlungen bei all seinen Taten ndash und noch auf seinem Totenbett traumlumte er davonWie macht man Eindruck auf die Phantasie der Massen Wir werden es gleich sehen Einstweilen sei nur gesagt daszlig dieser Zweck nie durch den Versuch erreicht wird auf Geist und Vernunft zu wirken Antonius brauchte keine ge- lehrte Rhetorik um das Volk gegen Caumlsars Moumlrder aufzu- wiegeln Er las ihnen Caumlsars Testament vor und zeigte ihnen seinen LeichnamAlles was die Phantasie der Massen erregt erscheint in der Form eines packenden klaren Bildes das frei ist von jedem Deutungszubehoumlr und nur durch einige wunderbare Tatsachen gestuumltzt einen groszligen Sieg ein groszliges Wunder ein groszliges Verbrechen eine groszlige Hoffnung Sie pflegt die Dinge in Bausch und Bogen aufzunehmen und ohne jemals ihre Entwicklung zu beachten Hundert kleine Verbrechen oder hundert kleine Unfaumllle werden auf die Phantasie der Massen oft nicht die geringste Wirkung ausuumlben wohl aber wird sie durch ein einziges unerhoumlrtes Verbrechen ein einziges groszliges Ungluumlck tief erschuumlttert wenn es auch viel weniger blutig ist als die hundert kleinen Unfaumllle zu- sammengenommen Die groszlige Grippe-Epidemie an der

45DIE EINBILDUNGSKRAFT DER MASSEN

vor einigen Jahren in Paris fuumlnftausend Menschen inner- halb weniger Wochen starben machte auf die Volksphan- tasie wenig Eindruck Freilich wandelte sich diese Heka- tombe im wahrsten Sinne nicht in einige sichtbare Bilder sondern nur in die taumlglichen statistischen Berichte um Ein Ungluumlcksfall der statt fuumlnftausend nur fuumlnfhundert Men- schenleben kostet aber an einem einzigen Tage auf einem oumlffentlichen Platz in einem sichtbaren Geschehnis eintraumlte z B der Einsturz des Eiffelturms wuumlrde einen ungeheuren Eindruck auf die Einbildungskraft gemacht haben Der mutmaszligliche Verlust eines Ozeandampfers von dem man irrtuumlmlich glaubte er sei auf hoher See untergegangen erregte die Massenphantasie acht Tage lang auszligerordent- lich Die Statistik zeigt nun aber daszlig in demselben Jahre tausend groszlige Schiffe Schiffbruch erlitten Aber um diese allmaumlhlichen Verluste die auf andre Art recht erhebliche Opfer an Menschenleben und Handelswerten forderten kuumlmmerten sich die Massen keinen AugenblickAlso nicht die Tatsachen als solche erregen die Volksphan- tasie sondern die Art und Weise wie sie sich vollziehen Sie muumlssen durch Verdichtung ndash wenn ich so sagen darf ndash ein packendes Bild hervorbringen das den Geist erfuumlllt und ergreift Die Kunst die Einbildungskraft der Massen zu erregen ist die Kunst sie zu regieren

4 KAPITEL

Die religioumlsen Formen die alle Uumlberzeugungen der Masse annehmen

Wir haben gesehen daszlig die Massen nicht uumlberlegen daszlig sie Ideen in Bausch und Bogen annehmen oder verwerfen weder Auseinandersetzung noch Widerspruch dulden und daszlig die Einfluumlsse die auf sie wirken den Bereich ihrer Vernunft gaumlnzlich erfuumlllen und danach streben sich so- gleich in die Tat umzusetzen Wir haben gezeigt daszlig die

46 DIE RELIGIOumlSEN FORMEN DER MASSENUumlBERZEUGUNGEN

entsprechend beeinfluszligten Massen bereit sind sich fuumlr das Ideal zu opfern das man ihnen suggeriert hat Wir haben schlieszliglich festgestellt daszlig sie nur heftige und extreme Gefuumlhle kennen Die Zuneigung wird bei ihnen schnell zur Anbetung und kaum geborene Abneigung wandelt sich in Haszlig Diese allgemeinen Merkmale lassen uns die Art ihrer Uumlberzeugungen ahnenDie naumlhere Untersuchung der Uumlberzeugungen der Masse sowohl in den Zeiten des Glaubens als in den groszligen politischen Erhebungen wie etwa im vorigen Jahrhundert ergibt daszlig diese Uumlberzeugungen stets eine besondere Form aufweisen die ich nicht besser zu bezeichnen weiszlig als mit dem Namen religioumlsen GefuumlhlsDies Gefuumlhl besitzt sehr einfache Kennzeichen Anbetung eines vermeintlichen houmlheren Wesens Furcht vor der Ge- walt die ihm zugeschrieben wird blinde Unterwerfung unter seine Befehle Unfaumlhigkeit seine Glaubenslehren zu untersuchen die Bestrebung sie zu verbreiten die Neigung alle als Feinde zu betrachten die sie nicht an- nehmen Ob sich ein derartiges Gefuumlhl auf einen unsicht- baren Gott auf ein steinernes Idol auf einen Helden oder auf eine politische Idee richtet ndash sobald es die angefuumlhrten Merkmale aufweist ist es immer religioumlser Art Das Uumlber- natuumlrliche und das Wunderbare sind uumlberall darin wieder- zuerkennen Die Massen umkleiden das politische Bekennt- nis oder den siegreichen Anfuumlhrer der sie fuumlr den Augen- blick zur Schwaumlrmerei hinreiszligt mit derselben geheimnis- vollen MachtNicht nur dann ist man religioumls wenn man eine Gottheit anbetet sondern auch dann wenn man alle Kraumlfte seines Geistes alle Unterwerfung seines Willens alles Gluten des Fanatismus dem Dienst einer Macht oder eines Wesens weiht das zum Ziele und Fuumlhrer der Gedanken und Handlungen wirdMit dem religioumlsen Gefuumlhl sind gewoumlhnlich Unduldsamkeit und Fanatismus verbunden Sie sind unausbleiblich bei allen die das Geheimnis des irdischen und himmlischen

DIE RELIGIOumlSEN FORMEN DER MASSENUumlBERZEUGUNGEN 47

Gluumlckes zu besitzen glauben Die beiden Eigenschaften sind bei allen in einer Gruppe vereinigten Menschen wiederzu- finden wenn irgendein Glaube sie erhebt Die Jakobiner der Schreckenstage waren ebenso tief religioumls wie die Ka- tholiken der Inquisition und ihr grausamer Eifer ent- sprang der gleichen QuelleDie Uumlberzeugungen der Massen nehmen die Eigenschaften der blinden Unterwerfung der grausamen Unduldsamkeit und des Beduumlrfnisses nach Verbreitung an die mit dem religioumlsen Gefuumlhl verbunden sind so daszlig man also sagen kann alle ihre Uumlberzeugungen haben eine religioumlse Form Der Held dem die Masse zujubelt ist in der Tat ein Gott fuumlr sie Napoleon war es fuumlnfzehn Jahre lang und keine Gottheit hat eifrigere Anbeter gehabt auch sandte keine die Menschen leichter in den Tod Die Heiden- und Chri- stengoumltter uumlbten niemals eine vollkommenere Herrschaft uumlber die Seelen ausAlle Stifter religioumlser und politischer Glaubensbekenntnisse haben sie nur dadurch begruumlndet daszlig sie es verstanden den Massen jene Gefuumlhle des religioumlsen Fanatismus ein- zufloumlszligen die bewirken daszlig der Mensch sein Gluumlck in der Anbetung findet und ihn dazu treiben sein Leben fuumlr sein Idol zu opfern So war es zu allen Zeiten In seinem schouml- nen Buch uumlber das roumlmische Gallien macht Pustel de Cou- langes darauf aufmerksam daszlig das roumlmische Kaiserreich sich keineswegs durch seine Kraft sondern durch die reli- gioumlse Bewunderung erhielt die es einfloumlszligte bdquoEs waumlre in der Geschichte ohne Beispielldquo sagt er mit Recht bdquodaszlig eine Regierung die von der Bevoumllkerung verabscheut wird fuumlnf Jahrhunderte gewaumlhrt haumltte hellip Es waumlre unerklaumlrlich daszlig dreiszligig Legionen des Kaiserreichs hundert Millionen Menschen zum Gehorsam zwingen konntenldquo Sie gehorch- ten aber nur weil der Kaiser der die Groumlszlige Roms ver- koumlrperte einmuumltig als Gott verehrt wurde Im kleinsten Flecken des Reiches besaszlig der Kaiser seine Altaumlre bdquoIn jener Zeit sah man von einem Ende des Reiches bis zum andern in den Seelen eine neue Religion entstehen deren

48 DIE RELIGIOumlSEN FORMEN DER MASSENUumlBERZEUGUNGEN

Gottheiten die Kaiser selbst waren Einige Jahre vor dem christlichen Zeitalter errichtete ganz Gallien welches durch sechzig Staumldte vertreten wurde dem Augustus gemeinsam einen Tempel bei Lyon hellip Seine Priester die von der Gesamtheit der gallischen Staumldte gewaumlhlt wurden waren die ersten Persoumlnlichkeiten des Landes hellip Man kann un- moumlglich dies alles der Furcht und der knechtischen Unter- werfung zuschreiben Ganze Voumllker sind nicht knechtisch und sind es nicht drei Jahrhunderte lang Nicht allein die Houmlflinge verehrten den Fuumlrsten sondern Rom und nicht Rom allein auch Gallien Spanien Griechenland und AsienldquoHeutzutage besitzen die meisten groszligen Seeleneroberer keine groszligen Altaumlre mehr wohl aber Statuen oder Bilder und der Kultus den man mit ihnen treibt ist von dem fruumlheren nicht erheblich verschieden Man faumlngt an die Philosophie der Geschichte ein wenig zu verstehen wenn man diesen Angelpunkt der Psychologie der Massen recht begriffen hat Fuumlr die Massen muszlig man entweder ein Gott sein oder man ist nichtsDas sind nicht nur aberglaumlubische Anschauungen einer anderen Zeit die die Vernunft endguumlltig verscheucht hat In seinem ewigen Kampf mit der Vernunft wurde das Ge- fuumlhl nie besiegt Zwar wollen die Massen die Worte Gott- heit und Religion von denen sie so lange beherrscht wur- den nicht mehr houmlren aber zu keiner Zeit sah man sie so viele Bildwerke und Altaumlre errichten wie seit einem Jahr- hundert Die Volksbewegung die unter dem Namen Bou- langismus bekannt wurde hat bewiesen wie leicht die religioumlsen Instinkte der Massen der Erneuerung faumlhig sind Damals gab es kein Dorfwirtshaus in dem nicht das Bild des Helden zu finden war Man schrieb ihm die Macht zu allen Ungerechtigkeiten allen Uumlbeln abzuhelfen und Tau- sende von Menschen haumltten ihr Leben fuumlr ihn hingegeben Welchen Platz haumltte er in der Geschichte eingenommen wenn sein Charakter mit der Legende Schritt gehalten haumltte

49MACHT DER RELIGIOumlS GEWORDENEN UumlBERZEUGUNGEN

Auch ist es eine uumlberfluumlssige Banalitaumlt zu wiederholen die Massen beduumlrften einer Religion Denn alle politischen religioumlsen und sozialen Glaubenslehren finden bei ihnen nur Aufnahme unter der Bedingung daszlig sie eine religioumlse Form angenommen haben die sie jeder Auseinandersetzung entzieht Wenn es moumlglich waumlre die Massen zu bewegen den Atheismus anzunehmen so wuumlrde er ganz zum un- duldsamen Eifer eines religioumlsen Gefuumlhls und in seinen aumluszligeren Formen bald zu einem Kultus werden Ein merk- wuumlrdiges Beispiel bietet uns die Entwicklung der kleinen positivistischen Sekte Sie gleicht jenem Nihilisten dessen Geschichte der tiefgruumlndige Dostojewskij uns erzaumlhlt Vom Geiste erleuchtet zerbrach er eines Tages die Bildwerke der Gottheiten und Heiligen die den Altar seiner Kapelle schmuumlckten loumlschte die Kerzen aus und ersetzte ohne einen Augenblick zu zoumlgern die zerstoumlrten Bilder durch die Werke einiger atheistischer Philosophen dann zuumlndete er pietaumltvoll die Kerzen wieder an Der Gegenstand seines religioumlsen Glaubens war ein andrer geworden aber kann man behaupten daszlig sich seine religioumlsen Gefuumlhle geaumlndert hattenIch wiederhole noch einmal gewisse historische Ereignisse und zwar gerade die wichtigsten kann man nur verstehen wenn man die Form welche die Uumlberzeugungen der Mas- sen stets annehmen in Rechnung stellt Viele soziale Er- scheinungen sollten lieber von Psychologen als von Natur- forschern studiert werden Unser groszliger Historiker Taine hat die Revolution nur als Naturforscher studiert und so ist ihm die wirkliche Entwicklung der Ereignisse recht oft verborgen geblieben Er hat die Tatsachen vorzuumlglich be- obachtet aber da er die Massenpsychologie nicht genuumlgend erforscht hatte konnte sie der beruumlhmte Schriftsteller nicht immer aus den Ursachen erklaumlren Da die Tatsachen ihn durch ihre Blutigkeit und Wildheit und ihren Anarchismus erschreckten so erschienen ihm die Helden in dem groszligen Epos nur als eine Horde epileptischer Wilder die sich zuumlgellos ihren Trieben hingaben Die Gewalttaten der Re-

50 DIE RELIGIOumlSEN FORMEN DER MASSENUumlBERZEUGUNGEN

volution ihre Metzeleien ihr Beduumlrfnis nach Verbreitung ihre Kriegserklaumlrung an alle Koumlnige sind nur zu erklaumlren wenn man bedenkt daszlig sie zur Befestigung eines neuen religioumlsen Glaubens dienten Die Reformation die Bartho- lomaumlusnacht die Religionskriege die Inquisition die Schreckenstage sind Erscheinungen derselben Art unter dem Einfluszlig dieser religioumlsen Gefuumlhle die notwendig dazu fuumlh- ren mit Feuer und Schwert alles auszurotten was sich der Einfuumlhrung des neuen Glaubens entgegenstellt Das Ver- fahren der Inquisition und der Schreckenstage ist das aller wahrhaft Uumlberzeugten sie waumlren keine Glaumlubigen wenn sie anders verfuumlhrenUmwaumllzungen gleich jenen die ich erwaumlhnte sind nur moumlglich wenn die Massenseele sie ins Leben ruft Die un- umschraumlnktesten Gewaltherrscher koumlnnten sie nicht ent- fesseln Die Historiker die uns die Bartholomaumlusnacht als das Werk eines Koumlnigs zeigen kennen die Psychologie der Massen ebensowenig wie die der Koumlnige Solche Kund- gebungen koumlnnen nur der Massenseele entspringen Die unumschraumlnkteste Macht des eigenmaumlchtigsten Herrschers reicht kaum weiter als zu einer geringen Beschleunigung oder Verzoumlgerung des Zeitpunktes Nicht die Koumlnige haben die Bartholomaumlusnacht die Religionskriege verursacht und nicht Robespierre Danton oder Saint-Just waren die Ur- heber der Schreckenstage Hinter solchen Ereignissen findet man immer wieder die Seele der Massen

RELIGION OHNE GOTT ATHEISMUS 51

ZWEITES BUCH

DIE MEINUNGEN UND GLAUBENSLEHREN DER MASSEN

1 KAPITEL

Entfernte Triebkraumlfte der Glaubenslehren und Meinungen der Massen

Wir haben bisher den geistigen Zustand der Massen stu- diert Wir kennen die Art ihres Fuumlhlens Denkens Schlie- szligern Nun wollen wir sehen auf welche Weise ihre Mei- nungen und Glaubenslehren entstehen und sich befestigen Zwei verschiedene Arten von Triebkraumlften bestimmen diese Meinungen und Glaubenslehren mittelbare und unmittel- bare TriebkraumlfteDie mittelbaren Triebkraumlfte befaumlhigen die Massen zur An- nahme gewisser Uumlberzeugungen und verhindern das Ein- dringen anderer Sie bereiten den Boden auf dem man ploumltzlich neue Ideen hervorsprieszligen sieht deren Kraft und Wirkung Staunen erregen die aber nur scheinbar ploumltzlich sind Der Ausbruch und die Verwirklichung gewisser Ideen bei den Massen zeigen oft eine blitzartige Ploumltzlichkeit Doch das ist nur die oberflaumlchliche Wirkung hinter der man meistens eine lange Vorarbeit suchen muszligDieser langen Arbeit ohne die sie wirkungslos bleiben wuumlrden uumlbergeordnet sind die unmittelbaren Antriebe die die lebendige Uumlberzeugung der Massen hervorrufen ndash also der Idee ihre Gestalt geben und sie mit all ihren Folgen entfesseln Diese unmittelbaren Triebkraumlfte sind der An- laszlig fuumlr das Auftauchen der Entschluumlsse die eine Gesamt- heit zu einer jaumlhen Erhebung fuumlhren ndash durch sie bricht ein Aufruhr los oder wird ein Streik beschlossen sie brin- gen durch riesige Stimmenmehrheit einen Menschen zur Macht oder stuumlrzen eine Regierung Bei allen groszligen Ge- schehnissen der Geschichte kann man die ununterbrochene

Wirkung dieser beiden Arten von Triebkraumlften feststellen Als eins der klarsten Beispiele koumlnnte man die Franzoumlsische Revolution anfuumlhren deren mittelbare Antriebe die Kri- tiken der Schriftsteller und die Erpressungen des Adels waren Die so vorbereitete Massenseele war infolgedessen leicht aufzuruumltteln durch unmittelbare Antriebe wie die Ansprachen der Redner und den Widerstand des Hofes gegen unbedeutende ReformenZu den mittelbaren Triebkraumlften gehoumlren allgemeine Fak- toren die allen Glaubensbekenntnissen und Anschauungen zugrunde liegen das sind die Rasse die Uumlberlieferungen die Zeit die Einrichtungen und die ErziehungWir wollen ihre jeweilige Aufgabe untersuchen

sect Die Rasse

Als ein Antrieb ersten Ranges ist die Rasse zu betrachten denn sie ist allein schon viel bedeutender als alle uumlbrigen Ich habe sie in einer andern Schrift genuumlgend untersucht und brauche hier nicht ausfuumlhrlich darauf zuruumlckzukom- men Ich zeigte in jener Schrift was eine geschichtliche Masse ist und daszlig wenn sich ihre Charaktermerkmale ge- bildet haben ihre Glaubenslehren ihre Einrichtungen ihre Kunst kurz alle ihre Kulturelemente den aumluszligeren Aus- druck ihrer Seele bilden Die Kraft der Rasse ist so groszlig daszlig kein Element von einem Volk zum andern uumlbergehen koumlnnte ohne die tiefgehendsten Umwandlungen zu er- fahren Die Umgebung die Umstaumlnde die Ereignisse spie- geln die augenblicklichen sozialen Einfluumlsse wider Sie koumln- nen von bedeutender Wirkung sein aber dieser Einfluszlig ist stets nur ein augenblicklicher wenn er im Gegensatz zu den Rasseneinfluumlssen d h zu der ganzen Ahnenreihe steht

Da diese Lehre noch sehr neu ist und ohne sie die Geschichte voumlllig un- verstaumlndlich bleibt so habe ich ihrer Darlegung mehrere Kapitel meines Wer- kes bdquoDie psychologischen Gesetze der Voumllkerentwicklungldquo gewidmet Der Leser wird daraus ersehen daszlig obwohl der Schein truumlgt weder die Sprache noch die Religion noch die Kuumlnste noch irgendein Kulturelement uumlberhaupt un- veraumlndert von einem Volk zum andern uumlbergehen kann

DIE RASSE 51

Wir werden noch in mehreren Kapiteln dieser Arbeit Gelegenheit haben auf den Einfluszlig der Rasse zuruumlckzu- kommen und zu zeigen daszlig er stark genug ist die Sonder- merkmale der Massenseele zu beherrschen Daraus ergibt sich der Umstand daszlig die Massen der verschiedenen Laumln- der in ihrem Glauben und Verhalten sehr betraumlchtliche Unterschiede aufweisen und nicht auf die gleiche Weise zu beeinflussen sind

sect 2 Die Uumlberlieferungen

Die Uumlberlieferungen umfassen die Ideen Beduumlrfnisse und Gefuumlhle der Vorzeit Sie bilden die Einheit der Rasse und lasten mit ihrem ganzen Gewicht auf unsSeit die Embryologie den ungeheuren Einf luszlig der Ver- gangenheit auf die Entwicklung der Wesen gezeigt hat haben sich die biologischen Wissenschaften gewandelt und die historischen werden es auch tun wenn dieser Gedanke weiter verbreitet sein wird Noch ist er nicht hinreichend bekannt und viele Staatsmaumlnner sind damit auf dem Standpunkt der Theoretiker des vergangenen Jahrhunderts stehengeblieben daszlig sie glauben eine Gesellschaft koumlnne mit ihrer Vergangenheit brechen und allein durch die Kraft der Vernunft von Grund auf erneuert werdenEin Volk ist ein Organismus der durch die Vergangenheit geschaffen wurde Wie alle Organismen kann er sich nur durch langsame Anhaumlufung von Erbmasse veraumlndernDie wahren Fuumlhrer der Voumllker sind die Uumlberlieferungen und wie ich schon mehrmals wiederholte nur die aumluszligeren Formen veraumlndern sich leicht Ohne Uumlberlieferung d h ohne Volksseele ist keine Kultur moumlglich So bestanden denn auch die beiden groszligen Aufgaben des Menschen seit er auf der Welt ist in der Schaffung eines Netzes von Uumlberlieferungen und in ihrer Zerstoumlrung nach Verbrauch ihrer nuumltzlichen Wirkungen Keine Kultur ohne beharrende Uumlberlieferungen ohne ihre langsame Ausschaltung kein Fortschritt Die Schwierigkeit besteht darin das richtige

ENTFERNTE TRIEBKRAumlFTE DES GLAUBENS DER MASSEN56

Gleichgewicht zwischen Beharrung und Veraumlnderlichkeit zu finden Diese Schwierigkeit ist ungeheuer Hat ein Volk durch viele Geschlechter seine Gewohnheiten zu sehr er- starren lassen so kann es sich nicht mehr aumlndern und wird wie China unfaumlhig zur Vervollkommnung Selbst gewalt- same Veraumlnderungen bleiben wirkungslos denn dann wer- den entweder die zerrissenen Glieder der Kette wieder zusammengeschweiszligt und die Vergangenheit nimmt ihre Herrschaft unveraumlndert wieder auf oder die Bruchstuumlcke bleiben getrennt und dann folgt der Anarchie bald die EntartungEs ist also die Aufgabe eines Volkes die Einrichtungen der Vergangenheit zu bewahren indem es sie nur nach und nach veraumlndert Die Roumlmer im Altertum und die Eng- laumlnder in der Neuzeit sind fast die einzigen die sie ver- wirklicht habenGerade die Massen und namentlich die Massen aus denen sich die Klassen zusammensetzen sind die zaumlhesten Be- wahrer der uumlberlieferten Ideen und widersetzen sich am hartnaumlckigsten ihrem Wechsel Ich habe bereits auf den konservativen Geist der Massen hingewiesen und gezeigt daszlig viele Revolten nur auf eine Veraumlnderung von Worten hinauslaufen Gegen Ende des 8 Jahrhunderts konnte man angesichts der zerstoumlrten Kirchen der verjagten oder guillotinierten Priester der allgemeinen Verfolgung des katholischen Kultus glauben die alten religioumlsen Ideen haumltten alle Macht eingebuumlszligt und doch muszligte nach einigen Jahren infolge allgemeiner Forderungen der abgeschaffte Kultus wieder eingesetzt werden Der Bericht des alten Konventsmitgliedes Fourcroy den Taine anfuumlhrt ist in dieser Hinsicht sehr klar bdquoWas man uumlberall von der Feier des Sonntags und dem Kirchenbesuch sieht beweist daszlig die Masse der Franzosen zu den alten Gebraumluchen zuruumlckkehren will und es ist nicht mehr an der Zeit sich diesem nationalen Hang zu widersetzen Die groszlige Masse der Menschen braucht Religion einen Kultus und Priester Es ist ein Irrtum einiger moder- ner Philosophen dem ich selbst verfallen war an die Moumlglichkeit einer Bil- dung zu glauben die verbreitet genug waumlre um die religioumlsen Vorurteile zu zerstoumlren sie sind fuumlr die gruumlszlige Anzahl der Ungluumlcklichen eine Quelle des Trostes hellip Man muszlig daher der Masse des Volkes ihre Priester ihre Altaumlre und ihren Kultus lassenldquo

DIE UumlBERLIEFERUNGEN 57

Kein Beispiel koumlnnte besser die Macht der Gewohnheit uumlber die Menschenseele zeigen Die furchtbarsten Idole werden nicht in den Tempeln beherbergt und die gewalt- taumltigsten Tyrannen wohnen nicht in den Palaumlsten Sie wauml- ren leicht zu stuumlrzen Aber die unsichtbaren Herren die unsere Seelen beherrschen entziehen sich jedem Angriff und geben nur der langsamen Abnutzung durch die Jahr- hunderte nach

sect 3 Die Zeit

Einer der wirksamsten Faktoren in den gesellschaftlichen wie in den sozialen Fragen ist die Zeit Sie ist der wahre Schoumlpfer und der groszlige Zerstoumlrer Sie hat die Berge aus Sandkoumlrnern aufgebaut und die winzige Zelle der geo- logischen Urzeit zur menschlichen Wuumlrde erhoben Die Einwirkung der Jahrhunderte genuumlgt um jede beliebige Erscheinung umzuformen Mit Recht sagt man daszlig eine Ameise die Zeit genug haumltte den Montblanc abtragen koumlnnte Ein Wesen das die magische Gewalt besaumlszlige die Zeit nach Belieben zu veraumlndern haumltte die Macht die von den Glaumlubigen ihren Goumlttern zugeschrieben wirdAber wir haben uns hier nur mit dem Einfluszlig der Zeit auf die Entstehung der Anschauungen der Massen zu be- schaumlftigen Unter diesem Gesichtspunkt ist ihre Wirkung ebenfalls ungeheuer Sie haumllt die groszligen Kraumlfte wie die der Rasse die sich nicht ohne sie bilden koumlnnen in ihrer Abhaumlngigkeit Sie laumlszligt alle Glaubenslehren entstehen und absterben Von ihr empfangen sie ihre Macht und sie ent- zieht sie ihnen auch wiederDie Zeit bereitet die Meinungen und Glaubensbekenntnisse der Massen vor d h den Boden auf dem sie keimen Daraus folgt daszlig gewisse Ideen nur zu einer bestimmten Zeit dann nicht mehr zu verwirklichen sind Die Zeit haumluft unermeszligliche Uumlberreste von Glaubensbekenntnissen und Gedanken an denen die Ideen eines Zeitalters ent- springen Sie keimen nicht durch Zufall und Ungefaumlhr Ihre Wurzeln reichen tief in die Vergangenheit Wenn sie

58 ENTFERNTE TRIEBKRAumlFTE DES GLAUBENS DER MASSEN

bluumlhen so hatte die Zeit ihre Bluumlte vorbereitet und um ihren Ursprung zu erfassen muszlig man stets zuruumlckgehen Sie sind Toumlchter der Vergangenheit und Muumltter der Zu- kunft stets aber Sklavinnen der ZeitSo ist denn die Zeit unsere wahre Meisterin und man braucht sie nur walten zu lassen um zu sehen wie alle Dinge sich wandeln Heute beunruhigen uns die bedroh- lichen Anspruumlche der Massen und die Zerstoumlrungen und Umwaumllzungen die sie ahnen lassen Die Zeit allein wird es auf sich nehmen das Gleichgewicht wieder herzustellen

bdquoKeine Ordnungldquo schreibt treffend Lavisse bdquowurde an einem Tage gegruumlndet Die politischen und sozialen Orga- nisationen sind Werke die Jahrhunderte erfordern der Feudalismus bestand Jahrhunderte lang formlos und chao- tisch bevor er seine Richtlinien fand die absolute Mon- archie bestand ebenfalls durch Jahrhunderte bis sie regel- rechte Herrschaftsmittel herausbildete und es gab groszlige Verwirrungen in diesen Uumlbergangszeitenldquo

sect 4 Die politischen und sozialen Einrichtungen

Der Gedanke Einrichtungen koumlnnten den Uumlbeln der Ge- sellschaft abhelfen der Fortschritt der Nationen sei die Folge der Vervollkommnung der Verfassungen und Regie- rungen und die sozialen Umwandlungen koumlnnten sich durch Erlasse vollziehen dieser Gedanke ist noch ganz allgemein verbreitet Die Franzoumlsische Revolution nahm ihn zum Ausgangspunkt und die sozialen Lehren der Gegenwart stuumltzen sich auf ihnUnunterbrochene Erfahrungen konnten diesen fuumlrchter- lichen Wahn nicht ernstlich erschuumlttern Vergebens haben die Philosophen und Historiker versucht seine Sinnlosig- keit zu beweisen Immerhin war es ein Leichtes fuumlr sie zu zeigen daszlig alle Einrichtungen Toumlchter der Ideen Ge- fuumlhle und Sitten sind und daszlig diese Ideen Gefuumlhle und Sitten nicht dadurch umgestaltet werden daszlig man die Gesetze umgestaltet Ein Volk waumlhlt die meisten Einrich-

DIE ZEIT 59

tungen nicht nach Belieben ebensowenig wie es die Farbe seiner Augen oder Haare waumlhlt Einrichtungen und Regie- rungsformen sind ein Rasseerzeugnis Weit entfernt davon die Schoumlpfer einer Epoche zu sein sind sie deren Geschoumlpfe Die Voumllker werden nicht nach ihren augenblicklichen Lau- nen sondern ihrem Charakter gemaumlszlig regiert Die Bildung einer Staatsordnung erfordert Jahrhunderte und Jahr- hunderte braucht es zu ihrer Wandlung Die Einrichtungen haben keinen unmittelbaren Wert sie sind an sich weder gut noch schlecht Zu einer bestimmten Zeit koumlnnen sie fuumlr ein bestimmtes Volk gut und fuumlr ein anderes grund- schlecht seinEin Volk hat also keineswegs die Macht seine Einrich- tungen wirklich zu veraumlndern Gewiszlig kann es um den Preis gewaltsamer Revolutionen ihre Namen aumlndern aber der Kern bleibt derselbe Die Namen sind nur leere Eti- ketten die ein Historiker der sich mit dem wahren Wert der Dinge befaszligt nicht in Rechnung zu ziehen braucht So ist England das demokratischste Land der Welt ob- wohl es eine monarchistische Regierung hat waumlhrend in den spanisch-amerikanischen Republiken trotz ihrer demokrati- schen Verfassung die haumlrteste Despotie herrscht Nicht die Regierung sondern der Charakter der Voumllker bestimmt ihre Schicksale Diese Wahrheit habe ich in einer fruumlhe- ren Arbeit mit Hilfe bestimmter Beispiele zu begruumlnden versuchtEs ist also ein kindisches Unterfangen eine zwecklose rhetorische Uumlbung die Zeit mit der Anfertigung von Ver- fassungen zu vergeuden Die Notwendigkeit und die Zeit uumlbernehmen ihre Ausarbeitung wenn man sie nur walten laumlszligt Der groszlige Historiker Macaulay zeigt in einem Satz der von den Politikern aller lateinischen Laumlnder auswendig

Das erkennen selbst in den Vereinigten Staaten die entschiedensten Repu- blikaner Die amerikanische Zeitung bdquoForumldquo gibt dieser Meinung die ich nach der bdquoReview of Reviewsldquo vom Dezember 894 wiedergebe bestimmten Ausdruck bdquoSelbst die gluumlhendsten Feinde der Aristokratie duumlrfen nie ver- gessen daszlig heute England das demokratischste Land der Erde ist in dem die Rechte des einzelnen am meisten geachtet werden und die einzelnen die meiste Freiheit besitzenldquo

60 ENTFERNTE TRIEBKRAumlFTE DES GLAUBENS DER MASSEN

gelernt werden muumlszligte daszlig die Angelsachsen es so mach- ten Nachdem er die scheinbaren Wohltaten der Gesetze vom Standpunkt der reinen Vernunft ein Chaos von Un- sinnigkeiten und Widerspruumlchen angefuumlhrt hat vergleicht er die Dutzende von Verfassungen die in den Erschuumltte- rungen der lateinischen Voumllker Europas und Amerikas untergegangen sind mit der Verfassung Englands und zeigt daszlig diese sich nur aumluszligerst langsam stuumlckweise unter dem Einfluszlig unmittelbarer Notwendigkeit veraumlnderte aber niemals durch berechnete Vernunftgruumlnde bdquoSich nie um die Anordnung wohl aber um die Nuumltzlichkeit kuumlmmern nie eine Ausnahme beseitigen nur weil es eine Ausnahme ist nie eine Neuerung einfuumlhren es sei denn es mache sich eine Unzutraumlglichkeit fuumlhlbar und auch dann nur gerade so viel erneuern daszlig diese Unzutraumlglichkeit abgestellt wird nie einen Antrag stellen der uumlber den Einzelfall den man behandelt hinausgeht Das sind die Regeln die seit den Zeiten Johannes bis zum Zeitalter Viktorias unsere 250 Parlamente allgemein geleitet habenldquoMan muumlszligte die Gesetze und Einrichtungen eines jeden Volkes eins nach dem andern vornehmen um zu zeigen in welchem Maszlige sie der Ausdruck der Beduumlrfnisse ihrer Rasse und deshalb nicht gewaltsam umzuwandeln sind Man kann sich mit den Vorteilen und Uumlbelstaumlnden der Zentralisation philosophisch auseinandersetzen wenn wir aber sehen wie ein Volk das aus verschiedenen Rassen besteht tausendjaumlhrige Anstrengungen macht um Schritt fuumlr Schritt diese Zentralisation zu erreichen wenn wir feststellen daszlig eine groszlige Revolution deren Ziel die Zer- truumlmmerung aller Einrichtungen der Vergangenheit war sich genoumltigt sah diese Zentralisation nicht allein anzu- erkennen sondern sogar zu uumlbertreiben so koumlnnen wir sagen sie ist das Ergebnis gebieterischer Notwendigkeiten eine unmittelbare Folge des Daseins und koumlnnen nur den Mangel an Weitblick bei den Politikern die von ihrer Aufhebung reden beklagen Wenn durch einen Zufall ihre Meinung siegte so waumlre dieser Erfolg das Signal zu einer

DIE POLITISCHEN UND SOZIALEN EINRICHTUNGEN 61

tiefgreifenden Anarchie die obendrein zu einer viel druumlk- kenderen Zentralisation als der fruumlheren fuumlhren wuumlrdeAus dem Vorstehenden ist zu schlieszligen daszlig man in den Einrichtungen nicht das Mittel zu suchen hat die Seelen der Massen nachhaltig zu bewegen Gewisse Laumlnder mit demokratischen Einrichtungen wie die Vereinigten Staaten bluumlhen wunderbar auf waumlhrend andre wie die spanisch- amerikanischen Republiken trotz durchaus aumlhnlicher Ein- richtungen in der traurigsten Anarchie dahinleben Diese Einrichtungen haben ebensowenig mit der Groumlszlige der einen wie mit dem Niedergang der andern zu tun Die Voumllker werden immer von ihrem Charakter beherrscht und alle Einrichtungen die sich diesem Charakter nicht innig an- schmiegen sind nichts als ein ausgeliehenes Gewand eine voruumlbergehende Verkleidung Gewiszlig hat es blutige Kriege und gewaltige Revolutionen gegeben um Einrichtungen einzufuumlhren denen man wie den Reliquien der Heiligen die uumlbernatuumlrliche Macht zuschreibt das Gluumlck hervorzu- zaubern In gewissem Sinne koumlnnte man sagen Einrich- tungen wirken auf die Massenseele da sie solche Erhebun- gen verursachen In Wahrheit sind es nicht die Einrich- tungen die so wirken denn wir wissen daszlig sie siegend oder besiegt an sich keinerlei Wert besitzen Wenn wir ihren Siegeszug verfolgen verfolgen wir nur Taumluschungen

sect 5 Unterricht und Erziehung

An erster Stelle unter den herrschenden Gedanken unsrer Zeit steht die Idee der Unterricht habe den bestimmten Wenn man die tiefgehenden religioumlsen und politischen Uneinigkeiten welche die verschiedenen Gebiete Frankreichs trennen mit den separatistischen Ten- denzen vergleicht die in der Revolutionszeit auftraten und sich von neuem gegen Ende des deutsch-franzoumlsischen Krieges zeigten so sieht man daszlig die verschiedenen Rassen die auf unserem Boden leben noch lange nicht mit- einander verschmolzen sind Die kraftvolle Zentralisation und die Schaffung kuumlnstlicher Departements zum Zweck der Vermischung der fruumlheren Provin- zen waren gewiszlig das nuumltzlichste Werk der Revolution Koumlnnte die Dezen- tralisation von der heute kurzsichtige Geister so viel reden bewerkstelligt werden so wuumlrde sie unfehlbar zu den blutigsten Kaumlmpfen fuumlhren Das zu verkennen heiszligt unsre Geschichte voumlllig vergessen

62 ENTFERNTE TRIEBKRAumlFTE DES GLAUBENS DER MASSEN

Erfolg die Menschen zu bessern und sogar einander aumlhn- lich zu machen Nur durch seine Wiederholung ist dieser Satz schlieszliglich zu einem der unerschuumltterlichsten Saumltze der Demokratie geworden Er ist ebenso unantastbar ge- worden wie einst die Dogmen der KircheAber in diesem Punkt wie in so vielen anderen stehen die Ideen der Demokratie in schaumlrfstem Gegensatz zu den Ergebnissen der Psychologie und der Erfahrung Mehrere hervorragende Philosophen besonders Herbert Spencer konnten leicht beweisen daszlig der Unterricht den Men- schen weder sittlicher noch gluumlcklicher macht daszlig er die Instinkte und Leidenschaften des Menschen nicht aumlndert und schlecht geleitet oft mehr Schaden als Nutzen bringt Die Statistiker bestaumltigen diese Ansicht indem sie zeigen daszlig die Kriminalitaumlt mit der Verbreitung des Unterrichts oder wenigstens einer gewissen Art des Unterrichts zu- nimmt daszlig die aumlrgsten Feinde der Gesellschaft die Anar- chisten oft aus den Besten der Schule hervorgehen Ein hoher Justizbeamter Adolphe Guillot berichtet daszlig man jetzt dreitausend gebildete auf tausend ungebildete Ver- brecher rechnen kann und daszlig innerhalb fuumlnfzig Jahren das Verbrechertum von 227 auf 552 von hunderttausend Einwohnern gestiegen ist was einen Zuwachs von 33 Pro- zent bedeutet Er hat auch in Uumlbereinstimmung mit seinen Kollegen festgestellt daszlig die Kriminalitaumlt besonders bei den jungen Leuten zunimmt bei denen die unentgeltliche Pflichtschule an die Stelle des Lehrherrn getreten istGewiszlig hat niemals jemand behauptet daszlig gut geleiteter Unterricht keine praktischen sehr nuumltzlichen Ergebnisse haben koumlnnte wenn auch nicht in sittlicher Hinsicht so doch in bezug auf die Entfaltung der beruflichen Faumlhig- keiten Leider haben besonders seit dreiszligig Jahren die lateinischen Voumllker ihre Unterrichtsformen auf ganz falschen Voraussetzungen aufgebaut und beharren trotz der Beobach- tungen der hervorragendsten Koumlpfe in ihren bedauerlichen Irrtuumlmern Ich selbst habe in verschiedenen Schriften ge- Vgl bdquoPsychologie des Sozialismusldquo bdquoPsychologie der Erziehungldquo

UNTERRICHT UND ERZIEHUNG 63

zeigt daszlig unsere gegenwaumlrtige Erziehung die Mehrzahl derer denen sie zuteil wurde in Feinde der Gesellschaft verwandelt die vielfach die Gefolgschaft der schlimmsten Formen des Sozialismus bildenDie erste Gefahr dieser Erziehung die treffend als latei- nisch gekennzeichnet wird beruht auf einem psychologi- schen Grundirrtum sich einzubilden die Intelligenz ent- wickle sich durch Auswendiglernen von Lehrbuumlchern Ferner bemuumlht man sich soviel als moumlglich zu lehren und von der Volksschule bis zur Doktor- oder Staatspruumlfung hat der junge Mann sich nur mit dem Inhalt von Buumlchern voll- zustopfen ohne jemals sein Urteil oder seine Entschluszlig- kraft zu uumlben Der Unterricht besteht fuumlr ihn im Hersagen und Gehorchen bdquoAufgaben lernen eine Grammatik oder einen Abriszlig auswendig wissen gut wiederholen gut nach- machenldquo schreibt der ehemalige Unterrichtsminister Jules Simon bdquodas ist eine komische Erziehung bei der jede An- strengung nur ein Beweis des Glaubens an die Unfehl- barkeit des Lehrers ist und dazu fuumlhrt uns herabzusetzen und unfaumlhig zu machenldquoWaumlre diese Erziehung nur nutzlos so koumlnnte man sich damit begnuumlgen die ungluumlcklichen Kinder zu bedauern denen man statt vieler notwendiger Dinge lieber die Genealogie der Soumlhne Chlotars die Kaumlmpfe zwischen Neu- strien und Austrasien oder zoologische Einteilungen bei- bringt aber sie bildet eine viel ernstere Gefahr sie be- wirkt bei dem der sie genossen hat einen heftigen Wider- willen gegen die Verhaumlltnisse in denen er geboren ist und den nachdruumlcklichen Wunsch aus ihnen herauszukommen Der Arbeiter will nicht mehr Arbeiter der Bauer nicht mehr Bauer bleiben und der letzte Kleinbuumlrger sieht fuumlr seine Soumlhne keine andere Moumlglichkeit als die Laufbahn eines festbesoldeten Staatsbeamten Anstatt die Menschen fuumlr das Leben vorzubereiten bereitet die Schule sie nur fuumlr oumlffentliche Aumlmter vor in denen man ohne einen Schim- mer von Tatkraft Erfolg haben kann Sie erzeugt am Fuszlige der sozialen Leiter die proletarischen Heere die mit ihrem

64 ENTFERNTE TRIEBKRAumlFTE DES GLAUBENS DER MASSEN

Los unzufrieden und stets zum Aufstand bereit sind oben aber unsere leichtfertige zugleich skeptische und glaumlubige Bourgeoisie mit ihrem uumlbertriebenen Vertrauen zur Staats- vorsehung die sie gleichwohl unaufhoumlrlich beschimpft weil sie stets ihre eigenen Fehler der Regierung zuschiebt und unfaumlhig ist ohne die Vermittlung der Obrigkeit etwas zu unternehmenDer Staat kann nur eine kleine Anzahl der Anwaumlrter verwenden die er mit Hilfe von Handbuumlchern fabriziert und dafuumlr auszeichnet und laumlszligt die andern ohne Beschaumlf- tigung Er muszlig sich also dareinfinden die ersten zu er- naumlhren und die andern zu Feinden zu haben Von der Spitze bis zum Fuszlig der sozialen Pyramide belagert heute das riesige Heer der Anwaumlrter die verschiedenen Aumlmter Ein Kaufmann findet schwer einen Stellvertreter in den Kolonien aber es gibt Tausende von Kandidaten die sich um die bescheidensten oumlffentlichen Stellungen bemuumlhen Das Seinedepartement allein zaumlhlt zwanzigtausend be- schaumlftigungslose Lehrer und Lehrerinnen die Feld und Werkstatt verachten und sich an den Staat wenden um leben zu koumlnnen Da die Zahl der Auserwaumlhlten be- schraumlnkt ist so muszlig notwendigerweise die der Unzufrie- denen ungeheuer groszlig sein Sie sind zu allen Revolutionen bereit gleichguumlltig unter weichem Fuumlhrer und zu welchen Zielen Der Erwerb unnuumltzer Kenntnisse ist ein sicheres Mittel einen Menschen zum Empoumlrer zu machen

Uumlbrigens ist dies nicht nur eine besondere Erscheinung bei den lateinischen Voumllkern man kann sie auch in China feststellen das ebenfalls von einer festen Hierarchie von Mandarinen geleitet wird und wo das Mandarinat wie bei uns auf dem Wege von Pruumlfungen erlangt wird deren einziges Erfordernis das fehlerlose Hersagen dicker Lehrbuumlcher ist Das Heer beschaumlftigungsloser Gelehrter wird heute in China fuumlr ein wahres Nationalungluumlck gehalten Auch in Indien hat sich seitdem die Englaumlnder dort Schulen gegruumlndet um die Eingeborenen zu belehren nicht um sie zu erziehen eine besondere Klasse von Gelehrten die der Babus gebildet die zu unversoumlhnlichen Feinden der eng- lischen Macht werden wenn es ihnen nicht gelingt eine Anstellung zu er- halten Die erste Wirkung des Unterrichts bei alten Babus ob angestellt oder ohne Beschaumlftigung war ein auszligerordentliches Sinken ihrer Sittlichkeit Ich habe diesen Punkt in meinem Buch bdquoDie Kulturen Indiensldquo ausfuumlhrlich be- handelt Alle Autoren die die Halbinsel besuchten haben das ebenfalls fest- gestellt

UNTERRICHT UND ERZIEHUNG 65

Es ist offenbar zu spaumlt sich einer solchen Stroumlmung ent- gegenzustemmen Die Erfahrung allein die letzte Lehr- meisterin der Voumllker wird es uumlbernehmen uns unsern Irrtum zu zeigen Sie allein wird maumlchtig genug sein uns die Notwendigkeit des Ersatzes unserer abscheulichen Lehr- buumlcher unserer klaumlglichen Pruumlfungen durch einen berufs- maumlszligigen Unterricht zu beweisen der die Jugend befaumlhigt zu den Feldern zu den Werkstaumltten zu den kolonialen Unternehmungen zuruumlckzukehren die heute verlassen sind Diesen berufsmaumlszligigen Unterricht den alle aufgeklaumlrten Geister jetzt fordern empfingen einst unsere Vaumlter und die Voumllker die heute die Welt durch ihren Willen ihre Tatkraft ihren Unternehmungsgeist beherrschen haben ihn sich zu bewahren gewuszligt Auf bemerkenswerten Seiten seiner Buumlcher deren wesentlichste Stellen ich spaumlter an- fuumlhren werde hat Taine klar gezeigt daszlig unsere Erzie- hung einst ungefaumlhr so war wie heute die englische oder amerikanische Erziehung und er hat durch einen bedeuten- den Vergleich zwischen dem lateinischen und angelsaumlch- sischen System die Folgen der beiden Erziehungsmethoden ins hellste Licht geruumlckt Vielleicht koumlnnte man noch alle Unzutraumlglichkeiten unserer klassischen Bildung hinnehmen selbst wenn sie nur Entwurzelte und Unzufriedene heran- bildete wenn nur der oberf laumlchliche Erwerb so vieler Kenntnisse und das luumlckenlose Hersagen so vieler Lehr- buumlcher die Voraussetzungen der Intelligenz heben wuumlrde Ist das aber wirklich der Fall Ach nein Urteil Erfah- rung Tatkraft und Charakter sind die Bedingungen des Erfolges im Leben sie sind nicht aus Buumlchern zu lernen Buumlcher sind nuumltzliche Nachschlagewerke aber es ist durchaus unnuumltz lange Teilstuumlcke daraus im Kopf aufzu- speichernDaszlig der berufsmaumlszligige Unterricht die Intelligenz in einem Maszlige entwickelt das der klassische Unterricht nie erreicht hat Taine sehr gut in folgenden Zeilen gezeigt bdquoDie Ideen bilden sich nur in ihrer natuumlrlichen und regelrechten Um- gebung Ihre Keime werden durch die unzaumlhligen Wahr-

66 ENTFERNTE TRIEBKRAumlFTE DES GLAUBENS DER MASSEN

nehmungseindruumlcke genaumlhrt die der junge Mensch taumlglich in der Werkstatt im Bergwerk beim Gericht im Arbeits- zimmer auf der Schiffswerft im Krankenhaus beim An- blick der Werkzeuge Betriebsstoffe und Unternehmungen in Gegenwart der Kunden der Arbeiter der Arbeit des gut oder schlecht ausgefuumlhrten kostspieligen oder gewinn- bringenden Unternehmens empfaumlngt Das sind die kleinen Sonderwahrnehmungen der Augen des Ohres der Haumlnde und sogar des Geruchs die unwillkuumlrlich empfangen und unbewuszligt verarbeitet werden und sich in ihm ordnen so daszlig sie ihm fruumlher oder spaumlter die und die neue Ver- bindung Vereinfachung Ersparnis Vervollkommnung oder Erfindung eingeben All dieser wertvollen Verbindungen all dieser fuumlr seine Entwicklung foumlrderlichen unentbehr- lichen Moumlglichkeiten ist der junge Franzose beraubt und zwar gerade im fruchtbaren Alter sieben oder acht Jahre ist er in einer Schule eingesperrt fern von unmittelbarer eigener Erfahrung die ihm einen genauen und lebendigen Begriff von den Dingen den Menschen und den verschie- denen Umgangsformen gegeben haumltteldquo

bdquohellip Wenigstens neun von zehn haben ihre Zeit und ihre Muumlhe mehrere Jahre ihres Lebens und zwar fruchtbare wichtige ja entscheidende Jahre verloren man rechne zunaumlchst die Haumllfte oder zwei Drittel derer die zur Pruuml- fung gehen ab ich meine die Abgewiesenen ferner von den Zugelassenen Gepruumlften und Ausgezeichneten noch die Haumllfte oder zwei Drittel naumlmlich die Uumlberarbeiteten Man hat ihnen zu viel zugemutet wenn man von ihnen ver- langte an einem bestimmten Tage auf einem Stuhl oder vor einer Tafel zwei Stunden lang fuumlr eine Menge von Wissenschaften zum lebenden Nachschlagewerk alles menschlichen Wissens zu dienen Tatsaumlchlich sind sie es an diesem Tage zwei Stunden lang wirklich oder beinahe gewesen aber einen Monat spaumlter sind sie es nicht mehr Sie koumlnnten die Pruumlfung nicht wieder bestehen ihre Ge- daumlchtnis-Errungenschaften sind zu zahlreich und druumlckend und entgleiten unaufhoumlrlich ihrem Geist und sie machen

UNTERRICHT UND ERZIEHUNG 67

keine neuen Ihre Geisteskraft hat nachgelassen der be- fruchtende Saft ist vertrocknet der erwachsene Mensch kommt zum Vorschein und oft ist es der fertige Mensch Ist der in seinem Beruf und verheiratet so ergibt er sich drein sich im Kreise und fuumlr unabsehbare Zeit immer in demselben Kreise zu bewegen er verschanzt sich hinter seinem beschraumlnkten Amt das er fehlerlos ausfuumlllt ohne das Geringste daruumlber hinaus zu tun Das ist das Durch- schnittsergebnis der Ertrag wiegt die Unkosten bestimmt nicht auf In England und Amerika wo man wie ehemals vor 789 auch bei uns in Frankreich den umgekehrten Prozeszlig durchmachte ist der Ertrag ebenso groszlig oder groumlszligerldquoDer hervorragende Historiker zeigt uns dann den Unter- schied zwischen unserm und dem angelsaumlchsischen System Dort geschieht die Belehrung nicht durch das Buch sondern durch die Sache selbst Der Techniker z B bildet sich in einer Fabrik nie in einer Schule jeder kann genau den Grad erreichen der seiner Intelligenz entspricht als Ar- beiter oder Werkmeister wenn er nicht weiterkann als Ingenieur wenn es seine Faumlhigkeiten zulassen Das Ver- fahren ist fuumlr die ganze Gesellschaft demokratischer und nuumltzlicher als wenn man die Laufbahn eines Menschen von einer mehrstuumlndigen Pruumlfung abhaumlngig macht die er im Alter von achtzehn bis zwanzig Jahren abzulegen hatbdquoIm Krankenhaus im Bergwerk in der Fabrik beim Architekten beim Anwalt macht der in jungen Jahren zu- gelassene Schuumller seine Lehr- und Probezeit durch unge- faumlhr wie bei uns ein Schreiber in einem Buumlro oder ein Malerlehrling in der Werkstatt Vorher und bis zu seinem Eintritt konnte er nur ein paar allgemeine kurzgefaszligte Kurse besuchen um einen geeigneten Rahmen zu haben dem er die Beobachtungen die er jeden Augenblick macht einfuumlgen kann Je nach Faumlhigkeit hat er in seiner freien Zeit meist Gelegenheit einige technische Kurse zu besuchen um seine taumlglichen Erfahrungen je nach deren Stand zu verknuumlpfen Bei einer derartigen Ausbildung waumlchst und

68 ENTFERNTE TRIEBKRAumlFTE DES GLAUBENS DER MASSEN

entwickelt sich die praktische Faumlhigkeit von selbst bis zu dem Grade den die Anlagen des Schuumllers erreichen koumln- nen und in der Richtung die seine kuumlnftige Taumltigkeit die besondere Arbeit der er sich von nun an widmen will er- fordert Auf diese Weise kommt in England und in den Vereinigten Staaten der junge Mann rasch dazu alles was in ihm ist aus sich herauszuholen Mit fuumlnfundzwanzig Jahren und wenn ihm die Voraussetzungen dazu nicht fehlen noch fruumlher ist er ein nuumltzlicher Arbeiter oder sogar ein selbstaumlndiger Unternehmer nicht nur ein Ge- triebe sondern noch mehr ein Antrieb ndash In Frankreich wo der umgekehrte Ausbildungsgang geherrscht hat und mit jeder Generation chinesischer wird ist die Summe der verlorenen Kraumlfte unermeszliglich groszligldquoUnd der bedeutende Philosoph gelangt zu folgendem Er- gebnis uumlber das zunehmende Miszligverhaumlltnis zwischen un- serer lateinischen Erziehung und dem Leben

bdquoAuf allen drei Stufen des Unterrichts der der Kindheit des Knaben- und des Juumlnglingsalters ist die theoretische Vorbereitung auf der Schulbank und aus Buumlchern verlaumln- gert und uumlberbuumlrdet worden im Hinblick auf die Pruumlfung den akademischen Grad das Diplom und das Patent und durch die schlechten Mittel die Anwendung eines unnatuumlr- lichen und antisozialen Bildungsganges die uumlbermaumlszligige Hinausschiebung der praktischen Lehre durch das Internat den kuumlnstlichen Drill und die mechanische Gedaumlchtnis- uumlberfuumlllung durch Uumlberarbeitung ohne Ruumlcksicht auf die Zukunft das Mannesalter und die Pflichten des Mannes die er bald uumlben muszlig durch Vernachlaumlssigung der wirk- lichen Welt in die der junge Mensch bald eintreten wird der Gesellschaft die ihn umgibt der er sich anpassen muszlig will er nicht von vornherein verzichten des menschlichen Daseinskampfes fuumlr den er zu seiner Verteidigung und um sich zu halten im voraus geruumlstet und gewappnet geuumlbt abgehaumlrtet sein muszlig Diese unentbehrliche Aus- ruumlstung diese Errungenschaft die wichtiger ist als alle anderen diese Tuumlchtigkeit des gesunden Menschenverstan-

UNTERRICHT UND ERZIEHUNG 69

des des Willens und der Nerven in unseren Schulen wird sie nicht gewonnen ganz im Gegenteil statt den Menschen tuumlchtiger zu machen machen sie ihn untuumlchtig fuumlr seine naumlchste und kuumlnftige Stellung Daher sind nach dem Ver- lassen der Schule sein Eintritt in die Welt und seine ersten Schritte auf dem Felde des praktischen Wirkens nichts als eine Reihe schmerzlicher Niederlagen aus denen er ver- wundet und fuumlr lange Zeit zermuumlrbt verkruumlppelt hervor- geht Es ist eine harte und gefaumlhrliche Probe bei der das geistige und sittliche Gleichgewicht erschuumlttert wird und Gefahr laumluft nicht wiederhergestellt zu werden Die Ent- taumluschung kam zu jaumlh und zu vollstaumlndig der Betrug war zu groszlig und der Ekel zu stark Sind wir im vorstehenden von der Massenpsychologie ab- gewichen Gewiszlig nicht Wenn wir die Ideen und Glau- bensmeinungen die heute in ihr keimen und morgen auf- gehen werden verstehen wollen so muumlssen wir wissen wie der Boden dafuumlr vorbereitet wurde Der Unterricht den die Jugend eines Landes genieszligt erlaubt uns die Schicksale dieses Landes ein wenig vorauszusehen Die Er- ziehung die der heutigen Generation zuteil wird recht- fertigt die duumlstersten Ahnungen Hand in Hand mit dem Unterricht und der Erziehung veredelt sich die Massenseele oder verdirbt Es war daher notwendig zu zeigen wie das gegenwaumlrtige System sie geformt hat und wie die Masse der Unbeteiligten und Gleichguumlltigen allmaumlhlich zu einem riesigen Heer Unzufriedener wurde das bereit ist allen Einfluumlssen der Weltverbesserer und Redner zu folgen Die Schule bildet heute Unzufriedene und Anarchisten und bereitet fuumlr die lateinischen Voumllker die Zeiten des Nieder- gangs vor

Taine Le reacutegime moderne II 894 ndash Es sind fast die letzten Seiten die Taine schrieb Sie fassen die Ergebnisse der langen Erfahrungen des groszligen Denkers ausgezeichnet zusammen Die Erziehung ist unser einziges Mittel die Seele eines Volkes ein wenig zu beeinflussen und der Gedanke ist tief- traurig daszlig es fast niemand in Frankreich gibt der zu begreifen vermag daszlig unser gegenwaumlrtiger Unterricht eine furchtbare Ursache der Entartung ist Anstatt die Jugend zu erheben erniedrigt und verdirbt er sie

70 ENTFERNTE TRIEBKRAumlFTE DES GLAUBENS DER MASSEN

2 KAPITEL

Unmittelbare Triebkraumlfte der Anschauungen der Massen

Wir haben die mittelbaren und vorbereitenden Triebkraumlfte festgestellt die der Massenseele besondere Empfaumlnglichkeit verleihen indem sie das Aufbluumlhen gewisser Gefuumlhle und Ideen bei den Massen ermoumlglichen Jetzt haben wir noch die Triebkraumlfte zu untersuchen die eine unmittelbare Handlung bewirken koumlnnen Im naumlchsten Kapitel werden wir dann sehen wie diese Triebkraumlfte zu benutzen sind damit sie all ihre Wirkungen erzielen koumlnnenDer erste Teil dieses Werkes behandelte die Gefuumlhle Ideen und Uumlberzeugungen von Gesamtheiten (collectiviteacutes) Aus ihrer Kenntnis kann man offenbar die Mittel die Massen- seele zu beeinflussen in allgemeiner Weise feststellen Wir wissen bereits was auf die Einbildungskraft der Massen Eindruck macht kennen die Macht der Uumlbertragung von Beeinflussungen besonders jenen die in bildhafter Form auftreten Da aber die moumlglichen Beeinflussungen ganz ver- schiedenen Ursprung haben so koumlnnen auch die Faktoren die auf die Massen zu wirken vermoumlgen recht verschieden sein man muszlig sie daher gesondert untersuchen Die Mas- sen sind so etwas wie die Sphinx der antiken Sage man muszlig die Fragen die ihre Psychologie uns stellt loumlsen oder darauf gefaszligt sein von ihnen verschlungen zu werden

sect Bilder Worte und Redewendungen

Beim Studium der Einbildungskraft der Massen fanden wir daszlig sie namentlich durch Bilder erregt wird Diese Bilder stehen einem nicht immer zur Verfuumlgung aber man kann sie durch geschickte Anwendung von Worten und Redewendungen hervorrufen Werden sie kunstgerecht an- gewandt so besitzen sie wirklich die geheimnisvolle Macht die ihnen einst die Adepten der Magie zuschrieben Sie rufen in der Massenseele die furchtbarsten Stuumlrme hervor

und koumlnnen sie auch besaumlnftigen Man koumlnnte allein aus den Knochen der Menschen die der Macht der Worte und Redewendungen zum Opfer fielen eine houmlhere Pyramide als die des alten Cheops erbauen Die Macht der Worte ist mit den Bildern verbunden die sie hervorrufen und voumlllig unabhaumlngig von ihrer wahren Bedeutung Worte deren Sinn schwer zu erklaumlren ist sind oft am wirkungs- vollsten So z B die Ausdruumlcke Demokratie Sozialismus Gleichheit Freiheit u a deren Sinn so unbestimmt ist daszlig dicke Baumlnde nicht ausreichen ihn festzustellen Und doch knuumlpft sich eine wahrhaft magische Macht an ihre kurzen Silben als ob sie die Loumlsung aller Fragen ent- hielten In ihnen ist die Zusammenfassung der verschie- denen unbewuszligten Erwartungen und der Hoffnung auf ihre Verwirklichung lebendigMit Vernunft und Beweisgruumlnden kann man gewisse Worte und Redewendungen nicht bekaumlmpfen Man spricht sie mit Andacht vor den Massen aus und sogleich werden die Mienen ehrfurchtsvoll und die Koumlpfe neigen sich Viele sehen in ihnen Naturkraumlfte oder uumlbernatuumlrliche Maumlchte Sie rufen in den Seelen groszligartige und unbestimmte Bilder hervor aber eben das Unbestimmte das sie verwischt ver- mehrt ihre geheimnisvolle Macht Sie lassen sich mit jenen furchtbaren Gottheiten vergleichen die hinter dem Alier- heiligsten verborgen sind und denen der Andaumlchtige nur mit Zittern nahtDa die Bilder die durch die Worte hervorgerufen werden unabhaumlngig sind von ihrem Sinn so wandeln sie sich von Zeitalter zu Zeitalter von Volk zu Volk waumlhrend die Formeln dafuumlr die gleichen bleiben Mit bestimmten Wor- ten verbinden sich zeitweilig bestimmte Bilder das Wort ist nur der Klingelknopf der sie hervorruftNicht alle Worte und Redewendungen besitzen die Macht Bilder hervorzurufen und es gibt solche die sich danach abnutzen und in der Seele nichts mehr hervorrufen Sie bleiben dann leerer Schall dessen Hauptnutzen darin be- steht allen die von ihnen Gebrauch machen das Denken

72 UNMITTELBARE TRIEBKRAumlFTE DER MASSEN-ANSCHAUUNG

zu ersparen Mit einem kleinen Vorrat von Redewen- dungen und Gemeinplaumltzen die wir in der Jugend erlern- ten besitzen wir alles Noumltige um ohne die ermuumldende Notwendigkeit nachdenken zu muumlssen durchs Leben zu gehenBetrachtet man eine bestimmte Sprache so sieht man daszlig sich die Worte aus denen sie sich zusammensetzt im Laufe der Zeit nur ziemlich langsam veraumlndern aber un- aufhoumlrlich veraumlndern sich die Bilder die sie hervorrufen oder der Sinn den man ihnen unterlegt Und in einer anderen Arbeit bin ich daher zu dem Schluszlig gekommen daszlig die genaue Uumlbersetzung einer Sprache besonders einer toten Sprache voumlllig unmoumlglich ist Was tun wir denn in Wirklichkeit wenn wir einen franzoumlsischen Ausdruck ins Lateinische Griechische oder Sanskrit uumlbertragen wollen oder selbst wenn wir nur versuchen ein Buch zu ver- stehen das vor einigen Jahrhunderten in unserer eigenen Sprache geschrieben wurde Wir uumlbertragen einfach die Bilder und Vorstellungen die das moderne Leben in un- serem Verstand erzeugt hat auf die voumlllig verschiedenen Begriffe und Bilder die das antike Leben in der Seele von Rassen hervorbrachte deren Lebensbedingungen keine Aumlhn- lichkeit mit den unsrigen zeigen Die Menschen der Revo- lutionszeit glaubten die Griechen und Roumlmer nachzuahmen und gaben nur den alten Worten einen Sinn den sie nie- mals gehabt hatten Welche Aumlhnlichkeit koumlnnte zwischen den Einrichtungen der Griechen und solchen bestehen die heute mit gleichlautenden Worten bezeichnet werden Was war eine Republik damals anderes als eine wesentlich aristokratische aus einer Vereinigung kleiner Despoten gebildete Einrichtung die eine versklavte in voumllliger Ab- haumlngigkeit gehaltene Masse beherrschte Diese kommunalen Aristokratien die sich auf Sklaverei gruumlndeten haumltten nicht einen Augenblick ohne sie bestehen koumlnnenUnd wie koumlnnte das Wort Freiheit fuumlr ein Zeitalter das die Gedankenfreiheit noch nicht einmal ahnte und keinen groumlszligeren und uumlberdies seltneren Frevel kannte als uumlber

BILDER WORTE UND REDEWENDUNGEN 73

die Goumltter die Gesetze und die Sitten der Buumlrgerschaft zu streiten dieselbe Bedeutung haben wie fuumlr uns Das Wort Vaterland bedeutete in der Seele eines Atheners oder Spar- taners die Verehrung Athens oder Spartas keineswegs aber Griechenlands das aus vielen Stadtstaaten bestand die sich fortwaumlhrend bekriegten und miteinander wetteiferten Welche Bedeutung hatte dasselbe Wort bei den wetteifern- den Staumlmmen von verschiedener Rasse Sprache und Reli- gion des alten Galliens die Caumlsar so leicht besiegte weil er unter ihnen stets Verbuumlndete hatte Rom allein verlieh Gallien ein Vaterland indem es ihm die politische und religioumlse Einheit gab Doch man braucht gar nicht so weit zuruumlckzugehen knapp zwei Jahrhunderte genuumlgen glaubt man das Wort Vaterland sei von den franzoumlsischen Prin- zen die sich wie der groszlige Condeacute mit dem Feinde gegen ihren eigenen Herrscher verbanden in seiner jetzigen Be- deutung verstanden worden Und hatte dasselbe Wort fuumlr die Emigranten nicht noch einen ganz andern Sinn als heutzutage Sie glaubten den Gesetzen der Ehre zu gehor- chen wenn sie Frankreich bekaumlmpften und gehorchten ihnen damit tatsaumlchlich von ihrem Gesichtspunkt aus da das Lehnsgesetz den Vasallen dem Lehnsherrn verband und nicht dem Lande und dort wo sich der Herr befand auch das wahre Vaterland warUnzaumlhlige Worte haben so ihre Bedeutung im Laufe der Zeit entscheidend geaumlndert Wir koumlnnen nur noch mit groszliger Muumlhe ihre fruumlhere Bedeutung verstehen Man muszlig viel lesen hat man mit Recht gesagt um nur zu begreifen was in den Augen unsrer Groszligeltern Worte wie bdquoder Koumlnigldquo und bdquodie koumlnigliche Familieldquo bedeuteten Wie steht es da erst mit schwierigeren AusdruumlckenDie Worte haben also nur veraumlnderliche und vergaumlngliche Bedeutungen die mit den Zeiten und Voumllkern wechseln Wollen wir durch sie auf die Massen wirken so muumlssen wir den Sinn kennen den sie fuumlr die Massen im gege- benen Augenblick haben nicht aber jenen den sie einst besaszligen oder den sie fuumlr Persoumlnlichkeiten von ganz be-

74 UNMITTELBARE TRIEBKRAumlFTE DER MASSEN-ANSCHAUUNG

sonderer geistiger Beschaffung haben koumlnnen Worte sind ebenso lebendig wie IdeenWenn also die Massen infolge politischer Umwaumllzungen oder nach einem Glaubenswechsel einen tiefen Widerwillen gegen die Bilder haben die durch bestimmte Worte aus- geloumlst werden so ist es die erste Aufgabe des wahren Staatsmannes die Bezeichnungen zu aumlndern ohne ndash wohl- gemerkt ndash an die Dinge selbst zu ruumlhren da diese zu sehr an eine ererbte Geistesverfassung gebunden sind als daszlig man sie aumlndern koumlnnte Der geistreiche Tocqueville hat darauf aufmerksam gemacht daszlig die Arbeit des Konsulats und des Kaisertums vor allen Dingen darin bestand die Mehrzahl der Einrichtungen der Vergangenheit mit neuen Bezeichnungen zu versehen folglich die Ausdruumlcke die in der Phantasie der Massen verhaszligte Bilder hervorriefen durch andre zu ersetzen deren Neuheit das unmoumlglich machte Die

bdquoTailleldquo wurde zur Grundsteuer die bdquoGabelleldquo zur Salz- steuer die Verbrauchssteuer zu indirekten Steuern und Zoumll- len die Meister- und Zunfttaxe zur Gewerbesteuer uswEine der wichtigsten Aufgaben der Staatsmaumlnner besteht also darin die Dinge die die Massen unter ihren alten Bezeichnungen verabscheuen mit volkstuumlmlichen oder we- nigstens bedeutungslosen Namen zu taufen Die Macht der Worte ist so groszlig daszlig gutgewaumlhlte Bezeichnungen genuuml- gen um den Massen die verhaszligtesten Dinge annehmbar zu machen Taine bemerkt ganz richtig daszlig die Jakobiner durch Berufung auf die damals sehr volkstuumlmlichen Worte

bdquoFreiheitldquo und bdquoBruumlderlichkeitldquo einen Despotismus der des Koumlnigreichs Dahomey wuumlrdig gewesen waumlre ein Tri- bunal wie die Inquisition und Menschenhekatomben gleich denen des alten Mexiko heraufbeschwoumlren konnten Die Regierungskunst besteht wie die der Rechtsanwaumllte darin daszlig man die Worte zu meistern versteht Eine schwierige Kunst denn in derselben Gesellschaft haben die gleichen Worte fuumlr die verschiedenen sozialen Schichten oft ganz verschiedene Bedeutung Sie gebrauchen anscheinend diesel- ben Worte sprechen aber nicht dieselbe Sprache

BILDER WORTE UND REDEWENDUNGEN 75

In den vorstehenden Beispielen haben wir als Haupt- ursache fuumlr den Bedeutungswandel der Worte besonders die Zeit in Betracht gezogen Wollten wir auch die Rasse heranziehen so wuumlrden wir sehen daszlig zu gleicher Zeit bei Voumllkern von gleicher Kultur aber verschiedener Rasse die gleichen Worte oft ganz verschiedenartigen Vorstellungen entsprechen Diese Unterschiede kann man ohne zahlreiche Reisen nicht kennenlernen und verstehen und ich will sie daher nicht hervorheben Ich beschraumlnke mich auf die Be- merkung daszlig gerade die gebraumluchlichsten Worte bei den verschiedenen Voumllkern die verschiedenste Bedeutung haben So z B die Ausdruumlcke bdquoDemokratieldquo und bdquoSozialismusldquo die heute soviel gebraucht werdenSie entsprechen in Wirklichkeit fuumlr die lateinische und die angelsaumlchsische Seele inhaltlich und bildlich voumlllig ent- gegengesetzten Vorstellungen Bei den lateinischen Voumllkern bedeutet das Wort Demokratie vor allem die Ausloumlschung des Willens und der Tatkraft des einzelnen vor dem Staat Dem Staat wird immer mehr aufgeladen er soll fuumlhren zentralisieren monopolisieren fabrizieren An ihn wenden sich bestaumlndig alle Parteien ohne Ausnahme Radikale Sozialisten Monarchisten Bei den Angelsachsen nament- lich bei den Amerikanern bedeutet dasselbe Wort im Gegenteil die angespannteste Entfaltung des Willens und der Persoumlnlichkeit das moumlglichste Zuruumlcktreten des Staates den man mit Ausnahme der Polizei des Heeres und der diplomatischen Beziehungen nichts leiten laumlszligt nicht einmal den Unterricht Dasselbe Wort hat also bei diesen beiden Voumllkern einen voumlllig entgegengesetzten Sinn

sect 2 Die Taumluschungen (illusions)

Seit der Morgenroumlte der Kultur sind die Voumllker immer dem Einfluszlig von Taumluschungen ausgesetzt gewesen Den

In den bdquoPsychologischen Gesetzen der Voumllkerentwicklungldquo habe ich klar auf den Unterschied hingewiesen der das lateinische Ideal der Demokratie von dem angelsaumlchsischen Ideal der Demokratie unterscheidet

76 UNMITTELBARE TRIEBKRAumlFTE DER MASSEN-ANSCHAUUNG

Schoumlpfern von Taumluschungen haben sie die meisten Tempel Bildwerke und Altaumlre errichtet Fruumlher waren es religioumlse heute sind es philosophische Taumluschungen ndash aber immer findet man diese furchtbaren Herrscherinnen an der Spitze aller Kulturen die nacheinander auf unserm Planeten bluumlhten In ihrem Namen stiegen die Tempel Chaldaumlas und Aumlgyptens die Kirchenbauten des Mittelalters empor in ihrem Namen wurde ganz Europa vor einem Jahr- hundert umgewaumllzt Es gibt nicht eine einzige unserer kuumlnstlerischen politischen oder sozialen Anschauungen die nicht ihren maumlchtigen Stempel truumlge Oft schuumlttelt sie der Mensch um den Preis furchtbarer Umwaumllzungen ab aber er scheint dazu verdammt zu sein sie immer wieder auf- zurichten Ohne sie haumltte er die primitive Barbarei nicht hinter sich lassen koumlnnen und ohne sie wuumlrde er ihr bald wieder verfallen Zweifellos sind es leere Schatten aber diese Toumlchter unserer Traumlume haben die Voumllker gezwun- gen all das zu schaffen was den Glanz der Kuumlnste und die Groumlszlige der Kultur ausmacht

bdquoWenn man alle Kunstwerke und Denkmaumller in den Mu- seen und Bibliotheken die dem Einfluszlig der Religion ihr Dasein verdanken zerstoumlren und auf den Steinen ihrer Vorhoumlfe zertruumlmmern koumlnnte was bliebe von den groszligen Traumlumen der Menschheit uumlbrigldquo schreibt ein Autor der die Summe unseres Wissens zieht bdquoDie Daseinsberech- tigung der Goumltter Helden und Dichter besteht darin den Menschen ihren Anteil an Hoffnungen und Taumluschungen zu geben ohne die sie nicht leben koumlnnen Eine Zeitlang schien die Wissenschaft diese Aufgabe zu uumlbernehmen Sie hat sich aber bei den idealhungrigen Gemuumltern um ihr Ansehen gebracht weil sie nicht mehr genug zu verspre- chen wagt und nicht genug zu luumlgen weiszligldquoDie Philosophen des vergangenen Jahrhunderts widmeten sich mit Eifer der Zerstoumlrung der religioumlsen politischen und sozialen Taumluschungen von denen unsere Vaumlter viele Jahrhunderte lang gelebt hatten Diese Zerstoumlrung lieszlig die Quellen der Hoffnung und Ergebung versiegen Hinter den

DIE TAumlUSCHUNGEN 77

geopferten Chimaumlren fanden sie die blinden Naturkraumlfte die unerbittlich sind gegen Schwaumlche und kein Mitleid kennenTrotz all ihrer Fortschritte hat die Philosophie nicht ver- mocht den Massen ein Ideal zu bieten das sie bezaubern koumlnnte Da ihnen aber Taumluschungen unentbehrlich sind so wenden sie sich unwillkuumlrlich wie die Motte dem Licht den Rednern zu die sie ihnen bieten Die groszlige Trieb- kraft der Voumllkerentwicklung war niemals die Wahrheit sondern der Irrtum Und wenn heute der Sozialismus seine Macht wachsen sieht so erklaumlrt es sich daraus daszlig er die einzige Taumluschung darstellt die noch lebendig ist Wissen- schaftliche Beweisfuumlhrungen koumlnnen seine Entwicklung nicht aufhalten Seine Hauptstaumlrke liegt darin daszlig er von Koumlpfen verteidigt wird die die Tatsachen der Wirklichkeit genuumlgend verkennen um es zu wagen den Menschen kuumlhn das Gluumlck zu versprechen Die soziale Taumluschung herrscht heute auf allen Ruinen die die Vergangenheit auftuumlrmte und ihr gehoumlrt die Zukunft Nie haben die Massen nach Wahrheit geduumlrstet Von den Tatsachen die ihnen miszlig- fallen wenden sie sich ab und ziehen es vor den Irrtum zu vergoumlttern wenn er sie zu verfuumlhren vermag Wer sie zu taumluschen versteht wird leicht ihr Herr wer sie aufzu- klaumlren sucht stets ihr Opfer

sect 3 Die Erfahrung

Die Erfahrung ist so ziemlich das einzige wirksame Mittel um der Massenseele eine Wahrheit fest einzupflanzen und zu gefaumlhrlich gewordene Taumluschungen zu zerstoumlren Dazu muszlig die Erfahrung auf einer breiten Grundlage ruhen und oft wiederholt werden Die von einer Generation gesam- melten Erfahrungen sind im allgemeinen fuumlr die folgende nutzlos darum hat es keinen Zweck geschichtliche Ereig- nisse als Beweise anzufuumlhren Ihr einziger Nutzen ist daszlig sie zeigt in welchem Maszlige die Erfahrungen in jedem Zeit- alter wiederholt werden muumlssen um irgendwelchen Einfluszlig

78 UNMITTELBARE TRIEBKRAumlFTE DER MASSEN-ANSCHAUUNG

zu gewinnen und den Erfolg zu haben auch nur einen Irrtum der mit der Massenseele verwachsen ist auszu- rottenUnser Jahrhundert und das vorhergehende werden von den Historikern der Zukunft zweifellos als eine Zeit merk- wuumlrdiger Erfahrungen bezeichnet werden Kein anderes Zeitalter hat so viele aufzuweisenDie gewaltigste Erfahrung war die Franzoumlsische Revo- lution Um zu entdecken daszlig man eine Gesellschaft nicht mit den Mitteln der reinen Vernunft von Grund auf er- neuern kann muszligten einige Millionen Menschen hinge- schlachtet und ganz Europa zwanzig Jahre lang erschuumlttert werden Um uns durch die Erfahrung zu beweisen daszlig Caumlsaren den Voumllkern die ihnen zujauchzen teuer zu stehen kommen waren innerhalb fuumlnfzig Jahren zwei vernich- tende Erfahrungen noumltig die trotz ihrer Verstaumlndlichkeit nicht uumlberzeugend genug gewesen zu sein scheinen Gleich- wohl kostete die erste drei Millionen Menschen und einen feindlichen Einmarsch die zweite eine Zerreiszligung des Lan- des und die Notwendigkeit stehender Heere Eine dritte waumlre beinahe vor kurzem gemacht worden und wird eines Tages sicherlich gemacht werden Um uns zu beweisen daszlig das riesige deutsche Heer nicht wie man uns vor 870 lehrte eine Art harmloser Nationalgarde ist war der schreckliche Krieg noumltig der uns so viel gekostet hat Um zu der Erkenntnis zu kommen daszlig das Schutzzollsystem

Die Anschauung der Massen bildete sich in diesem Fall durch die groben Verbindungen unaumlhnlicher Dinge deren Mechanik ich fruumlher erklaumlrt habe Weil damals unsere Nationalgarde aus friedlichen Kleinbuumlrgern ohne jede straffe Zucht bestand und nicht ernst zu nehmen war erweckte alles was einen aumlhnlichen Namen trug dieselben Bilder und wurde folglich fuumlr ebenso harmlos gehalten Der Irrtum der Massen wurde damals wie es bei allge- meinen Anschauungen so oft der Fall ist von den Fuumlhrern geteilt In einer Rede die Herr Thiers am 3 Dezember 867 in der Deputiertenkammer hielt wiederholte er ein Staatsmann der der Massenanschauung oft gefolgt ist Preuszligen besitze auszliger einem aktiven Heere an Zahl dem unsrigen fast gleich nur eine Nationalgarde die von derselben Art wie wir sie einmal besessen und demnach ohne Bedeutung sei ndash eine ebenso richtige Behauptung wie die beruumlhmte Prophezeiung desselben Staatsmannes uumlber die Zukunfts- losigkeit der Eisenbahnen

DIE ERFAHRUNG 79

die Voumllker die es anwenden endguumlltig zugrunde richtet werden noch unheilvolle Erfahrungen noumltig sein Diese Beispiele lieszligen sich ins Unendliche vermehren

sect 4 Die Vernunft

Bei der Aufzaumlhlung der Faktoren die imstande sind die Massenseele zu erregen koumlnnten wir uns die Erwaumlhnung der Vernunft ersparen wenn man nicht den negativen Wert ihres Einflusses aufzeigen muumlszligteWir haben bereits festgestellt daszlig die Massen durch logi- sche Beweise nicht zu beeinflussen sind und nur grobe Ideenverbindungen begreifen Daher wenden sich auch die Redner die Eindruck auf sie zu machen verstehen an ihr Gefuumlhl und niemals an ihre Vernunft Die Gesetze der Logik haben keinerlei Einfluszlig auf sie Um die Massen zu uumlberzeugen muszlig man sich zunaumlchst genau Rechenschaft geben uumlber die Gefuumlhle die sie beseelen muszlig den An- schein erwecken daszlig man sie teilt dann versuchen sie zu veraumlndern indem man mittels angedeuteter Ideenverbin- dungen gewisse zwingende Bilder hervorruft ferner muszlig man im Notfall sein Vorhaben aufgeben koumlnnen und vor

Meine ersten Beobachtungen uumlber die Kunst der Massenbeeinflussung und die schwachen Hilfsmittel die die Logik in dieser Beziehung bietet machte ich waumlhrend der Belagerung von Paris an dem Tage an dem ich den Mar- schall Vhellip nach dem Louvre dem Sitz der damaligen Regierung bringen sah weil eine wuumltende Volksmenge ihn dabei uumlberrascht haben wollte als er den Festungsplan entwendete um ihn den Preuszligen zu verkaufen Ein Re- gierungsmitglied G P hellip ein beruumlhmter Redner trat heraus um eine Ansprache an die Massen zu halten die die unverzuumlgliche Hinrichtung des Gefangenen verlangten Ich erwartete der Redner werde die Unsinnigkeit der Beschuldigung durch die Feststellung beweisen daszlig der angeklagte Marschall ausgerechnet einer der Konstrukteure der Befestigung sei deren Plan man uumlbrigens in allen Buchhandlungen kaufen konnte Zu meiner groszligen Verbluumlf- fung ndash ich war damals noch sehr jung ndash lautete die Rede ganz anders bdquoDem Recht wird Genuumlge geschehenldquo rief der Redner indem er auf den Gefangenen zuging bdquowird in unerbittlicher Weise Genuumlge geschehen Laszligt die Regierung der nationalen Verteidigung eure Sache durchfuumlhren einstweilen werden wir den Angeklagten einsperrenldquo Durch diese scheinbare Genugtuung besaumlnftigt zerstreute sich die Menge und der Marschall konnte schon nach Verlauf einer Viertelstunde seine Wohnung aufsuchen Sicherlich waumlre er totgeschlagen wor- den wenn sein Verteidiger der wuumltenden Menge die logischen Beweisgruumlnde vorgehalten haumltte die meine groszlige Jugend sehr uumlberzeugend fand

80 UNMITTELBARE TRIEBKRAumlFTE DER MASSEN-ANSCHAUUNG

allen Dingen jeden Augenblick die Gefuumlhle erraten die man erweckt Diese Notwendigkeit seine Ausdrucksweise je nach dem erzielten Erfolg im Augenblick zu veraumlndern verurteilt jede vorbereitete und eingelernte Rede von vorn- herein zur Wirkungslosigkeit Der Redner folgt seinen eignen Gedanken nicht denen seiner Zuhoumlrer und verliert schon allein durch diese Tatsache jeden EinfluszligDie logischen Koumlpfe die an die ziemlich knappen Schluszlig- ketten der Vernunft gewoumlhnt sind koumlnnen sich nicht ent- halten ihre Zuflucht zu dieser Uumlberzeugungsweise zu neh- men wenn sie sich an die Massen wenden und sind immer wieder uumlber das Fehlschlagen ihrer Beweise uumlberrascht

bdquoDie gewoumlhnlichen mathematischen Schluumlsse die sich auf den Syllogismus d h auf Identitaumltsketten gruumlnden sind notwendigldquo schreibt ein Logiker hellip bdquoIhre Notwendigkeit wuumlrde selbst die Zustimmung einer anorganischen Masse erzwingen wenn sie den Identitaumltsketten folgen koumlnnteldquo Gewiszlig aber die Menge ist ebensowenig imstande ihnen zu folgen oder sie auch nur zu verstehen wie die anorganische Masse Man mache z B den Versuch primitive Wesen Wilde oder Kinder durch ein logisches Urteil zu uumlber- zeugen und man wird einsehen wie wenig Wirkung diese Beweisfuumlhrung hatMan braucht nicht einmal bis zu den primitiven Wesen hinabzusteigen um die voumlllige Ohnmacht der Logik im Kampf gegen Gefuumlhle festzustellen Erinnern wir uns nur daran wie hartnaumlckig sich viele Jahrhunderte hindurch die religioumlsen Vorurteile gehalten haben die der einfachsten Logik widersprechen Fast zweitausend Jahre lang beugten sich die aufgeklaumlrtesten Geister unter ihre Gesetze und erst in der modernen Zeit war es uumlberhaupt moumlglich ihre Wahrheiten anzuzweifeln Das Mittelalter und die Renais- sance hatten genug aufgeklaumlrte Koumlpfe aber nicht ein ein- ziger war darunter dem die Vernunft die kindischen Seiten seines Aberglaubens enthuumlllt und auch nur einen leisen Zweifel an den Bosheiten des Teufels oder an der Not- wendigkeit der Hexenverbrennungen wachgerufen haumltte

DIE VERNUNFT 81

Ist es zu bedauern daszlig die Massen nie von der Vernunft geleitet werden Wir wagen es nicht zu behaupten Der menschlichen Vernunft waumlre es wahrscheinlich nicht ge- lungen die Menschheit mit derselben Glut und Kuumlhnheit die Bahnen der Kultur zu fuumlhren zu der ihre Trugbilder sie fortgerissen haben Die Trugbilder waren Erzeugnisse des Unbewuszligten von dem wir geleitet werden und sie waren wahrscheinlich notwendig Jede Rasse birgt in ihrer geistigen Verfassung die Gesetze ihres Schicksals und viel- leicht gehorcht sie diesen Gesetzen infolge eines untruumlg- lichen Instinktes auch dann wenn ihre unvernuumlnftigsten Aumluszligerungen in Erscheinung treten Es scheint manchmal als ob die Voumllker geheimen Kraumlften unterworfen waumlren gleich jenen die die Eichel in eine Eiche umwandeln oder den Kometen zwingen seine Bahn einzuhaltenDas wenige was wir uumlber diese Kraumlfte erforschen koumlnnen muszlig in dem allgemeinen Entwicklungsgang der Voumllker ge- sucht werden und nicht in den einzelnen Tatsachen aus denen sich diese Entwicklung zu ergeben scheint Wuumlrde man nur diese einzelnen Tatsachen in Betracht ziehen so schiene es als sei die Geschichte von ungereimten Zufaumlllen beherrscht Es war unglaubhaft daszlig ein unwissender Zim- mermann aus Galilaumla zweitausend Jahre hindurch zu einem allmaumlchtigen Gott werden konnte in dessen Namen die bedeutendsten Kulturen gegruumlndet wurden unglaubhaft war es auch daszlig einige arabische Horden die ihre Wuumlste ver- lieszligen den groumlszligten Teil der alten griechisch-roumlmischen Welt erobern konnten unglaubhaft war es endlich daszlig in einem sehr gealterten und in Rangordnungen festgelegten Europa ein einfacher Artillerieleutnant es zuwege brachte uumlber eine groszlige Anzahl von Voumllkern und Koumlnigen zu herrschenUumlberlassen wir also die Vernunft den Philosophen aber ver- langen wir nicht von ihr daszlig sie sich allzuviel in die Re- gierung der Menschen einmische Nicht vermoumlge sondern oft trotz der Vernunft bildeten sich Gefuumlhle wie Ehre Ent- sagung religioumlser Glaube Ruhmes- und Vaterlandsliebe die bis heute die groszligen Triebfedern aller Kultur gewesen sind

82 UNMITTELBARE TRIEBKRAumlFTE DER MASSEN-ANSCHAUUNG

3 KAPITEL

Die Fuumlhrer der Massen und ihre Uumlberzeugungsmittel

Die Geistesverfassung der Massen ist uns jetzt bekannt und wir wissen nun auch welche Kraumlfte auf sie wirken Jetzt haben wir zu untersuchen wie diese Kraumlfte angewandt wer- den muumlssen und durch wen sie nutzbringend in Taumltigkeit umgesetzt werden

sect Die Fuumlhrer der Massen

Sobald eine gewisse Anzahl lebender Wesen vereinigt ist einerlei ob eine Herde Tiere oder eine Menschenmenge unterstellen sie sich unwillkuumlrlich einem Oberhaupt d h einem FuumlhrerIn den menschlichen Massen spielt der Fuumlhrer eine hervor- ragende Rolle Sein Wille ist der Kern um den sich die An- schauungen bilden und ausgleichen Die Masse ist eine Herde die sich ohne Hirten nicht zu helfen weiszligSehr oft war der Fuumlhrer zuerst ein Gefuumlhrter der selbst von der Idee hypnotisiert war deren Apostel er spaumlter wurde Sie hat ihn so sehr erfuumlllt daszlig neben ihr alles verschwand und daszlig ihm nun jede gegenteilige Anschauung als Irrtum und Aberglaube erscheint So z B Robespierre der von seinen wunderlichen Ideen so hypnotisiert war daszlig er sich zu ihrer Verbreitung der Mittel der Inquisition bedienteMeistens sind die Fuumlhrer keine Denker sondern Maumlnner der Tat Sie haben wenig Scharfblick und koumlnnten auch nicht anders sein da der Scharfblick im allgemeinen zu Zweifel und Untaumltigkeit fuumlhrt Man findet sie namentlich unter den Nervoumlsen Reizbaren Halbverruumlckten die sich an der Grenze des Irrsinns befinden So abgeschmackt auch die verfochtene Idee oder das verfolgte Ziel sein mag gegen ihre Uumlberzeugung wird alle Logik zunichte Ver- achtung und Verfolgung stoumlrt sie nicht oder erregt sie nur noch mehr Persoumlnliches Interesse Familie alles wird ge-

opfert Sogar der Selbsterhaltungstrieb ist bei ihnen aus- geschaltet und zwar in solchem Maszlige daszlig die einzige Be- lohnung die sie oft anstreben das Martyrium ist Die Staumlrke ihres Glaubens verleiht ihren Worten eine groszlige suggestive Macht Die Menge houmlrt immer auf den Men- schen der uumlber einen starken Willen verfuumlgt Die in der Masse vereinigten Einzelnen verlieren allen Willen und wenden sich instinktiv dem zu der ihn besitztAn Fuumlhrern hat es den Voumllkern nie gefehlt aber sie besit- zen nicht alle die starken Uumlberzeugungen die den Apostel machen Oft sind es geschickte Redner die nur ihre eigenen Interessen verfolgen und durch Schmeicheln niedriger In- stinkte zu uumlberreden suchen Der Einf luszlig den sie aus- uumlben bleibt stets nur aumluszligerlich Die groszligen Uumlberzeugten die die Massenseele erhoben haben wie Peter von Amiens Luther Savonarola die Revolutionsmaumlnner begeisterten erst nachdem sie selbst durch einen Glauben begeistert waren Dann freilich konnten sie in den Seelen jene furcht- bare Macht erzeugen die Glaube heiszligt und den Menschen zum voumllligen Sklaven seines Traumes machtGlauben erwecken sei es religioumlser politischer oder sozialer Glaube Glaube an eine Person oder an eine Idee das ist die besondere Rolle des groszligen Fuumlhrers Von allen Kraumlf- ten die der Menschheit zur Verfuumlgung stehen war der Glaube stets eine der bedeutendsten und mit Recht schreibt ihm das Evangelium die Macht zu Berge zu versetzen Dem Menschen einen Glauben schenken heiszligt seine Kraft verzehnfachen Die groszligen geschichtlichen Ereignisse wur- den oft von unbekannten Glaumlubigen verwirklicht die nichts als ihren Glauben besaszligen Nicht die Gelehrten und Philo- sophen vor allem nicht die Skeptiker haben die groszligen Religionen geschaffen die die Welt und die riesigen Reiche die sich von der einen Erdhaumllfte bis zur andern erstreckten beherrscht habenDoch solche Beispiele passen nur fuumlr die groszligen Fuumlhrer und die sind so selten daszlig die Geschichte ihre Zahl leicht feststellen koumlnnte Sie bilden den Gipfel einer absteigenden

84 DIE FUumlHRER UND IHRE UumlBERZEUGUNGSMITTEL

Reihe von den Fuumlhrernaturen angefangen bis hinunter zum Arbeiter der in einer rauchigen Kneipe seine Genos- sen nach und nach begeistert indem er fortwaumlhrend ein paar kaum verstandene Redensarten wiederholt die nach seiner Meinung alle Traumlume und Hoffnungen verwirk- lichen wuumlrdenIn allen sozialen Schichten von der houmlchsten bis zur nied- rigsten geraumlt der Mensch sobald er nicht mehr allein- steht leicht unter die Herrschaft eines Fuumlhrers Die meisten Menschen besonders in den Massen des Volkes haben von nichts auszligerhalb ihres Berufsfaches eine klare und richtige Vorstellung Sie sind nicht imstande sich selbst zu leiten so dient ihnen der Fuumlhrer als Wegweiser Er kann zur Not aber nur sehr unzureichend durch Zeitungen ersetzt wer- den die ihren Lesern Meinungen anfertigen und Redens- arten bieten welche alles Denken ersparenDie Herrschaft der Fuumlhrer ist aumluszligerst gewaltsam und ver- dankt nur dieser Gewalt ihre Geltung Man kann oft er- leben wie leicht sie sich in unruhigsten Arbeiterschichten Gehorsam verschaffen ohne ein anderes Mittel als ihr Ansehen anzuwenden Sie bestimmen die Zahl der Arbeits- stunden die Lohntarife beschlieszligen die Streiks lassen sie zu einer bestimmten Stunde beginnen und endenHeute haben es die Fuumlhrer darauf abgesehen nach und nach die oumlffentlichen Gewalten zu ersetzen soweit man sie eroumlrtern und schwaumlchen kann Durch ihre Gewaltherrschaft erreichen diese neuen Herren daszlig die Massen ihnen viel leichter folgen als irgendeiner Regierung Verschwindet durch einen Zufall der Fuumlhrer und ist nicht sofort Ersatz da so wird die Masse wieder eine Menge ohne Zusammen- hang und Widerstandskraft Waumlhrend eines Streiks der Pariser Omnibusangestellten genuumlgte die Verhaftung der beiden Anfuumlhrer die ihn leiteten um ihm sofort ein Ende zu bereiten Nicht das Freiheitsbeduumlrfnis sondern der Diensteifer herrscht stets in der Massenseele Ihr Drang zu gehorchen ist so groszlig daszlig sie sich jedem der sich zu ihrem Herrn erklaumlrt instinktiv unterordnen

DIE FUumlHRER DER MASSEN 85

Innerhalb der Klasse der Fuumlhrer laumlszligt sich eine ziemlich scharfe Einteilung vornehmen Zu der einen Art gehoumlren die energischen willensstarken aber nicht ausdauernden Menschen zur andern viel selteneren die Menschen mit einem starken ausdauernden Willen Die ersteren sind heftig tapfer kuumlhn Sie taugen besonders dazu einen Handstreich durchzufuumlhren die Massen trotz der Gefahr mitzureiszligen und die jungen Rekruten in Helden zu ver- wandeln So waren z B im ersten Kaiserreich Ney und Murat So war auch noch zu unserer Zeit Garibaldi ein talentloser aber energischer Abenteurer dem es gelang mit einer Handvoll Menschen sich des ehemaligen Koumlnigreichs Neapel zu bemaumlchtigen obwohl es von einem regelrechten Heer verteidigt wurdeAber wenn die Energie solcher Fuumlhrer auch gewaltig ist so ist sie doch nur voruumlbergehend und uumlberdauert kaum den Aufschwung den sie erzeugten Sind die Helden in den Strom des gewoumlhnlichen Lebens zuruumlckgetaucht so geben sie die fruumlher so feurig waren Beweise von er- staunlicher Schwaumlche Sie scheinen unfaumlhig zum Nach- denken und koumlnnen sich in den einfachsten Verhaumlltnissen nicht zurechtfinden nachdem sie doch vorher die andern so gut zu leiten verstanden Diese Fuumlhrer koumlnnen ihre Aufgabe nur dann erfuumlllen wenn sie selbst unausgesetzt gefuumlhrt und angetrieben werden stets einen Menschen oder eine Idee uumlber sich fuumlhlen und genauen Verhaltungsregeln folgen muumlssenDie zweite Fuumlhrerklasse die der Menschen mit ausdauern- dem Willen uumlbt trotz ihres weniger glaumlnzenden Auftretens einen viel bedeutenderen Einfluszlig aus Zu ihnen gehoumlren die wahren Begruumlnder von Religionen oder groszligen Wer- ken Paulus Mohammed Kolumbus Lesseps Moumlgen sie intelligent beschraumlnkt oder unbedeutend sein stets wird die Welt fuumlr sie eintreten Der beharrliche Wille den sie besitzen ist eine unendlich seltene und unendlich maumlchtige Eigenschaft die sich alles unterwirft Man ist sich nicht immer klar genug daruumlber was ein starker und stetiger

86 DIE FUumlHRER UND IHRE UumlBERZEUGUNGSMITTEL

Wille vermag Nichts widersteht ihm weder die Natur noch die Goumltter noch die MenschenDas juumlngste Beispiel hat uns der beruumlhmte Ingenieur ge- geben der zwei Erdteile voneinander trennte und den Versuch durchfuumlhrte den dreitausend Jahre hindurch die groumlszligten Herrscher vergeblich unternommen hatten Er scheiterte spaumlter an einem gleichartigen Unternehmen aber dann war er alt und im Alter erlischt alles auch der WilleUm die Macht des Willens zu beweisen braucht man nur die Geschichte der Schwierigkeiten die bei dem Durch- stich des Suezkanals zu uumlberwinden waren mit allen Ein- zelheiten zu erzaumlhlen Ein Augenzeuge Doktor Cazalis hat die Ausfuumlhrung dieses Riesenwerkes in einige ergrei- fende Zeilen zusammengefaszligt wie sie dessen unsterblicher Urheber schilderte bdquoEr erzaumlhlte Tag fuumlr Tag in einzelnen Abschnitten das Gedicht vom Kanal Er erzaumlhlte von allem was er zu uumlberwinden hatte von allem Unmoumlg- lichen das er moumlglich gemacht hatte von allen Wider- staumlnden den Buumlndnissen gegen ihn den Bitterkeiten Un- faumlllen Schlappen die ihn aber nie entmutigen und lahmen konnten er dachte an England das ihn bekaumlmpfte ihn unablaumlssig angriff erinnerte an Aumlgypten und Frankreich die zoumlgerten an den franzoumlsischen Konsul der sich mehr als die andern den ersten Arbeiten widersetzte und wie man sich ihm entgegenstellte indem man die Arbeiter durch den Durst zu beeinflussen suchte und ihnen das Trinkwasser verweigerte dann sprach er vom Marine- ministerium und von den Ingenieuren von all den ernsten erfahrenen Kennern ihrer Wissenschaft die naturgemaumlszlig alle feindlich gesinnt und theoretisch von dem Fehlschlag uumlberzeugt waren den sie berechneten und in Aussicht stell- ten wie man eine Sonnenfinsternis fuumlr einen bestimmten Tag oder eine bestimmte Stunde voraussagtldquo Das Buch in dem das Leben all dieser groszligen Fuumlhrer zu schildern waumlre wuumlrde nicht viele Namen enthalten aber diese Na- men standen an der Spitze der wichtigsten Ereignisse der Kultur und Geschichte

DIE FUumlHRER DER MASSEN 87

sect 2 Die Wirkungsmittel der Fuumlhrer Behauptung Wiederholung Uumlbertragung

Wenn es sich darum handelt eine Masse fuumlr den Augen- blick mitzureiszligen und sie zu bestimmen irgend etwas zu tun etwa einen Palast zu pluumlndern sich bei der Verteidi- gung eines befestigten Platzes oder einer Barrikade toumlten zu lassen so muszlig man durch raschen Einfluszlig auf sie wir- ken Der erfolgreichste ist das Beispiel Doch ist dann not- wendig daszlig die Masse schon durch gewisse Umstaumlnde vorbereitet ist und besonders daszlig der der sie mitreiszligen will die Eigenschaft besitzt die ich spaumlter als Einf luszlig untersuchen werdeHandelt es sich jedoch darum der Massenseele Ideen und Glaubenssaumltze langsam einzufloumlszligen z B die modernen so- zialen Lehren so wenden die Fuumlhrer verschiedene Verfah- ren an Sie benutzen hauptsaumlchlich drei bestimmte Arten die Behauptung die Wiederholung und die Uumlbertragung oder Ansteckung (contagion) Ihre Wirkung ist ziemlich langsam aber ihre Erfolge sind von DauerDie reine einfache Behauptung ohne Begruumlndung und jeden Beweis ist ein sichres Mittel um der Massenseele eine Idee einzufloumlszligen Je bestimmter eine Behauptung je freier sie von Beweisen und Belegen ist desto mehr Ehrfurcht erweckt sie Die religioumlsen Schriften und die Gesetzbuumlcher aller Zeiten haben sich stets einfacher Behauptungen be- dient Die Staatsmaumlnner die zur Durchfuumlhrung einer poli- tischen Angelegenheit berufen sind die Industriellen die ihre Erzeugnisse durch Anzeigen verbreiten kennen den Wert der BehauptungDie Behauptung hat aber nur dann wirklichen Einf luszlig wenn sie staumlndig wiederholt wird und zwar moumlglichst mit denselben Ausdruumlcken Napoleon sagte es gaumlbe nur eine einzige ernsthafte Redefigur die Wiederholung Das Wie- derholte befestigt sich so sehr in den Koumlpfen daszlig es schlieszliglich als eine bewiesene Wahrheit angenommen wirdMan versteht den Einfluszlig der Wiederholung auf die Mas-

sen gut wenn man sieht welche Macht sie uumlber die auf- geklaumlrtesten Koumlpfe hat Das Wiederholte setzt sich schlieszlig- lich in den tiefen Bereichen des Unbewuszligten fest in denen die Ursachen unserer Handlungen verarbeitet werden Nach einiger Zeit wenn wir vergessen haben wer der Urheber der wiederholten Behauptung ist glauben wir schlieszliglich daran Daher die erstaunliche Wirkung der An- zeige Haben wir hundertmal gelesen die beste Schokolade sei die Schokolade X so bilden wir uns ein wir haumltten es haumlufig gehoumlrt und glauben schlieszliglich es sei wirklich so Tausend schriftliche Zeugnisse uumlberreden uns so sehr zu glauben das Y-Pulver habe die bedeutendsten Persoumlnlich- keiten von den hartnaumlckigsten Krankheiten geheilt daszlig wir uns am Ende wenn wir selbst an einem derartigen Uumlbel erkranken versucht fuumlhlen es zu probieren Lesen wir taumlglich in derselben Zeitung A sei ein ausgemachter Schuft und B ein Ehrenmann so werden wir schlieszliglich davon uumlberzeugt vorausgesetzt allerdings daszlig wir nicht zu oft in einem andern Blatt die entgegengesetzte Meinung lesen die die Eigenschaften der beiden miteinander ver- tauscht Behauptung und Wiederholung allein sind maumlchtig genug um einander bekaumlmpfen zu koumlnnenWenn eine Behauptung oft genug und einstimmig wieder- holt wurde wie das bei gewissen Finanzunternehmungen der Fall ist die jede Konkurrenz aufkaufen so bildet sich das was man eine geistige Stroumlmung (courant drsquoopinion) nennt und der maumlchtige Mechanismus der Ansteckung kommt dazu Unter den Massen uumlbertragen sich Ideen Gefuumlhle Erregungen Glaubenslehren mit ebenso starker Ansteckungskraft wie Mikroben Diese Erscheinung beob- achtet man auch bei Tieren wenn sie in Scharen zusammen sind Das Krippenbeiszligen eines Pferdes im Stall wird bald von den andern Pferden desselben Stalles nachgeahmt Ein Schreck die wirre Bewegung einiger Schafe greift bald auf die ganze Herde uumlber Die Uumlbertragung der Gefuumlhle er- klaumlrt die ploumltzlichen Paniken Gehirnstoumlrungen wie der Wahnsinn verbreiten sich gleichfalls durch Uumlbertragung

BEHAUPTUNG WIEDERHOLUNG UumlBERTRAGUNG 89

Es ist bekannt wie haumlufig der Irrsinn bei Psychiatern auf- tritt Man berichtet sogar von Geisteskrankheiten z B der Platzangst die vom Menschen auf Tiere uumlbertragen werdenDie Uumlbertragung erfordert nicht die gleichzeitige Anwesen- heit der Individuen an demselben Ort sie kann auch aus der Entfernung unter dem Eindruck gewisser Ereignisse erfolgen die alle Geister in dieselbe Richtung lenken und ihnen die besonderen Merkmale der Masse verleihen be- sonders wenn sie durch die fruumlher erwaumlhnten mittelbaren Faktoren vorbereitet sind So hat z B der Revolutions- ausbruch von 848 der von Paris ausging in jaumlher Weise auf einen groszligen Teil Europas uumlbergegriffen und mehrere Monarchien erschuumlttert Die Nachahmung der man so groszligen Einf luszlig auf die sozialen Erscheinungen zugeschrieben hat ist in Wahrheit nur eine einfache Wirkung der Uumlbertragung Da ich ihre Rolle an anderer Steile bereits beschrieben habe so be- schraumlnke ich mich auf die Wiederholung dessen was ich vor vielen Jahren daruumlber sagte und was seitdem von andern Autoren ausgefuumlhrt wurde

bdquoWie die Tiere ist der Mensch von Natur ein nachahmen- des Wesen Nachahmung ist ihm Beduumlrfnis doch wohlge- merkt nur unter der Bedingung daszlig sie leicht ist aus diesem Beduumlrfnis wird die Macht der Mode geboren Mag es sich nun um Meinungen Ideen literarische Aumluszligerungen oder einfach um die Kleidung handeln wie viele wagen es sich ihrer Herrschaft zu entziehen Nicht mit Beweis- gruumlnden sondern durch Vorbilder leitet man die Massen Jedem Zeitalter druumlckt eine kleine Anzahl von einzelnen ihr Siegel auf das die Masse unbewuszligt nachahmt Aber diese einzelnen duumlrfen sich nicht allzu weit von den uumlber- kommenen Ideen entfernen Die Nachahmung wuumlrde dann zu schwierig und ihr Einfluszlig waumlre gleich Null Deshalb

Siehe meine letzten Arbeiten bdquoPolitische Psychologieldquo bdquoMeinungen und An- schauungenldquo bdquoDie Franzoumlsische Revolution und die Psychologie der Revo- lunonenldquo

90 DIE FUumlHRER UND IHRE UumlBERZEUGUNGSMITTEL

haben die Menschen die ihrer Zeit zu sehr uumlberlegen sind keinerlei Einf luszlig Der Abstand ist zu groszlig Aus dem- selben Grunde haben die Europaumler trotz aller Vorzuumlge ihrer Kultur einen so unbedeutenden Einf luszlig auf die Voumllker des OrientsldquobdquoDie vereinigte Wirkung von Vergangenheit und gegen- seitiger Nachahmung macht alle Menschen desselben Landes und desselben Zeitalters schlieszliglich so aumlhnlich daszlig selbst bei denen deren besondere Pflicht es doch waumlre sich ihr zu entziehen bei Philosophen Gelehrten Schriftstellern Gedanken und Stil eine Familienaumlhnlichkeit zeigen die sofort die Zeit der sie angehoumlren erkennen laumlszligt Eine kurze Unterhaltung mit irgendeinem Menschen genuumlgt um seinen Lesestoff seine regelmaumlszligige Beschaumlftigung und die Umgebung in der er lebt von Grund auf erkennen zu lassen ldquoDie Ansteckung ist stark genug den Menschen nicht nur gewisse Meinungen sondern auch bestimmte Arten des Fuumlhlens aufzuzwingen Sie bewirkt die Miszligachtung von Werken wie z B der Oper bdquoTannhaumluserldquo und macht einige Jahre spaumlter aus ihren aumlrgsten Verleumdern Be- wundererUumlberzeugung und Glaube der Massen verbreiten sich nur durch den Vorgang der Uumlbertragung niemals mit Hilfe von Vernunftgruumlnden Im Wirtshause befestigen sich durch Behauptung Wiederholung und Uumlbertragung die heutigen Begriffe der Arbeiter und der Glaube der Masse ist zu allen Zeiten ebenso geschaffen worden Treffend vergleicht Renan die Begruumlnder des Christentums mit den bdquosozialisti- schen Arbeitern die ihre Ideen von Wirtshaus zu Wirts- haus verbreitenldquo Und schon Voltaire hat in bezug auf die christliche Religion festgestellt bdquomehr als hundert Jahre habe ihr nur der gemeinste Poumlbel angehangenldquoIn Beispielen analog den angefuumlhrten geht die Uumlber- tragung wenn sie sich in den Volksschichten ausgewirkt hat in die houmlheren Gesellschaftsschichten uumlber Heutzutage Gustave le Bon Der Mensch und die Gesellschaften 88 Bd 2 S 6

BEHAUPTUNG WIEDERHOLUNG UumlBERTRAGUNG 91

sehen wir daszlig die sozialistischen Lehren anfangen auch die zu ergreifen die vermutlich ihre ersten Opfer sein werden Vor der mechanischen Ansteckung tritt sogar der persoumlnliche Vorteil zuruumlckDaher zwingt sich jede volkstuumlmlich gewordene Anschau- ung schlieszliglich immer auch den houmlchsten sozialen Schichten auf so offensichtlich auch die Unsinnigkeit der siegreichen Anschauung sein mag Diese Wirkung der unteren sozialen Schichten auf die Oberklassen ist um so merkwuumlrdiger als die Glaubensanschauungen der Masse mehr oder weniger immer von einer houmlheren Idee herruumlhren die in der Um- gebung in der sie geboren wurde haumlufig ohne Wirkung blieb Die Fuumlhrer die von dieser houmlheren Idee ergriffen wurden bemaumlchtigen sich ihrer entstellen sie und gruumlnden eine Sekte die sie aufs neue entstellt und so entstellt unter den Massen verbreitet Ist sie einmal eine volkstuumlmliche Wahrheit geworden so geht sie auf irgendeine Weise zu ihrer Quelle zuruumlck und wirkt dann auf die Oberklassen eines Volkes Wohl fuumlhrt letzten Endes die Intelligenz die Welt aber sie fuumlhrt sie wahrlich von weitem Die Schoumlpfer der Ideen sind laumlngst wieder zu Staub geworden wenn als Ergebnis der Vorgaumlnge die ich beschrieben habe ihr Gedanke schlieszliglich triumphiert

sect 3 Der Nimbus (Le prestige)

Eine groszlige Macht verleiht den Ideen die durch Behaup- tung Wiederholung und Uumlbertragung verbreitet wurden zuletzt jene geheimnisvolle Gewalt die Nimbus heiszligtAlles was in der Welt geherrscht hat Ideen oder Men- schen hat sich hauptsaumlchlich durch die unwiderstehliche Kraft die sich Nimbus nennt durchgesetzt Wohl erfassen wir alle die Bedeutung des Ausdrucks Nimbus (prestige) aber man wendet ihn in so mannigfacher Weise an daszlig er nicht ganz leicht zu umschreiben waumlre Der Nimbus ver- traumlgt sich mit gewissen Gefuumlhlen wie Bewunderung oder Furcht er beruht sogar auf ihnen kann aber sehr wohl

92 DIE FUumlHRER UND IHRE UumlBERZEUGUNGSMITTEL

ohne sie bestehen Am meisten Nimbus haben die Totenalso Wesen die wir nicht fuumlrchten wie Alexander Caumlsar Mohammed Buddha Andrerseits erscheinen Wesen oder Gebilde die wir nicht bewundern z B die scheuszliglichen Gottheiten der unterirdischen Tempel Indiens mit starkem Nimbus bekleidetDer Nimbus ist in Wahrheit eine Art Zauber den eine Persoumlnlichkeit ein Werk oder eine Idee auf uns ausuumlbt Diese Bezauberung lahmt alle unsre kritischen Faumlhigkeiten und erfuumlllt unsre Seelen mit Staunen und Ehrfurcht Die Gefuumlhle die so hervorgerufen werden sind unerklaumlrlich wie alle Gefuumlhle aber wahrscheinlich von derselben Art wie die Suggestion der ein Hypnotisierter unterliegt Der Nimbus ist der maumlchtige Quell aller Herrschaft Goumltter Koumlnige und Frauen haumltten ohne ihn niemals herrschen koumlnnenMan kann die verschiedenen Arten des Nimbus auf zwei Grundformen zuruumlckfuumlhren auf den erworbenen und den persoumlnlichen Nimbus Als erworbenen Nimbus bezeichnet man den durch Namen Reichtum und Ansehen entstan- denen Nimbus Er kann vom persoumlnlichen Nimbus unab- haumlngig sein Der persoumlnliche Nimbus ist dagegen etwas Individuelles und kann mit Ansehen Ruhm und Reichtum zusammen bestehen oder durch sie verstaumlrkt werden aber auch sehr wohl unabhaumlngig davon vorhanden seinDer e r w o r b e n e oder kuumlnstliche Nimbus ist am wei- testen verbreitet Die bloszlige Tatsache daszlig jemand eine ge- wisse Stellung einnimmt ein gewisses Vermoumlgen besitzt gewisse Titel hat bildet einen Glorienschein des Einflusses so gering auch sein persoumlnlicher Wert sein mag Ein Soldat in Uniform ein Beamter in der roten Robe haben immer einen Nimbus Pascal hat die Notwendigkeit von Talar und Peruumlcke fuumlr die Richter treffend erklaumlrt ohne sie wuumlrden sie einen groszligen Teil ihrer Macht einbuumlszligen Der grimmigste Sozialist wird durch den Anblick eines Fuumlrsten oder Grafen bewegt und um einen Kaufmann nach Be-

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lieben zu beschwindeln genuumlgt es einen solchen Titel an- zunehmen Der Nimbus von dem ich eben sprach geht von Personen aus man kann ihm den Nimbus zur Seite stellen den Anschauungen Werke der Literatur oder Kunst usw aus- uumlben Er beruht nur auf angehaumlufter Wiederholung Da die Geschichte die Literatur- und Kunstgeschichte nur die Wiederholung derselben Urteile ist die niemand nachzu- pruumlfen versucht so wiederholt schlieszliglich jeder das was er in der Schule gelernt hat Es gibt gewisse Namen und Dinge an die niemand zu ruumlhren wagt In einem mo- dernen Leser erzeugen die Homerischen Epen unstreitig eine unermeszligliche Langeweile aber wer wagt es das zu sagen Das Parthenon ist in seinem gegenwaumlrtigen Zu- stande eine ziemlich uninteressante Ruine aber es hat solchen Nimbus daszlig man es nur noch mit seinem ganzen Anhang historischer Erinnerungen betrachten kann Es ist die Eigentuumlmlichkeit des Nimbus daszlig er verhindert die Dinge so zu sehen wie sie sind und daszlig er alle unsre Urteile lahmt Die Massen verlangen stets die einzelnen meist nach fertigen Anschauungen Der Erfolg dieser An- schauungen ist unabhaumlngig von der Wahrheit oder dem Irrtum den sie enthalten er beruht einzig und allein auf ihrem Nimbus

Man findet diesen Einfluszlig der Titel Ordensbaumlnder und Uniformen auf die Massen in allen Laumlndern selbst dort wo das Gefuumlhl persoumlnlicher Unab- haumlngigkeit zur staumlrksten Entfaltung kam Um das zu beleuchten fuumlhre ich hier eine interessante Stelle aus dem neuen Buch eines Reisenden an die von dem Einfluszlig gewisser Persoumlnlichkeiten in England handelt bdquoBei verschiedenen Begegnungen konnte ich mich von dem Rausch uumlberzeugen in den die Be- ruumlhrung mit einem Peer von England oder sein Anblick die vernuumlnftigsten Englaumlnder versetztldquo

bdquoVorausgesetzt daszlig sein Aufwind seinem Range entspricht lieben sie ihn von vornherein und ertragen in seiner Gegenwart alles von ihm mit Entzuumlk- ken Man sieht sie vor Vergnuumlgen erroumlten wenn er sich ihnen naumlhert und wenn er mit ihnen spricht so erhoumlht die Freude die sie daruumlber empfinden diese Roumlte und verleiht ihren Augen einen ungewoumlhnlichen Glanz Sie haben den Lord im Blute koumlnnte man sagen wie der Spanier den Tanz der Deutsche die Musik und der Franzose die Revolution Ihre Leidenschaft fuumlr Pferde und fuumlr Shakespeare ist weniger heftig die Befriedigung und der Stolz darauf weniger tief Das Peersbuch hat groszligen Absatz und man findet es wie die Bibel in allen Haumlndenldquo

94 DIE FUumlHRER UND IHRE UumlBERZEUGUNGSMITTEL

Ich komme nun zum p er s oumln l ic hen Nimbus Er ist von ganz andrer Beschaffenheit als der kuumlnstliche oder erwor- bene Er ist unabhaumlngig von allen Titeln allem Ansehen Die wenigen Menschen die ihn besitzen uumlben einen wahr- haft magnetischen Zauber auf ihre Umgebung aus auch auf sozial Gleichgestellte und man gehorcht ihnen wie die wilde Bestie dem Baumlndiger gehorcht den sie so leicht verschlingen koumlnnteDie groszligen Fuumlhrer der Massen wie Buddha Jesus Mo- hammed Jeanne drsquoArc Napoleon besaszligen diese Art des Einflusses in hohem Maszlige und haben sich besonders durch ihn Geltung verschafft Goumltter Helden und Glaubens- lehren setzen sie durch ohne Eroumlrterung zu dulden sobald sie darauf eingehen untergraben sie sich selbstDie groszligen Persoumlnlichkeiten die ich anfuumlhrte besaszligen ihre bezaubernde Macht schon ehe sie beruumlhmt waren und waumlren ohne sie nicht beruumlhmt geworden Es ist z B klar daszlig Napoleon auf dem Gipfel seines Ruhms allein durch seine Macht einen ungeheuren Einfluszlig hatte aber er besaszlig ihn zum Teil schon in der Anfangszeit seiner Laufbahn als er noch keine Macht hatte und voumlllig unbekannt war Als er noch ein unbekannter General durch Fuumlrsprache zum Befehlshaber des italienischen Heeres ernannt worden war trat er unter rauhe Generale die dem jungen vom Direktorium ihnen aufgezwungenen Eindringling einen ab- schreckenden Empfang bereiten wollten Aber von der ersten Minute vom ersten Zusammentreffen an ohne Re- densarten Gesten Drohungen beim ersten Anblick des kuumlnftigen groszligen Mannes waren sie zahm Taine gibt uns nach zeitgenoumlssischen Erinnerungen einen interessanten Be- richt uumlber diese Zusammenkunft

bdquoDie Divisionsgeneraumlle unter anderen Augereau ein tap- ferer grober Haudegen der stolz war auf seine groszlige Figur und seine Tapferkeit kommen voreingenommen gegen den kleinen Emporkoumlmmling den man ihnen aus Paris sendet ins Hauptlager Durch die Beschreibung die man ihnen von ihm gegeben hat ist Augereau in feind-

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seliger Stimmung von vornherein widerspenstig ein Guumlnst- ling von Barras ein General des Vendeacutemiaire ein Straszligen- general den man fuumlr einen eingesponnenen Brummbaumlren haumllt weil er immer nur nachdenkt er soll ein kleines Gesicht haben und steht in dem Ruf ein Mathematiker und Traumlumer zu sein Sie werden empfangen und Bona- parte laumlszligt auf sich warten Endlich erscheint er den Degen umgeschnallt bedeckt sich setzt seine Plaumlne auseinander gibt Ihnen seine Befehle und verabschiedet sie Augereau ist stumm geblieben erst drauszligen faszligt er sich und findet seine gewoumlhnlichen Fluumlche wieder er und Massena sind sich daruumlber einig dieser kleine Teufelskerl von General hat ihm Furcht eingefloumlszligt er kann sich den Einfluszlig nicht erklaumlren von dem er sich durch den ersten Blick uumlberwaumlltigt fuumlhlteldquoAls Napoleon ein groszliger Mann geworden war wuchs sein Einfluszlig mit seinem Ruhm und glich dem Einfluszlig den eine Gottheit auf ihre Anbeter hat General Vandamme ein revolutionaumlrer Haudegen noch brutaler und energischer als Augereau sagte eines Tages 85 als sie zusammen die Tuilerientreppe hinaufstiegen zu Marschall drsquoOrnanobdquoMein Lieber dieser Teufelskerl uumlbt auf mich einen Zau- ber aus den ich nicht begreife Das geht so weit daszlig ich der weder Gott noch Teufel fuumlrchtet in seiner Naumlhe fast wie ein Kind zu zittern beginne und er koumlnnte mich dazu bringen durch ein Nadeloumlhr ins Feuer zu gehenldquoDen gleichen Zauber uumlbte Napoleon auf alle aus die sich ihm naumlherten Der Kaiser kannte seine Wirkung wohl und wuszligte sie noch zu vermehren indem er die groszligen Persoumlnlichkeiten seiner Umgebung zu denen mehrere jener beruumlhmten Konventsmitglieder gehoumlrten die Europa so sehr gefuumlrchtet hatte etwas schlechter als Stallknechte behandelte Die zeitgenoumlssischen Be- richte sind voll von derartigen bezeichnenden Tatsachen Eines Tages fuhr Napoleon im versammelten Staatsrat Beugnot den er wie einen ungeschickten Diener behandelte grob an bdquoNun Sie groszliger Dummkopf haben Sie Ihren Kopf wiedergefundenldquo Darauf verbeugte sich Beugnot der wie ein Regiments- tambour gewachsen war sehr tief und der kleine Mann hebt die Hand und nimmt den groszligen beim Ohr wie Beugnoc schreibt bdquoein Zeichen berauschender Gunst eine vertrauliche Gebaumlrde des leutselig redenden Herrnldquo Solche Bei- spiele geben einen klaren Begriff von dem Grad der Plattheit den Nimbus hervorrufen kann sie machen die ungeheure Verachtung des groszligen Despoten fuumlr die Menschen seiner Umgebung begreiflich

96 DIE FUumlHRER UND IHRE UumlBERZEUGUNGSMITTEL

Davoust sagte als er von Marets und seiner Ergebenheit sprach bdquoWenn der Kaiser uns beiden sagte Die Inter- essen meiner Politik erfordern die Zerstoumlrung von Paris ohne daszlig es jemand erfaumlhrt und die Stadt verlaumlszligt so wuumlrde Maumlret dessen bin ich sicher das Geheimnis wahren er wuumlrde sich aber nicht enthalten koumlnnen es so weit zu verletzen daszlig er seine Familie veranlaszligte die Stadt zu verlassen Ich aber wuumlrde aus Furcht etwas zu verraten mein Weib und meine Kinder darin lassenldquoAn diese erstaunliche Macht der Bezauberung muszlig man denken will man die wunderbare Ruumlckkehr von der Insel Elba begreifen die schnelle Eroberung Frankreichs durch einen alleinstehenden Mann der gegen alle organisierten Kraumlfte eines groszligen Landes zu kaumlmpfen hatte von dem man annehmen muszligte daszlig es seiner Tyrannei muumlde war Er brauchte die ausgesandten Generale die geschworen hatten ihn gefangenzunehmen nur anzublicken Alle unterwarfen sich ihm ohne Widerstand

bdquoNapoleon landet fast allein und als Fluumlchtling der kleinen Insel Elba die sein Koumlnigreich war in Frankreichldquo schreibt General Wolseley bdquound bringt es zuwege in weni- gen Wochen ohne Blutvergieszligen die gesamte Machtorgani- sation Frankreichs unter seinem legitimen Koumlnig umzu- stoszligen hat die persoumlnliche Macht eines Menschen sich je bewunderungswuumlrdiger bekundet Wie erstaunlich ist aber die Macht die er von Anfang bis Ende dieses Feldzuges seines letzten auch uumlber die Verbuumlndeten ausuumlbte indem er sie zwang seine Entschluumlsse anzunehmen und es fehlte nicht viel so haumltte er sie zerschmettertldquoSein Nimbus uumlberlebte ihn und wuchs weiter Er machte seinen unbekannten Neffen zum Kaiser Angesichts der heutigen Erneuerung seiner Legende sieht man wie maumlchtig dieser groszlige Schatten noch ist Miszlighandelt die Menschen schlachtet sie zu Millionen ab fuumlhrt einen feindlichen Ein- bruch nach dem andern herbei alles ist euch gestattet wenn ihr genuumlgend Nimbus besitzt und das Talent ihn aufrechtzuerhalten

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Gewiszlig habe ich hier ein ganz besonderes Ausnahmebeispielherangezogen aber es war geeignet die Entwicklung der groszligen Religionen Lehren und Reiche verstaumlndlich zu machen Ohne die Macht welche der Nimbus auf die Masse ausuumlbt wuumlrde diese Entwicklung unbegreiflich seinAber der Nimbus gruumlndet sich nicht allein auf das per- soumlnliche Ansehen den militaumlrischen Ruhm und die reli- gioumlse Angst er kann auch einen unbedeutenderen Ursprung haben und doch noch betraumlchtlich sein Das neunzehnte Jahrhundert bietet uns mehrere Beispiels dafuumlr Das eine woran die Nachwelt von Zeit zu Zeit erinnert wird ist in der Geschichte des beruumlhmten Mannes gegeben der das Antlitz der Erde und die Handelsbeziehungen der Voumllker aumlnderte indem er zwei Erdteile voneinander trennte Sein Unternehmen gelang ihm durch seinen ungeheuren Willen aber auch durch den Zauber den er auf seine ganze Um- gebung ausuumlbte Um die einstimmige Gegnerschaft die er vorfand zu besiegen brauchte er sich nur zu zeigen einen Augenblick zu sprechen und die Gegner wurden durch den Zauber der von ihm ausging seine Freunde Die Eng- laumlnder bekaumlmpften sein Vorhaben besonders wuumltend er brauchte nur in England zu erscheinen um alle Stimmen fuumlr sich zu gewinnen Als er spaumlter durch Southampton kam laumluteten die Glocken waumlhrend seiner Durchreise Als er alles besiegt hatte Menschen und Dinge glaubte er nicht mehr an Hindernisse und wollte in Panama mit denselben Mitteln Suez wiederholen Aber der Glaube der Berge versetzt versetzt sie nur wenn sie nicht zu hoch sind Die Berge widerstanden und die daraus folgende Katastrophe zerstoumlrte die leuchtende Ruhmesglorie die den Helden um- gab Sein Leben lehrt wie der Einfluszlig wachsen und ver- gehen kann Nachdem er den groumlszligten Helden der Ge- schichte gleichgekommen wurde er von der Obrigkeit sei- nes Landes zum gemeinen Verbrecher gestempelt Nach seinem Tode wurde sein Sarg einsam durch gleichguumlltige

98 DIE FUumlHRER UND IHRE UumlBERZEUGUNGSMITTEL

Massen getragen Nur die Herrscher des Auslandes lieszligen seinem Andenken Ehre widerfahren Jedoch die verschiedenen Beispiele die angefuumlhrt wurden stellen nur Grenzfaumllle dar Zur genauen Begruumlndung der Psychologie des Nimbus muumlszligten sie an das Ende einer Reihe gestellt werden die von den Begruumlndern der Reli- gionen und Staaten bis zum Kleinbuumlrger reicht der durch einen neuen Anzug oder eine Auszeichnung auf seine Nachbarn Eindruck zu machen suchtZwischen den aumluszligersten Gliedern dieser Reihe liegen alle Arten des Nimbus auf den verschiedenen Kulturgebieten der Wissenschaft der Kuumlnste der Literatur usw und es zeigt sich daszlig er den Grundstoff der Uumlberzeugung bildet Das Wesen die Idee oder die Sache von denen der Nimbus ausgeht werden infolge ihrer ansteckenden

Ein auslaumlndisches Blatt die Wiener bdquoNeue Freie Presseldquo hat gelegentlich des Schicksals von Lesseps sehr scharfsinnige psychologische Bemerkungen ge- macht die daher hier mitgeteilt seien

bdquoNach der Verurteilung Ferdinands von Lesseps hat man kein Recht mehr sich uumlber das traurige Ende von Christoph Columbus zu wundern Ist Lesseps ein Gauner dann ist jede edle Taumluschung ein Verbrechen Das Altertum haumltte das Andenken von Lesseps mit einer Ruhmesglorie bekraumlnzt und ihn im Olymp den Nektarbecher leeren lassen denn er hat das Antlitz der Erde veraumlndert und Werke ausgefuumlhrt die die Schoumlpfung vervollkommnen Durch die Ver- urteilung von Lesseps hat sich der Praumlsident des Appellationsgerichtes un- sterblich gemacht denn stets werden die Voumllker den Namen des Mannes ver- langen der nicht fuumlrchtete sein Jahrhundert dadurch zu erniedrigen einen Greis mit Straumlflingsjacke zu bekleiden dessen Leben der Ruhm seiner Zeit- genossen warldquo bdquoMan rede uns hinfort nicht von unbeugsamer Gerechtigkeit dort wo buumlrokratischer Haszlig gegen alle kuumlhnen groszligen Unternehmungen herrscht Die Voumllker beduumlrfen der wagemutigen Maumlnner die an sich selbst glauben und ohne Ruumlcksicht auf ihr eigenes Ich alle Hindernisse bewaumlltigen Das Genie kann nicht vorsichtig sein mit Vorsicht konnte es den Kreis menschlicher Betaumltigung nie erweitern

hellip Ferdinand von Lesseps hat den Rausch des Triumphs und die Bitterkeit der Enttaumluschungen gekannt Suez und Panama Hier empoumlrt sich das Gemuumlt gegen die Moral des Erfolges Als es Lesseps gelang zwei Meere zu ver- binden da erwiesen ihm Fuumlrsten und Voumllker Ehre heute da er an den Felsen der Cordilleren Schiffbruch leidet ist er ein gemeiner Gauner Es ist der Krieg der Gesellschaftsklassen die Unzufriedenheit der Buumlrokraten und Be- amten die sich mittels des Strafgesetzes an denen raumlchen die sich uumlber die andern erheben moumlchten Die modernen Gesetzgeber sind in Verlegenheit an- gesichts dieser gewaltigen Ideen des Menschengeistes das Publikum versteht davon noch weniger und es faumlllt einem Staatsanwalt leicht zu beweisen daszlig Stanley ein Meuchelmoumlrder und Lesseps ein Betruumlger seildquo

99DER NIMBUS

Wirkung sofort nachgeahmt und bestimmen fuumlr ein ganzes Menschenalter die Art des Fuumlhlens und die Form des Gedankenausdrucks Uumlberdies geschieht die Nachahmung meistens unbewuszligt und das macht sie vollkommen Die modernen Maler welche die verwischten Farben und die starre Haltung gewisser Primitiver erneuern haben keine Ahnung von der Quelle ihrer Begeisterung sie glauben so sehr an ihre Urspruumlnglichkeit daszlig man an ihnen auch weiterhin nur die naiven und unfertigen Seiten bemerkt haben wuumlrde wenn nicht ein hervorragender Meister diese Kunstform wiedererweckt haumltte Die welche nach dem Muster eines beruumlhmten Neuerers ihre Leinwand mit vio- letten Schatten bedecken sehen in der Natur nicht mehr Violett als man vor fuumlnfzig Jahren sah aber sie unter- liegen dem besonderen persoumlnlichen Eindruck eines Malers der einen groszligen Nimbus zu erlangen wuszligte Aus allen Gebieten der Kunst lassen sich leicht derartige Beispiele anfuumlhrenMan ersieht aus dem Vorhergehenden daszlig an der Ent- stehung des Nimbus zahlreiche Faktoren beteiligt sein koumln- nen Einer der bedeutendsten war stets der Erfolg Jeder Mensch der Erfolg hat jede Idee die sich durchsetzt wird damit schon anerkanntDer Nimbus verschwindet immer im Augenblick des Miszlig- erfolges Der Held dem die Masse gestern zujubelte wird morgen von ihr angespien wenn das Schicksal ihn schlug Je groumlszliger der Nimbus um so heftiger der Ruumlckschlag Die Masse betrachtet dann den gefallenen Helden als ihres- gleichen und raumlcht sich dafuumlr daszlig sie sich einer Uumlberlegen- heit gebeugt hat die sie nicht mehr anerkennt Als Robespierre seinen Kollegen und einer ganzen Anzahl sei- ner Zeitgenossen den Hals abschneiden lieszlig besaszlig er einen ungeheuren Nimbus Die Verschiebung weniger Stimmen be- raubte ihn augenblicklich dieses Nimbus und die Masse folgte ihm mit ebenso vielen Verwuumlnschungen zur Guillotine wie am Tage zuvor seinen Opfern Die Glaumlubigen zertruumlmmerten stets voll Wut die Bildwerke ihrer fruumlheren Goumltter

100 DIE FUumlHRER UND IHRE UumlBERZEUGUNGSMITTEL

Durch Miszligerfolg aufgehoben ist der Nimbus schnell ver- loren Er kann sich auch abnutzen indem man ihn dis- kutiert das geht langsamer aber sicher Der diskutierte Nimbus ist kein Nimbus mehr Die Goumltter und Menschen die ihren Nimbus lange zu bewahren wuszligten haben Er- oumlrterungen nie geduldet Wer von den Massen bewundert sein will muszlig sie stets in Abstand halten

4 KAPITEL

Grenzen der Veraumlnderlichkeit der Grundanschauungen und Meinungen der Massen

sect Die unveraumlnderlichen Grundanschauungen (croyances fixes)

Es besteht ein enger Parallelismus zwischen den morpho- logischen und psychologischen Merkmalen der Lebewesen Unter den morphologischen Merkmalen finden wir gewisse unveraumlnderliche oder doch so wenig veraumlnderliche Ele- mente daszlig geologische Zeitalter noumltig sind um sie zu ver- aumlndern Neben diesen unveraumlnderlichen unreduzierbaren Elementen finden sich recht bewegliche die durch das Milieu die Kunst des Zuumlchters oder Gaumlrtners leicht so ge- wandelt werden koumlnnen daszlig sich dem oberf laumlchlichen Beobachter die Grundmerkmale verbergenDer gleichen Erscheinung begegnen wir in der sittlichen Welt Neben den unveraumlnderlichen seelischen Bestandteilen einer Rasse sind bewegliche und wechselnde Elemente vor- handen Darum finden wir bei der Untersuchung der An- schauungen und Meinungen eines Volkes stets einen festen Grund auf dem sich Anschauungen angesiedelt haben die ebenso fluumlchtig sind wie der Sand der die Felsen bedecktDie Grundanschauungen und Meinungen der Massen bilden also zwei scharfgetrennte Gruppen Zu der einen gehoumlren die staumlndigen Grundgedanken die mehrere Jahrhunderte

101GRENZEN DER VERAumlNDERLICHKEIT DER GRUNDANSCHAUUNGEN

uumlberdauern und auf denen eine ganze Kultur beruht So z B der feudale Gedanke die Ideen des Christentums und der Reformation und heutzutage die nationalen Grund- gedanken die demokratischen und sozialen Ideen Zur anderen gehoumlren die wechselnden Ansichten des Augen- blicks die meistens aus allgemeinen Gedanken abgeleitet werden und die jedes Zeitalter entstehen und vergehen sieht z B die Theorien die zu bestimmten Zeiten Kunst und Literatur beherrschen und die Romantik den Natura- lismus usw hervorbrachten So wandelbar wie die Mode wechseln sie wie die kleinen Wellen die auf der Ober- flaumlche eines Sees unaufhoumlrlich entstehen und vergehenDie Zahl der allgemeinen Grundanschauungen ist nicht groszlig Ihr Entstehen und Vergehen bilden die Houmlhepunkte in der Geschichte jeder historischen Rasse Sie bilden das eigentliche Geruumlst der KulturEine fluumlchtige Meinung haftet leicht in der Massenseele aber einen festen Glauben in ihr zu verankern ist sehr schwer ebenso schwer aber ist er wieder zu zerstoumlren wenn er sich einmal festgesetzt hat Man kann ihn wohl nur um den Preis gewaltsamer Revolutionen aumlndern und nur wenn der Glaube seine Herrschaft uumlber die Seelen fast ganz eingebuumlszligt hat Die Revolutionen helfen dann dabei die Grundanschauung endguumlltig abzuwerfen die man schon fast aufgegeben hatte deren gaumlnzliche Aufhebung aber durch die Macht der Gewohnheit verhindert wurde Be- ginnende Revolutionen sind in Wahrheit schwindende GrundanschauungenEine groszlige Grundanschauung wird an dem Tage zum Tode verurteilt an dem man anfaumlngt ihren Wert zu be- streiten Da jede allgemeine Grundanschauung nur eine Einbildung ist so kann sie nur bestehen solange sie der Pruumlfung entgehtAber selbst wenn eine Grundanschauung stark erschuumlttert ist bewahren die Einrichtungen die von ihr abgeleitet sind ihre Macht und erloumlschen nur langsam Hat sie schlieszliglich ihre Macht voumlllig eingebuumlszligt dann bricht alles

102 GRENZEN DER VERAumlNDERLICHKEIT DER GRUNDANSCHAUUNGEN

zusammen was von ihr getragen wurde Es war noch keinem Volk vergoumlnnt seine Grundanschauungen zu aumln- dern ohne gleichzeitig dazu verurteilt zu sein alle Be- standteile seiner Kultur umzuwandelnEs wandelt sie so lange um bis es eine neue allgemeine Grundanschauung angenommen hat und lebt bis dahin notgedrungen in Anarchie Die allgemeinen Grundanschau- ungen sind die notwendigen Stuumltzen der Kulturen Sie geben den Ideen ihre Richtung und sie allein erwecken das Gewissen und erschaffen das PflichtgefuumlhlDie Voumllker haben es stets als nuumltzlich empfunden sich allgemeine Glaubensanschauungen zu bilden und instinktiv erfaszligt daszlig ihr Schwinden die Stunde des Niedergangs anzeigen wuumlrde Der fanatische Kultus Roms war fuumlr die Roumlmer der Glaube der sie zu Herren der Welt machte Dieser Glaube starb und Rom ging zugrunde Erst als die Barbaren die Zerstoumlrer der roumlmischen Kultur einige einheitliche Glaubensanschauungen gewonnen hatten er- reichten sie einen gewissen Zusammenhalt und konnten die Anarchie uumlberwindenMit gutem Grund waren also die Voumllker stets unduldsam bei der Verteidigung ihrer Uumlberzeugungen So tadelnswert diese Unduldsamkeit vom philosophischen Standpunkt ist im Leben der Voumllker ist sie als eine Tugend anzusehen Um den Grund zu allgemeinen Glaubensuumlberzeugungen zu legen oder sie aufrechtzuerhalten hat das Mittelalter viele Scheiterhaufen errichtet und so viele Erfinder und Neuerer die der Folter entgangen waren muszligten in Ver- zweiflung sterben Um solche Uumlberzeugungen zu vertei- digen ist die Welt immer wieder umgestuumlrzt worden sind Millionen Menschen auf den Schlachtfeldern gefallen und werden dort noch weiterhin fallenWir haben schon gesagt daszlig sich der Einfuumlhrung einer allgemeinen Grundanschauung groszlige Schwierigkeiten ent- gegenstellen wenn sie aber endguumlltig Fuszlig gefaszligt hat ist ihre Macht lange Zeit unuumlberwindlich und mag sie philo- sophisch noch so falsch sein so draumlngt sie sich doch den

DIE UNVERAumlNDERLICHEN GRUNDANSCHAUUNGEN 103

erleuchtetsten Geistern auf Haben nicht die Voumllker Euro- pas seit fuumlnfzehn Jahrhunderten religioumlse Legenden die bei naumlherer Betrachtung ebenso barbarisch sind wie der Moloch-Mythus als unbestreitbare Wahrheiten betrachtet Der entsetzliche Widersinn des Mythus von einem Gotte der sich fuumlr den Ungehorsam eines seiner Geschoumlpfe durch furchtbare Marter an seinem Sohne raumlcht ist viele Jahr- hunderte nicht bemerkt worden Die groumlszligten Geister wie Galilei Newton Leibniz haben auch nicht einen Augen- blick daruumlber nachgedacht daszlig die Wahrheit solcher Le- genden bezweifelt werden koumlnnte Nichts beweist schla- gender die Hypnose die durch allgemeine Grundanschau- ungen bewirkt wird aber nichts zeigt auch besser die beschaumlmenden Grenzen unseres GeistesSobald der Massenseele eine neue Lehre eingepflanzt wurde beeinfluszligt sie die Einrichtungen die Kuumlnste und die Sitten Ihre Herrschaft uumlber die Seelen ist dann unumschraumlnkt Die Maumlnner der Tat denken nur an ihre Verwirklichung die Gesetzgeber nur an ihre Anwendung Philosophen Kuumlnstler Schriftsteller beschaumlftigen sich nur damit sie in verschiedene Formen zu uumlbertragenDurch die allgemeinen Grundanschauungen haben sich die Menschen jedes Zeitalters mit einem Netz von Uumlberliefe- rungen Meinungen und Gewohnheiten umgeben aus des- sen Maschen sie nicht entwischen koumlnnen und durch die sie einander immer etwas aumlhnlich werden Der unabhaumlngigste Geist denkt nicht daran sich ihnen zu entziehen Die echteste Tyrannei beherrscht die Seelen u nbew u szligt denn sie allein ist nicht zu bekaumlmpfen Tiberius Dschingiskhan Napoleon waren zweifellos furchtbare Tyrannen aber Moses Buddha Jesus Mohammed Luther haben aus ihrem Grabe heraus eine nicht weniger tiefgehende Herr- schaft uumlber die Seelen ausgeuumlbt Ein Tyrann kann durch eine Verschwoumlrung gestuumlrzt werden was vermag sie aber

Barbarisch im philosophischen Sinne wohlverstanden In Wirklichkeit haben sie eine ganz neue Kultur gegruumlndet und Jahrhunderte lang den Menschen be- zaubernde Traum- und Hoffnungsparadiese sehen lassen wie er sie nie mehr kennen wird

GRENZEN DER VERAumlNDERLICHKEIT DER GRUNDANSCHAUUNGEN104

gegen einen wohlgefestigten Glauben In ihrem heftigen Kampf gegen den Katholizismus ist unsere groszlige Revo- lution trotz der scheinbaren Zustimmung der Massen und trotz der Zerstoumlrungsmittel die von ihr ebenso unerbittlich angewandt wurden wie von der Inquisition unterlegen Die einzigen wahren Tyrannen der Menschheit sind immer die Schatten der Toten gewesen oder die Einbildungen die sie sich selbst geschaffen hatIch wiederhole Der philosophische Unsinn gewisser allge- meiner Grundanschauungen war nie ein Hindernis fuumlr ihren Triumph Dieser Triumph scheint sogar nur dann moumlglich zu sein wenn sie irgendwelchen geheimnisvollen Unsinn enthalten Die offenbare geistige Armut der sozia- listischen Lehren der Gegenwart wird nicht verhindern daszlig sie sich der Massenseele einpflanzen Ihre wahre Un- zulaumlnglichkeit im Vergleich zu jedem religioumlsen Glauben besteht einzig darin Da das Gluumlcksideal das der Glaube in Aussicht stellte nur in einem zukuumlnftigen Leben ver- wirklicht werden sollte so konnte niemand diese Ver- wirklichung bestreiten da das sozialistische Gluumlcksideal sich auf Erden verwirklichen soll so wird die Nichtigkeit der Verheiszligungen sogleich bei den ersten Verwirklichungs- versuchen an den Tag treten und der neue Glaube wird jeden Einfluszlig verlieren Seine Macht wird also nur bis zum Tage seiner Verwirklichung wachsen Und deshalb wird die neue Religion wie alle fruumlheren zunaumlchst eine zerstoumlrende Taumltigkeit ausuumlben ohne wie sie spaumlter eine schoumlpferische Rolle uumlbernehmen zu koumlnnen

sect 2 Die veraumlnderlichen Meinungen (opinions mobiles) der Massen

Uumlber den festen Glaubensanschauungen deren Macht wir darlegten liegt eine Schicht von Meinungen Ideen Ge- danken die fortwaumlhrend entstehen und vergehen Manche sind sehr vergaumlnglich und die bedeutendsten uumlberdauern kaum das Leben einer Generation Wir haben bereits fest-

DIE VERAumlNDERLICHEN MEINUNGEN 105

gestellt daszlig die Veraumlnderungen dieser Meinungen zu- weilen mehr an ihrer Oberflaumlche als in ihrem Wesen vor- gehen und immer den Stempel der Rasseneigenschaften tragen Wenn wir beispielsweise die politischen Einrich- tungen unseres Landes betrachten sehen wir daszlig die scheinbar entgegengesetzten Parteien Monarchisten Radi- kale Imperialisten Sozialisten usw voumlllig uumlbereinstim- mende Ideale haben und daszlig diese Ideale sich einzig und allein auf die geistige Verfassung unserer Rasse beziehen denn unter den gleichen Namen finden sich bei andren Rassen ganz entgegengesetzte Ideale Weder durch die Namen der Anschauungen noch durch ihre taumluschenden Anpassungen wird der Kern der Dinge veraumlndert Die Buumlrger der Revolutionszeit die ganz erfuumlllt von der latei- nischen Literatur gebannt von der roumlmischen Republik ihre Gesetze Liktorenbuumlndel Togen uumlbernahmen wurden dadurch noch keine Roumlmer weil sie unter der Herrschaft einer maumlchtigen historischen Taumluschung standenEs ist die Aufgabe des Philosophen zu erforschen was sich unter den scheinbaren Veraumlnderungen von den alten Uumlberzeugungen erhaumllt und in der Flut der Meinungen diejenigen Bewegungen herauszufinden die durch die Grundanschauungen und die Rassenseele bestimmt werden Ohne diesen philosophischen Maszligstab koumlnnte man glau- ben die Massen aumlnderten ihre politischen und religioumlsen Uumlberzeugungen haumlufig und wirklich Die ganze Geschichte der Politik der Religion der Kunst und der Literatur scheint das in der Tat zu bezeugenNehmen wir z B einen kurzen Zeitabschnitt unserer eignen Geschichte etwa von 790 bis 820 also dreiszligig Jahre die Dauer eines Menschenalters Wir sehen innerhalb dieser Zeit wie die Massen die erst monarchistisch sind revo- lutionaumlr dann imperialistisch und schlieszliglich wieder mon- archistisch werden In der Religion wenden sie sich in der gleichen Zeit vom Katholizismus zum Atheismus dann zum Deismus und kehren zu den strengsten Formen des Katho- lizismus zuruumlck Und nicht allein die Massen auch die

106 GRENZEN DER VERAumlNDERLICHKEIT DER GRUNDANSCHAUUNGEN

Fuumlhrer sind denselben Veraumlnderungen unterworfen Man sieht die groszligen Konventsmitglieder die geschworenen Feinde der Koumlnige die von Gott und Teufel nichts wissen wollen ergebene Diener Napoleons werden und unter Ludwig XVIII bei den Prozessionen fromm ihre Kerzen tragenUnd welche Wandlungen dann in den Massenanschau- ungen der folgenden siebzig Jahre Das bdquoperfide Albionldquo vom Beginn dieses Jahrhunderts wird unter den Erben Napoleons Frankreichs Verbuumlndeter Ruszligland das zwei- mal mit uns im Kriege lag und sich uumlber unsere letzten Schicksalsschlaumlge so sehr gefreut hatte wird ploumltzlich als Freund betrachtetIn der Literatur der Kunst der Philosophie geht der Wechsel noch schneller vor sich Romantik Naturalismus Mystizismus usw tauchen auf und verschwinden im raschen Wechsel Die gestern gefeierten Kuumlnstler und Schriftsteller werden morgen aufs tiefste verachtetWas sehen wir aber wenn wir diese scheinbar so tiefen Wandlungen untersuchen Alle Ansichten die im Gegen- satz stehen zu den Grundanschauungen und -gefuumlhlen der Rasse sind nur von sehr kurzer Dauer und der abgelenkte Strom nimmt rasch seinen gewohnten Lauf wieder auf Die Anschauungen die sich an keine Grunduumlberzeugung an kein Gefuumlhl der Rasse knuumlpfen und die also keinen Bestand haben koumlnnen sind allen Zufaumlllen oder wenn man will den geringsten Veraumlnderungen der Verhaumlltnisse preisgegeben Sie sind mit Hilfe von Suggestion und An- steckung entstanden sind stets fluumlchtiger Art und erschei- nen und verschwinden auch oft ebenso schnell wie die Sandduumlnen die der Wind am Meeresstrande bildetDie Anzahl der unbestaumlndigen Meinungen der Massen ist heutzutage groumlszliger als je und zwar aus drei verschiedenen GruumlndenErstens buumlszligen die alten Glaubenslehren nach und nach ihre Herrschaft ein und wirken nicht mehr wie fruumlher richtunggebend auf die Meinungen Das Erloumlschen der

DIE VERAumlNDERLICHEN MEINUNGEN 107

Gesamtuumlberzeugungen gibt Raum fuumlr eine Menge Sonder- anschauungen ohne Vergangenheit und ZukunftZweitens waumlchst die Macht der Massen immer mehr und findet immer weniger Gegengewicht so daszlig sich die auszliger- ordentliche Beweglichkeit der Ideen die wir bei ihnen fanden frei entfalten kannDrittens fuumlhrt die neuerdings so verbreitete Presse unauf- houmlrlich die entgegengesetzten Meinungen vor den Augen der Masse voruumlber Die Wirkungen die jede von ihnen eben hervorzurufen suchte werden bald von widerspre- chenden Einfluumlssen aufgehoben Keine Meinung kann sich richtig verbreiten und alle fuumlhren nur ein vergaumlngliches Dasein Sie sind tot bevor sie bekannt genug sind um allgemein zu werdenAus diesen mannigfachen Ursachen ist eine ganz neue Er- scheinung der Weltgeschichte hervorgegangen die fuumlr die heutige Zeit sehr bezeichnend ist ich meine die Unfaumlhig- keit der Regierungen die oumlffentliche Meinung zu lenkenEinst und dies Einst liegt gar nicht so weit hinter uns wurde die oumlffentliche Meinung von der Tatkraft der Re- gierung dem Einfluszlig einiger Schriftsteller und einer ganz geringen Anzahl von Zeitungen getragen Heutzutage haben die Schriftsteller allen Einfluszlig eingebuumlszligt und die Zeitungen spiegeln nur die oumlffentliche Meinung wider Und was die Staatsmaumlnner anbelangt so denken sie nicht daran sie zu lenken sondern suchen ihr nur zu folgen Ihre Furcht vor der oumlffentlichen Meinung ist fast schon Schrecken und raubt ihrer Haltung jede FestigkeitDie Meinung der Massen zeigt also das Bestreben immer mehr zum entscheidenden Lenker der Politik zu werden Sie bringt es heute schon fertig Buumlndnisse vorzuschreiben wie wir es vor kurzem bei dem russischen Buumlndnis sahen das fast ausschlieszliglich aus einer Volksbewegung hervor- gingEs ist ein sehr eigenartiges Zeichen unserer Zeit daszlig Paumlpste Koumlnige und Kaiser sich dem Brauch der Befragung durch Vertreter der Tageszeitungen unterwerfen um dem

108 GRENZEN DER VERAumlNDERLICHKEIT DER GRUNDANSCHAUUNGEN

Urteil der Massen ihre Gedanken uumlber eine bestimmte Angelegenheit zu unterbreiten Einst konnte man sagen Politik sei nicht Sache des Gefuumlhls Kann man das heute noch wenn man sieht daszlig sie sich von den Einfallen der unbestaumlndigen Massen die keine Vernunft kennen und nur vom Gefuumlhl beherrscht werden leiten laumlszligtDie Presse die einstige Leiterin der oumlffentlichen Meinung hat wie die Regierungen gleichfalls der Macht der Massen weichen muumlssen Gewiszlig besitzt sie noch eine bedeutende Macht aber doch nur weil sie lediglich die Widerspiege- lung der oumlffentlichen Meinung und ihrer unaufhoumlrlichen Schwankungen ist Sie ist zum einfachen Informations- mittel geworden und hat darauf verzichtet irgendwelche Ideen oder Lehren zu verbreiten Sie geht allen Veraumlnde- rungen des oumlffentlichen Geistes nach sie ist dazu verpflich- tet weil sie sonst Gefahr laumluft durch die Maszlignahmen der Konkurrenz ihre Leser zu verlieren Die alten ehrwuumlr- digen und einfluszligreichen Blaumltter von ehedem deren Aus- spruumlche von der vergangenen Generation noch ehrfurchts- voll wie Weissagungen angehoumlrt wurden sind verschwun- den oder zu Nachrichtenvermittlungen geworden die von unterhaltenden Neuigkeiten Gesellschaftsklatsch und ge- schaumlftlichen Anzeigen umrahmt sind Welches Blatt waumlre heute reich genug seinen Schriftleitern eigne Meinungen gestatten zu koumlnnen Und welches Gewicht koumlnnten diese Meinungen bei Lesern haben die nur unterrichtet oder unterhalten werden wollen und hinter jeder Empfehlung Berechnung wittern Die Kritik hat nicht einmal mehr die Macht ein Buch oder ein Theaterstuumlck durchzusetzen Sie kann schaden aber nicht nuumltzen Die Blaumltter sind sich der Nutzlosigkeit jeder Eigenmeinung so bewuszligt daszlig sie all- maumlhlich die literarischen Kritiken eingeschraumlnkt haben und sich damit begnuumlgen den Namen des Buches nebst zwei drei Zeilen Empfehlung zu bringen und in zwanzig Jah- ren wird es sich mit der Theaterkritik wohl ebenso ver- haltenDas Aushorchen der Meinungen ist heute die Hauptsorge

DIE VERAumlNDERLICHEN MEINUNGEN 109

der Presse und der Regierungen Welche Wirkung dies Ereignis jener Gesetzentwurf jene Rede hervorrief ist wissenswert fuumlr sie Das ist nicht leicht denn nichts ist beweglicher und wandelbarer als das Denken der Massen Man kann es erleben daszlig sie das was sie gestern bejubel- ten heute mit dem Bannfluch belegenDas Endergebnis dieses gaumlnzlichen Mangels an Meinungs- richtung und der gleichzeitigen Aufloumlsung der Grunduumlber- zeugungen ist die voumlllige Zerbroumlckelung aller Anschau- ungen und die wachsende Gleichguumlltigkeit der Massen wie der einzelnen gegen alles was ihren unmittelbaren Vorteil nicht greifbar beruumlhrt Wissenschaftliche Lehren wie der Sozialismus haben wirklich uumlberzeugte Anhaumlnger nur in den ungebildeten Schichten z B unter Berg- und Fabrik- arbeitern Der Kleinbuumlrger der halbgebildete Handwerker sind zu miszligtrauisch gewordenDie Entwicklung die seit dreiszligig Jahren so verlaumluft ist uumlberraschend In fruumlheren gar nicht so weit zuruumlckliegen- den Zeiten hatten die Meinungen noch eine allgemeine Richtung Sie wurden von der Annahme einiger Grund- uumlberzeugungen abgeleitet Allein aus der Tatsache daszlig man Monarchist war ergeben sich notwendigerweise auf den Gebieten der Geschichte und der Wissenschaft be- stimmte scharfumgrenzte Ansichten waumlhrend der Repu- blikaner ganz entgegengesetzte fuumlr sich in Anspruch nahm Ein Monarchist wuszligte genau daszlig der Mensch nicht vom Affen abstammt und ein Republikaner wuszligte nicht weni- ger genau daszlig er von ihm abstammt Der Monarchist muszligte mit Abscheu der Republikaner begeistert von der Revolution sprechen Gewisse Namen wie Robespierre Marat muszligten mit andaumlchtiger Miene andre wieder wie Caumlsar Augustus Napoleon nur unter Schmaumlhungen aus- gesprochen werden Bis zu unserer Sorbonne herauf herrschte diese kindliche GeschichtsauffassungHeute verliert jede Meinung durch Eroumlrterung und Zer- gliederung ihren Nimbus ihre Stuumltzpunkte werden schnell unsicher und es bleiben nur wenige Ideen uumlbrig die uns

110 GRENZEN DER VERAumlNDERLICHKEIT DER GRUNDANSCHAUUNGEN

zu leidenschaftlicher Parteinahme bewegen koumlnnten Der moderne Mensch verfaumlllt immer mehr der Gleichguumlltig- keitWir wollen diese allgemeine Erschoumlpfung der Anschau- ungen nicht allzusehr bedauern Daszlig sie eine Entartungs- erscheinung im Voumllkerleben ist laumlszligt sich nicht bestreiten Wohl haben die Seher Apostel Fuumlhrer mit einem Wort die Uumlberzeugten eine ganz andere Gewalt als die Ver- neiner Kritiker und Gleichguumlltigen aber wir duumlrfen nicht vergessen daszlig eine einzige Anschauung die genuumlgend Nimbus gewaumlnne um sich durchzusetzen mit Hilfe der Macht der Massen bald eine so tyrannische Gewalt er- langen wuumlrde daszlig sich alsbald alle vor ihr beugen muumlszligten und die Zeit der freien Meinungsaumluszligerung waumlre dann fuumlr lange Zeit vorbei Zeitweilig sind die Massen friedfertige Herren wie es gelegentlich Heliogabal und Tiberius auch waren aber sie haben auch wilde Launen Ist eine Kultur reif ihnen in die Haumlnde zu fallen so ist sie zu vielen Zufaumlllen ausgesetzt als daszlig sie noch lange Zeit uumlberdauern koumlnnte Wenn irgend etwas die Stunde des Niedergangs aufhalten kann so ist es nur die auszligerordentliche Ver- aumlnderlichkeit der Meinungen und die wachsende Gleich- guumlltigkeit der Massen gegen alle allgemeinen Grund- anschauungen

111DIE VERAumlNDERLICHEN MEINUNGEN

DRITTES BUCH

EINTEILUNG UND BESCHREIBUNG DER VERSCHIEDENEN ARTEN

VON MASSEN

1 KAPITEL

Einteilung der Massen

Wir haben in dieser Arbeit bisher die allgemeinen den Massen gemeinsamen Merkmale festgestellt Es bleiben uns noch die besonderen Merkmale zu erforschen die diesen allgemeinen je nach der Art der Gesamtheiten vorgeord- net sindStellen wir zunaumlchst in aller Kuumlrze eine Einteilung der Massen aufUnser Ausgangspunkt ist die einfache Menge (la simple multitude) Ihre unterste Art ist dann gegeben wenn sie sich aus Einzelwesen verschiedener Rassen zusammensetzt Ihr einziges allgemeines Band ist der mehr oder weniger geachtete Wille eines Anfuumlhrers Als Beispiel fuumlr diese Massenform koumlnnen die Barbaren verschiedener Herkunft dienen die eine Reihe von Jahrhunderten hindurch das Roumlmische Reich verheertenUumlber diesen zusammenhanglosen Massen stehen jene die unter dem Einfluszlig gewisser Faktoren gemeinsame Merk- male angenommen haben und schlieszliglich eine Rasse bilden Sie werden gelegentlich die Sondermerkmale der Massen aufweisen aber immer gemaumlszligigt durch die Eigentuumlmlich- keiten ihrer RasseDie verschiedenen Arten der Massen die bei jedem Volk zu beobachten sind lassen sich folgendermaszligen einteilen

A Ungleichartige Massen (foules heacuteteacuterogegravenes) Namenlose (z B Straszligenansammlungen) 2 Nicht namenlose (z B Geschworenengericht Parla- ment)

B Gleichartige Massen (foules homogegravenes) Sekten (politische religioumlse und andere Sekten) 2 Kasten (militaumlrische Priester- Arbeiterkaste usw) 3 Klassen (Buumlrger Bauern usw)Wir geben kurz die unterscheidenden Merkmale dieser ver- schiedenen Arten von Massen an

sect Ungleichartige Massen

Die Wesenszuumlge dieser Gesamtheiten haben wir bereits studiert Sie setzen sich aus irgendwelchen einzelnen zu- sammen Beruf oder Intelligenz sind unwichtigWir haben in dieser Arbeit gezeigt daszlig die seelische Ver- fassung der Menschen in der Masse wesentlich abweicht von der Seelenverfassung die sie als einzelne haben und daszlig vor dieser Abweichung die Intelligenz nicht rettet Wir sahen daszlig Intelligenz in den Gesamtheiten keine Rolle spielt Nur unbewuszligte Gefuumlhle koumlnnen in ihnen wirksam werdenEin Grundfaktor die Rasse macht es uns moumlglich die ver- schiedenen ungleichartigen Massen ziemlich scharf zu sondern Schon wiederholt kamen wir auf die Bedeutung der Rasse zuruumlck und zeigten daszlig sie der maumlchtigste Faktor ist der die Macht hat die menschlichen Handlungen zu bestim- men Ihre Wirkung zeigt sich auch in den Eigenschaften der Masse Eine Menge die aus irgendwelchen verschie- denen Einzelwesen die aber entweder Englaumlnder oder Chinesen sein muumlssen zusammengesetzt ist unterscheidet sich grundlegend von einer anderen Masse die etwa aus Russen Franzosen oder Spaniern bestehtDie tiefen Unterschiede die durch die ererbte geistige Konstitution in der Gefuumlhls- und Denkweise der Menschen begruumlndet werden treten klar zutage wenn unter gewissen Umstaumlnden die allerdings selten vorkommen einzelne verschiedener Nationalitaumlten zu einer einzigen Masse ver- Einzelheiten uumlber die verschiedenen Arten der Massen findet man in meinen letzten Arbeiten

115UNGLEICHARTIGE MASSEN

einigt werden so gleichartig anscheinend die Interessen sein moumlgen Die Versuche der Sozialisten auf groszligen Zusam- menkuumlnften die Vertreter der Arbeiterschaft aller Laumlnder zu vereinigen endeten stets in heftiger Zwietracht Eine lateinische Masse so revolutionaumlr oder konservativ sie auch sein mag wird sich zur Erfuumlllung ihrer Forderungen stets an den Staat wenden Sie ist stets zentralistisch und mehr oder minder monarchistisch Eine englische und amerikani- sche Masse hingegen kennt den Staat nicht und wendet sich nur an die persoumlnliche Tatkraft Eine franzoumlsische Masse haumllt vor allem viel auf Gleichheit eine englische auf Frei- heit Diese Rassen Verschiedenheiten bringen fast ebenso- viele Abarten der Masse hervor als es Voumllker gibtDie Rassenseele beherrscht also voumlllig die Massenseele Sie ist der maumlchtige Grundstoff der die Schwankungen der Massenseele bestimmt Die niederen Eigenschaften der Masse sind um so weniger betont je staumlrker die Rassenseele ist Das ist ein Grundgesetz Der Staat der Masse und die Herrschaft der Masse bedeuten die Barbarei oder die Ruumlck- kehr zur Barbarei Durch Erwerbung einer festgefuumlgten Seele schuumltzt sich die Rasse immer mehr vor unuumlberlegter Gewalt der Massen und laumlszligt die Barbarei hinter sichDie einzige Einteilung die sich fuumlr die ungleichartigen Massen auszliger ihrer Bestimmung nach Rassen durchfuumlhren laumlszligt ist die Einteilung in namenlose Massen wie die der Straszligen und nicht namenlose Massen wie z B die bera- tenden Ausschuumlsse und die Schwurgerichte Das Fehlen des Verantwortlichkeitgefuumlhls bei den ersteren und sein Vor- handensein bei den letzteren draumlngt ihre Handlungsweise oft in verschiedene Richtung

sect 2 Gleichartige Massen

Die gleichartigen Massen umfassen erstens die Sekten zweitens die Kasten drittens die KlassenDie Sekte bezeichnet den ersten Grad in der Organisation gleichartiger Massen Zu ihr gehoumlren einzelne deren Er-

116 DIE VERSCHIEDENEN ARTEN VON MASSEN

ziehung Beruf und Milieu oft sehr verschieden ist und die nur durch das Band der Uumlberzeugung miteinander verbun- den sind so z B die religioumlsen und politischen SektenDie Kaste stellt den houmlchsten Organisationsgrad dar des- sen die Masse faumlhig ist Waumlhrend die Sekte einzelne um- faszligt deren Beruf Bildung und Milieu oft sehr verschie- den sind und die sich nur durch Gemeinsamkeit der Uumlber- zeugung zusammenschlieszligen gehoumlren zur Kaste nur ein- zelne von gleichem Beruf und folglich auch ziemlich aumlhn- licher Bildung und fast gleichen Lebensverhaumlltnissen So z B die militaumlrische und die PriesterkasteDie Klasse wird von einzelnen verschiedenen Ursprungs gebildet die weder wie die Mitglieder einer Sekte durch die Uumlbereinstimmung der Uumlberzeugung noch durch die Gleichheit des Berufes wie die Mitglieder einer Kaste sondern durch bestimmte Interessen Lebensgewohnheiten und ihre Erziehung einander aumlhnlich sind So z B die Klasse der Buumlrger der Bauern uswDa ich in dieser Arbeit nur die ungleichartigen Massen zu studieren habe so werde ich mich nur mit einigen Arten dieser Gattung der Massen beschaumlftigen die ich als be- zeichnende Beispiele herausgreife

2 KAPITEL

Die sogenannten verbrecherischen Massen

Da nach einer bestimmten Erregungszeit die Massen in den Zustand einfacher unbewuszligter Automaten zuruumlckfallen die von Beeinflussungen abhaumlngig sind so scheint es schwie- rig zu sein sie in irgendeinem Falle als verbrecherisch zu bezeichnen Ich behalte jedoch diese irrige Bezeichnung bei weil sie durch die psychologischen Forschungen uumlblich ge- worden ist Gewisse Handlungen der Masse sind an sich betrachtet sicherlich verbrecherisch aber doch nur in dem- selben Sinne wie die Tat eines Tigers der einen Hindu

117GLEICHARTIGE MASSEN VERBRECHERISCHE MASSEN

verschlingt nachdem er ihn erst von seinen Jungen zu ihrer Unterhaltung hat zerfleischen lassenDie Verbrechen der Massen sind in der Regel die Folge einer starken Suggestion und die einzelnen die daran teil- nahmen sind hinterher davon uumlberzeugt einer Pflicht ge- horcht zu haben Das ist beim gewoumlhnlichen Verbrecher durchaus nicht der FallDie Geschichte der Verbrechen die durch die Massen be- gangen wurden laumlszligt dies klar erkennenAls bezeichnendes Beispiel kann man die Ermordung des Gouverneurs der Bastille du Launay anfuumlhren Nach der Eroberung dieser Festung hagelten von allen Seiten aus der aufs aumluszligerste gereizten Menge die ihn umgab Hiebe auf den Gouverneur Man schlug vor ihn zu haumlngen zu enthaupten oder an den Schweif eines Pferdes zu binden Bei dem Versuch sich zu befreien versetzte er einem der Umstehenden versehentlich einen Fuszligtritt Da machte je- mand den Vorschlag ndash dem die Menge sofort zujauchzte

ndash der Getretene solle dem Gouverneur den Hals ab- schneiden

bdquoDieser ein stellenloser Koch der halb und halb aus Neu- gierde nach der Bastille gegangen war um zu sehen was don vorging glaubt weil dies die allgemeine Ansicht ist die Tat sei patriotisch und glaubt sogar eine Auszeich- nung zu verdienen wenn er ein Ungeheuer toumltet Man gibt ihm einen Saumlbel mit dem er auf den bloszligen Hals losschlaumlgt da aber der schlechtgeschliffene Saumlbel nicht schneidet zieht er ein kleines Messer mit schwarzem Heft aus der Tasche und vollendet (da er als Koch Fleisch zu bearbeiten weiszlig) erfolgreich seine OperationldquoHier zeigt sich klar der fruumlher festgestellte Mechanismus Gehorsam gegen einen Einfluszlig der um so maumlchtiger wirkt weil er einer Gesamtheit entstammt die Uumlberzeugung des Moumlrders damit eine aumluszligerst verdienstvolle Tat getan zu haben eine Uumlberzeugung die um so natuumlrlicher ist da er auf die einmuumltige Zustimmung seiner Mitbuumlrger rechnen kann Eine derartige Tat kann vielleicht gesetzlich aber

118 DIE VERSCHIEDENEN ARTEN VON MASSEN

nicht psychologisch als Verbrechen bezeichnet werden Die allgemeinen Merkmale der sogenannten verbrecherischen Massen sind genau dieselben die wir bei allen Mas- sen festgestellt haben Beeinfluszligbarkeit Leichtglaumlubigkeit Uumlberschwang der guten und schlechten Gefuumlhle das Her- vortreten gewisser Formen der Sittlichkeit uswAlle diese Merkmale finden wir bei der Masse der Sep- tembermaumlnner wieder die in unserer Geschichte das un- seligste Andenken hinterlassen haben Sie zeigen uumlbrigens viel Aumlhnlichkeit mit den Urhebern der Bartholomaumlusnacht Die Einzelheiten des Berichtes entnehme ich Taine der sie aus zeitgenoumlssischen Erinnerungen geschoumlpft hat Es ist nicht genau bekannt wer Befehl oder Veranlassung gege- ben hat die Gefangenen abzuschlachten um die Gefaumlng- nisse zu raumlumen Ob es Danton war wie es wahrscheinlich ist oder ein anderer ist gleichguumlltig wir haben es nur mit dem maumlchtigen Einfluszlig zu tun den die mit dem Blutbade beauftragte Menge empfingDie Schar der Menschenschlaumlchter umfaszligte ungefaumlhr drei- hundert Mitglieder und zeigte vollkommen die Grundform einer ungleichartigen Masse Abgesehen von einer ganz geringen Anzahl gewerbsmaumlszligiger Bettler bestand sie na- mentlich aus Haumlndlern und Handwerkern aller Art aus Schustern Schlossern Peruumlckenmachern Maurern Ange- stellten Dienstmaumlnnern usw Unter dem Einfluszlig der emp- fangenen Suggestion sind sie wie der obenerwaumlhnte Koch voumlllig uumlberzeugt davon eine vaterlaumlndische Pflicht zu er- fuumlllen Sie uumlben ein doppeltes Amt aus das des Richters und das des Henkers und halten sich in keiner Weise fuumlr VerbrecherDurchdrungen von der Wichtigkeit ihrer Aufgabe bilden sie zunaumlchst eine Art Gerichtshof und sofort zeigt sich der beschraumlnkte Geist und das nicht weniger beschraumlnkte Rechtsgefuumlhl der Massen Angesichts der betraumlchtlichen Anzahl der Angeklagten wird zunaumlchst entschieden die Adligen die Priester die Offiziere die Diener des Koumlnigs d h diejenigen deren Beruf in den Augen eines guten

119DIE SOGENANNTEN VERBRECHERISCHEN MASSEN

Patrioten allein schon ein Schuldbeweis ist sollen in Hau- fen niedergemetzelt werden ohne daszlig es eines besonderen Urteils bedarf Im uumlbrigen wird nach Aussehen und An- sehen verurteilt Das unausgebildete Gewissen der Masse ist auf diese Weise befriedigt sie kann rechtmaumlszligig an die Abschlachtung gehen und den Instinkten der Grausamkeit deren Entstehen ich an anderer Stelle behandelt habe und die die Gesamtheiten stets in hohem Maszlige entfalten koumln- nen freien Lauf lassen Sie stehen uumlbrigens ndash das ist die Regel bei den Massen ndash einer gleichzeitigen Offenbarung entgegengesetzter Gefuumlhle nicht im Wege so z B der Empfindsamkeit die oft ebenso wie ihre Grausamkeit bis zum aumluszligersten geht bdquoSie haben das offenherzige Mitge- fuumlhl und die bewegliche Empfindlichkeit der Pariser Ar- beiter Als ein Foumlderierter vernahm daszlig man in der Abtei die Haumlftlinge seit sechsundzwanzig Stunden ohne Wasser gelassen hatte wollte er durchaus den nachlaumlssigen Pfoumlrt- ner umbringen und haumltte es getan wenn nicht die Ge- fangenen selbst fuumlr ihn gebeten haumltten Ist ein Gefangener (von ihrem fliegenden Gerichtshof) freigesprochen so wird er von den Waumlchtern und Henkern kurz von jedermann umarmt und stuumlrmisch begruumlszligtldquo Dann kehrt man zur Ab- schlachtung der uumlbrigen zuruumlck Waumlhrend des Blutbades herrscht andauernd liebenswuumlrdige Froumlhlichkeit Man singt und tanzt um die Leichen herum stellt den bdquoDamenldquo die gluumlcklich daruumlber sind zu sehen daszlig Aristokraten ge- toumltet werden Baumlnke zur Verfuumlgung Auch weiterhin wer- den Proben einer besonderen Houmlflichkeit gegeben Als sich ein Henker in der Abtei beklagt die etwas entfernter sitzenden Damen saumlhen schlecht und nur einige der An- wesenden haumltten das Vergnuumlgen die Aristokraten zu schla- gen gibt man die Richtigkeit dieser Beobachtung zu und bestimmt daszlig man die Opfer langsam zwischen zwei Reihen von Moumlrdern hindurchgehen lasse die zur Ver- laumlngerung der Qualen nur mit dem Saumlbelruumlcken schlagen duumlrfen In der Festung werden die Opfer voumlllig entkleidet eine halbe Stunde lang zerfleischt dann wenn jedermann

120 DIE VERSCHIEDENEN ARTEN VON MASSEN

alles gut gesehen hat erledigt man sie indem man ihnen den Bauch aufschlitzt Die Menschenschlaumlchter sind im uumlbrigen sehr gewissenhaft und bekunden jene Sittlichkeit auf deren Vorhandensein im Herzen der Massen wir be- reits hinwiesen Sie legen das Geld und den Schmuck der Opfer auf dem Tisch des Ausschusses niederIn allen ihren Handlungen finden sich diese unentwickel- ten Formen des Denkens die fuumlr die Massenseele bezeich- nend sind So macht irgend jemand nach einer Abschlach- tung von zwoumllf- bis fuumlnfzehnhundert Volksfeinden darauf aufmerksam ndash und seine Anregung wird sofort angenom- men ndash daszlig in den andern Gefaumlngnissen in denen alte Bettler Landstreicher jugendliche Haumlftlinge sitzen in Wahrheit nur unnuumltze Fresser eingesperrt waumlren deren man sich am besten entledige Uumlbrigens muumlszligten sich unter ihnen auch Volksfeinde befinden wie z B eine gewisse Frau Delarue die Witwe eines Giftmischers bdquoSie soll wuumltend sein im Gefaumlngnis zu sitzen wenn sie koumlnnte wuumlrde sie Paris in Brand stecken das soll sie gesagt haben das hat sie gesagt Fort mit ihrldquo Der Beweis ist uumlber- zeugend und haufenweise wird alles abgeschlachtet Inbe- griffen sogar etwa fuumlnfzig Kinder von zwoumllf bis siebzehn Jahren die ja auch Volksfeinde werden koumlnnten und folg- lich beseitigt werden muszligtenNach einer Woche der Arbeit waren all diese Maszlignahmen ausgefuumlhrt und die Menschenschlaumlchter durften von Ruhe traumlumen Da sie tief davon durchdrungen waren dem Vaterland gut gedient zu haben verlangten sie von den Machthabern eine Belohnung die Eifrigsten forderten so- gar eine AuszeichnungDie Geschichte der Kommune von 870 weist aumlhnliche Tatsachen auf Der wachsende Einfluszlig der Massen und das allmaumlhliche Zuruumlckweichen der Maumlchte vor ihnen wird sicherlich noch viele andre hinzufuumlgen

DIE SOGENANNTEN VERBRECHERISCHEN MASSEN 121

3 KAPITEL

Die Geschworenen bei den Schwurgerichten

Da wir uns hier nicht mit allen Arten der Geschworenen befassen koumlnnen so werde ich mich nur mit den wichtig- sten den Beisitzern der Schwurgerichte beschaumlftigen Sie bieten uns ein vortreffliches Beispiel fuumlr die nicht namen- lose ungleichartige Masse Wir finden hier die Beeinfluszlig- barkeit die Vorherrschaft der unbewuszligten Gefuumlhle die geringe Faumlhigkeit zum Denken den Einfluszlig der Fuumlhrer usw Ihre Beobachtung wird uns Gelegenheit geben be- merkenswerte Proben von Fehlern kennenzulernen die von Leuten begangen werden die mit der Psychologie der Gesamtheiten nicht vertraut sindDie Geschworenen sind zunaumlchst ein Beispiel fuumlr die ge- ringe Bedeutung die den geistigen Voraussetzungen der verschiedenen Wesen aus denen sich eine Masse zusam- mensetzt bei Entscheidungen zukommt Wir haben ge- sehen daszlig in einer beratenden Versammlung die aufge- fordert wird ein Urteil abzugeben die Intelligenz keine Rolle spielt wenn es sich um eine Frage handelt die nicht rein technischer Natur ist und daszlig in einer Versammlung von Gelehrten und Kuumlnstlern uumlber allgemeine Angelegen- heiten Urteile abgegeben werden die sich von denen einer Maurerversammlung kaum wesentlich unterscheiden Zu manchen Zeiten traf die Verwaltung unter den Personen die zu Geschworenen ernannt wurden eine sorgfaumlltige Auswahl sie stammten aus den aufgeklaumlrten Klassen der Lehrer Beamten wissenschaftlich Gebildeten usw Heut- zutage gehoumlren die Geschworenen hauptsaumlchlich den Klein- haumlndlern Handwerksmeistern Angestellten usw an Und zur groszligen Verwunderung der Fachschriftsteller zeigt die Statistik daszlig die Entscheidungen ganz gleich bleiben wie die Geschworenen auch zusammengesetzt sein moumlgen Selbst die Juristen die der Einrichtung der Schwurgerichte so feindlich gegenuumlberstanden muszligten die Richtigkeit dieser

Feststellung anerkennen Ein ehemaliger Schwurgerichts- praumlsident Bernard des Glajeux schreibt in seinen bdquoEr- innerungenldquo daruumlber folgendes

bdquoHeute liegt die Auswahl der Geschworenen in Wirklich- keit in den Haumlnden der Stadtraumlte die nach ihrem Belieben zulassen und ausscheiden und sich in der Hauptsache von politischen Verhaumlltnissen und Wahlsorgen leiten lassen die mit ihrer Stellung verbunden sind hellip Die Mehrzahl der Gewaumlhlten besteht aus Kauf leuten von so geringer Bedeutung daszlig man sie fruumlher nicht zugelassen haumltte und aus Beamten bestimmter Verwaltungsbehoumlrden In der Rolle des Richters vereinigen sich alle Anschauungen mit allen Berufsarten viele zeigen den Eifer der Neulinge und Menschen die den besten Willen haben begegnet man in den einfachsten Staumlnden Der Geist der Geschworenen hat sich nicht geaumlndert ihre Urteile sind sich gleichgebliebenldquoWir wollen aus diesem Satz die ganz richtigen Folgerun- gen nicht aber die recht schwachen Erklaumlrungen beibe- halten Diese Schwaumlche ist besonders erstaunlich denn die Psychologie der Massen und folglich auch der Geschwore- nen scheint meistens den Anwaumllten wie den Richtern un- bekannt gewesen zu sein Den Beweis dafuumlr liefert mir die Tatsache die derselbe Autor anfuumlhrt daszlig einer der be- ruumlhmtesten Rechtsanwaumllte des Schwurgerichts Lachaud ausnahmslos von seinem Recht Gebrauch machte die gebildeten Mitglieder der Geschworenen abzulehnen Die Erfahrung aber ndash und die Erfahrung allein ndash uumlberzeugte ihn schlieszliglich von der Zwecklosigkeit dieser Ablehnung Die Staatsanwaltschaft und die Rechtsanwaumllte haben wenigstens in Paris vollstaumlndig darauf verzichtet und doch haben sich wie des Giajeux bemerkt die Urteile nicht geaumlndert bdquosie sind weder besser noch schlechterldquoWie alle Massen werden die Geschworenen sehr stark durch Gefuumlhle und sehr wenig durch Beweisgruumlnde beeinfluszligt Ein Rechtsanwalt schreibt bdquoSie koumlnnen dem Anblick einer stillenden Frau oder der Vorfuumlhrung der Waisen nicht widerstehenldquo bdquoEine Frau braucht nur angenehm zu seinldquo

123DIE GESCHWORENEN

sagt des Glajeux bdquoso gewinnt sie das Wohlgefallen der GeschworenenldquoGegen Verbrechen von denen sie selbst betroffen werden koumlnnten und die uumlberdies gerade fuumlr die Gesellschaft die furchtbarsten sind zeigen sich die Geschworenen unerbitt- lich andrerseits sind sie gegen die sogenannten Verbrechen der Leidenschaft sehr nachsichtig Selten beurteilen sie Kindesmord unehelicher Muumltter streng und noch weniger das verlassene Maumldchen das seinen Verfuumlhrer mit Vitriol uumlberschuumlttet Sie fuumlhlen instinktiv sehr gut daszlig diese Verbrechen fuumlr die Gesellschaft wenig gefaumlhrlich sind und daszlig in einem Lande wo das Gesetz verlassene Maumldchen nicht schuumltzt ihre Rache mehr Nutzen stiftet indem sie kuumlnftige Verfuumlhrer von vornherein abschreckt Wie alle Massen werden die Geschworenen durch An- sehen stark geblendet und Praumlsident des Glajeux macht mit Recht darauf aufmerksam daszlig sie ihrer Zusammen- setzung nach zwar sehr demokratisch ihren Neigungen nach aber sehr aristokratisch seien bdquoName Geburt Reich- tum Ruhm und die Anwesenheit eines bekannten An- walts alles Auszeichnende und Glaumlnzende sind fuumlr den Angeklagten eine erhebliche UnterstuumltzungldquoEs muszlig die Hauptsorge eines guten Anwalts sein auf die Gefuumlhle der Geschworenen einzuwirken und wie bei allen Massen wenig zu begruumlnden oder Beweisfuumlhrungen nur in andeutender Form zu geben Ein englischer Anwalt der

Nebenbei bemerkt entbehrt diese Unterscheidung zwischen gesellschaftsfeind- lichen und nicht gesellschaftsfeindlichen Verbrechen die mit richtigem Instinkt von den Geschworenen gemacht wird keineswegs der Richtigkeit Das Ziel der Strafgesetze soll doch offenbar der Schutz der Gesellschaft gegen Ver- brechen nicht aber Rache sein Nun sind aber unsere Strafgesetzbuumlcher und besonders unsere Richter voumlllig von dem Rachegeist des alten urspruumlnglichen Gesetzes erfuumlllt und der Ausdruck bdquoSuumlhneldquo (vindicta) wird noch taumlglich gebraucht Der Beweis fuumlr diese Neigung der Richter ist die Weigerung vieler von ihnen das vortreffliche Gesetz Beacuteranger anzuwenden welches die Strafe des Verurteilten aufschiebt bis er ruumlckfaumlllig wird Und doch kann kein Richter daruumlber im unklaren sein ndash denn die Statistik beweist es ja ndash daszlig die Verbuumlszligung der ersten Strafe fast unfehlbar den Ruumlckfall nach sich zieht Die Richter glauben wenn sie einen Schuldigen freisprechen die Gesellschaft sei ungeraumlcht geblieben Ehe sie das zulassen schaffen sie lieber einen gefaumlhr- lichen Ruumlckfaumllligen

124 DIE VERSCHIEDENEN ARTEN VON MASSEN

wegen seiner Erfolge am Schwurgericht beruumlhmt war hat dies Verfahren ausgezeichnet geschildert

bdquoAufmerksam beobachtet er waumlhrend seiner Verteidigungs- rede die Geschworenen Der Augenblick ist guumlnstig Mit Hilfe seines Spuumlrsinnes und auch gewohnheitsmaumlszligig liest der Anwalt die Wirkung jedes Satzes jedes Wortes in den Mienen und zieht seine Schluumlsse daraus Es handelt sich vor allem darum die Mitglieder herauszufinden die im voraus fuumlr den Fall eingenommen sind Der Verteidiger versichert sich ihrer im Handumdrehen dann wendet er sich an die Mitglieder die unguumlnstig gestimmt zu sein scheinen und bemuumlht sich zu erraten warum sie gegen den Angeklagten sind Das ist der schwierigste Teil der Arbeit denn es kann auszliger dem Gerechtigkeitsgefuumlhl noch unzaumlhlige Gruumlnde geben einen Menschen verurteilen zu wollenldquoDiese wenigen Zeilen fassen die Absichten der Redner- kunst treffend zusammen und zeigen uns die Wertlosigkeit der eingelernten Rede weil man jeden Augenblick je nach dem erzielten Eindruck die Ausdrucksweise aumlndern muszlig Der Redner braucht nicht alle Mitglieder des Gerichts auf seine Seite zu bringen sondern nur die tonangebenden die die Gesamtmeinung beeinflussen Wie bei allen Massen gibt es auch hier eine kleine Anzahl von fuumlhrenden ein- zelnen bdquoIch habe die Erfahrung gemachtldquo sagt der oben erwaumlhnte Anwalt bdquodaszlig im Augenblick der Urteilsfaumlllung ein oder zwei energische Maumlnner genuumlgen um die uumlbrigen Geschworenen mitzureiszligenldquo Diese zwei oder drei Maumlnner muszlig man durch geschickte Beeinflussung uumlberzeugen Zu- erst und vor allem muszlig man ihnen gefallen Der Massen- mensch dem man gefaumlllt ist schon beinahe uumlberzeugt und gut vorbereitet alle Gruumlnde die man ihm darlegt fuumlr ausgezeichnet zu halten In einer interessanten Arbeit uumlber Lachaud finde ich folgende Anekdote

bdquoMan weiszlig daszlig Lachaud als er beim Schwurgericht ar- beitete waumlhrend der ganzen Dauer seiner Verteidigungs- reden zwei oder drei Geschworene von denen er wuszligte

DIE GESCHWORENEN 125

oder fuumlhlte daszlig sie einfluszligreich aber unzugaumlnglich waren nicht aus den Augen verlor In der Regel gelang es ihm die Widerspenstigen zu gewinnen Aber einmal fand er in der Provinz einen den er vergebens dreiviertel Stunden lang bearbeitete den ersten auf der zweiten Bank den siebenten Geschworenen Es war zum Verzweifeln Ploumltz- lich mitten im leidenschaftlichen Redefluszlig haumllt Lachaud inne und wendet sich an den Vorsitzenden des Gerichts- hofes mit den Worten Herr Praumlsident koumlnnte man nicht den Vorhang dort vorn herunterlassen den siebenten Herrn Geschworenen blendet die Sonnelsquo Der siebente Ge- schworene erroumltete laumlchelte dankte Er war der Verteidi- gung gewonnenldquoVerschiedene Autoren und zwar sehr namhafte haben in der letzten Zeit die Einrichtung der Schwurgerichte den einzigen Schutz gegen die wirklich sehr haumlufigen Irrtuumlmer einer aufsichtslosen Kaste heftig bekaumlmpft Einige moumlch- ten daszlig die Geschworenen nur aus den gebildeten Staumlnden gewaumlhlt wuumlrden Aber wir haben schon festgestellt daszlig in diesem Falle die Entscheidungen den jetzt gefaumlllten gleichen werden Andre die sich auf die Irrtuumlmer der Geschwore- nen berufen moumlchten sie abschaffen und durch Richter er- setzen Wie koumlnnen sie aber vergessen daszlig die Irrtuumlmer die den Geschworenen so oft vorgeworfen werden stets

Der Richterstand ist in der Tat der einzige Verwaltungszweig dessen Maszlig- nahmen keiner Uumlberwachung unterstellt sind Keine Revolution hat es fertig- gebracht dem demokratischen Frankreich jenes Habeas-corpus-Recht zu errin- gen auf das England so stolz ist Wir haben die Tyrannen verbannt aber in jeder Stadt verfuumlgt eine Obrigkeit nach Belieben uumlber Ehre und Freiheit der Buumlrger Ein unbedeutender Untersuchungsrichter der die Universitaumlt kaum verlieszlig hat die empoumlrende Macht die angesehensten Buumlrger gegen die er den bloszligen Verdacht einer Schuld hegt fuumlr den er niemand Rechenschaft schuldig ist ins Gefaumlngnis zu schicken Er kann sie sechs Monate ja sogar ein Jahr unter dem Vorwande der Untersuchung dort festhalten und sie schlieszliglich ohne Entschaumldigung oder Entschuldigung entlassen Der Vorladungsbefehl ist dem bdquolettre de cachetldquo dem koumlniglichen geheimen Haftbefehl gleichwertig nur mit dem Unterschied daszlig der letztere der mit Recht der alten Monarchie so zum Vorwurf gemacht wird nur sehr bedeutenden Persoumlnlichkeiten zur Verfuumlgung stand waumlhrend er sich heute in den Haumlnden einer ganzen Buumlrger- klasse befindet die keineswegs fuumlr die aufgeklaumlrteste und unabhaumlngigste gelten kann

126 DIE VERSCHIEDENEN ARTEN VON MASSEN

zuerst von den Richtern begangen wurden denn wenn der Angeklagte vor den Geschworenen erscheint so wird er bereits von verschiedenen Richtern fuumlr schuldig gehalten vom Untersuchungsrichter vom Staatsanwalt vom An- klagesenat Und sieht man denn nicht daszlig der Angeklagte seine einzige Aussicht fuumlr unschuldig erklaumlrt zu werden einbuumlszligte wenn er schlieszliglich von Richtern anstatt von Geschworenen abgeurteilt wuumlrde Die Irrtuumlmer der Ge- schworenen sind zuerst stets Irrtuumlmer der Richter gewesen An diese allein muszlig man sich halten wenn man auf be- sonders ungeheuerliche Justizirrtuumlmer wie die Verurtei- lung des Dr Xhellip stoumlszligt der auf die Anzeige eines halb- idiotischen Maumldchens das den Arzt beschuldigte er habe sie fuumlr dreiszligig Franken abortieren lassen von einem wirklich recht beschraumlnkten Untersuchungsrichter verfolgt wurde und der ohne den Entruumlstungsausbruch der Oumlffent- lichkeit der seine sofortige Begnadigung durch das Staats- oberhaupt zur Folge hatte ins Gefaumlngnis gewandert waumlre Die Ehrenhaftigkeit die dem Verurteilten von all seinen Mitbuumlrgern zuerkannt wurde lieszlig die Ungeheuerlichkeit des Irrtums besonders offenbar werden Selbst die Richter erkannten das und doch taten sie aus Kastengeist alles moumlgliche um die Unterzeichnung der Begnadigung zu ver- hindern In allen solchen Faumlllen houmlren die Geschworenen von technischen Einzelheiten die sie nicht verstehen ver- wirrt naturgemaumlszlig auf die Staatsanwaltschaft da sie sich sagen daszlig der Fall schlieszliglich von Richtern die in allen Feinheiten bewandert sind gepruumlft sei Wer sind also die wahren Urheber des Irrtums die Geschworenen oder die Richter Darum wollen wir sorgfaumlltig uumlber unsere Schwur- gerichte wachen Sie bilden vielleicht die einzige Gattung der Masse die durch keinen einzelnen zu ersetzen ist Nur sie koumlnnen die Haumlrten des Gesetzes mildern das fuumlr alle gleich im Prinzip blind sein muszlig und Sonderfaumllle nicht kennen darf Der Richter der nur den Wortlaut des Ge- setzes kennt und fuumlr Mitleid unzugaumlnglich ist wuumlrde mit seiner Berufshaumlrte den Raubmoumlrder zu derselben Strafe

DIE GESCHWORENEN 127

verurteilen wie das arme Maumldchen das zum Kindesmord gedraumlngt wird weil es von seinem Verfuumlhrer verlassen und dem Elend preisgegeben ist waumlhrend die Geschworenen sehr wohl fuumlhlen daszlig das verfuumlhrte Maumldchen viel weniger schuld ist als der Verfuumlhrer der dem Gesetz entschluumlpft und daszlig es all ihre Nachsicht verdientObwohl ich die Psychologie der Kasten so wie die der andern Massen sehr wohl kenne kann ich mir keinen Fall denken der mich wenn ich eines Verbrechens angeklagt waumlre nicht vorziehen lieszlige lieber mit Geschworenen als mit Richtern zu tun zu haben Bei den ersten haumltte ich groszlige Aussicht schuldlos erkannt zu werden bei den letz- teren nur sehr geringe Wir haben die Macht der Massen zu fuumlrchten aber noch mehr die Macht gewisser Kasten Die Massen lassen sich vielleicht uumlberzeugen die Kasten geben niemals nach

4 KAPITEL

Die Waumlhlermassen

Die Waumlhlermassen d h die Gesamtheiten die zur Wahl der Inhaber gewisser Aumlmter berufen sind bilden ungleich- artige Massen da sie aber nur in einer ganz bestimmten Frage ihre Wirksamkeit entfalten naumlmlich bei der Wahl zwischen mehreren Kandidaten so lassen sich bei ihnen nur einige der fruumlher beschriebenen Merkmale beobachten Besonders hervorragend ist die geringe Urteilsfaumlhigkeit dann der Mangel an kritischem Denken die Erregbarkeit Leichtglaumlubigkeit und Einfalt der Massen Auch entdeckt man in ihren Entscheidungen den Einfluszlig der Fuumlhrer und die Wirkung der bereits angefuumlhrten Triebkraumlfte Behaup- tung Wiederholung Nimbus und UumlbertragungSehen wir nun zu wie sie zu gewinnen sind Ihre Psycho- logie laumlszligt sich nach bewaumlhrter Methode klar ableiten Als erste Eigenschaft muszlig der Bewerber einen Nimbus

128 DIE VERSCHIEDENEN ARTEN VON MASSEN

haben Persoumlnlicher Nimbus kann nur durch Reichtum ersetzt werden Talent und selbst Genie sind keine Vor- bedingungen fuumlr den ErfolgFolglich ist der persoumlnliche Nimbus des Bewerbers um sich ohne weitere Eroumlrterungen durchsetzen zu koumlnnen von ausschlaggebender Bedeutung Daszlig die Waumlhler die in der Mehrzahl aus Arbeitern und Bauern bestehen so selten einen ihrer Leute als Vertreter waumlhlen erklaumlrt sich daraus daszlig ihre Standesgenossen keinen Nimbus bei ihnen haben Sie waumlhlen einen ihresgleichen fast nur aus nebensaumlchlichen Gruumlnden etwa um einen hochgestellten Manne einem maumlchtigen Arbeitgeber entgegenzutreten weil der Waumlhler Tag fuumlr Tag die Abhaumlngigkeit von diesem empfindet und sich so einbildet einen Augenblick seiner Herr zu seinAber der Besitz des Nimbus genuumlgt fuumlr den Bewerber nicht zur Sicherung des Erfolges Der Waumlhler haumllt darauf daszlig man seinen Begierden und Eitelkeiten schmeichelt Der Kandidat muszlig uumlbertriebene Schmeicheleien anwenden und darf kein Bedenken tragen die phantastischsten Ver- sprechungen zu machen Vor Arbeitern kann man ihre Arbeitgeber nicht genug beleidigen und schmaumlhen Den gegnerischen Bewerber wiederum muszlig man zu vernichten suchen indem man durch Behauptung Wiederholung und Uumlbertragung zu beweisen sucht er sei der aumlrgste Schuft von dem jeder wisse daszlig er etliche Verbrechen begangen habe Selbstredend ist es unnoumltig etwas vorbringen zu wollen was einem Beweis aumlhnelt Ist der Gegner ein schlechter Kenner der Massenpsychologie so wird er sich durch Beweise zu rechtfertigen suchen anstatt auf verleum- derische Behauptungen einfach mit andern ebenso verleum- derischen zu antworten und wird dann keine Aussicht auf Sieg habenDas geschriebene Programm des Kandidaten darf nicht sehr entschieden sein weil seine Gegner es ihm spaumlter ent- gegenhalten koumlnnten aber sein muumlndliches Programm kann nicht uumlbertrieben genug sein Die auszligerordentlichsten Re-

129DIE WAumlHLERMASSEN

formen duumlrfen in Aussicht gestellt werden Fuumlr den Augen- blick erzielen diese Uumlbertreibungen groszlige Wirkung und fuumlr die Zukunft verpflichten sie zu nichts Der Waumlhler kuumlm- mert sich spaumlter tatsaumlchlich nie darum ob der Gewaumlhlte sein Glaubensbekenntnis dem man begeistert zustimmte und das angeblich die Voraussetzung fuumlr das Zustande- kommen der Wahl war auch wirklich befolgt hatWir erkennen hier alle Mittel der Uumlberredung wieder die oben beschrieben wurden Wir werden sie auch in der Wirkung der Worte und R e d e w e n d u n g e n wieder- finden auf deren maumlchtige Herrschaft wir bereits hinge- wiesen haben Der Redner der die Massen zu behandeln weiszlig fuumlhrt sie nach Belieben Ausdruumlcke wie der verderb- liche Kapitalismus die gemeinen Ausbeuter der bewun- dernswerte Arbeiter die Sozialisierung der Besitztuumlmer u a rufen stets die gleiche schon etwas verbrauchte Wir- kung hervor Der Bewerber aber der eine neue Rede- wendung entdeckt die jeder bestimmten Bedeutung er- mangelt und sich daher den verschiedensten Wuumlnschen an- zupassen vermag erzielt unfehlbar Erfolg Die blutige spanische Revolution von 873 kam durch eins jener magi- schen vieldeutigen Worte zustande das jeder nach seiner Weise deuten kann Ein zeitgenoumlssischer Autor hat uumlber ihre Entstehung in so denkwuumlrdiger Weise berichtet daszlig sie wiedergegeben zu werden verdient

bdquoDie Radikalen hatten entdeckt daszlig eine einheitliche Re- publik eine verkappte Monarchie sei und ihnen zu Ge- fallen hatten die Cortes einstimmig die verbuumlndete Repu- blik ausgerufen ohne daszlig auch nur einer der Abstimmen- den haumltte sagen koumlnnen woruumlber abgestimmt wurde Aber diese Redewendung bezauberte die Welt man war wie im Rausch im Delirium Die Herrschaft der Tugend und des Gluumlcks war auf Erden gegruumlndet worden Ein Repu- blikaner dem von seinem Feind die Bezeichnung eines Verbuumlndeten versagt wurde fuumlhlte sich durch einen toumld- lichen Schimpf beleidigt Auf den Straszligen ging man mit den Worten Salud y republica federallsquo aufeinander zu

130 DIE VERSCHIEDENEN ARTEN VON MASSEN

Dann stimmte man der heiligen Zuchtlosigkeit und Selbst- herrlichkeit der Soldaten Lobeshymnen an Was war die verbuumlndete Republiklsquo Die einen verstanden darunter die Gleichberechtigung der Provinzen Einrichtungen nach dem Muster der Vereinigten Staaten oder Aufhebung der ein- heitlichen Verwaltung andre wieder dachten an die Besei- tigung aller Obrigkeit den baldigen Beginn der groszligen sozialen Abrechnung Die Sozialisten in Barcelona und Andalusien predigten die unumschraumlnkte Selbstaumlndigkeit der Gemeinden und forderten die Bildung von zehntausend unabhaumlngigen Gemeinden in Spanien die sich selbst ihre Gesetze geben und gleichzeitig Polizei und Heer aufheben wuumlrden Bald sah man daszlig sich der Aufstand in den suumld- lichen Provinzen von Stadt zu Stadt von Dorf zu Dorf ausbreitete Sobald eine Gemeinde ihr pronunciamentolsquo er- lassen hatte war ihre erste Sorge Telegraphen und Eisen- bahnen zu zerstoumlren um alle Verbindungen mit der Um- gegend und mit Madrid abzuschneiden Der elendeste Flek- ken wollte in seiner eigenen Kuumlche kochen Der Foumlderalis- mus hatte einem rohen mordbrennerischen und moumlrderi- schen Kantonalismus Platz gemacht und uumlberall wurden blutige Saturnalien gefeiertldquoWas den Einfluszlig der logischen Beweisgruumlnde auf den Geist der Waumlhler anbelangt so duumlrfte man nie den Bericht uumlber eine Wahlversammlung gelesen haben um nicht daruumlber im klaren zu sein Man tauscht dort Behauptungen Be- schimpfungen manchmal auch Puumlffe aus doch niemals Gruumlnde Es wird nur dann einen Augenblick ruhig wenn ein wuumlrdiger Teilnehmer umstaumlndlich ankuumlndigt daszlig er an den Kandidaten eine jener verwickelten Fragen richten wolle die die Zuhoumlrer immer sehr belustigen Die Zu- friedenheit der Gegner dauert aber nicht lange denn die Stimme des Vorredners wird bald von dem Geheul seiner Widersacher uumlbertoumlnt Als Schilderung der Grundform oumlffentlicher Versammlungen sind folgende Berichte anzu- sehen die aus hunderten aumlhnlicher herausgegriffen den Tageszeitungen entnommen sind

DIE WAumlHLERMASSEN 131

bdquoNachdem ein Ordner die Anwesenden ersucht hat einen Vorsitzenden zu waumlhlen bricht der Sturm los Die An- archisten stuumlrzen auf den Schauplatz um sich des Redner- pultes im Sturm zu bemaumlchtigen Die Sozialisten vertei- digen ihn energisch man stoumlszligt einander schimpft sich gegenseitig Spion Bestochener und dergleichen hellip ein Buumlr- ger zieht sich mit einem blauen Auge zuruumlck Endlich ist mitten im Tumult so gut es geht der geschaumlfts- fuumlhrende Ausschuszlig eroumlffnet und die Rednerbuumlhne bleibt dem Genossen XDer Redner geht in scharfem Zug gegen die Sozialisten los die ihn unterbrechen und schreien Trottel Bandit Schurkelsquo usw Genosse X beantwortet diese Schimpfnamen durch Darlegung einer Theorie wonach die Sozialisten Idiotenlsquo oder Possenreiszligerlsquo sindldquobdquoDie Allemanistische Partei hatte gestern abend im Saale der Kaufmannschaft in der Rue Faubourg-du-Temple eine groszlige Versammlung fuumlr das Fest der Arbeiterschaft am Mai einberufen hellip Das Losungswort war Stille und RuheGenosse Ghellip bezeichnet die Sozialisten als Trottellsquo und SchwindlerlsquoDiese Worte veranlassen Redner und Zuhoumlrer zu schimp- fen sie geraten ins Handgemenge Stuumlhle Baumlnke Tische spielen ihre Rolle usw uswldquoMan glaube ja nicht diese Art der Auseinandersetzung sei nur einer bestimmten Art von Waumlhlern eigen und ab- haumlngig von ihrer gesellschaftlichen Stellung In jeder be- liebigen Versammlung und bestuumlnde sie auch nur aus aka- demisch Gebildeten nimmt die Auseinandersetzung leicht dieselben Formen an Ich habe gezeigt daszlig die Menschen als Glieder der Masse zur geistigen Angleichung neigen dafuumlr werden wir jederzeit den Beweis finden Als Beleg diene folgender Auszug aus einem Bericht uumlber eine Ver- sammlung die ausschlieszliglich aus Studenten bestand

bdquoJe weiter der Abend vorschritt um so heftiger wurde der Tumult Ich glaube nicht daszlig ein einziger Redner zwei

132 DIE VERSCHIEDENEN ARTEN VON MASSEN

Saumltze ohne Unterbrechung vorbringen konnte Fortwaumlh- rend ertoumlnten Rufe von der einen oder anderen Seite oder von allen Seiten zugleich man klatschte Beifall man pfiff erregte Auseinandersetzungen entspannen sich zwischen ver- schiedenen Anwesenden Stoumlcke wurden drohend geschwun- gen man stampfte im Takt auf den Boden Wuumlstes Geschrei verfolgte die Stoumlrenfriede Hinaus Auf die TribuumlneHerr Chellip uumlberschuumlttet die Vereinigung mit niedertraumlch- tigen und gehaumlssigen Beiwoumlrtern wie ungeheuerlich ge- mein kaumluflich und rachsuumlchtig und erklaumlrt er wolle sie vernichten uswldquoMan konnte sich fragen wie sich unter solchen Bedingun- gen die Meinung eines Waumlhlers bilden kann Aber um eine derartige Frage zu stellen muumlszligte man sich einer erstaun- lichen Taumluschung uumlber den Grad von Freiheit hingeben dessen sich eine Gesamtheit erfreut Die Massen haben nur eingefloumlszligte nie vernuumlnftige Meinungen Diese Meinungen und Abstimmungen der Waumlhler liegen in den Haumlnden der Wahlausschuumlsse deren Fuumlhrer meistens einige Schankwirte sind die groszligen Einfluszlig auf die Arbeiter haben denen sie Kredit gewaumlhren bdquoWissen Sie was ein Wahlausschuszlig istldquoschreibt Scheacuterer einer der eifrigsten Verteidiger der Demo- kratie bdquoganz einfach der Schluumlssel zu unsren Einrichtungen das Hauptstuumlck der politischen Maschinerie Frankreich wird heute von den Ausschuumlssen regiert ldquoEs ist denn auch nicht allzu schwer die zu beeinflussen wenn der Bewerber nur einigermaszligen annehmbar ist und

Die Ausschuumlsse moumlgen sie nun Klubs Syndikate usw heiszligen bilden viel- leicht die furchtbarste Gefahr die uns durch die Macht der Massen droht Sie sind tatsaumlchlich die unpersoumlnlichste und daher druumlckendste Form der Gewalt- herrschaft Die Leiter der Ausschuumlsse die im Namen einer Gesamtheit zu sprechen und zu handeln scheinen sind aller Verantwortung enthoben und koumlnnen sich alles erlauben Der grausamste Tyrann haumltte niemals gewagt von den Verbannungen auch nur zu traumlumen die vom Revolutionsausschuszlig angeordnet wurden Sie hatten den Konvent verkleinert und regelrecht zuge- schnitten sagt Barras Solange er in ihrem Namen sprechen durfte war Ro- bespierre unumschraumlnkter Herr An dem Tage als sich der schreckliche Diktator selbstsuumlchtig von ihnen trennte schlug die Stunde seines Untergangs Herr- schaft der Massen heiszligt Herrschaft der Ausschuumlsse also der Fuumlhrer Einen haumlrteren Despotismus kann man sich nicht vorstellen

DIE WAumlHLERMASSEN 133

uumlber genuumlgende Mittel verfuumlgt Nach dem Eingestaumlndnis der Geldgeber genuumlgten drei Millionen um die vielfache Wahl des General Boulanger durchzusetzen Das ist die Psychologie der Waumlhlermassen Sie ist die gleiche wie die der andern Massen Weder besser noch schlechterIch will denn auch aus dem Vorstehenden keinen Schluszlig gegen das allgemeine Stimmrecht ziehen Haumltte ich uumlber sein Geschick zu entscheiden so wuumlrde ich es so beibe- halten wie es ist und zwar aus praktischen Gruumlnden die sich eben aus unsrer Untersuchung uumlber die Psychologie der Massen ergeben und die ich auseinandersetzen werde wenn ich erst an seine Nachteile erinnert habeDie Nachteile des allgemeinen Stimmrechts fallen ohne Zweifel zu sehr in die Augen als daszlig man sie verkennen koumlnnte Es ist nicht in Abrede zu stellen daszlig die Kulturen das Werk einer kleinen Minderheit uumlberlegener Geister ge- wesen sind diese bilden die Spitze einer Pyramide deren Stufen nach unten gemaumlszlig der Abnahme des geistigen Wer- tes breiter werden und die tieferen Schichten eines Volkes darstellen Die Groumlszlige einer Kultur darf gewiszlig nicht von dem Stimmrecht untergeordneter Elemente abhaumlngen die nichts als eine Zahl bedeuten Ohne Zweifel sind die Ab- stimmungen der Massen recht oft gefaumlhrlich Sie haben uns bereits mehrere Invasionen gekostet und mit dem Triumph des Sozialismus werden uns die Einfaumllle der Volksherr- schaft gewiszlig noch viel teuerer zu stehn kommen hellipAber diese Einwaumlnde die theoretisch tadellos sind buumlszligen fuumlr die Praxis jede Kraft ein wenn man sich der unuumlber- windlichen Macht der Ideen erinnert die in Glaubenssaumltze umgewandelt wurden Der Glaubenssatz von der Herr- schaft der Massen ist vom philosophischen Standpunkt ebensowenig zu verfechten wie die religioumlsen Glaubenssaumltze des Mittelalters aber er hat heute die unumschraumlnkte Macht Daher ist er ebenso unangreifbar wie einst unsere religioumlsen Ideen Man stelle sich einen modernen Freidenker vor der durch eine magische Gewalt ins tiefste Mittelalter versetzt wuumlrde Glaubt man etwa er wuumlrde wenn er die

134 DIE VERSCHIEDENEN ARTEN VON MASSEN

unumschraumlnkte Macht der religioumlsen Ideen die damals herrschten erkannt haumltte versucht haben sie zu bekaumlmp- fen Haumltte er daran gedacht die Existenz des Teufels und den Hexensabbath zu leugnen wenn er in die Haumlnde eines Richters gefallen waumlre der ihn unter der Anschuldigung einen Pakt mit dem Teufel geschlossen und den Hexen- sabbath besucht zu haben verbrennen lassen wollte Gegen die Uumlberzeugungen der Masse streitet man ebensowenig wie gegen Zyklone Der Glaubenssatz des allgemeinen Stimmrechts hat heute die Macht die einst die Lehren des Christentums besaszligen Redner und Schriftsteller sprechen daruumlber mit einer Achtung und mit Schmeicheleien die Ludwig XIV nicht kennengelernt hat Man muszlig ihm dieselbe Beachtung schenken wie allen religioumlsen Dogmen Die Zeit allein wirkt auf sieEs waumlre uumlbrigens um so zweckloser diese Lehre erschuumlttern zu wollen als sie offensichtliche Gruumlnde fuumlr sich hat bdquoIn Zeiten der Gleichheitldquo sagt Tocqueville treffend bdquotraut einer dem andern nicht weil alle einander aumlhnlich sind aber gerade diese Aumlhnlichkeit gibt ihnen ein fast unbe- grenztes Vertrauen in das Urteil der Allgemeinheit Denn es erscheint nicht wahrscheinlich daszlig da alle die gleiche Einsicht haben die Wahrheit nicht auf der Seite der groumlszlig- ten Zahl zu finden sein sollldquoDarf man nun annehmen die Abstimmungen der Massen wuumlrden durch die Beschraumlnkung des Stimmrechts auf die Faumlhigen ndash wenn man will ndash eine Besserung erfahren Ich kann es keinen Augenblick annehmen und zwar aus Gruumln- den die ich oben bereits angefuumlhrt habe und die in der geistigen Bedeutungslosigkeit aller Gesamtheiten liegen wie sie auch immer zusammengesetzt sein moumlgen Ich wieder- hole in der Masse gleichen sich die Menschen stets ein- ander an und die Abstimmung von vierzig Akademikern uumlber allgemeine Fragen gilt nicht mehr als die von vierzig Wassertraumlgern Ich bin ganz und gar uumlberzeugt daszlig keine der Abstimmungen die dem allgemeinen Stimmrecht so oft vorgehalten werden wie etwa die Erneuerung des Kaiser-

DIE WAumlHLERMASSEN 135

tums anders ausgefallen waumlre wenn man die Abstimmen- den ausschlieszliglich aus dem Kreise der Gelehrten und Ge- bildeten genommen haumltte Man erwirbt durch die Kenntnis des Griechischen oder der Mathematik dadurch daszlig man Architekt Tierarzt Arzt oder Advokat ist keine beson- dere Einsicht in Fragen des Gefuumlhls Alle unsere National- oumlkonomen sind gelehrte Leute in der Mehrzahl Profes- soren und Akademiker Gibt es nun eine einzige allgemeine Frage wie z B das Schutzzollsystem in der sie uumlberein- stimmten Vor den sozialen Fragen die voll sind von vielfachen Unbekannten und der Geheim- und Gefuumlhls- logik unterliegen gleichen sich alle Unwissenheiten ausWenn also auch nur von Gelehrsamkeit strotzende Waumlhler den Wahlkoumlrper bildeten so wuumlrden ihre Abstimmungen doch nicht besser sein als die von heute Sie wuumlrden sich vor allem durch ihre Gefuumlhle und ihren Parteigeist leiten lassen Wir haumltten nicht eine Schwierigkeit weniger als jetzt und obendrein die harte Tyrannei der KastenOb nun das Wahlrecht beschraumlnkt oder allgemein ist ob es in einem republikanischen oder in einem monarchischen Lande herrscht ob es in Frankreich Belgien Griechenland Portugal oder Spanien gilt uumlberall ist das Wahlrecht der Massen aumlhnlich und gibt oft die unbewuszligten Anspruumlche und Beduumlrfnisse der Rasse wieder Der Durchschnitt der Gewaumlhlten stellt fuumlr jedes Volk die Durchschnittsseele seiner Rasse dar die von einer Generation zu andern so ziemlich die gleiche bleibtUnd so kommen wir wiederum auf diesen Grundbegriff der Rasse zuruumlck dem wir schon so oft begegnet sind und auf den anderen daraus abzuleitenden Gedanken daszlig im Voumllkerleben die Einrichtungen und Regierungsformen nur eine sehr unwesentliche Rolle spielen Die Voumllker werden vor allem durch die Rassenseele geleitet d h durch die Ansammlung von Erbmasse deren Summe diese Seele bildet Die Rasse und das Getriebe der taumlglichen Beduumlrf- nisse das sind die geheimnisvollen Maumlchte die unsere Ge- schicke lenken

136 DIE VERSCHIEDENEN ARTEN VON MASSEN

5 KAPITEL

Die Parlamentsversammlungen

Die Parlamentsversammlungen gehoumlren zu den ungleich- artigen nicht namenlosen Massen Obwohl ihre Zusam- mensetzung je nach Zeiten und Voumllkern wechselt gleichen sie einander durch ihre Charaktermerkmale doch sehr Der Rasseneinfluszlig macht sich hier wohl in einer Milderung oder Verstaumlrkung bemerkbar verhindert das Heraustreten dieser Charakterzuumlge jedoch nicht Die Parlamentsver- sammlungen der verschiedenen Laumlnder wie Griechenland Italien Portugal Spanien Frankreich und Amerika wei- sen groszlige Aumlhnlichkeit in ihren Verhandlungen und Ab- stimmungen auf und uumlberlassen die Regierungen dem Kampf mit den gleichen SchwierigkeitenDie parlamentarische Regierung faszligt uumlbrigens das Ideal aller modernen Kulturvoumllker in sich zusammen Es bringt den psychologisch falschen aber allgemein anerkannten Gedanken zum Ausdruck daszlig eine Vereinigung von vie- len Menschen im gegebenen Falle faumlhiger ist eine kluge und unabhaumlngige Entscheidung zu treffen als eine kleine AnzahlIn den Parlamentsversammlungen finden sich die Grund- merkmale der Massen wieder Einseitigkeit der Ideen Erregbarkeit Beeinf luszligbarkeit Uumlberschwenglichkeit der Gefuumlhle uumlberwiegender Einfluszlig der Fuumlhrer Aber infolge ihrer besonderen Zusammensetzung weisen die parlamen- tarischen Massen einige Unterschiede auf Wir werden sie sogleich feststellenDie Einseitigkeit der Anschauungen gehoumlrt zu den aus- gepraumlgtesten Merkmalen dieser Versammlungen Man trifft bei allen Parteien namentlich der lateinischen Voumllker die unveraumlnderliche Neigung die verwickeltsten sozialen Fra- gen durch die einfachsten begrifflichen Grundsaumltze und durch allgemeine Gesetze zu loumlsen die in jedem Falle an- gewandt werden koumlnnen

Natuumlrlich sind die Grundsaumltze bei jeder Partei verschie-den aber allein durch die Tatsache ihrer Vereinigung zu Massen haben die einzelnen stets die Neigung den Wert dieser Grundsaumltze zu uumlberschaumltzen und sie zu den aumluszliger- sten Folgerungen zu treiben Uumlbrigens vertreten die Parla- mente hauptsaumlchlich die aumluszligersten AnsichtenDer vollkommenste Typus der Einseitigkeit der Versamm- lungen wurde durch die Jakobiner der groszligen Franzoumlsi- schen Revolution verwirklicht Da sie alle Dogmatiker und Logiker waren die den Kopf voll verschwommener Ge- meinplaumltze hatten bemuumlhten sie sich unbekuumlmmert um die Tatsachen feste Grundsaumltze anzuwenden und man hat mit Recht behauptet sie haumltten die Revolution erlebt ohne sie zu sehen Sie bildeten sich ein mit einigen Glau- benssaumltzen eine Gesellschaft von Grund auf umgestalten und eine verfeinerte Kultur auf eine laumlngst uumlberschrittene Stufe der gesellschaftlichen Entwicklung zuruumlckbringen zu koumlnnen Die gleiche voumlllige Einseitigkeit praumlgt sich auch in den Mitteln aus die sie zur Verwirklichung ihres Trau- mes anwandten In Wirklichkeit beschraumlnkten sie sich auf die gewaltsame Zerstoumlrung dessen was sie stoumlrte Uumlbrigens beseelte alle Girondisten Bergpartei Thermidorianer usw derselbe GeistDie parlamentarischen Massen sind Einfluumlssen sehr zugaumlng- lich und die Suggestion geht hier wie bei den uumlbrigen Massen von Fuumlhrern aus die ein Nimbus umgibt Doch hat in den Parlamentsversammlungen die Beeinflussung sehr klare Grenzen die wir abstecken muumlssenUumlber alle Fragen lokalen Interesses hat jedes Mitglied einer Versammlung feste unverruumlckbare Ansichten die durch kein Beweismittel zu erschuumlttern sind Nicht einmal das Talent eines Demosthenes koumlnnte die Abstimmung eines Abgeordneten uumlber Fragen des Schutzzollsystems oder das Branntweinprivileg aumlndern ndash worin sich die Forde- rungen einfluszligreicher Waumlhler aumluszligern Die vorangegangene Beeinflussung durch die Waumlhler hat solches Uumlbergewicht

138 DIE VERSCHIEDENEN ARTEN VON MASSEN

daszlig alle andern Einfluumlsse aufgehoben sind und eine unbe- dingte Festigkeit der Meinung aufrechterhalten wird In allgemeinen Fragen aber dem Sturz eines Ministeriums der Auflage einer neuen Steuer usw bestehen keine fest- gelegten Meinungen und die Suggestionen koumlnnen sich auswirken wenn auch nicht ganz so stark wie in einer gewoumlhnlichen Masse Jede Partei hat ihre Fuumlhrer die bis- weilen gleichstarken Einf luszlig ausuumlben Der Abgeordnete befindet sich also zwischen entgegengesetzten Einfluumlssen und es kann nicht ausbleiben daszlig er unsicher wird Daher sieht man ihn zuweilen schon nach einer Viertelstunde in entgegengesetztem Sinne abstimmen und einem Gesetz einen Zusatz beifuumlgen der es aufhebt etwa den Industriellen das Recht der Auswahl und der Entlassung ihrer Arbeiter neh- men und dann diese Maszlignahmen durch einen Zusatz so ziemlich wieder fuumlr unguumlltig erklaumlrenDaher zeigt eine Kammer in jeder Legislaturperiode neben sehr festen Anschauungen andere ganz unbestimmte Da aber im Grunde die allgemeinen Fragen die meisten sind so herrscht Unentschiedenheit vor die durch die staumlndige Furcht vor dem Waumlhler genaumlhrt wird dessen verborgener Einfluszlig dem der Fuumlhrer stets das Gegengewicht zu halten weiszligUnd doch sind in den Auseinandersetzungen wenn die Teilnehmer nicht von vornherein festgelegte Meinungen haben die Fuumlhrer die eigentlichen HerrenFuumlhrer sind offenbar notwendig denn man findet sie als Parteihaumlupter in allen Laumlndern Sie sind die wahren Herren der Versammlungen Die Menschen die in den Massen vereinigt sind wuumlrden ohne Fuumlhrer nicht fertig werden und so zeigen die Abstimmungen im allgemeinen nur die Anschauungen einer kleinen MinderheitIch wiederhole die Fuumlhrer wirken nur sehr wenig durch Auf diese schon im voraus durch die Beduumlrfnisse der Waumlhler festgelegten Ansichten bezieht sich offenbar folgende Bemerkung eines alten englischen Parlamentariers bdquoIn den fuumlnfzig Jahren meiner Anwesenheit in Westminster habe ich Tausende von Reden gehoumlrt und nur wenige haben meine Ansichten veraumlndert aber nicht eine einzige hat auf meine Abstimmung Einfluszlig gehabtldquo

DIE PARLAMENTSVERSAMMLUNGEN 139

ihre Beweisgruumlnde sehr stark aber durch ihren Nimbus Wenn irgendein Umstand ihn aufhebt verlieren sie jeden EinfluszligDieser Fuumlhrernimbus ist persoumlnlich und hat nichts mit Namen und Beruumlhmtheit zu tun Jules Simon gibt uns recht eigenartige Beispiele dafuumlr wenn er uumlber die groszligen Maumlnner der Versammlung von 848 der er beiwohnte sagt

bdquoNoch zwei Monate vor seiner Allgewalt war Louis Na- poleon nichtsVictor Hugo bestieg die Rednertribuumlne Aber er hatte keinen Erfolg Man houmlrte ihn an wie man Felix Pyat anhoumlrte aber er hatte nicht den gleichen Beifall Ich liebe seine Ideen nichtlsquo sagte mir Vaulabelle uumlber Felix Pyat aber er ist einer der groumlszligten Schriftsteller und der groumlszligte Redner Frankreichslsquo Der seltene und maumlchtige Geist eines Edgar Quinet galt nichts Er hatte seinen volkstuumlmlichen Augenblick vor Eroumlffnung der Versammlung gehabt in der Versammlung kam er nicht aufDie politischen Versammlungen sind die Staumltten der Welt wo der Glanz des Genies am wenigsten zur Geltung kommt Man rechnet hier nur mit einer Beredsamkeit die der Zeit und dem Ort angepaszligt ist und mit Diensten die man den Parteien erwiesen hat nicht dem Vaterland Damit Lamartine 848 und Thiers 87 zur Anerkennung gelangten bedurfte es der dringenden unabweisbaren Wichtigkeit als treibender Kraft Als die Gefahr voruumlber war verschwand mit der Furcht auch die DankbarkeitldquoIch habe die Stelle nur der Tatsachen wegen wiedergege- ben die sie enthaumllt nicht wegen der versuchten Erklaumlrun- gen sie zeigen nur eine mittelmaumlszligige Psychologie Eine Masse wuumlrde ihren Charakter als Masse ja sogleich ver- lieren wenn sie den Fuumlhrern ihre Dienste moumlgen sie nun dem Vaterland oder der Partei geleistet worden sein in Anrechnung braumlchte Die Masse unterliegt dem Nimbus des Fuumlhrers ohne daszlig ein Gefuumlhl des Vorteils oder der Dankbarkeit dabei mitspielt

140 DIE VERSCHIEDENEN ARTEN VON MASSEN

Der Fuumlhrer der uumlber genuumlgend Nimbus verfuumlgt besitzt denn auch eine fast unumschraumlnkte Macht Man kennt die ungeheure Wirkung die ein beruumlhmter Abgeordneter dank seines Nimbus den er dann infolge gewisser finanzieller Vorkommnisse augenblicklich einbuumlszligte jahrelang ausgeuumlbt hat Auf ein bloszliges Zeichen von ihm wurden Minister ge- stuumlrzt Ein Schriftsteller hat in folgenden Zeilen die Trag- weite seines Wirkens klar gezeichnet

bdquoHerrn Chellip besonders verdanken wir es daszlig wir Ton- king dreimal so teuer erkaufen muszligten als es haumltte sein duumlrfen daszlig wir auf Madagaskar nur eine unsichere Stel- lung gewonnen haben daszlig wir uns ein ganzes Reich am unteren Niger rauben lieszligen daszlig wir in Aumlgypten unsere Vorherrschaft eingebuumlszligt haben ndash Die Theorien von Herrn Chellip haben uns mehr Gebiet gekostet als die Nie- derlagen Napoleons IldquoWir duumlrfen dem Fuumlhrer deswegen nicht zu sehr zuumlrnen Gewiszlig ist es uns teuer zu stehen gekommen aber ein gro- szliger Teil seines Einflusses hing mit seiner Anschmiegung an die oumlffentliche Meinung zusammen die in kolonialen Fra- gen keineswegs die von heute war Selten schreitet ein Fuumlhrer der oumlffentlichen Meinung voran fast immer be- gnuumlgt er sich damit ihre Irrtuumlmer anzunehmenDie Uuml b e r r e du n g s m i t t e l der Fuumlhrer sind abgesehen von ihrem Nimbus die Faktoren die wir schon wieder- holt aufgezaumlhlt haben Um sie geschickt zu handhaben muszlig der Fuumlhrer wenigstens unbewuszligt die Psychologie der Massen erfaszligt haben und wissen wie man zu ihnen zu sprechen hat Vor allem muszlig er den bezaubernden Ein- fluszlig der Worte Redewendungen und Bilder kennen Er muszlig eine besondere Beredsamkeit besitzen die aus ener- gischen Behauptungen die nicht zu beweisen sind und eindrucksvollen von ganz allgemeinen Urteilen umrahm- ten Bildern zusammengesetzt ist Diese Art Beredsamkeit findet man in allen Versammlungen das englische Parla- ment das ausgeglichenste von allen inbegriffen

bdquoWir koumlnnen bestaumlndig die Verhandlungen im Unterhause

DIE PARLAMENTSVERSAMMLUNGEN 141

verfolgenldquo bemerkt der englische Philosoph Maine bdquowo alle Verhandlungen im Austausch recht schwacher Gemein- plaumltze und grober Anzuumlglichkeiten bestehn Auf die Ein- bildungskraft einer reinen Demokratie uumlbt diese Art allge- meiner Redensarten eine erstaunliche Wirkung aus Es wird immer leicht zu erreichen sein daszlig eine Masse allge- meinen Versicherungen zustimmt die mit packenden Wor- ten vorgebracht werden obwohl sie sich nie bewahrheitet haben und ihre Verwirklichung vielleicht gar nicht moumlg- lich istldquoWie die angefuumlhrte Stelle zeigt kann die Bedeutung der bdquoSchlagworteldquo gar nicht uumlberschaumltzt werden Schon oumlfter haben wir die besondere Macht der Worte und Redewen- dungen betont die so gewaumlhlt wurden daszlig sie nur recht lebhafte Bilder hervorrufen Folgender Satz aus der Rede eines Fuumlhrers in Versammlungen gibt uns eine ausreichende Probe davon

bdquoAn dem Tage da einmal dasselbe Schiff den unlauteren Politiker und den moumlrderischen Anarchisten nach den Fiebergebieten der Verbannung bringt werden sie sich mit- einander unterhalten koumlnnen und werden sich gegenseitig als die beiden komplementaumlren Seiten derselben Gesell- schaftsordnung erscheinenldquoDas so hervorgerufene Bild ist klar und treffend und alle Gegner des Redners fuumlhlen sich dadurch getroffen Sie sehen mit einemmal die Fiebergebiete das Fahrzeug das sie hinfuumlhren koumlnnte denn gehoumlren sie nicht vielleicht zu der recht unbestimmt abgegrenzten Klasse der bedrohten Politiker Es befaumlllt sie also die gleiche dumpfe Furcht wie sie die Konventsmitglieder empfunden haben muumlssen die durch die unbestimmten Reden Robespierres mehr oder weniger mit der Guillotine bedroht wurden und ihm unter dem Druck dieser Furcht stets nachgabenDie Fuumlhrer neigen alle dazu in die unwahrscheinlichsten Uumlbertreibungen zu verfallen Der Redner von dem ich soeben einen Satz anfuumlhrte konnte ohne groszligen Protest hervorzurufen behaupten daszlig die Bankiers und Priester

142 DIE VERSCHIEDENEN ARTEN VON MASSEN

Bombenwerfer bezahlten und die Verwaltungsraumlte der groszligen Finanzgesellschaften die gleiche Strafe verdienten wie die Anarchisten Auf die Massen wirken solche Mittel immer Die Behauptung ist nie zu stark der Ton nie zu drohend Nichts schuumlchtert die Zuhoumlrer mehr ein Durch Widerspruch fuumlrchten sie fuumlr Verraumlter oder Mitschuldige zu geltenDiese besondere Beredsamkeit hat wie gesagt stets alle Versammlungen beherrscht in kritischen Zeiten ist sie nur ausgepraumlgter In dieser Hinsicht ist es interessant die Re- den der groszligen Revolutionsredner zu lesen Sie fuumlhlten sich verpflichtet sich alle Augenblicke zu unterbrechen um das Verbrechen zu verdammen und die Tugend zu preisen dann brachen sie in Verwuumlnschungen gegen die Tyrannen aus und schwuren frei leben oder sterben zu wollen Die Anwesenden erhoben sich klatschten stuumlrmisch Beifall und lieszligen sich dann beruhigt wieder niederZuweilen gibt es einen intelligenten und gebildeten Fuumlh- rer doch das schadet ihm in der Regel mehr als es ihm nuumltzt Die Intelligenz die die Verbundenheit aller Dinge erkennt die Verstehen und Erklaumlren ermoumlglicht macht nachgiebig und vermindert die Kraft und Gewalt der Uumlberzeugungen erheblich die die Apostel noumltig haben Die groszligen Fuumlhrer aller Zeiten die der Revolution hauptsaumlch- lich waren sehr beschraumlnkt und haben deshalb den groumlszlig- ten Einfluszlig ausgeuumlbtDie Reden des beruumlhmtesten unter ihnen Robespierre ver- bluumlffen oft durch ihre Zusammenhanglosigkeit Wenn man sie liest findet man keine annehmbare Erklaumlrung fuumlr die ungeheure Rolle des maumlchtigen Diktators

bdquoGemeinplaumltze und Weitschweifigkeiten paumldagogischer Be- redsamkeit und lateinischer Bildung im Dienste einer eher kindlichen als platten Seele die sich beim Angriff wie bei der Verteidigung auf das komm doch ranlsquo von Schuumllern zu beschraumlnken scheint Nicht ein Gedanke keine Wen- dung kein Einfall ndash es ist die Langeweile in houmlchster Stei- gerung Man houmlrt verdrieszliglich auf zu lesen und hat Lust

DIE PARLAMENTSVERSAMMLUNGEN 143

mit dem liebenswuumlrdigen Camille Desmoulins achlsquo zu seufzenldquoMan erschrickt wenn man bedenkt welche Macht ein Mann der sich mit einem Nimbus zu umgeben weiszlig durch die Verbindung von starker Uumlberzeugung mit auszligerge- woumlhnlicher Beschraumlnktheit des Geistes erlangt Das sind jedoch die notwendigen Vorbedingungen um die Hinder- nisse zu uumlbersehen und um wollen zu koumlnnen Instinktiv erkennen die Massen in diesen kraftvoll Uumlberzeugten die Gebieter die sie brauchenDer Erfolg einer Rede in einer Parlamentsversammlung haumlngt fast ausschlieszliglich vom Nimbus des Redners ab keineswegs von den Gruumlnden die er vorbringtDer unbekannte Redner dessen Rede gute Beweisgruumlnde aber nur Beweisgruumlnde enthaumllt hat keine Aussicht auch nur angehoumlrt zu werden Ein ehemaliger Abgeordneter Herr Descubes hat das Bild des einfluszliglosen Abgeordneten in folgenden Zeilen entworfen

bdquoSobald er die Rednerbuumlhne bestiegen hat nimmt er aus seiner Mappe einen Aktenstoszlig den er planmaumlszligig vor sich ausbreitet und beginnt voll ZuversichtEr schmeichelt sich die Uumlberzeugung die ihn beseelt auf die Gemuumlter der Houmlrer uumlbertragen zu koumlnnen Er hat seine Beweisgruumlnde erwogen steckt uumlbervoll von Zahlen und Beweisen und ist uumlberzeugt recht zu haben Jeder Widerstand wird vor der Klarheit seiner Darlegungen schwinden Er beginnt im Vertrauen auf sein gutes Recht und die Aufmerksamkeit seiner Kollegen die gewiszlig nichts mehr wuumlnschen als sich vor der Wahrheit beugen zu duumlrfenEr spricht ndash und sofort wundert er sich uumlber die Bewe- gung im Saale und den Laumlrm der so entsteht er ist uumlber- rascht und etwas aufgeregtWarum wird es nicht ruhig Weshalb diese allgemeine Un- aufmerksamkeit Was denken denn die die sich miteinan- der unterhalten Welch dringender Grund veranlaszligt einen andern seinen Platz zu verlassen

144 DIE VERSCHIEDENEN ARTEN VON MASSEN

Auf seinem Gesicht zeigt sich Unruhe er runzelt die Stirn haumllt inne Durch den Vorsitzenden ermutigt faumlhrt er mit erhobener Stimme fort Dieselbe Unaufmerksamkeit Er uumlberanstrengt seine Stimme wird unruhig der Laumlrm um ihn herum steigert sich Er houmlrt sich selbst nicht mehr haumllt wieder inne dann spricht er so gut es geht weiter aus Furcht sein Stillschweigen koumlnne den peinlichen Ruf Schluszliglsquo heraufbeschwoumlren Der Laumlrm wird unertraumlglichldquo

In einem gewissen Grade der Erregung gleichen die Parla- mentsversammlungen voumlllig den gewoumlhnlichen ungleich- artigen Massen und ihre Gefuumlhle weisen folglich die Eigentuumlmlichkeit auf stets uumlberschwenglicher Art zu sein Sie lassen sich dann zu den groumlszligten Heldentaten oder zu den aumlrgsten Ausschreitungen hinreiszligen Der einzelne houmlrt auf er selbst zu sein und wird fuumlr Maszlignahmen stimmen die seinen persoumlnlichen Vorteilen ganz entgegengesetzt sindDie Geschichte der Revolution zeigt in welchem Maszlige die Versammlungen unbewuszligt werden und Beeinflussungen unterworfen sein koumlnnen die ihren Vorteilen ganz wider- sprechen Es war fuumlr den Adel ein ungeheures Opfer auf seine Vorrechte zu verzichten und doch geschah es in jener beruumlhmten Nacht der Konstituante Der Verzicht auf ihre Unverletzlichkeit bedeutete fuumlr die Konventsmitglieder eine staumlndige Todesdrohung und doch leisteten sie ihn und fuumlrchteten nicht einander gegenseitig zu dezimieren ob- wohl sie genau wuszligten daszlig das Schafott dem heute ihre Kollegen zugefuumlhrt wurden morgen ihnen selbst bevor- stand Aber da sie jenen Grad von Automatismus erreicht hatten den ich geschildert habe konnte kein Bedenken sie hindern sich den Einfluumlssen hinzugeben die sie be- zwangen Folgende Stelle aus den Erinnerungen Billaud- Varennes der zu ihnen gehoumlrt ist in dieser Hinsicht durch- aus allgemeinguumlltig bdquoDie Entscheidungen die man uns so sehr vorwirft wollten wir noch zwei ja einen Tag vorher meistens selbst nicht die Krise allein rief sie hervorldquo Nichts ist zutreffender

DIE PARLAMENTSVERSAMMLUNGEN 145

Dieselben Erscheinungen des Unbewuszligten traten waumlhrend aller stuumlrmischen Sitzungen des Konvents auf

bdquoSie billigen und beschlieszligen was sie verabscheuenldquo sagt Taine bdquonicht allein Dummheiten und Torheiten auch Ver- brechen Ermordung Unschuldiger Freundesmord Ein- muumltig und unter dem lebhaftesten Beifall schicken die Linke und die Rechte vereint Danton ihr natuumlrliches Oberhaupt den groumlszligten Foumlrderer und Fuumlhrer der Revo- lution aufs Schafott Einmuumltig und unter groumlszligtem Beifall stimmt die Rechte mit der Linken vereint fuumlr die aumlrgsten Beschluumlsse der revolutionaumlren Regierung Einmuumltig und unter Rufen der Bewunderung und Begeisterung unter leidenschaftlichen Zustimmungskundgebungen fuumlr Collot drsquoHerbois Couthon Robespierre haumllt der Konvent durch unvorbereitete vielfache Wiederwahl die moumlrderische Re- gierung aufrecht obwohl die Zentrumspartei sie wegen ihrer Mordtaten haszligt und die Bergpartei sie verabscheut weil ihre Reihen durch sie gelichtet werden Zentrum und Berg Mehr- und Minderheit enden damit ihren eignen Selbstmord zu foumlrdern Am 22 Prairial hat sich der ganze Konvent ergeben am 8 Thermidor waumlhrend der ersten Viertelstunde nach der Rede Robespierres abermalsldquoDas Bild mag duumlster erscheinen dennoch ist es wahrheits- getreu Die genuumlgend erregten und beeinf luszligten Parla- mentsversammlungen weisen dieselben Kennzeichen auf Sie werden zur beweglichen Herde die jedem Antrieb ge- horcht Folgende Schilderung der Versammlung von 848 die wir dem Parlamentarier Spuller verdanken dessen demokratische Gesinnung nicht angezweifelt werden kann ist ganz allgemeinguumlltig ich entnehme sie der bdquoRevue liteacuteraireldquo Man findet darin all die uumlberschwenglichen Ge- fuumlhle der Massen die ich beschrieben habe und die auszliger- ordentliche Beweglichkeit die imstande ist von einem Augenblick zum andern die Stufenleiter verschiedenster Gefuumlhle zu durchlaufen

bdquoZwietracht Eifersucht und Argwohn im Wechsel mit blindem Vertrauen und schrankenlosen Hoffnungen haben

146 DIE VERSCHIEDENEN ARTEN VON MASSEN

die Republikanische Partei ins Verderben gefuumlhrt Ihre Ahnungslosigkeit kann nur mit ihrem Miszligtrauen gegen alles verglichen werden Kein Sinn fuumlr Gesetzlichkeit kein Geist der Ordnung nur Furcht und Illusionen ohne Maszlig Bauer und Kind sind darin gleich Ihre Ruhe wetteifert mit ihrer Ungeduld Ihre Wildheit ist ebenso groszlig wie ihre Folgsamkeit Das ist die Eigentuumlmlichkeit eines un- reifen Temperaments und des Mangels an Erziehung Nichts setzt sie in Erstaunen alles verwirrt sie Zitternd feige und zugleich unverzagt und heldenhaft werden sie sich in die Flammen werfen und doch vor einem Schatten zuruumlckweichenWirkungen und Beziehungen der Dinge sind ihnen unbe- kannt Ebenso schnell entmutigt wie erregt sind sie allen Schrecken ausgesetzt entweder himmelhoch jauchzend oder zu Tode betruumlbt und haben nie den noumltigen Grad und das passende Maszlig Beweglicher als das Wasser spiegeln sie alle Farben wider und nehmen alle Formen an Auf wel- cher Grundlage muumlszligte sich eine Regierung aufbauen von der man hoffen koumlnnte daszlig sie bei ihnen festen Fuszlig fas- sen wuumlrdeldquoZum Gluumlck aumluszligern sich die Eigenschaften die wir schilder- ten nicht staumlndig in den Parlamentsversammlungen Diese sind nur in gewissen Augenblicken Massen In vielen Faumlllen bewahren die einzelnen die ihnen angehoumlren ihre Eigen- art und daher kann auch eine Versammlung vorzuumlgliche sachgemaumlszlige Gesetze ausarbeiten Allerdings sind diese Ge- setze von einem Fachmann im stillen Arbeitszimmer ent- worfen und das angenommene Gesetz ist in Wahrheit das Werk eines einzelnen Nur die Fachleute bewahren die Versammlungen vor allzu sinnlosen unerprobten Maszlig- nahmen Sie werden dann voruumlbergehend Fuumlhrer die Ver- sammlung wirkt nicht auf sie sondern sie wirken auf die VersammlungTrotz aller Schwierigkeiten ihrer Arbeitsweise bilden die Parlamentsversammlungen die beste Regierungsform die die Voumllker bisher gefunden haben um sich vor allem moumlg-

DIE PARLAMENTSVERSAMMLUNGEN 147

lichst aus dem Joch persoumlnlicher Tyrannei zu befreien Sie sind jedenfalls das Ideal einer Regierung wenigstens fuumlr Philosophen Denker Schriftsteller Kuumlnstler und Gelehrte kurz fuumlr alle die den Gipfel einer Kultur bildenSie bergen eigentlich nur zwei ernstliche Gefahren in sich die uumlbermaumlszligige Verschwendung der Finanzen und die zu- nehmende Beschraumlnkung der persoumlnlichen Freiheit Die erste Gefahr ist die notwendige Folge der Anspruumlche und der Kurzsichtigkeit der Waumlhlermassen Wenn ein Parla- mentsmitglied einen Antrag stellt der offensichtlich demo- kratischen Anschauungen entspricht z B auf Altersver- sorgung aller Arbeiter oder Gehaltszulage fuumlr Bahnwaumlrter Lehrer usw so wagen die andern Abgeordneten aus Furcht vor den Waumlhlern nicht sich den Anschein zu geben als ob sie deren Vorteile durch Ablehnung der vorgeschlagenen Maszlignahme geringschaumltzten Sie wissen wohl daszlig dadurch der Staatshaushalt stark belastet und die Auflegung neuer Steuern noumltig werden wird Doch bei der Abstimmung gibt es kein Zoumlgern Waumlhrend die Folgen der Ausgaben- vermehrung in weiter Ferne liegen und fuumlr sie keine unan- genehmen Wirkungen haben koumlnnten sich die Folgen einer ablehnenden Abstimmung schon am naumlchsten Tage wenn sie vor die Waumlhler treten muumlssen bemerkbar machenAn diese erste Ursache fuumlr die Uumlberspannung der Aus- gaben reiht sich eine andre nicht weniger gebieterische die Verpflichtung alle Ausgaben fuumlr rein oumlrtliche Beduumlrf- nisse zu bewilligen Kein Abgeordneter kann sich ihnen widersetzen weil sie ebenfalls Forderungen der Waumlhler darstellen und weil jeder Abgeordnete nur dann das Nouml- tige fuumlr seinen Wahlkreis erlangen kann wenn er den ent- sprechenden Forderungen seiner Kollegen zustimmt Die Die Zeitschrift bdquoLrsquoEconomisteldquo gab in ihrer Nummer vom 6 April 895 einen seltsamen Uumlberblick uumlber die Jahresunkosten die die Interessen der Waumlhler verursachen besonders die Eisenbahnen Um Langayes (Stadt von 3 000 Einwohnern) die auf einem Berge liegt mit Puy zu verbinden be- willigte man eine Bahn die 5 Millionen kostete Um Beaumont (3 500 Ein- wohner) mit Castel-Sarrazin zu verbinden bewilligte man 7 Millionen Die Verbindung des Dorfes Oust (523 Einwohner) mit dem Dorfe Seix ( 200 Ein- wohner) kostete 7 Millionen Um Prades mit dem Marktflecken Olette (747

DIE VERSCHIEDENEN ARTEN VON MASSEN148

zweite der oben erwaumlhnten Gefahren die unvermeidliche Beschraumlnkung der Freiheit durch die Parlamente ist zwar weniger sichtbar aber doch Tatsache Sie ist eine Folge der zahllosen stets einschraumlnkenden Gesetze deren Auswir- kungen die kurzsichtigen Parlamente nicht bemerken und fuumlr die zu stimmen sie sich verpflichtet fuumlhlenDiese Gefahr muszlig wohl unvermeidlich sein denn selbst England wo sich gewiszlig die vollkommenste Art der parla- mentarischen Regierung zeigt und der Abgeordnete am unabhaumlngigsten vom Waumlhler ist vermochte ihr nicht zu entgehen Herbert Spencer hatte in einer fruumlheren Arbeit gezeigt daszlig die Zunahme der scheinbaren die Abnahme der wirklichen Freiheit zur Folge haben muumlsse In einer spaumlteren Schrift bdquoDer Einzelne gegen den Staatldquo nimmt er diese Behauptung wieder auf und sagt uumlber das eng- lische Parlament folgendes

bdquoSeit dieser Zeit hat die Gesetzgebung den Lauf genom- men den ich voraussagte Diktatorische Maszlignahmen die sich rasch vervielfachten haben das staumlndige Bestreben die persoumlnliche Freiheit zu beschraumlnken und zwar in zwei- facher Weise jedes Jahr wird eine immer groumlszligere Anzahl gesetzlicher Forderungen erlassen die der fruumlheren Hand- lungsfreiheit des Buumlrgers Beschraumlnkung auferlegen und ihn zu Handlungen zwingen die er fruumlher nach Belieben be-

Einwohner) zu verbinden gab man 6 Millionen usw Allein das Jahr 895 verbrauchte 90 Millionen fuumlr Eisenbahnschienen fuumlr die nicht das geringste allgemeine Interesse vorhanden ist Andere Ausgaben die ebenfalls Waumlhler- beduumlrfnissen entspringen sind nicht weniger schwerwiegend Das Gesetz uumlber die Altersversorgung der Arbeiter wird nach Aussage des Finanzministers im Jahre die Mindestsumme von 65 Millionen nach Leroy-Beaulieu von der Akademie 800 Millionen kosten Das ununterbrochene Anwachsen solcher Aus- gaben muszlig notwendigerweise zum Bankrott fuumlhren Viele Staaten Europas Portugal Griechenland Spanien die Tuumlrkei sind dabei angelangt andere werden bald soweit sein Aber man braucht sich nicht viel darum zu kuumlm- mern da das Publikum ohne groszligen Widerspruch nach und nach die Kuumlrzung von vier Fuumlnfteln aller Zinszahlungen der verschiedenen Laumlnder angenommen hat Derartige sinnreiche Bankrotte machen es also moumlglich die gefaumlhrdeten Haushaltplaumlne wieder ins Gleichgewicht zu bringen Die Kriege der Sozialis- mus die wirtschaftlichen Kaumlmpfe werden uns uumlbrigens noch genug andre Katastrophen bringen und in einer Zeit allgemeinen Zerfalls muszlig man sich damit begnuumlgen in den Tag hineinzuleben ohne allzusehr an das Morgen zu denken das sich unsrer Macht entzieht

DIE PARLAMENTSVERSAMMLUNGEN 149

gehen oder unterlassen konnte Gleichzeitig haben immer druumlckendere Lasten besonders oumlrtliche Abgaben von vorn- herein die Freiheit beschraumlnkt indem sie den Teil seines Einkommens den er nach Belieben ausgeben konnte ver- minderten und den Teil vergroumlszligerten der ihm weggenom- men wurde um je nach dem guten Willen der Beamten ausgegeben zu werdenldquoDiese immer mehr zunehmende Freiheitsbeschraumlnkung zeigt sich in allen Laumlndern in einer besonderen Weise auf die Spencer nicht hingewiesen hat Die Schaffung jener un- zaumlhligen gesetzlichen Maszlignahmen allgemeinbeschraumlnkender Art fuumlhrt notwendig zur Erhoumlhung der Zahl der Macht und des Einflusses der Beamten die mit ihrer Durchfuumlh- rung beauftragt werden Sie haben also alle Aussicht die wahren Gebieter der Kulturlaumlnder zu werden Ihre Macht ist um so groumlszliger als nur die Beamtenkaste als einzige die unverantwortlich unpersoumlnlich und auf Lebenszeit ange- stellt ist dem unaufhoumlrlichen Machtwechsel entgeht Nun gibt es aber keine Gewaltherrschaft die haumlrter ist als diese die in dieser dreifachen Gestalt auftrittDie fortwaumlhrende Schaffung von Gesetzen und Beschraumln- kungsmaszlignahmen die die unbedeutendsten Lebensaumluszlige- rungen mit byzantinischen Foumlrmlichkeiten umgeben hat das verhaumlngnisvolle Ergebnis den Bereich in dem sich der Buumlrger frei bewegen kann immer mehr einzuengen Als Opfer des Irrtums daszlig durch Vermehrung der Gesetze Freiheit und Gleichheit besser gesichert wuumlrden nehmen die Voumllker nur druumlckendere Fesseln auf sichSie nehmen sie nicht ungestraft auf sich Gewohnt jedes Joch zu tragen kommen sie schlieszliglich dahin es aufzu- suchen und buumlszligen zuletzt alle Urspruumlnglichkeit und Kraft ein Sie sind nur noch wesenlose Schatten Automaten willenlos ohne Widerstand und KraftWenn der Mensch in sich selbst die Spannkraft nicht mehr findet muszlig er sie anderswo suchen Mit der zunehmenden Gleichguumlltigkeit und Ohnmacht der Buumlrger muszlig die Be- deutung der Regierungen nur noch mehr wachsen Sie

GESCHICHTSPHILOSOPHISCHES ERGEBNIS150

muumlssen notgedrungen den Geist der Initiative der Unter- nehmung und Fuumlhrung besitzen den der Buumlrger verloren hat Sie haben alles zu unternehmen zu leiten zu schuumlt- zen So wird der Staat zu einem allmaumlchtigen Gott Die Erfahrung lehrt aber daszlig die Macht solcher Gottheiten weder von Dauer noch sehr stark warDie fortschreitende Einschraumlnkung aller Freiheiten bei ge- wissen Voumllkern trotz einer Ungebundenheit die ihnen Frei- heit vortaumluscht scheint eine Folge ihres Alters und ebenso- sehr der Regierung zu sein Sie ist ein Vorzeichen fuumlr die Entartung der bisher noch keine Kultur entgehen konnteWenn man aus den Lehren der Vergangenheit Schluumlsse zieht und nach den Anzeichen urteilt die uumlberall in Er- scheinung treten so sind mehrere unserer modernen Kul- turen auf dieser Stufe des houmlchsten Greisenalters das der Entartung vorangeht angelangt Bestimmte Entwicklungs- formen scheinen fuumlr alle Voumllker unabwendbar zu sein da sich dieser Verlauf in der Geschichte so oft wiederholt Es ist leicht die Stufen dieser Entwicklung ganz allgemein zu kennzeichnen und mit dieser Zusammenfassung soll unsre Arbeit abgeschlossen werden

Wenn wir in groszligen Zuumlgen die Entstehung der Groumlszlige und des Niedergangs der Kulturen der Vergangenheit be- trachten so sehen wir folgendesBeim Erwachen dieser Kulturen einen zusammengewehten Haufen von Menschen verschiedenster Abstammung zu- faumlllig vereinigt durch Wanderungen Uumlberfaumllle und Er- oberungen Von verschiedenem Blut verschiedener Sprache und ebenso verschiedenen Anschauungen haumllt diese Men- schen kein andres Band zusammen als das halb anerkannte Gesetz eines Haumluptlings In ihrem verworrenen Haufen finden sich die psychologischen Merkmale der Massen im houmlchsten Maszlige Sie zeigen den Zusammenhang fuumlr den Augenblick den Heldenmut die Schwaumlchen die Trieb- handlungen und die Gewalttaumltigkeiten Nichts ist bei ihnen von Dauer Sie sind Barbaren

GESCHICHTSPHILOSOPHISCHES ERGEBNIS 151

Dann vollendet die Zeit ihr Werk Gleichheit der Umgebung wiederholte Kreuzungen das Beduumlrfnis eines Gemeinschafts- lebens fangen langsam an zu wirken Die verschiedenen Bestandteile des Haufens beginnen zu verschmelzen und eine Rasse zu bilden d h ein Aggregat mit gemeinsamen Eigen- schaften und Gefuumlhlen die sich durch Vererbung immer mehr befestigen Die Masse ist ein Volk geworden und dies Volk kann sich aus der Barbarei erhebenEs wird sie aber erst dann voumlllig hinter sich haben wenn es sich nach langen Anstrengungen unaufhoumlrlich wieder- holten Kaumlmpfen und unzaumlhligen Ansaumltzen ein Ideal er- rungen hat Die Beschaffenheit dieses Ideals ist nicht wich- tig Ob es der Kultus Roms die Macht Athens oder der Triumph Allahs ist es wird imstande sein allen einzelnen der Rasse die sich bilden will vollkommene Einheit des Fuumlhlens und Denkens zu verleihenNun kann eine neue Kultur mit ihren Einrichtungen Glaubensformen und Kuumlnsten entstehen Von ihrem Wunschtraum fortgerissen wird die Rasse nach und nach alles gewinnen was Glanz Kraft Groumlszlige verleiht Zu- weilen wird sie zweifellos Masse sein aber hinter den be- weglichen und wechselnden Eigenschaften der Masse wird das feste Gefuumlge die Rassenseele stehen welche die Schwin- gungsweite eines Volkes genau bestimmt und den Zufall regeltNach Vollendung ihrer schoumlpferischen Wirkung aber be- ginnt die Zeit jenes Zerstoumlrungswerk dem weder Goumltter noch Menschen entgehen Ist die Kultur auf einer gewissen Houmlhe der Macht und Mannigfaltigkeit angelangt so houmlrt sie auf zu wachsen und sobald sie zu wachsen aufhoumlrt ist sie zu raschem Niedergang bestimmt Bald schlaumlgt die Stunde des AltersDiese unentrinnbare Stunde ist stets durch das Verblassen des Ideals gekennzeichnet das die Rassenseele erhob In dem Maszlige als dieses Ideal abstirbt beginnen alle von ihm geschaffenen religioumlsen politischen und gesellschaftlichen Gebilde zu wanken

152 DIE VERSCHIEDENEN ARTEN VON MASSEN

Mit dem fortschreitenden Schwinden ihres Ideals verliert die Rasse mehr und mehr alles was ihren Zusammenhalt ihre Einheit und Staumlrke bildete Der einzelne kann an Persoumlnlichkeit und Verstand wachsen gleichzeitig tritt aber an die Stelle des Gemeinschaftsegoismus der Rasse die uumlbermaumlszligige Entfaltung des Einzelegoismus die von einer Schwaumlchung des Charakters und einer Verringerung der Tatkraft begleitet wird Was ein Volk eine Einheit einen Block bildete wird zuletzt ein Haufen zusammen- hangloser einzelner die nur noch kuumlnstlich durch Uumlber- lieferungen und Einrichtungen zusammengehalten werden Dann geschieht es daszlig die Menschen die durch ihre Nei- gungen und Anspruumlche voneinander getrennt sind sich nicht mehr regieren koumlnnen und danach verlangen in den unbedeutendsten Handlungen gefuumlhrt zu werden und daszlig der Staat seinen verzehrenden Einfluszlig ausuumlbtMit dem endguumlltigen Verlust des fruumlheren Ideals verliert die Rasse zuletzt auch ihre Seele sie ist dann nur noch eine Menge alleinstehender einzelner und wird wieder was sie am Ausgangspunkt war eine Masse Sie zeigt all ihre fluumlchtigen unbestaumlndigen und zukunftslosen Eigen- schaften Die Kultur ist ohne jede Festigkeit und allen Zufaumlllen preisgegeben Der Poumlbel herrscht und die Bar- baren dringen vor Noch kann die Kultur glaumlnzend schei- nen weil sie das aumluszligere Ansehen bewahrt das von einer langen Vergangenheit geschaffen wurde tatsaumlchlich aber ist sie ein morscher Bau der keine Stuumltze mehr hat und beim ersten Sturm zusammenbrechen wirdAus der Barbarei von einem Wunschtraum zur Kultur gefuumlhrt dann sobald dieser Traum seine Kraft eingebuumlszligt hat Niedergang und Tod ndash in diesem Kreislauf bewegt sich das Leben eines Volkes

153GESCHICHTSPHILOSOPHISCHES ERGEBNIS

ERLAumlUTERUNGEN

Zu S XXV GOBLET DrsquoALVIELLA Graf Eugegravene belgischer Religionshisto- riker und liberaler Politiker 846ndash925S 7 TARDE Gabriel franzoumlsischer Psychologe und Soziologe urspruumlnglich Kriminalist 843ndash904 n seinen Hauptwerken bdquoDie Gesetze der Nachahmung (89) bdquoDie soziale Logikldquo (894) und bdquoDie sozialen Gesetzeldquo (898) werden Nachahmung Gegensaumltzlichkeit und Anpassung als die entscheidenden Fak- toren des Soziallebens bezeichnetS 7 SIGHELE Scipio italienischer Kriminalist Soziologe und Psychologe 868ndash93 Hauptwerk bdquoDie verbrecherische Masseldquo (892)S 3 SPENCER Herbert englischer Philosoph 820ndash903 vertrat die Auf- fassung daszlig der Weltprozeszlig auf einem dauernden Wechsel zwischen einem zusammenhanglosen und einem zusammenhaumlngenden Zustand beruhe dem so- ziologisch der Wechsel zwischen der Betonung der Individualitaumlt und der Hin- neigung zur Gleichfoumlrmigkeit in der Masse entspreche Hauptwerk bdquoSystem der synthetischen Philosophieldquo (862ndash93 0 Bde)S 20 GENERAL Georges Boulanger (837ndash9) 886 frz Kriegsminister dann Korpskommandeur hatte 887 anlaumlszliglich einer deutsch-franzoumlsischen Spannung versucht Frankreich in einen neuen Krieg mit Deutschland zu treiben 888 dienstentlassen erstrebte er mit Hilfe der von ihm entfachten Volksbewegung (Boulangismus) eine Staatsumwaumllzung und die Errichtung einer Diktatur in Frankreich muszligte jedoch ins Ausland fliehen und endete in Bruumlssel durch Selbstmord nachdem er in Abwesenheit wegen Veruntreuung von Staats- geldern verurteilt worden warS 2 L a n g s on Grenzort in Tongking (Franz Indochina) in dessen Naumlhe die Chinesen nachdem sie uumlberall uumlber die Grenze zuruumlckgeworfen waren 884 in einem Gefecht mit franzoumlsischen Truppen die Oberhand behielten K h a r t u m die Hauptstadt des englisch-aumlgyptischen Sudan wurde 885 von den aufstaumlndischen Madhisten erobert wobei der Kommandeur der eingeschlossenen englischen Expeditionsarmce ermordet wurde Vom t a r p e j i s c he n Fe l s e n am Suumldabhang des kapitolinischen Huumlgels wurden im alten Rom die zum Tode verurteilten Aufruumlhrer und Vaterlandsverraumlter hinabgestuumlrztS 28 WOLSELEY Garnet Joseph engl Feldmarschall 833ndash93 Verfasser mehrerer kriegsgeschichtlicher AbhandlungenS 28 DrsquoHARCOURT Georges 808ndash83 873 frz Botschafter in Wien spaumlter in London urspruumlnglich Offizier hatte an der Schlacht bei dem oberitalieni- schen Dorf Solferino teilgenommen die mit dem Sieg der verbuumlndeten Franzosen und Italiener uumlber die Oumlsterreicher endete (24 6 859)S 37 TAINE Hippolyte bedeutender frz Historiker Philosoph und Kritiker 828ndash93 Seine beruumlhmte bdquoGeschichte Frankreichsldquo (876ndash93 6 Bde unvoll- endet) schrieb er um nachzuweisen daszlig die unter Napoleon durchgefuumlhrte

Zentralisierung der Staatsgewalt und die dadurch bewirkte Ausschaltung derInitiative des einzelnen Staatsbuumlrgers an der Niederlage Frankreichs von 870 7 schuld seiS 48 FUSTEL DE COULANGES Numa Denis frz Historiker 830ndash89 Haupt- werk bdquoDas roumlmische Gallien die germanische Invasion und das fraumlnkische Koumlnigreichldquo (888ndash9 4 Bde)S 49 BOULANGISMUS s d Erlaumluterungen zu 20S 59 LAVISSE Ernest frz Historiker 842ndash922 Herausgeber und Mitver- fasser d groszligen Geschichtspublikation bdquoHistoire geacuteneacuteraleldquo (893ndash90 2 Bde)S 60 MACAULAY Thomas engl Historiker und liberaler Politiker 800ndash59 Verfasser der heute noch viel gelesenen bdquoGeschichte Englands (848ndash59 4 Bde)S 64 CHLOTAR (I) fraumlnkischer Koumlnig aus dem Geschlecht der Merowinger Nach seinem Tode (56) zerfiel das Frankenreich in die Teile N e u s t r i e n von der Scheidemuumlndung bis zur Loire) Au s t r a s i e n (Mosel- und Maas- gebiet) und BurgundS 75 TOCQUEVILLE Alexis de frz Diplomat und Historiker 805ndash59 Sein Hauptwerk bdquoDas Ancien reacutegime und die Franzoumlsische Revolutionldquo (856 2 Bde) enthaumllt viele kritische Bemerkungen uumlber MassenpsychologieS 79 THIERS Adolphe einer der bedeutendsten frz Staatsmaumlnner 797 bis 877 seit 836 mehrmals Ministerpraumlsident 87ndash73 Praumlsident der Republik Politisch liberal aber ohne tieferes Verstaumlndnis fuumlr soziale Probleme verherr- lichte in seinen z T mehrbaumlndigen Geschichtswerken die Ideale der Franz Revolution ebenso wie den NationalismusS 87 Mit dem b e r uuml h mt e n I n g e n i e u r ist Ferdinand Lesseps (805 bis 94) gemeint der aber nicht selbst Ingenieur sondern frz Diplomat gewesen ist Ihm ist der 869 vollendete aber nicht von ihm entworfene Bau des Suez- kanals zu danken Auch an der Gruumlndung der Panama-Gesellschaft war er maszliggebend beteiligt Als dieses Unternehmen 888 zusammenbrach wobei viele Aktionaumlre ruiniert wurden kam es zu einem groszligen Skandalprozeszlig in dem Lesseps 893 wegen Betrugs verurteilt wurde (Vgl auch S 6 f)S 9 RENAN Ernest frz Orientalist und Religionshistoriker 823ndash92 Eines seiner Hauptwerke ist die bdquoGeschichte der Anfaumlnge des Christentumsldquo (866 bis 83 7 Bde) sein bekanntestes bdquoDas Leben Jesuldquo (863)S 33 SCHERER Edmond frz Publizist 85ndash89 Fuumlhrer des liberalen Prote- stantismus in FrankreichS 40 SIMON Jules frz Philosoph und Politiker 84ndash96 848 Mitglied der verfassunggebenden Nationalversammlung 876 77 Ministerpraumlsident Schrieb u a bdquoDie Regierung Thiersldquo (878 2 Bde) ndash PYAT Feacutelix frz linksradikaler Journalist 80ndash89 war 848 Oberst der Pariser Nationalgarde 87 Mitglied der Pariser Kummune ndash VAULABELLE Achille de frz Historiker u Politiker 799ndash864 war 848 Unterrichtsminister ndash VICTOR HUGO der bekannte frz Dichter 802ndash85 war 848 Abgeordneter der Nationalversammlung muszligte nach dem Staatsstreich Louis Napoleons (85) fliehen und schrieb seine be- ruumlhmten sozialen Romane als Emigrant auf den englischen Kanalinseln ndash QUINET Edgar frz Dichter und Publizist 803ndash75 war 848ndash50 Mitglied der Nationalversammlung wurde 852 verbannt und 87 in der Nationalver- sammlung von Bordeaux und Versailles einer der Fuumlhrer der aumluszligersten Linken

ndash LAMARTINE Alphonse de frz Dichter 790ndash869 war unter Karl X und Louis Philippe im diplomatischen Dienst bekannte sich aber offen zur Repu-

ERLAumlUTERUNGEN 157

blikanischen Partei und wurde 848 als Mitglied der vorlaumlufigen RegierungAuszligenministerS 42 MAINE Henry James Summer engl Jurist und Rechtsphilosoph 822 bis 88 hat zahlreiche Werke uumlber Rechtsgeschichte und ihre Beziehung zur all- gemeinen Sozialgeschichte verfaszligtS 45 BILLAUD-VARENNES Jean Nicolas 756ndash89 Advokat Vorsitzender des Jakobinerclubs und Mitglied des Konvents erst Anhaumlnger Robespierres dann an dessen Sturz beteiligt Seine Memoiren erschienen 893S 46 COLLOT DrsquoHERBOIS Jean Marie Schauspieler und Buumlhnenschriftsteller 75ndash96 Als erfolgreicher Volksredner wurde er Mitglied des Konvents dann des Wohlfahrtsausschusses und war insbesondere fuumlr die Massenhinrichtungen in Lyon (793) verantwortlich ndash COUTHON Georges Advokat 755ndash94 Mitglied der Nationalversammlung dann des Konvents mitbeteiligt an der Niederwerfung des Lyoner Aufstandes Als Anhaumlnger Robespierres wurde er nach dessen Tod hingerichtet ndash SPULLER Eugegravene frz Politiker u Journalist 835ndash96 war 870ndash7 Sekretaumlr Gambettas 887 und 893ndash94 Unterrichts- minister 889ndash90 Auszligenminister Schrieb u a eine bdquoParlamentsgeschichte der Zweiten Republikldquo (89)S 49 LEROY-BEAULIEU Pierre Paul frz Nationaloumlkonom 843ndash96 gruumln- dete 873 das Wochenblatt bdquoLrsquoEconomiste franccedilaisraquo

156 ERLAumlUTERUNGEN

ISBN 3-520-09915-2

Das beruumlhmte in alle Weltsprachen uumlbersetzte Buch des franzoumlsischen Arztes und Soziologen uumlber die Seele der Massen und die Gesetze ihrer Beeinflussung und Fuumlhrung hat sich ndash trotz oder auch wegen mancher provozierender These ndash uumlber Jahrzehnte hinweg und bis in die Gegenwart hinein als eine der staumlrksten Anregungen fuumlr Psychologie und Soziologie erwiesen

  • Psychologie der Massen
    • Inhaltsverzeichnis
    • Einfuumlhrung
    • Literatur
    • Vorwort zur ersten Auflage
    • Einleitung Das Zeitalter der Massen
    • Erstes Buch Die Massenseele
      • 1 Kapitel Allgemeine Kennzeichen der Massen Das psychologische Gesetz von ihrer seelischen Einheit
      • 2 Kapitel Gefuumlhle und Sittlichkeit der Massen
        • sect 1 Triebhaftigkeit Beweglichkeit und Erregbarkeit der Massen
        • sect 2 Beeinfluszligbarkeit und Leichtglaumlubigkeit der Massen
        • sect 3 Uumlberschwang (exageacuteration) und Einseitigkeit (simplisme) der Massengefuumlhle
        • sect 4 Unduldsamkeit Herrschsucht (autoritarisme) und Konservatismus der Massen
          • 3 Kapitel Ideen Urteile und Einbildungskraft der Massen
            • sect 1 Die Ideen der Massen
            • sect 2 Die Urteile der Massen
            • sect 3 Die Einbildungskraft der Massen
              • 4 Kapitel Die religioumlsen Formen die alle Uumlberzeugungen der Masse annehmen
                • Zweites Buch Die Meinungen und Glaubenslehren der Massen
                  • 1 Kapitel Entfernte Triebkraumlfte der Glaubenslehren und Meinungen der Massen
                    • sect 1 Die Rasse
                    • sect 2 Die Uumlberlieferungen
                    • sect 3 Die Zeit
                    • sect 4 Die politischen und sozialen Einrichtungen
                    • sect 5 Unterricht und Erziehung
                      • 2 Kapitel Unmittelbare Triebkraumlfte der Anschauungen der Massen
                        • sect 1 Bilder Worte und Redewendungen
                        • sect 2 Die Taumluschungen (illusions)
                        • sect 3 Die Erfahrung
                        • sect 4 Die Vernunft
                          • 3 Kapitel Die Fuumlhrer der Massen und ihre Uumlberzeugungsmittel
                            • sect 1 Die Fuumlhrer der Massen
                            • sect 2 Die Wirkungsmittel der Fuumlhrer Behauptung Wiederholung Uumlbertragung
                            • sect 3 Der Nimbus (Le prestige)
                              • 4 Kapitel Grenzen der Veraumlnderlichkeit der Grundanschauungen und Meinungen der Massen
                                • sect 1 Die unveraumlnderlichen Grundanschauungen (croyances fixes)
                                • sect 2 Die veraumlnderlichen Meinungen (opinions mobiles) der Massen
                                    • Drittes Buch Einteilung und Beschreibung der verschiedenen Arten von Massen
                                      • 1 Kapitel Einteilung der Massen
                                        • sect 1 Ungleichartige Massen
                                        • sect 2 Gleichartige Massen
                                          • 2 Kapitel Die sogenannten verbrecherischen Massen
                                          • 3 Kapitel Die Geschworenen bei den Schwurgerichten
                                          • 4 Kapitel Die Waumlhlermassen
                                          • 5 Kapitel Die Parlamentsversammlungen
                                            • Erlaumluterungen
Page 5: Psychologie der Massen - Alex Brunner

INHALTSVERZEICHNIS

Einfuumlhrung von Prof Dr Peter R Hofstaumltter XIII

Literatur XXXVII

Vorwort zur Auflage XXXIX

Einleitung Das Zeitalter der Massen Entwicklung des gegenwaumlrtigen Zeitalters middot Die groszligen Kulturwenden sind die Folge von Wandlungen im Denken der Voumllker middot Der Glaube der Neuzeit an die Macht der Massen middot Er veraumlndert die hergebrachte Politik der Staaten middot Wie sich das Emporkommen der Volksklassen vollzieht und wie sie ihre Macht ausuumlben middot Die Syndikate middot Notwendige Folgen der Macht der Massen middot Sie koumlnnen nur eine zerstoumlrerische Rolle spielen middot Durch sie vollendet sich die Aufloumlsung der zu alt gewordenen Kulturen middot Allgemeine Unkenntnis der Psychologie der Massen middot Wichtigkeit des Studiums der Massen fuumlr Gesetzge- ber und Staatsmaumlnner

Erstes Buch DIE MASSENSEELE

Kapitel Allgemeine Kennzeichen der Massen middot Das psy- chologische Gesetz von ihrer seelischen Einheit 0

Was kennzeichnet eine Masse vom psychologischen Gesichtspunkt middot Eine zahlenmaumlszligige Menge von Einzelnen bildet noch keine Masse middot Besondere Eigentuumlmlichkeiten der psychologischen Massen middot Unveraumlnderliche Richtung der Gedanken und Gefuumlhle der einzelnen die sie bilden und Ausloumlschung ihrer Persoumlnlichkeit middot Die Masse wird stets vom Unbewuszligten beherrscht middot Zuruumlcktreten des Gehirnlebens und Vorherrschen des Ruumlckenmarklebens middot Verminderung des Verstandes und voumlllige Umwandlung der Gefuumlhle middot Die veraumlnderten Gefuumlhle koumlnnen besser oder schlechter sein als die der einzelnen aus denen die Menge besteht middot Die Masse wird ebensoleicht heldenhaft wie verbrecherisch

INHALTSVERZEICHNIS

2 Kapitel Gefuumlhle und Sittlichkeit der Massen 9

sect Triebhaftigkeit Beweglichkeit und Erregbarkeit der Massen middot Die Masse ist der Spielball aller aumluszligeren Reize deren unaufhoumlrliche Schwankungen sie widerspiegelt middot Die Antriebe denen sie gehorchen sind so gebieterisch daszlig der persoumlnliche Vorteil zuruumlcktritt middot Bei den Massen ist nichts vorbedacht middot Wirkungskraft der Rassesect 2 Beeinfluszligbarkeit und Leichtglaumlubigkeit der Massen middot Ihre Empfaumlnglich- keit fuumlr Beeinfluszligungen middot Die in ihrem Gemuumlt hervorgerufenen Bilder werden fuumlr Wirklichkeit gehalten middot Warum diese Bilder fuumlr alle einzelnen aus denen eine Masse besteht gleichartig sind Angleichung der Gelehrten und des Einfaumlltigen in einer Masse middot Verschiedene Beispiele von Taumluschungen denen alle Mitglieder in einer Masse unterliegen middot Unmoumlglichkeit der Zeugenschaft der Massen irgendwelchen Glauben beizumessen middot Die Einmuumltigkeit zahlrei- cher Zeugen ist einer der schlechtesten Beweise den man zur Erhaumlrtung einer Tatsache beibringen kann middot Geringer Wert der Geschichtswerkesect 3 Uumlberschwang und Einseitigkeit der Massengefuumlhle middot Die Massen kennen weder Zweifel noch Ungewiszligheit und ergehen sich stets in Uumlbertreibungen middot Ihre Gefuumlhle sind stets uumlberschwenglichsect 4 Unduldsamkeit Herrschsucht und Konservatismus der Massen middot Ursachen dieser Gefuumlhle Unterwuumlrfigkeit der Massen vor einer starken Macht middot Die augenblicklichen revolutionaumlren Triebe der Massen hindern sie nicht houmlchst ruumlckstaumlndig zu sein middot Sie sind instinktiv Feinde von Veraumlnderung und Fort- schrittsect 5 Sittlichkeit der Massen middot Die Sittlichkeit der Massen kann je nach den Einfluumlssen viel niedriger oder viel houmlher sein als die der einzelnen die sie bilden Erklaumlrung und Beispiele middot Die Massen werden selten durch den Eigennutz geleitet der meist den einzigen Antrieb fuumlr den einzelnen bildet middot Versittlichende Wirkung der Massen

3 Kapitel Ideen Urteile und Einbildungskraft der Massen 38

sect Die Ideen der Massen middot Grundlegende und nebensaumlchliche Ideen middot Wie entgegengesetzte Vorstellungen gleichzeitig bestehen koumlnnen Wandlungen die die houmlheren Ideen durchmachen muumlssen um fuumlr die Massen annehmbar zu werden middot Die soziale Bedeutung der Vorstellungen ist unabhaumlngig von dem Wahrheitsgehalt den sie in sich tragen koumlnnensect 2 Die Urteile der Massen middot Die Massen sind nicht durch Beweisgruumlnde zu beeinflussen middot Die Urteile der Massen sind stets sehr niedriger Art middot Die Vorstellungen die sie assoziieren haben nur den Schein von Analogie und Folgerichtigkeitsect 3 Die Einbildungskraft der Massen middot Macht der Massenphantasie middot Sie denken in Bildern die ohne jegliche Verbindung aufeinander folgen middot Die

VIII

INHALTSVERZEICHNIS

Massen nimmt besonders die wunderbare Seite der Dinge gefangen middot DasWunderbare und das Sagenhafte sind die wahren Traumlger der Kulturen middot Die Volksphantasie war stets der Stuumltzpunkt der Macht aller Staatsmaumlnner middot Auf welche Weise die Tatsachen auf die Einbildungskraft der Massen Eindruck machen koumlnnen

4 Kapitel Die religioumlsen Formen die alle Uumlberzeugungen der Masse annehmen 46

Wodurch das religioumlse Gefuumlhl gebildet wird middot Es ist unabhaumlngig von der Anbetung einer Gottheit middot Seine Merkmale middot Macht der Uumlberzeugungen die religioumlse Formen angenommen haben middot Verschiedene Beispiele middot Die Volksgoumlt- ter sind nie ganz verschwunden middot Neue Formen ihrer Wiedergeburt middot Religioumlse Formen des Atheismus middot Bedeutung dieser Begriffe in historischer Hinsicht middot Die Reformation die Bartholomaumlusnacht die Schreckenstage und alle aumlhnli- chen Ereignisse sind die Folgen der religioumlsen Gefuumlhle der Massen und nicht des Willens einzelner Persoumlnlichkeiten

Zweites BuchDIE MEINUNGEN DER UND GLAUBENSLEHREN

MASSEN

Kapitel Entfernte Triebkraumlfte der Glaubenslehren und Meinungen der Massen 54

Vorbereitende Ursachen der Massenuumlberzeugungen Das Auftreten von Glaubenslehren in den Massen ist die Folge vorangehender Verarbeitung middot Untersuchung der verschiedenen Ursachen dieser Glaubensuumlberzeugungen sect Die Rasse middot Ihr auszligerordentlicher Einfluszlig middot Sie zeigt die Wirkungen der Vorfahrensect 2 Die Uumlberlieferungen middot Sie sind die Zusammenfassung der Rassenseele middot Soziale Bedeutung der Uumlberlieferungen middot Wodurch sie schaumldlich werden nachdem sie notwendig gewesen sind middot Die Massen sind die zaumlhesten Bewah- rer der uumlberlieferten Ideensect 3 Die Zeit Sie bereitet allmaumlhlich die Einfuumlhrung der Glaubenslehren vor dann ihre Zerstoumlrung middot Dank ihrer erhebt sich die Ordnung aus dem Chaossect 4 Die politischen und sozialen Einrichtungen middot Irrige Auffassung von ihrer Aufgabe middot Ihr Einfluszlig ist aumluszligerst gering Sie sind Wirkungen nicht Ursachen middot Die Voumllker koumlnnen sich nicht die Einrichtungen aussuchen die ihnen am besten erscheinen middot Sie sind Etiketten die mit derselben Aufschrift die ver- schiedensten Dinge decken middot Wie die Verfassungen entstehen koumlnnen middot Die

IX

INHALTSVERZEICHNIS

Notwendigkeit gewisser theoretisch schlechter Einrichtungen wie z B derZentralisation fuumlr gewisse Voumllkersect 5 Unterricht und Erziehung middot Irrigkeit der herrschenden Anschauungen uumlber den Einfluszlig des Unterrichts auf die Massen middot Statistische Nachweise middot Entsittlichende Wirkung der klassischen Bildung middot Die Wirkung die der Unterricht ausuumlben koumlnnte middot Beispiele die die verschiedenen Voumllker bieten

2 Kapitel Unmittelbare Triebkraumlfte der Anschauungen der Massen 7

sect Bilder Worte und Redewendungen middot Magische Macht der Worte und Redewendungen Die Macht der Worte knuumlpft sich an Bilder die durch sie hervorgerufen werden und ist unabhaumlngig von ihrem wahren Sinn middot Diese Bilder wechseln mit jedem Zeitalter und mit jeder Rasse middot Abnutzung der Worte middot Beispiele fuumlr die auszligerordentliche Veraumlnderlichkeit der Bedeutung einiger sehr gebraumluchlicher Worte middot Es ist politisch nuumltzlich alte Dinge mit neuen Namen zu taufen wenn die Ausdruumlcke mit denen man sie fruumlher bezeichnete auf die Massen einen unguumlnstigen Eindruck machen middot Der Rasse gemaumlszlige verschiedenartige Bedeutung der Worte middot Verschiedenartiger Sinn des Wortes bdquoDemokratieldquo in Europa und Amerikasect 2 Die Taumluschungen Ihre Wichtigkeit middot Man findet sie in Anfaumlngen jeder Kultur middot Soziale Notwendigkeit der Taumluschungen middot Die Massen ziehen sie stets den Wahrheiten vorsect 3 Die Erfahrung Die Erfahrung allein kann notwendig gewordene Wahr- heiten in der Massenseele befestigen und gefaumlhrlich gewordene Taumluschungen zerstoumlren middot Die Erfahrung wirkt nur bei haumlufiger Wiederholung middot Was die Erfahrungen kosten die noumltig sind um die Massen zu uumlberzeugensect 4 Die Vernunft middot Nichtigkeit ihres Einflusses auf die Massen middot Man wirkt auf sie nur durch Beeinflussung ihrer unbewuszligten Gefuumlhle middot Die Rolle der Logik in der Geschichte middot Die verborgenen Ursachen der unwahrscheinlichen Ereignisse

3 Kapitel Die Fuumlhrer der Massen und ihre Uumlberzeugungs- mittel 83

sect Die Fuumlhrer der Massen middot Urspruumlngliches Beduumlrfnis aller Massen einem Fuumlhrer zu gehorchen middot Psychologie der Fuumlhrer middot Sie allein koumlnnen Vertrauen erwecken und die Massen organisieren middot Notwendige Gewaltherrschaft der Fuumlhrer middot Einteilung der Fuumlhrer middot Die Macht des Willenssect 2 Die Wirkungsmittel der Fuumlhrer middot Behauptung Wiederholung Uumlbertra- gung middot Die verschiedenen Aufgaben dieser Faktoren middot Wie die Uumlbertragung sich von den niederen zu den houmlheren Gesellschaftsschichten fortpflanzen

X

INHALTSVERZEICHNIS

kann middot Eine volkstuumlmliche Anschauung wird bald zur allgemeinen An- schauungsect 3 Nimbus middot Erklaumlrung und Einteilung des Nimbus middot Erworbener und persoumlnlicher Nimbus middot Beispiele middot Verlust des Nimbus

4 Kapitel Grenzen der Veraumlnderlichkeit der Grundanschau- ungen und Meinungen der Massen 0

sect Die unveraumlnderlichen Grundanschauungen Unveraumlnderlichkeit gewisser Gesamtuumlberzeugungen middot Sie sind die Fuumlhrer einer Kultur middot Schwierigkeit sie auszurotten middot Inwiefern Unduldsamkeit bei den Voumllkern eine Tugend ist middot Die philosophische Sinnwidrigkeit einer Gesamtuumlberzeugung schadet ihrer Aus- breitung nichtsect 2 Die veraumlnderlichen Meinungen der Massen Aumluszligerste Veraumlnderlichkeit der Anschauungen die nicht aus altgemeinen Glaubensuumlberzeugungen her- vorgehen middot Scheinbare Veraumlnderungen der Ideen und Uumlberzeugungen in weni- ger als einem Jahrhundert middot Tatsaumlchliche Grenzen dieser Wandlungen Die Elemente auf die sich die Veraumlnderung erstreckt Das Schwinden allgemeiner Glaubensuumlberzeugungen und die auszligerordentliche Verbreitung der Presse heutzutage machen die modernen Ansichten immer veraumlnderlicher middot Wie die Anschauungen der Massen uumlber die meisten Angelegenheiten zur Gleichguumll- tigkeit neigen middot Unfaumlhigkeit der Regierungen wie ehedem die Anschauungen zu lenken middot Die Zersplitterung der Anschauungen verbinden in der heutigen Zeit ihre Tyrannei

Drittes BuchEINTEILUNG UND BESCHREIBUNG DER VERSCHIE-

DENEN ARTEN VON MASSEN

Kapitel Einteilung der Massen 4

sect Ungleichartige Massen middot Ihre Unterscheidungsmerkmale middot Einfluszlig der Rasse middot Die Massenseele ist um so schwaumlcher als die Rassenseele staumlrker ist Die Rassenseele stellt die Stufe der Kultur die Massenseele die Stufe der Barbarei darsect 2 Gleichartige Massen middot Einteilung middot Sekten Kasten Klassen

2 Kapitel Die sogenannten verbrecherischen Massen 7

Die sogenannten verbrecherischen Massen middot Eine Masse kann nur juristisch nicht psychologisch verbrecherisch sein middot Voumlllige Unbewuszligtheit der Massen- handlungen middot Verschiedene Beispiele middot Psychologie der Septembermaumlnner middot Ihre Urteile ihre Empfindsamkeit Grausamkeit und Sittlichkeit

XI

XII INHALTSVERZEICHNIS

3 Kapitel Die Geschworenen bei den Schwurgerichten 22

Die Geschworenen der Schwurgerichte middot Allgemeine Eigenschaften der Ge- schworenen middot Die Statistik zeigt daszlig ihre Entscheidungen unabhaumlngig sind von ihrer Zusammensetzung middot Wie auf die Geschworenen Eindruck gemacht wird middot Geringe Wirkung der Logik middot Art der Verbrechen die von den Geschworenen milde und solcher die streng beurteilt werden middot Uumlberre- dungsweisen beruumlhmter Rechtsanwaumllte middot Nutzen der Geschworenen und die groszlige Gefahr daszlig sie durch Richter ersetzt werden

4 Kapitel Die Waumlhlermassen 28

Allgemeine Eigenschaften der Waumlhlermassen middot Wie man sie uumlberzeugt middot Wel- che Eigenschaften der Wahlkandidat haben muszlig middot Notwendigkeit des Nimbus middot Warum Arbeiter und Bauern so selten ihre Vertreter aus ihrer Mitte waumlhlen middot Macht der Worte und Redewendungen uumlber den Waumlhler middot Allgemeines Bild der Wahlversammlungen middot Wie sich die Anschauungen des Waumlhlers bilden middot Die Macht der Ausschuumlsse middot Sie bilden die schlimmste Form der Tyrannei middot Die Revolutionsausschuumlsse middot Trotz seines geringen psychologischen Wertes ist das allgemeine Stimmrecht unersetzlich middot Warum die Abstimmungen die glei- chen bleiben wuumlrden auch wenn man das Stimmrecht auf eine bestimmte Buumlrgerklasse beschraumlnkte middot Das allgemeine Stimmrecht in allen Laumlndern

5 Kapitel Die Parlamentsversammlungen 37

Die parlamentarischen Massen zeigen die meisten allgemeinen Eigenschaften der nicht namenlosen ungleichartigen Massen middot Einseitigkeit der Anschauun- gen middot Die Beeinfluszligbarkeit und ihre Grenzen middot Unverruumlckbar feste und fluumlch- tige Meinungen middot Warum Unentschiedenheit vorherrscht middot Die Rolle der Fuumlhrer middot Ursache ihres Einflusses middot Sie sind die wahren Leiter einer Versamm- lung deren Abstimmung also nur die einer kleinen Minderheit ist Unum- schraumlnkte Macht der Fuumlhrer middot Die Mittel ihrer Redekunst Worte und Bilder middot Psychologische Notwendigkeit daszlig die Fuumlhrer eine allgemeine Uumlberzeugung haben und beschraumlnkt sind middot Unmoumlglichkeit fuumlr den Fuumlhrer seine Beweis- gruumlnde ohne Nimbus durchzusetzen middot Uumlberschwang sowohl der guten als auch der schlechten Gefuumlhle in den Versammlungen middot Automatismus der sich unter gewissen Umstaumlnden herausbildet middot Die Sitzungen des Konvents middot Ein Fall daszlig eine Versammlung die Massenkennzeichen verliert middot Einfluszlig der Fachleute auf die technischen Fragen middot Vorteile und Gefahren der parlamenta- rischen Regierungsweise in allen Staaten middot Sie hat sich den Beduumlrfnissen der Gegenwart angepaszligt fuumlhrt aber zu wirtschaftlicher Verschwendung und all- maumlhlichen Freiheitsbeschraumlnkungen middot Geschichtsphilosophisches Ergebnis

Erlaumluterungen 54

EINFUumlHRUNG

von Peter R Hofstaumltter

Die Massenpsychologie die der vierundfuumlnfzigjaumlhrige Gustave Le Bon (842ndash93) im Jahr 895 veroumlffentlichte ist wie wenige andere ein Erfolgsbuch dessen Thesen bereits so sehr zum Gemeingut der gebildeten Welt geworden sind daszlig manche es gar nicht mehr fuumlr noumltig halten es auch zu nennen wenn sie ihre eigenen Urteile ganz unwillkuumlrlich in die Worte des franzoumlsischen Autors kleiden Bis- weilen geschieht auch das Umgekehrte daszlig naumlmlich Le Bon eigene Gedanken unterschoben werden Er ist eben zum Begriff geworden Daran hat sich seit dem Jahr 908 in dem die von dem Wiener Philosophen Rudolf Eisler stammende Uumlbersetzung in erster Auflage erschien auch in Deutschland kaum etwas geaumlndert Wer etwas auf sich hielt und darum gesonnen war von der anonymen Masse gebuumlhrenden Abstand zu halten glaubte bei Le Bon jede Art von Unterstuumltzung zu finden Gegebenenfalls konnte man natuumlrlich auch Horaz zitieren mit dessen bdquoodi profanum vulgus et arceoldquo (Oden III ) und damit bekunden daszlig man den uneingeweihten Poumlbel haszligt und sich fern haumlltVielfach hat dabei allerdings der fluumlssige Text zum leichten Daruumlber- Hinweg-Lesen verfuumlhrt Immerhin enthalten ja schon die Worte die hauptsaumlchlichen Aussagen des Buches Die bdquoMasseldquo kommt vom griechischen bdquoBrotteigldquo (maza) den man kneten (massein) muszlig die

bdquofoulesldquo des Originaltextes leiten sich vom lateinischen bdquofulloldquo dem bdquoWalkerldquo oder bdquoTuchmacherldquo her und die englische bdquocrowdldquo ist dem mittelhochdeutschen bdquokrotenldquo stammverwandt das so viel wie

bdquopressenldquo bedeutet In jedem Fall hat man es mit dem Gestaltlosen dem Amorphen zu tun das erst durch aumluszligere Einwirkung geformt wird Dazu haben sich professionelle Gestalter ndash Politiker Propa- gandisten und Demagogen ndash nur allzugern aufgerufen gefuumlhltSo gelesen ist Le Bons Lehre verfuumlhrerisch bzw sogar irrefuumlhrend und wohl auch etwas zu billig Man muszlig genauer zusehen um zu merken daszlig der Autor hier und in den ein Jahr zuvor erschienenen

bdquoLois psychologiques de lrsquoeacutevolution des peuplesldquo in verschluumlsselter Weise die Geschichte von dem Erdenkloszlig erzaumlhlt aus dem Gott den Von A Seiffhart 922 ins Deutsche uumlbertragen und bei S Hirzel Leipzig als bdquoPsycholo- gische Grundgesetze in der Voumllkerentwicklungldquo erschienen

Menschen machte und dem er nach dem Suumlndenfall verhieszlig bdquoDubist Erde und sollst zu Erde werdenldquo ( Mose 3 9) Seine Version lautete Ihr Voumllker seid aus dumpfen Massen hervorgegangen und es liegt an euch ndash eurem Suumlndenfall ndash wie bald ihr wieder in amorphe Massen zerfallen werdet bdquoDie Masse ist das Ende das radikale Nichtsldquo so hat das Oswald Spengler im bdquoUntergang des Abendlan- desldquo (922) ausgedruumlcktDie Sache ist aber womoumlglich noch ernster denn bdquodas radikale Nichtsldquo ist mitten im Leben der Voumllker enthalten und kann als

bdquopsychologische Masseldquo in jedem Moment zum Vorschein kommen Das erinnert an Freuds Todestrieb der in zahllosen Varianten der Aggression der Destruktion und der Selbstzerstoumlrung das Leben gefaumlhrdet Wie Freud darin ein Kennzeichen des bdquoDaumlmonischenldquo sah (920) ist auch fuumlr Le Bon die Masse ein daumlmonisches Wesen bdquoso etwas wie die Sphinx der antiken Sageldquo (S 7) 2

I Der Arzt und das Schicksal

Dr Gustave Le Bon lieszlig sich als Arzt von der Vorstellung leiten daszlig Kulturen wie Lebewesen sich im Aufsteigen entfalten ihren Formenreichtum zeigen dann aber bdquonach Vollendung ihrer schoumlpfe- rischen Wirkung hellip mit dem fortschreitenden Schwinden ihres Ide- als hellip mehr und mehr alles verlieren was ihren Zusammenhalt ihre Einheit und Staumlrke bildeteldquo Sie zerfallen was bleibt ist

bdquohellip nur noch eine Menge alleinstehender Einzelner hellip eine Masse hellip Der Poumlbel herrscht und die Barbaren dringen vor Noch kann die Kultur glaumlnzend scheinen weil sie das aumluszligere Ansehen bewahrt das von einer langen Vergangenheit geschaffen wurde tat- saumlchlich aber ist sie ein morscher Bau der keine Stuumltze mehr hat und beim ersten Sturm zusammenbrechen wirdldquo (S 53)Er betrachtete es als seine Aufgabe diese Entwicklung die er im Prinzip fuumlr unvermeidlich hielt so lange wie moumlglich hinauszuzouml- gern wie eben auch ein Arzt im vollen Wissen um die Sterblichkeit seiner Patienten bestrebt ist deren Leben und Wohlbefinden zu erhalten Wo es sich um Seuchen handelt will ein Hygieniker natuumlr- lich auch sich selbst davor schuumltzen von ihnen befallen zu werden

2 Bei Zitaten aus Le Bons bdquoPsychologie der Massenldquo ist nur die Seitenzahl angegeben bei solchen aus anderen Werken dieses Autors wird jeweils die Jahreszahl vorangesetzt

XIV EINFUumlHRUNG

fuumlr Le Bon bedurfte es dazu der Einsicht in die Funktionsweise derKrankheit bdquoDie Kenntnis der Psychologie der Massen ist heute das letzte Hilfsmittel fuumlr den Staatsmann der hellip nicht allzusehr von ihnen beherrscht werden willldquo (S 6)Als bdquoein Menschheitsziel von houmlchster Invarianzldquo bezeichnete auch der Dichter Hermann Broch (886ndash95) bdquodie gluumlcklichen Normali- taumltsperioden der Menschheit tunlichst zu verlaumlngernldquo obwohl seine im amerikanischen Exil entworfene bdquoMassenwahntheorieldquo ebenfalls ein mit dem Charakter der bdquoUnentrinnbarkeitldquo ausgezeichnetes

bdquoGesetz der psychischen Zyklenldquo enthieltIm Todesjahr Le Bons ndash 93 ndash nahm ein deutscher Arzt der Psychiater und Philosoph Karl Jaspers (883ndash969) das Thema in der Abhandlung uumlber bdquodie geistige Situation der Zeitldquo auf Als Band 000 der hochangesehenen bdquoSammlung Goumlschenldquo war das Buumlchlein so etwas wie eine Jubilaumlumsschrift die fuumlr das Denken der Weimarer Republik in hohem Maszlige als repraumlsentativ galt Seine These lautete

bdquoEs beginnt heute der letzte Feldzug gegen den Adel Statt auf politischem und soziologischem Felde wird er in den Seelen selbst gefuumlhrtldquo indem sich bdquodie Instinkte des Massemenschen hellip wie schon oumlfters gefaumlhrlicher als je mit religioumlskirchlichen und politisch absolutistischen Instinkten (vereinigen) um die universale Nivellie- rung in der Massenordnung mit einer Weihe zu versehenldquo (S 74) Der Adel den er meinte war nicht eine irgendwie privilegierte Schicht sondern so etwas bdquowie die unsichtbare Kirche eines corpus mysticum hellip der selbstseienden Geisterldquo (S 76) die als Minoritaumlt Geschichte machen Somit sei jetzt bdquodas Problem des menschlichen Adels hellip die Rettung der Wirksamkeit der Besten welche die Wenigsten sindldquo (S 73)Jaspers beruft sich ausdruumlcklich auf Le Bon der bdquodie Eigenschaften der Masse hellip als Impulsivitaumlt Suggestibilitaumlt Intoleranz Wandel- barkeit usw trefflich analysiert hatldquo (S 35) Als typische Zuumlge wer- den weiterhin aufgezaumlhlt bdquoEntscheidung durch Majoritaumlten Haszlig gegen jeden hervorragenden Einzelnen Forderung der Gleichheit ruumlcksichtslose Isolierung oder Ausschlieszligung jeder Besonderheit welche nicht repraumlsentativ fuumlr alle ist Verfolgung des Uumlberragen- denldquo (S 73) Allerdings sind bdquoMassemenschen hellip anzuerkennen sofern sie dienen leisten aufblickend den Impuls eines moumlglichen Aufschwungs kennen das heiszligt sofern sie selbst das sind was die Wenigen entschieden sindldquo (S 78)Nach dem zweiten Weltkrieg beurteilte Jaspers die Situation nicht wesentlich anders bdquoDie Verwandlung von Volk in Publikum und

EINFUumlHRUNG XV

Masse ist heute unaufhaltsamldquo heiszligt es 949 in bdquoVom Ursprung undZiel der Geschichteldquo (S 26) denn bdquoMassen entstehen wo Men- schen ohne eigentliche Welt ohne Herkunft und Boden verfuumlgbar und auswechselbar werdenldquo (S 25) Der Philosoph prangerte dabei

bdquodie Minderwertigkeit der Vielen des Durchschnittsldquo an bdquoderen Dasein durch den Massendruck alles bestimmtldquo In diesem Sinne so meinte er ist Masse bdquodie Erscheinung einer geschichtlichen Lage unter bestimmten Bedingungen (und) keineswegs endguumlltig minder- wertigldquo es sei naumlmlich auch moumlglich bdquodaszlig in den Massen selber die vernuumlnftig ringende Arbeit wirklichen Geistes sich entwickleldquo (S 27) Auch hier gewinnt schlieszliglich der Arzt die OberhandNoch einmal zuruumlck zum Jahr 93 in dem Le Bon starb Damals forderte eine Kommission des Voumllkerbundes repraumlsentative Vertreter des internationalen Geisteslebens zu einem brieflichen Meinungsaus- tausch auf bei dem Albert Einstein im Hinblick auf die Moumlglichkeit der Kriegsverhuumltung Freud die Frage stellte bdquoWie ist es moumlglich daszlig sich die Masse hellip bis zur Raserei und Selbstopferung entflam- men laumlszligtldquo Man denkt unwillkuumlrlich an Le Bons These bdquowenn die Massen geschickt beeinflusst werden koumlnnen sie heldenhaft und opferwillig seinldquo (S 3) Freud der sich schon 92 (in bdquoMassen- psychologie und Ich-Analyseldquo) sehr intensiv mit dem franzoumlsischen Autor beschaumlftigt hatte blieb auch seinerseits im Rahmen von dessen Vorstellungen bdquoEs ist ein Stuumlck hellip der angeborenen und nicht zu beseitigenden Ungleichheit der Menschen daszlig sie in Fuumlhrer und in Abhaumlngige zerfallen Die letzteren sind die uumlbergroszlige Mehrheit sie beduumlrfen einer Autoritaumlt welche fuumlr sie Entscheidungen faumlllt denen sie sich meist bedingungslos unterwerfen Hier waumlre anzuknuumlpfen man muumlszligte mehr Sorge als bisher aufwenden um eine Oberschicht selbstaumlndig denkender der Einschuumlchterung unzugaumlnglicher nach Wahrheit ringender Menschen zu erziehen denen die Lenkung der unselbstaumlndigen Massen zufallen wuumlrdeldquo (Ges W XVI S 24) Das war ndash abermals aus aumlrztlicher Sicht ndash ein Vorschlag zur Gesell- schafts-Hygiene der als herrschende Elite bdquoeine Gemeinschaft von Menschenldquo postulierte bdquodie ihr Triebleben der Diktatur der Ver- nunft unterworfen habenldquo Ihnen entsprechen im Konzept von Jas- pers bdquodie selbstseienden Menschenldquo jene bdquoBesten hellip die sie selbst sind im Unterschied von denen die in sich nur eine Leere fuumlhlen keine Sache als ihre kennen sich selber fliehenldquo (93 S 74) Man kennt sie auch aus zahlreichen Publikationen Le Bons z B aus der thesenartigen Zusammenfassung seiner Leitgedanken in den bdquoApho- rismes du temps preacutesentldquo (93) die von der Gesellschaft eine hoch-

XVI EINFUumlHRUNG

qualifizierte Fuumlhrung fuumlr die Massen verlangen damit deren dynami-sche Energie in die fuumlr das allgemeine Wohlergehen erforderliche Aktivitaumlt geleitet werde

II Werke und Tage

Als Arzt so berichtet Le Bon (S 80) habe er im Jahr 870 bei der Belagerung von Paris erstmalig die unheimliche Beeinfluszligbarkeit von Massen beobachtet Der erst 29-jaumlhrige war damals Chefarzt einer Lazarettabteilung fuumlr seine Verdienste wurde er nach dem Krieg zum Offizier der Ehrenlegion ernanntAls Autor hatte er sich bis dahin erst durch eine Arbeit uumlber den Scheintod und uumlber vorzeitige Bestattungen (866) bekannt gemacht Das Thema war fuumlr ihn nicht uncharakteristisch denn in einem gewissen Sinn sind auch die ohne eigenen Willen agierenden Mitglie- der einer Masse bdquoScheintoteldquo Sie erinnern an gehorsame Medien die auf den Befehl eines Hypnotiseurs hin sich regen oder erstarren ohne spaumlter zu wissen warum und wieso Untaten die sie in diesem Zustand begangen haben koumlnnten waumlren bdquovielleicht gesetzlich aber nicht psychologisch als Verbrechenldquo zu bezeichnen (S 8 f) Die Pariser Kommune von 870 7 die Le Bon im Zusammenhang mit revolutionaumlren Greueltaten erwaumlhnt (S 2) forderte Uumlberlegungen dieser Art zweifellos heraus Sie sind uns nach 945 nicht erspart gebliebenAuf das gleiche Problem waren auch schon die Kriminologen Gabriel Tarde (843ndash904) und Scipio Sighele (868ndash93) gesto- szligen in deren Schriften manche Formulierungen aus der bdquoPsycholo- gie des foulesldquo von 895 vorweggenommen sind so z B bei Tarde in bdquoLes lois de lrsquoimitationldquo (890) die Darstellung der Gesellschaft als eine stufenweise herabfallende bdquoKaskade sukzessiver Magnetisatio- nenldquo d h hypnotischer Beeinf lussungen die sie im ganzen zu einem Fall von Somnambulismus (Schlafwandeln) macht bdquoSehr oft war der Fuumlhrer zuerst ein Gefuumlhrter der selbst von der Idee hynoti- siert war deren Apostel er spaumlter wurdeldquo heiszligt es bei Le Bon (S 83) fuumlr den das bdquoil a lui-mecircme eacuteteacute hypnotiseacuteldquo ganz gewiszlig keine bloszlige Phrase war bdquoSorgfaumlltige Beobachtungen scheinen (naumlmlich) zu beweisen daszlig ein einzelner der lange Zeit im Schoszlige einer wirken- den Masse eingebettet war sich hellip in einem besonderen Zustand befindet der sich sehr der Verzauberung naumlhert die den Hypnoti- sierten unter dem Einfluszlig des Hypnotiseurs uumlberkommtldquo (S 6)

EINFUumlHRUNG XVII

Die hypnotischen Phaumlnomene und deren therapeutische Verwertbar-keit faszinierten gerade um diese Zeit durch die Arbeiten von J M Charcot (835ndash893) in Paris und H Bernheim (840ndash99) in Nancy eine breite Oumlffentlichkeit Zwischen 88 und 89 schrieb in Wien der Arzt Arthur Schnitzler seinen bdquoAnatolldquo der mit einer Hypnose-Szene beginnt waumlhrend sich Sigmund Freud ndash ausgeruumlstet mit einem Stipedium seiner Fakultaumlt ndash auf mehreren Reisen in Paris und in Nancy mit den neuen Methoden vertraut machte Viele Jahre spaumlter (92) hat er in bdquoMassenpsychologie und Ich-Analyseldquo den Vergleich umgekehrt bdquoDie Hypnose hat ein gutes Anrecht auf die Bezeichnung eine Masse zu zweitldquo (Ges W XIII S 42)Le Bon selbst scheint die aumlrztliche Praxis weniger gelockt zu haben als einerseits die hygienische Betreuung der Bevoumllkerung insgesamt und andererseits die Forschung die sich ndash dem Geist der Zeit folgend ndash zunaumlchst im Rahmen der phrenologischen Tradition ent- faltete Die von Franz Joseph Gall (758ndash828) aufgestellte Hypo- these daszlig der knoumlcherne Schaumldel Ruumlckschluumlsse auf die staumlrkere und schwaumlchere Ausbildung der darunterliegenden Gehirnpartien und damit auf die Begabungen und Charakterzuumlge eines Menschen zulasse war allerdings im letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts nicht mehr aufrechtzuerhalten Jedoch bemuumlhte man sich mit gro- szligem Eifer um den Nachweis eines Zusammenhanges zwischen Schauml- delvolumen bzw Gehirngroumlszlige und Intelligenz Die Wege die dabei eingeschlagen wurden und die Irrwege auf die viele gerieten schil- dert neuerdings S J Gould (98) sehr anschaulich Den bdquoGroszlig- kopfertenldquo waumlre eine solche ganz objektive Bestaumltigung ihrer Uumlberle- genheit nicht unlieb gewesen Paul Broca (824ndash880) der 86 das motorische Sprachzentrum im Gehirn entdeckt hatte eroumlffnete 867 in Paris ein anthropologisches Laboratorium in dem sich Le Bon laumlngere Zeit mit Schaumldelmessungen beschaumlftigteSeine 879 publizierten bdquoRecherches anatomiques et matheacutematiques sur les variations de volume du cerveau et sur leurs relations avec lrsquointelligenceldquo wurde mit einem Preis der Akademie der Wissenschaf- ten ausgezeichnet Das Hauptergebnis ist von wesentlicher Bedeu- tung fuumlr Le Bonrsquos Theorie der Kultur- und Voumllkerentwicklung bdquoDer Durchschnittsunterschied des Schaumldels bei zwei Voumllkern ist niemals sehr bedeutend hellip Vergleicht man (aber) die Schaumldel der verschie- denen Menschenrassen aus vergangener und gegenwaumlrtiger Zeit so erkennt man die Rassen deren Schaumldelvolumen die groumlszligten indivi- duellen Abweichungen aufweist als die in der Kultur am houmlchsten

XVIII EINFUumlHRUNG

stehenden und bemerkt daszlig in dem Maszlige wie eine Rasse in derKultur fortschreitet die Schaumldel der Individuen aus denen sie besteht sich immer mehr differenzierenldquo (894 S 33)Was die Gruppen voneinander unterscheidet sind somit nicht ndash wie noch Broca zeigen wollte ndash die Durchschnittswerte der Verteilungen sondern deren Streuungsweiten um den gemeinsamen Mittelwert Aus Gruumlnden die mehr mit dem Lebensstandard als mit der Kultur der Voumllker zu tun haben duumlrften ist das nicht unplausibel aber diese Frage braucht hier nicht entschieden zu werden Von grundlegender Bedeutung war jedoch fuumlr Le Bonrsquos Denken der Schluszlig den er aus seinem Ergebnis zog bdquodaszlig (naumlmlich) die Kultur uns nicht zur intel- lektuellen Gleichheit sondern zu einer immer groumlszliger werdenden Ungleichheit fuumlhrtldquo (894 S 33) Das ist der Ansatzpunkt seines Buches uumlber die bdquopsychologischen Grundgesetze der Voumllkerentwick- lungldquoDen in ihrer Eigenart zu maximaler Besonderheit ausgepraumlgten Ein- zelindividuen entsprechen bei Jaspers die bdquoselbstseienden Men- schenldquo deren bdquoNaumlhe das Beste (ist) was heute geschenkt werden kannldquo (S 75)Auch wenn dies Le Bon und Jaspers gleichermaszligen zuruumlckgewiesen haumltten stellt sich angesichts des unverkennbaren Narziszligmus der groszligen Einzelnen ndash bzw ihrer Verkuumlnder ndash die Erinnerung an die kulturelle Pose jener bdquohochmuumltigen Kasteldquo ein die Baudelaire 863 beschrieben hat deren bdquobrennendes Beduumlrfnisldquo darin bestand bdquosich innerhalb der Grenzen des Geziemenden eine Originalitaumlt zu schaf- fen eine Art Kult mit sich selberldquo Die Rede ist vom bdquoDandysmusldquo und dessen bdquoculte de soi-mecircmeldquo jenem bdquoletzten Aufleuchten des Heroismus in Zeiten des Verfallsldquo der bdquohauptsaumlchlich in Uumlbergangs- epochen (erscheint) wenn die Demokratie noch nicht allmaumlchtig ist und die Aristokratie noch nicht gaumlnzlich abgewirtschaftet hatldquoGewiszlig der Dandy ist in unseren Augen ein laumlcherliches Zerrbild des

bdquoHeroismusldquo aber die zeitliche Einordnung dieses bdquoAuf leuchtensldquo stimmt genau bdquoDie furchtbare Dekadenz der lateinischen Rasseldquo beklagte Le Bon in seiner Voumllkerpsychologie von 894 ebenso wie das die Schriftsteller J K Huysmans (bdquoGegen den Strichldquo 884) Paul Bourget (bdquoDer Schuumllerldquo 889) und Maurice Barreacutes (bdquoDie Ent- wurzeltenldquo 898) tatenJ Peacuteladan dessen Roman bdquoFinis Latinorumldquo (898) als 3 Band der 2-baumlndigen Reihe bdquoLa deacutecadence latineldquo (884ndash925) erschien hatte dem Unheil sogar durch die Gruumlndung eines mystischen

EINFUumlHRUNG XIX

Rosenkreuzer-Bundes (888) zu wehren versucht Aumlhnliche Gedan-ken bewegten in Deutschland Stefan George der sich 889 in Paris fuumlr Baudelaires Dandy-Ideal begeistert hatte In den bdquoBlaumlttern fuumlr die Kunstldquo veroumlffentlichte er 902 ein Weihespiel das den Titel traumlgt

bdquoDie Aufnahme in den Ordenldquo Darin verkuumlndet der Groszligmeister dem Juumlngling bdquoDen Voumllkern ungeahnt ist hier in hut hellip Die vor der Allerstarrung wahrt die glut ndash hellip Kein wachtet der vor ihr sein blut erwaumlgeldquoMan schwaumlrmte fuumlr die Gralsritter und fuumlr Wagners bdquoParsivalldquo Nicht einmal Freud widerstand als ihm Ernest Jones die Idee eines geheimen Leitungsgremiums der Psychoanalyse einfluumlsterte jedoch bestand er in seinem Brief vom 26 Dezember 92 ausdruumlcklich darauf bdquodaszlig die Existenz des Bundes und seine Aktionen ein absolu- tes Geheimnis zu bleiben haumlttenldquo So ganz im Verborgenen wirken wollte man aber doch auch wieder nicht und so trug denn jeder der sieben Herren einen goldenen mit einer antiken Gemme gezierten Ring am FingerDie Gefahr wie sie in Paris die Retter sahen schilderte am 0 April 886 die Zeitung bdquoLe Deacutecadentldquo nach Mario Praz wie folgt bdquoEs waumlre der Gipfel des Wahnsinns sich den Stand der Dekadenz den wir erreicht haben nicht klarzumachen Religion Sitten Gerechtig- keit ndash alles verfaumlllt hellip Die Gesellschaft loumlst sich unter der Wirkung einer zersetzenden Zivilisation auf Der moderne Mensch ist uumlbersaumlt- tigt Verfeinerung der Begierden der Empfindungen des Geschmacks des Luxus der Vergnuumlgungen Neurose Hysterie Hypnotismus Morphiumsucht wissenschaftliche Scharlatanerie uumlberspannte Verehrung von Schopenhauers Philosophie sind die Vorboten des sozialen VerfallsldquoAus Wien lieszlig sich 893 mit einem Aufsatz uumlber Gabriele DrsquoAnnun- zio der 29-jaumlhrige Hugo von Hofmannsthal in der gleichen Tonart vernehmen bdquoHeute scheinen zwei Dinge modern zu sein Die Ana- lyse des Lebens und die Flucht aus dem Leben hellip Modern sind alte Moumlbel und junge Nervositaumlten hellip Wir haben nichts als ein senti- mentales Gedaumlchtnis einen gelaumlhmten Willen und die unheimliche Gabe der Selbstverdoppelung Wir schauen unserem Leben zu hellip Wir hellip Ich rede von ein paar tausend Menschen in den groszligen europaumlischen Staumldten verstreut hellip Sie fuumlhlen sich mit schmerzlicher Deutlichkeit als Menschen von heute sie verstehen sich miteinander und das Privilegium dieser geistigen Freimaurerei ist fast das einzige was sie im guten Sinn vor den uumlbrigen voraushaben hellipldquo (Werke

XX EINFUumlHRUNG

VIII S 75 f) Abermals ein Orden der Wenigen im Kontrast zubdquoden uumlbrigenldquoMan sprach in Paris und in Wien vom bdquoFin de siegravecleldquo als ginge es um den bdquoUntergang des Abendlandesldquo jedoch litt man in Frankreich das tonangebend war im wesentlichen unter den Spannungen die der Schweizer Publizist P Seippel 905 auf die Formel bdquoles deux Francesldquo gebracht hatte Die Geister schieden sich am Phaumlnomen der Franzoumlsischen Revolution von 789 in der die einen den hoffnungs- vollen Aufbruch in eine neue Zeit erblickten die anderen aber den Anfang vom Ende In der Tat bedurfte es der schweren Staatskrise von 877 bis der 4 Juli im Gedenken an den Bastille-Sturm zum Staatsfeiertag werden konnteLe Bon stand auf Seiten der Traditionalisten jedoch distanzierte er sich von den bdquoLieblingsschriftstellern der jetzigen Bourgeoisieldquo (S 3)

ndash gemeint waren damit offenbar Huysmans (848ndash907) Barreacutes (862ndash923) und Charles Peacuteguy (873ndash94) ndash jenen bdquoNeubekehr- tenldquo mit ihrem bdquoverzweifeltem Appell an die sittlichen Kraumlfte der Kircheldquo er setzte als Arzt auf die heilende Wirkung der Wissen- schaftWie jene erblickte er aber im Sozialismus den er immer wieder ndash vor allem in der bdquoPsychologie du socialismeldquo (898) ndash angriff die Negation von Kultur bdquoDer Sozialismusldquo heiszligt es in der Voumllkerpsy- chologie bdquoscheint zur Zeit die schwerste Gefahr zu sein von der die europaumlischen Voumllker bedroht werden (er) stellt den neuen Glauben der ungeheuren Menge der Enterbten darldquo (894 S 36) Nicht viel anders klang es in Baudelaires Dandy-Aufsatz von 863 bdquoAber leider erstickt der steigende Schlamm der Demokratie der sich uumlber alles legt und alles gleichmacht Tag um Tag diese letzten Vertreter des menschlichen Stolzesldquo ndash die DandiesObwohl er von den Modenarren die sich selbst bisweilen bdquoles incroyablesldquo ndash die Unglaublichen ndash nannten kaum sehr viel gehal- ten haben duumlrfte war Le Bon im Prinzip der gleichen Ansicht wie sie bdquoSobald der Sozialismus ein Land unterjocht hat besteht seine einzige Aussicht sich einige Zeit zu erhalten darin daszlig er alle die Individuen bis auf das Letzte verschwinden laumlszligt die eine so groszlige Uumlberlegenheit besitzen um sich ndash wenn auch nur in geringem Maszlige

ndash uumlber den niedrigsten Durchschnitt zu erhebenldquo (894 S 30) Voumlllig grundlos waren solche Aumlngste nicht sie konnten sich einerseits auf die Erfahrungen mit der Pariser Kommune von 87 berufen und andererseits auf das anarchistische Programm Bakunins

EINFUumlHRUNG XXI

wie es z B in den bdquoDaumlmonenldquo Dostojewski (87 72) schildern laumlszligtbdquoDas Hauptprinzip ist die Gleichheit Ais erstes wird das gesamte Bildungsniveau gesenkt hellip Wir brauchen keine Hochbegabten hellip wir werden jedes Genie im Keim ersticken Alles wird auf einen Nenner gebracht volle Gleichheit hergestelltldquoFuumlr Le Bon kann Gleichheit jedenfalls bdquonur im Untergeordneten bestehen sie ist der dunkle druumlckende Traum vulgaumlrer Mittelmaumlszligig- keit hellip Sollte Gleichheit in der Welt herrschen so muumlszligte man allmaumlhlich alles was den Wert einer Rasse ausweist auf das Niveau des am tiefsten stehenden was diese Rasse besitzt herabdruumlckenldquo (894 S 23) Genau das aber sind bdquodie Forderungen der Massenldquo die heute bdquonach und nach immer deutlicher (werden sie) laufen auf nichts Geringeres hinaus als auf den gaumlnzlichen Umsturz der gegen- waumlrtigen Gesellschaft um sie jenem primitiven Kommunismus zuzufuumlhren der vor dem Beginn der Kultur der normale Zustand aller menschlichen Gesellschaft warldquo (S 3)Es ist das Hauptresultat seiner Schaumldelmessungen von dem er sich unbeirrt leiten laumlszligt Je differenzierter umso houmlher Gleichheit ist unten bei den Massen bdquoAllein durch die Tatsache Glied einer Masse zu sein steigt der Mensch also mehrere Stufen von der Leiter der Kultur hinabldquo (S 7) Dort wo die Individualitaumlt verschwindet gilt das bdquoGesetz der seelischen Einheit (de lrsquouniteacute mentale) der Massenldquo Oswald Spengler umschrieb es ohne Le Bon auch nur zu nennen im bdquoUntergang des Abendlandesldquo (922) bdquoEine zufaumlllige Menge wird auf der Straszlige zusammengeballt sie hat ein Bewuszligtsein ein Fuumlhlen eine Sprache bis die kurzlebige Seele erlischt und jeder seines Weges gehtldquo (II S 22)Daszlig ein Mensch aus einem vergleichsweise so geringem Anlaszlig sogleich bdquomehrere Stufen von der Leiter der Kulturldquo hinabsteigt ist schwer vorzustellen ndash es sei denn man spraumlche mit Freud von der

bdquoRegression der seelischen Taumltigkeit auf eine fruumlhere Stufe wie wir sie bei Wilden oder bei Kindern zu finden nicht erstaunt sindldquo (92 S 29) Genau das geschieht auch in der Hypnose durch die bdquoder Hypnotiseur beim Subjekt ein Stuumlck von dessen archaischer Erb- schaftldquo weckt bdquoDer unheimliche zwanghafte Charakter der Mas- senbildung der sich in ihren Suggestionserscheinungen zeigt kann also wohl mit Recht auf ihre Abkunft von der Urhorde zuruumlckge- fuumlhrt werdenldquo meinte Freud (92 S 42)Urhorden hat Le Bon so wenig jemals gesehen wie Freud aber er kannte aus eigener Anschauung die Restbestaumlnde sozusagen die Kadaver groszliger Kulturen Nationen oder Rassen Zwischen den drei

XXII EINFUumlHRUNG

Begriffen pflegte er uumlbrigens nicht besonders genau zu unterschei-den in einer romanischen Sprache denkend erschienen ihm ganz unwillkuumlrlich die Rassen als die bdquoWurzelnldquo aus denen sich ndash von einer Nation gepf legt ndash die Kultur wie ein Gewaumlchs entfaltet In die Rolle des Leichenbeschauers geriet der Arzt durch seine voumllkerkundlichen Studien bdquoDer Mensch und die Gesellschaften ihr Ursprung und ihre Geschichteldquo (88) und bdquoDie Kultur der Araberldquo (884) die ihm notwendig erschienen nachdem die Schaumldelmessun- gen zu der Korrelation zwischen kulturellem Niveau und Differen- ziertheit gefuumlhrt hatten Auf Grund dieser Arbeiten erhielt er 884 von der Franzoumlsischen Akademie den Auftrag in Indien die buddhi- stischen Baudenkmaumller zu inventarisieren Hier sah er nun zwischen den Zeugen einer unstreitig groszligen Vergangenheit das Elend der kolonialen Gegenwart Mengen von Menschen denen ihre Geschichte nichts mehr bedeutet und die der Fremde der mit ihnen nicht einmal reden konnte als Individuen kaum voneinander zu unterscheiden vermochte Sie sehen fuumlr ihn alle gleich aus Das ist die Masse schlechthin der Endzustand des Zerfalls bdquoDann geschieht es daszlig die Menschen hellip sich nicht mehr regieren koumlnnen und danach verlangen in den unbedeutensten Handlungen gefuumlhrt zu werden hellip Mit dem endguumlltigen Verlust des fruumlheren Ideals verliert die Rasse zuletzt auch ihre Seeie sie ist dann nur noch eine Menge alleinstehender Einzelnerldquo (S 53)Zunaumlchst fanden diese Beobachtungen ihren Niederschlag in mehre- ren Buumlchern bdquoDie Kulturen Indiensldquo (887) bdquoDie fruumlhen Kulturen des Orients (889) und bdquoDie Kunstdenkmaumller Indiensldquo (89) Ihnen folgten dann aber in schnellem Tempo die Schriften in denen Le Bon mit dem Einsatz allrsquo seiner Uumlberredungskunst den europauml- ischen Nationen und in erster Linie Frankreich das indische Schick- sal ersparen wollte das sich mit der im Fin de siegravecle mancherorts liebend gepflegten Dekadenz bereits anzudeuten schien bdquoDie psy- chologischen Grundgesetze der Voumllkerentwicklungldquo (894) bdquoDie Psychologie der Massenldquo (895) bdquoDie Psychologie des Sozialismusldquo (898) bdquoDie Psychologie der Erziehungldquo (902) bdquoDie politische Psycholgieldquo (902) sowie bdquoDie franzoumlsische Revolution und die Psy- chologie der Revolutionenldquo (903)Nach naturphilosophischen Abhandlungen (bdquoDie Evolution der Materieldquo 905 und bdquoDie Evolution der Kraumlfteldquo 907) wandte sich

bdquoDie Welt des alten Indienldquo uumlbers von H Leonhardt Verlag Herbig Muumlnchen 974

EINFUumlHRUNG XXIII

Le Bon der inzwischen die Leitung der Bibliothegraveque de Philosophiescientifique uumlbernommen hatte waumlhrend des Weltkrieges und nach diesem noch einmal der Politik zu bdquoDie psychologischen Lehren des europaumlischen Kriegesldquo (96) bdquoDie Psychologie der neuen Zeitldquo (920) bdquoDie Welt aus dem Gleichgewichtldquo (923) und bdquoDie gegen- waumlrtige Entwicklung der Weltldquo (927)Die Hektik seines Publizierens hat etwas Unheimliches an sich den Schluumlssel zum Verstaumlndnis enthaumllt eine Bemerkung in der bdquoPsycholo- gie des foulesldquo bdquoDie Massen sind so etwas wie die Sphinx der antiken Sage man muszlig die Fragen die ihre Psychologie uns stellt loumlsen oder darauf gefaszligt sein von ihnen verschlungen zu werdenldquo (S 7)Die Symbolisten haben mit dem Maler Gustave Moreau (826ndash894) an der Spitze bdquodie sinnbildliche Gottheit unzerstoumlrbarer Wollust die Goumlttin der unsterblichen Hysterieldquo (Huysmans 884)

bdquodas unbewuszligte Geschoumlpf ldquo (Moreau) ndash die Sphinx oder auch Salome ndash immer wieder als die groszlige faszinierende Gefahr darge- stellt an der in der dekadenten Hingabe der maumlnnliche Kulturwille scheitern muszlig In Peacuteladans Romanen verfaumlllt von den zur Rettung der Kultur erkorenen Helden einer nach dem anderen diesem Schicksal und in den nachgelassenen Notizen aus Baudelaires letz- tem Lebensjahr (867) wird ganz unumwunden festgestellt bdquoDie Frau ist das Gegenteil des Dandy also muszlig sie Grauen erregenldquo In den romanischen Sprachen ist auch der Tod ndash la mort ndash ein Femi- ninum vielleicht die Ruumlckkehr in den Mutterschoszlig der Erde Le Bon kannte das Grauen aus Indien wo er ndash wie es scheint ndash das Thema seiner Erstlingsschrift den Scheintod uumlberhaupt nicht mehr in Erwaumlgung gezogen hatte Jetzt ndash Freud auch darin verwandt ndash sah er sich zur Uumlbernahme der Oumldipus-Rolle verpflichtet

III Gruppen ndash nicht Massen

Von den Vielen den bdquoPolloildquo deren bloszlige Anzahl fuumlr Stefan George bereits bdquoFrevelldquo ist sprach Platon meist im Ton gnadenloser Gering- schaumltzung Daszlig bdquodie Meisten schlecht sindldquo das Maszlig aber das Beste weiszlig man aus den Merkspruumlchen welche die Sieben Weisen dem abendlaumlndischen Denken mit auf den Weg gegeben haben Diese Thesen stammen wann und wo immer sie auftreten aus dem Kampf um die Demokratie bzw gegen ein allgemeines Wahlrecht Beson-

XXIV EINFUumlHRUNG

ders gern wird mit ihnen auf das Scherbengericht (Ostrakismos)hingewiesen durch das Kleisthenes in Athen seine Reformen (509 507 v Chr) gegen das Wiedererstarken der Adelspartei absichern wollte Es bedurfte dabei bloszlig eines Quorums von 6 000 Buumlrgern um eine missliebige Persoumlnlichkeit binnen zehn Tagen zum Verlassen des Landes zu zwingen ohne daszlig es erforderlich gewesen waumlre ihr irgendwelche Vergehen nachzuweisenDas System bleibt unheimlich auch wenn bdquosoviel man weiszlig hellip der Ostrakismos in Athen erfolgreich nur etwa zehnmal zur Anwendung (kam) ehe man ihn aufgabldquo (Tarkiainen 972) Hier ist deutlich die

bdquoNivellierungldquo am Werk vor der Le Bon warnte Umso erstaunli- cher ist daszlig Aristoteles in seiner bdquoPolitikldquo (284 b) einen sehr milden Vergleich waumlhlte bdquoAuch der Chormeister wird doch den nicht im Chor mitsingen lassen dessen Stimme an Kraft und Schoumln- heit die des ganzen Chores uumlbertrifftldquo Er zog daraus den Schluszlig

bdquodie Idee des Scherbengerichts (habe) bei anerkannten Uumlberlegenhei- ten ein gewisses Recht vom Standpunkt des Staates aus Besser (sei) es freilich wenn der Gesetzgeber von vornherein die ganze Verfas- sung so einrichtet daszlig es eines solchen Heilmittels nicht bedarfldquo Die Nivellierung als bdquoHeilmittelldquo ndash bdquoiatreialdquo heiszligt es im Griechi- schen ndash auch Aristoteles war Arzt (iatros)Man kann sich wenn man Le Bonrsquos Ansichten teilt zwar auf viele Vorlaumlufer berufen ndash insbesondere auf Platon ndash nicht aber auf Aristoteles der nicht nur in der bdquoPolitikldquo sondern auch in der bdquoMetaphysikldquo fuumlr Mitbestimmungsverfahren plaumldierte bdquoObwohl kein einzelner (die Wahrheit) angemessen zu erreichen vermag koumln- nen wir doch nicht alle dabei versagen jeder stellt eine Behauptung auf uumlber die Natur und als einzelner traumlgt er nichts oder nur wenig zur Erkenntnis bei aber aus der Vereinigung aller resultiert etwas Groszliges an Wissenldquo (993 b) bdquoDaher beurteilen ja auch die Vielen die Werke von Musikern und Dichtern am besten naumlmlich der eine diese der andere jene Seite an denselben aile zusammen aber das Ganzeldquo (28 b)Die Diskussion entbrennt immer wieder Niccolograve Macchiavelli (467ndash527) der in Florenz nach dem Sturz der Medici (494) als Republikaner ziemlich bald (489) zu hohen Staatsaumlmtern aufgestie- gen ist die er 52 nach der Ruumlckkehr der Medici auch prompt wieder verliert kennt zwar auch den Spruch bdquoWer dem Volk ver- traut hat auf Sand gebautldquo (Chi fonda in sul populo fonda in sul fango) aber er haumllt ihn fuumlr ein bdquoabgedroschenes Sprichwortldquo (pro-

EINFUumlHRUNG XXV

verbio trito) das nur unter bestimmten Voraussetzungen gilt (IlPrincipe 53 cap IX) Grundsaumltzlich aber meint er bdquodaszlig ein Volk kluumlger und bestaumlndiger und von richtigerem Urteil ist als ein Fuumlrst Nicht ohne Grund sagt man daher Volkes Stimme Gottes Stimme Die oumlffentliche Meinung prophezeit so wunderbar richtig als saumlhe sie vermoumlge einer verborgenen Kraft ihr Wohl und Wehe vorausldquo (Discorsi 53ndash59 I cap 58) Ein wenig wie pro domo gespro- chen klingt der Zusatz bdquoMan sieht auch daszlig das Volk bei der Besetzung der Aumlmter eine viel bessere Wahl trifft als ein Fuumlrstldquo ndash aber im Grunde war das ja auch die aristotelische Lehrmeinung Die nicht weniger plausible Gegenthese findet sich bei Descartes im

bdquoDiscours de la Meacutethodeldquo (II 4) bdquoStimmenmehrheit ist kein Beweis angesichts von schwer zu entdeckenden Wahrheiten denn es ist weit wahrscheinlicher (plus vraisemblable) daszlig ein Mensch allein sie fin- det als ein ganzes Volkldquo Obwohl sich diese Uumlberlegung durch eine einfache Rechnung bestaumltigen laumlszligt fuumlhrt sie auf einen Irrweg Geht man naumlmlich davon aus daszlig jedes Einzelindividuum eine von seiner Begabung Bildung und Motivation abhaumlngige Wahrscheinlichkeit p

fuumlr die Loumlsung eines bestimmten Problems besitzt dann liegt deren Wert zwischen Null und Eins 000 le pi le 00 Die Findewahr- scheinlichkeit einer groszligen Anzahl von n Personen (pn) entspraumlche aber dem Produkt aller Einzelwerte das zweifellos sehr viel kleiner als der einzelne pi-Wert ist pn = pi ∙ pi2 hellip pin lt pi

Zur Veranschaulichung diene eine Untersuchung von P R Laughlin und seinen Mitarbeitern (975) in der amerikanischen College-Stu- denten zuerst einzeln die 5 Aufgaben eines recht schwierigen Tests der verbalen Intelligenz bearbeiteten Die durchschnittliche Loumlsungs- wahrscheinlichkeit belief sich fuumlr Einzelpersonen auf pi = 042 waumlhrend sie fuumlr Dreiergruppen auf p3 = 058 anstieg die Gruppen waren somit im Schnitt erfolgreicher als die Einzelnen Die Empirie spricht fuumlr Aristoteles und Macchiavelli aber gegen Descartes und Le Bon obwohl rechnerisch Descartes natuumlrlich Recht behaumllt das Pro- dukt von 042 ∙ 042 ∙ 042 = 007 ist sehr viel kleiner als die Trefferwahrscheinlichkeit einer EinzelpersonSofern es sich um eine Gruppe handelt ist es freilich auch gar nicht erforderlich daszlig jedes ihrer Mitglieder alle Teilaufgaben loumlst man kann sich die Arbeit ganz im Sinne des Aristoteles so teilen daszlig bdquoder eine diese der andere jene Seite (beurteilt) alle zusammen aber das Ganzeldquo Versagen wuumlrde daher ein Team nur wenn keines seiner Mitglieder einen Treffer erzielt Die Wahrscheinlichkeit dafuumlr belaumluft

EINFUumlHRUNGXXVI

sich auf das Produkt der drei individuellen Nicht-Finde-Wahrschein-lichkeiten von qi = ndash pi = 058 somit auf 058 ∙ 058 ∙ 058 = 020 Gegenuumlber dieser kollektiven Nicht-Finde-Wahrscheinlichkeit hat daher die Dreiergruppe eine kollektive Finde-Wahrscheinlichkeit von p3 = ndash qi

3 = 080Im Experiment sind die Erfolge der Gruppen hinter diesem Wert mit p3 = 058 erheblich zuruumlckgeblieben obwohl sie ndash wie gesagt ndash houmlher lagen als die einzelnen Finde-Wahrscheinlichkeiten von im Schnitt 042 Das ist wenn man den hier vorgestellten Ansatz empi- risch uumlberpruumlft fast immer der Fall denn dieser beschreibt ein Optimum fuumlr dessen Erreichung eine Reihe von noch zu eroumlrtern- den Voraussetzungen besteht Zunaumlchst aber ist festzuhalten daszlig Experimentalgruppen in der Regel bei intellektuellen Suchaufgaben besser abschneiden als die durchschnittliche Einzelperson das schlieszligt jedoch keineswegs die Moumlglichkeit aus daszlig diese oder jene Einzelperson auch die optimale Gruppenleistung weit uumlberbieten kannDas Modell der kollektiven Optimalleistung das in den Fuumlnfziger- jahren von mehreren Autoren fast gleichzeitig formuliert wurde (P R Hofstaumltter 97) laumlszligt sich zu dem Ausdruck verallgemeinern daszlig die Wahrscheinlichkeit des Sucherfolges einer aus n Personen bestehenden Gruppe dem Komplimentaumlrwert der n-ten Potenz der durchschnittlichen Nicht-Finde-Wahrscheinlichkeit (qi) entsprichtpn = ndash qi

n Bedenkt man allerdings wie stark pn mit zunehmender Gruppengroumlszlige (n) selbst bei geringen Ausgangswerten ansteigt ver- liert das Modell einiges an Glaubwuumlrdigkeit Bei einer an sich gerin- gen individuellen Findewahrscheinlichkeit von pi = 00 braumlchten es n = 30 Personen bereits auf eine kollektive Findewahrscheinlichkeit von p30 = 096 der Erfolg waumlre ihnen damit nahezu sicher Im Extrem uumlbersteigert wuumlrde die Maxime daher lauten Man nehme eine genuumlgend groszlige Anzahl von Dummkoumlpfen dann laumlszligt sich jedes Problem nahezu mit Sicherheit loumlsen Das aber ist natuumlrlich barer UnsinnLe Bon haumltte zweifellos seinen Spaszlig gehabt an dieser Utopie demo- kratischer Wunschtraumlume obwohl er von seinen Schaumldelmessungen her durchaus Sinn fuumlr mathematisch-statistische Uumlberlegungen hatte Ernsthaft erwaumlgenswert wird unser Ansatz erst durch die Beruumlck- sichtigung der ihm innewohnenden vier Bedingungen die ndash sieht man genauer zu ndash eine nach der anderen Eigenschaften von Massen ausschlieszligen Was zunaumlchst die bdquoDummkoumlpfeldquo anlangt ist festzu-

EINFUumlHRUNG XXVII

stellen daszlig Personen mit einer absoluten Nicht-Finde-Wahrschein-lichkeit von qi = 00 nichts zur Verringerung des Produkts der q- Werte beitragen Ihre Beteiligung an der gemeinsamen Suchleistung wuumlrde daher bloszlig durch einen uumlberhoumlhten Wert von n den Ansatz verfaumllschen Vorausgesetzt wird daher zunaumlchst daszlig alle individuel- len pi-Werte groumlszliger als Null sindAn zweiter Stelle gilt daszlig die einfache Multiplikation von Wahr- scheinlichkeiten nur dann zulaumlssig ist wenn es sich dabei um unab- haumlngige Wahrscheinlichkeiten handelt Ausgeschaltet werden daher nach den Dummkoumlpfen nun auch die bloszligen Nachahmer die in den Suchvorgang keine eigene d h unabhaumlngige Findewahrscheinlich- keit einbringen Das Modell verlangt somit nicht nur einen gewissen Grad von Intelligenz sondern auch die im Charakter begruumlndete Selbstaumlndigkeit die Bereitschaft auf eigene Faust unter Umstaumlnden auch einen Fehler zu riskieren und bisweilen eine nicht unerhebliche Widerstandskraft gegenuumlber Einfluumlssen aus der Umwelt Bis zu den

bdquoselbstseienden Menschenldquo von Jaspers braucht man diese Forde- rung freilich nicht hinaufzuschraubenAn dritter Stelle wird eine gewisse Gruppenloyalitaumlt in dem Sinn verlangt daszlig der eine der etwas gefunden zu haben glaubt den anderen seinen Befund auch prompt mitteilt Man nennt das die Kommunikations-Bedingung deren Einhaltung bei den Gruppen- mitgliedern eine gemeinsame Sprache ein gemeinsames Ziel und zusaumltzlich die fuumlr Uumlberlegung und Verstaumlndigung erforderliche Zeit voraussetzt In besonderem Maszlige unterliegen dieser Bedingung in unserer Gesellschaft die als bdquoProfessorenldquo bezeichneten Such-Spezia- listen deren Titel sie zwar nicht zu Gestaumlndnissen dafuumlr aber zur Mitteilung ihrer Forschungsergebnisse verpflichtet damit diese in der allgemeinen Diskussion uumlberpruumlft werden koumlnnen Von Kennern der Verhaumlltnisse ist zu erfahren daszlig auch dafuumlr Charaktereigen- schaften erforderlich sind Auch wenn diese vorhanden sind wird es mit zunehmender Personenzahl immer schwieriger und bald sogar unmoumlglich daszlig jeder sich mit jedem austauscht Die Gruppengrouml- szligen die in dem Modell einen so positiven Effekt hat wird auf diese Weise in der Praxis allmaumlhlich zu einem wesentlichen Hindernis fuumlr dessen AnwendungAm schwierigsten ist sowohl zu schildern als auch zu befriedigen die an vierter Stelle in dem Modell enthaltene sog Akzeptierungsbedin- gung die vorsieht daszlig die Gruppe als ganze in der Lage ist jeden echten Fund zu akzeptieren bzw jeden Fehler als solchen abzuleh-

EINFUumlHRUNGXXVIII

nen Akademische Gremien sind ndash wie man aus der Wissenschafts-geschichte weiszlig ndash nicht immer in der Lage gewesen dieser Forde- rung gerecht zu werden da diese ja auf Seiten der Gesamtgruppe so etwas wie Allwissenheit voraussetzt Das waumlre unsinnig Wir muumlssen uns daher ersatzweise mit Regeln und Strategien begnuumlgen wie sie z B fuumlr die Urteilsfindung in Geschworenenprozessen entwickelt wurden bdquoZweier oder dreier Zeugen Mundldquo fordert schon die Bibel (5 Mose 7 6) Wuumlrde man von Geschworenen nur einstimmige Entscheidungen annehmen muumlszligten vergleichsweise viele Verfahren an der Unmoumlglichkeit scheitern ein Urteil zu finden Geringer ist diese Gefahr wenn eine Jury nur mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit (8 von 2 oder 4 von 6 Stimmen) zu entscheiden braucht

Es ist kaum zu vermeiden daszlig sich an dieser Stelle fruumlher oder spaumlter die Frage nach den Qualifikationen erhebt die eine Person besitzen muszlig oder wenigstens sollte um an kollektiven Such- und Entscheidungsprozessen mitwirken zu koumlnnen Die Erinnerung an den bisweilen mit mehr Brutalitaumlt als Sachverstand gefuumlhrten Streit um die Zusammensetzung akademischer Gremien der bei uns noch kaum ein Jahrzehnt zuruumlckliegt zeigt erschreckend deutlich wie leicht eine fuumlr rationale Leistung bestimmte Gruppe zur Masse im Sinn Le Bons degenerieren kann Auf jeden Fall ist man nun wieder in der Politik wo Machtkonstellationen uumlber Mitbestimmungsrechte zu entscheiden pflegenMacchiavelli der sich in den bdquoDiscorsildquo mit dem roumlmischen Histori- ker Livius auseinandersetzte hat dessen These zuruumlckgewiesen es sei bdquodie Natur der Menge daszlig sie entweder sklavisch dient oder uumlbermuumltig herrschtldquo (XXIV 25) Haec natura multitudinis est aut servit humiliter aut superbe dominatur bdquoWas unsere Geschichts- schreiber von der Natur der Menge sagen gilt nicht fuumlr eine durch Gesetze gezuumlgelte Menge wie die roumlmische sondern fuumlr eine zuumlgel- lose wie die syrakusanische welche die Verbrechen rasender und zuumlgelloser Menschen beging hellip Denn ein Volk mit guter Verfas- sung wird bestaumlndig klug und dankbar sein so gut wie ein Fuumlrst ja mehr als ein Fuumlrstldquo (I cap 58)Der hier vorgenommenen Einschraumlnkung auf bdquodurch Gesetze gezuuml- gelte Mengenldquo entsprechen im Teilbereich der intellektuellen Such- leistungen die Voraussetzungen fuumlr das Wahrscheinlichkeitsmodell Da ihnen gerecht zu werden an sich schon schwierig ist und mit zunehmender Gruppengroumlszlige immer schwieriger wird liegt die empirisch ermittelte Erfolgswahrscheinlichkeit von Gruppen wie in

EINFUumlHRUNG XXIX

dem vorhin geschilderten Beispiel fast immer deutlich unter demtheoretischen Optimalwert z B also bei p3 = 058 statt bei 080 Daran knuumlpft sich sofort die empirische Frage nach den situativen Bedingungen welche fuumlr die Erfuumlllung der rationalen Voraussetzun- gen guumlnstig bzw schaumldlich sind Als eher schaumldlich erweist sich wie der amerikanische Psychologe I L Janis (972) gezeigt hat das

bdquoGruppendenkenldquo (groupthink) d h der intellektuelle Gruppen- zwang fuumlr den es eine Reihe von Symptomen gibt ein uumlbersteigertes Selbstvertrauen der Gruppe das emotional bedingte Pochen auf die Gemeinsamkeit des Denkens Fuumlhlens und Urteilens sowie die Angst einzelner Gruppenmitglieder davor sie koumlnnten als illoyal erscheinen Wenn die Dinge in einem Team so liegen ndash und das ist besonders leicht dort der Fall wo an der Spitze eine Persoumlnlichkeit mit hohem Prestige steht ndash versagt die gruppeninterne Kritik an den Plaumlnen leicht es herrscht dann zuviel EintrachtZur Veranschaulichung wird in der Fachliteratur gerne das Kuba- Unternehmen von Praumlsident Kennedy im April 96 herangezogen das mit der Landung in der Schweinebucht klaumlglich scheiterte Es laumlszligt sich zeigen daszlig zum Zeitpunkt der geplanten Invasion zahlrei- che Tatsachen bekannt waren die in ihrer Gesamtheit das Vorhaben als viel zu riskant haumltten erscheinen lassen muumlssen Sie wurden aber von dem Stab zu dem Kennedy das Praumlsidialamt umgestaltet hatte und der unter seinem Vorsitz tagte nicht in ausreichender Weise beachtet Man wollte Entschluszligkraft zeigen nachdem der vorherge- gangenen Eisenhower-Administration deren Zaudern zum Vorwurf gemacht worden war Das Ergebnis war ndash ganz nuumlchtern betrachtet

ndash ein Verstoszlig gegen die Voraussetzungen des Suchmodells die Mitglieder des Stabes verstanden nicht ihre Unabhaumlngigkeit zu wah- ren einzelne verzichteten auf die Kommunikation abweichender Ansichten und insgesamt wurde daher eine falsche Loumlsung akzep- tiertEtwas Aumlhnliches scheint 980 Praumlsident Carter bei dem Versuch passiert zu sein die amerikanischen Geiseln aus Teheran herauszu- holen Es faumlllt auf daszlig in beiden Faumlllen die Amtsinhaber eine Auf- bruchsstimmung erzeugt hatten von der auch die Kabinettsrunde erfaszligt wurde bdquoIn gewissen historischen Augenblicken kann ein hal- bes Dutzend Menschen eine psychologische Masse ausmachenldquo heiszligt es bei Le Bon (S ) nach dessen Meinung bdquosich in der Masse die Menschen stets einander angleichen (weshalb) die Abstimmung von vierzig Akademiemitgliedern uumlber allgemeine Fragen nicht mehr gilt als die von vierzig Wassertraumlgernldquo (S 35)

XXX EINFUumlHRUNG

Eine Gruppe ndash und das trifft auch fuumlr Regierungsmannschaften zundash die nicht zur bdquopsychologischen Masseldquo werden will muszlig daher auf die Erhaltung von Distanz zwischen ihren Mitgliedern achten obwohl sich mit dem Gefuumlhl menschlicher Naumlhe ein Erlebnis der Geborgenheit einzustellen pflegt in dem manche Autoren ndash Elias Canetti z B ndash eine bdquoEntladungldquo von Angst und damit das Haupt- motiv fuumlr den Anschluszlig an eine Masse erblickenDie Staumlrke dieses Gefuumlhls der menschlichen Naumlhe bzw der Aurakti- vitaumlt eines Du haumlngt dabei ndash wie wir aus Experimenten von D Byrne (974) wissen ndash sehr erheblich vom Vorhandensein gemeinsa- mer Ansichten und Uumlberzeugungen abJe bedrohlicher eine Situation erscheint umso staumlrker wird das Beduumlrfnis nach der Naumlhe von Gleichgesinnten (S Schachter 959) bzw das Bestrebenldquo die Last der Freiheit loszuwerdenldquo (bdquoEscape from freedomldquo E Fromm 94) bdquoDie Massen hellip scheinen dazu verurteilt zu sein unaufhoumlrlich von der wildesten Anarchie zum druumlckendsten Despotismus zu taumelnldquo meinte Le Bon (894 S 33) bdquoSie scheinen inbruumlnstig die Freiheit zu lieben in Wirklich- keit weisen sie diese immer von sich und verlangen staumlndig vom Staat ihnen Ketten zu schmiedenldquoDas war nicht mehr als eine Variation uumlber die These des Livius mit der sich Macchiavelli auseinandergesetzt hat bdquoaut servit humiliter aut superbe dominaturldquo ndash wobei in Erinnerung zu bringen ist daszlig

bdquodominorldquo trotz seiner Passivform bdquoich herrscheldquo heiszligt Beide ndash Livius und Le Bon uumlbersehen allerdings die Abhaumlngigkeit ihrer Behauptung von bestimmten Rahmenbedingungen bei deren Fehlen ihre These schlicht falsch wird obwohl es natuumlrlich nicht wenige Beispiele fuumlr ihre Richtigkeit gibt vornehmlich in Epochen der groszligen Arbeitslosigkeit der Kriegsangst und der wirtschaftlichen RezessionWas seine Forschungsstrategie anlangt hat Le Bon einen wichtigen Vorschlag des Francis Bacon aus dem bdquoNovum organum scien- tiarumldquo (620) unberuumlcksichtigt gelassen naumlmlich die Sammlung der negativen Instanzen d h der Faumllle in denen ein Effekt nicht in Erscheinung tritt obwohl er auf Grund der Erfahrung mit aumlhnlichen Faumlllen erwartet wird Bei der Erforschung des Wesens der Waumlrme gehoumlrten fuumlr Bacon in die bdquoTable of Deviationldquo unter anderem z B die Beobachtungen daszlig die Strahlen des Mondes und der Sterne sowie das Licht der Gluumlhwuumlrmchen nicht warm sind Sein systemati- sches Vorgehen fuumlr das die eben angedeutete Trennung von Licht

EINFUumlHRUNG XXXI

und Waumlrme nur ein kleines Beispiel ist wurde immerhin mit derseiner Zeit weit vorauseilenden Erkenntnis belohnt daszlig Waumlrme eine Form der Bewegung kleinster Partikel ist (Nov Org II 20)Haumltte Le Bon die Situationen genauer betrachtet in denen aus meh- reren Menschen keine bdquopsychologische Masseldquo wird waumlre er wahr- scheinlich zum Begruumlnder der Gruppendynamik geworden So aber trifft ihn Bacons Vorwurf der zugleich eine interessante sozial- und denk-psychologische Erkenntnis enthaumllt bdquoWenn der Verstand von Anfang an bejahend (d h unter ausschlieszliglicher Beruumlcksichtigung von positiven Instanzen) vorzugehen versucht ndash und das geschieht immer wenn er sich selber uumlberlassen ist ndash so entspringen daraus phantasievolle Meinungen und Vermutungen ungenuumlgend definierte Begriffe und Grundannahmen die jeden Tag revidiert werden muumls- senldquo (II 5) Um gedanklich mit dem Nichtvorhandensein an sich erwarteter Erscheinung zu operieren bedarf es in der Tat erheblicher Selbstdisziplin Daszlig sie in Massensituationen fehlt macht Massen fuumlr propagandistische Behauptungen und fuumlr Klischeevorstellungen so anfaumlllig

IV Risiko und Verantwortung

Was Le Bon berichtet wirkt uumlber weite Strecken so uumlberaus plausi- bel weil in Gruppen fast immer zahlreiche Prozesse ablaufen die deren Bestand gefaumlhrden indem sie aus ihnen bdquopsychologische Mas- senldquo werden lassen Typisch dafuumlr ist ein Versuchsergebnis das 962

ndash im Jahr nach dem Kuba-Desaster ndash aumluszligerst beunruhigend wirkte ndash so sehr daszlig dem Phaumlnomen mittlerweile mehr als vierhundert Einzeluntersuchungen gewidmet wurdenEs ging in der Diplomarbeit die der bis dahin voumlllig unbekannte Herr Stoner der Management-Hochschule des Massachusetts Insti- tute of Technology vorlegte um den sog bdquoRisiko-Schubldquo der zustande kommt wenn sich eine Gruppe auf die Voraussetzungen einigen soll die erfuumlllt sein muumlssen damit eine bestimmte Entschei- dung getroffen oder empfohlen werden kann Bei den einschlaumlgigen Versuchen werden Situationen geschildert in denen jeweils zwei Alternativen zur Auswahl stehen Ein Ingenieur kann z B bei der groszligen Firma fuumlr die er schon seit mehreren Jahren arbeitet in einer relativ bescheidenen Position bleiben oder er kann in einem neuen Unternehmen eine interessantere und besser bezahlte Stellung uumlber-

XXXII EINFUumlHRUNG

nehmen Wie verlockend das Angebot ist haumlngt u a von der wirt-schaftlichen Soliditaumlt der neuen Firma ab Zu beantworten haben die Versuchspersonen daher ndash zunaumlchst einzeln und dann nach einer Diskussion als Gruppe ndash die Frage wie groszlig die Chancen fuumlr eine gedeihliche Entwicklung der neuen Firma sein muumlszligten damit fuumlr den Ingenieur ein Stellenwechsel in Betracht kaumlme Zur Auswahl stehen fuumlr die Antwort die Proportionen 0 bis 9 0 Wer nur wenig an Sicherheit beansprucht wird vielleicht schon bei einem Chancenverhaumlltnis von 3 0 den Wechsel in Erwaumlgung ziehen er gilt damit als besonders risikobereit waumlhrend ein anderer der lieber auf bdquoNummer Sicherldquo setzt ein Chancenverhaumlltnis von 8 0 verlan- gen koumlnnteDas Ergebnis Nach der Diskussion liegt der Sicherheitsanspruch auf den sich die Mitglieder einigen in der Regel niedriger als der Mittelwert ihrer individuellen Schaumltzungen vor der Diskussion Das heiszligt aber ihre Risikobereitschaft hat zugenommen es ist ein

bdquoRisiko-Schubldquo erfolgtDas ist deshalb so beunruhigend weil wir im allgemeinen damit rechnen daszlig Gruppen ndash Expertengremien oder politische Koumlrper- schaften ndash bedachtsamer urteilen als Einzelpersonen und daszlig sie sich weder von den bdquoFalkenldquo noch von den bdquoTaubenldquo zu einem allzugro- szligen Risiko hinreiszligen lassen Genau das aber trifft nicht zu Die Gruppenentscheidung ist fast immer extremer als die mittlere Indivi- dualentscheidung Man spricht allerdings heute lieber von einem Polarisations-Effekt weil Diskussionen nicht immer zu einem ver- ringerten Sicherheitsanspruch fuumlhren (E Witte 979) Ihr Resultat kann auch in umgekehrter Richtung ein uumlberhoumlhter Sicherheitsan- spruch sein durch den unter Umstaumlnden reale Chancen verpaszligt werden koumlnnen Auch das ndash die Untaumltigkeit angesichts von Moumlg- lichkeiten ndash kann gefaumlhrlich bzw bdquoriskantldquo sein Ein nicht geringer Teil der gegenwaumlrtig in der Bundesrepublik ablaufenden Diskussio- nen hat genau dieses Problem zum Gegenstand das Risiko naumlmlich das ein etwaiger Verzicht auf Kernkraftwerke mit sich bringen koumlnnteGruppen diskutieren um zu einer Entscheidung zu gelangen und um handeln zu koumlnnen In diesem Sinn duumlrfte der Polarisations- Effekt durchaus zweckmaumlszligig sein da er ihnen das sprichwoumlrtliche Schicksal des buridanischen Esels erspart Erreicht wird die erhoumlhte Entscheidungsfaumlhigkeit bisweilen allerdings mit Hilfe einer gefaumlhrli- chen Illusion bei der Erinnerungen an die Massenpsychologie

EINFUumlHRUNG XXXIII

anklingen Gemeint ist die ungemein entlastende Vorstellung eslieszlige sich im Fall eines Misserfolges einer Kollektiventscheidung die Gesamtschuld unter den Beteiligten so aufteilen daszlig auf jeden ein- zelnen im Sinne einer bdquoDiffusion der Verantwortungldquo nur ein gerin- ger Bruchteil kommt Eine solche Vorstellung wirkt enthemmendWas alle in einer bestimmten Situation tun kann man schlieszliglich niemandem vorwerfen Es muszlig so heiszligt es fuumlr ein solches Verhal- ten daher aumluszligere in den Umstaumlnden gelegene Gruumlnde geben nicht aber innere Gruumlnde des eigenen Wesens deren man sich spaumlter einmal vielleicht schaumlmen muumlszligte Das ist der Inhalt der in den letzten Jahren entwickelten Theorie der Kausalitaumlts-Zuschreibung (bdquoAttributionldquo H H Kelley u a 980 W Herkner 980) die zwischen bdquoexternalerldquo und bdquoinfernalerldquo Zuschreibung unterscheidet Verantwortung uumlbernehmen heiszligt das eigene Tun bdquointernalldquo aus der eigenen Persoumlnlichkeit deren Faumlhigkeiten Erfahrungen und Motiven ableiten Massen interpretieren dagegen in der Regel bdquoexter- nalldquo Sie sind in ihrem Selbstbild fast immer unschuldig bzw sogar

bdquoOpferldquo der vorherrschenden Verhaumlltnisse Man frage nur randalie- rende Demonstranten Nicht selten berufen sich Massen wenn etwas schiefgegangen ist auf einen Fuumlhrer der dann schnell zum Suumlndenbock wird bdquoDer Nimbus verschwindet immer im Augen- blick des Miszligerfolges Der Held dem die Masse gestern zujubelte wird morgen von ihr angespien hellipldquo meinte Le Bon (S 00)Die Massen mit ihrem bdquounstillbaren Beduumlrfnis regiert zu werdenldquo (894 S 7) zeigen bdquosich selbst uumlberlassen daszlig sie ihrer Zuumlgellosig- keit uumlberdruumlssig instinktiv der Knechtschaft zusteuernldquo (S 34) Beschrieben wird hier einerseits die bdquoautoritaumlre Persoumlnlichkeitldquo im Sinne T W Adornos (950) andererseits bdquodie einsame Masseldquo David Riesmans (950) deren Angehoumlrige sich der Auszligenlenkung uumlberlassen indem sie ihr Tun an dessen Resonanz ruumlckkoppeln Finden sie in der Umwelt Zustimmung machen sie weiter stoszligen sie auf Ablehnung oder Widerstand drehen sie blitzschnell um In beiden Faumlllen wird das auf Unselbstaumlndigkeit oder auch auf Gehor- sam programmierte Individuum dem innengelenkten Menschen gegenuumlbergestellt der sich in erster Linie seinem persoumlnlichen Gewissen verpflichtet fuumlhlt und der es aushaumllt bisweilen sogar mit sich selbst uneins zu seinDiese Begriffsbildungen zu denen man noch den von der Psycho- analyse entwickelten bdquoanalen Typusldquo (908) hinzunehmen kann weisen samt und sonders auf den von Le Bon und den meisten

XXXIV EINFUumlHRUNG

Autoren des Fin de siegravecle befuumlrchteten Untergang des eigenstaumlndigenIndividuums in der Masse hin Im Sinne Heinrich Manns wird es da zum bloszligen bdquoUntertanldquo (96) In dem Aufsatz bdquoReichstagldquo (9) hat ihn der Dichter vorwegnehmend wie folgt beschrieben bdquodieser widerwaumlrtig interessante Typus des imperialistischen Untertanen des Chauvinisten ohne Mitverantwortung des in der Masse ver- schwindenden Machthabers des Autoritaumltsglaumlubigen wider besseres WissenldquoBei Le Bon sind es um die gleiche Zeit ndash in den bdquoLehren aus dem europaumlischen Kriegldquo (96) ndash ebenfalls ganz speziell die Deutschen denen er Autoritaumltsglaumlubigkeit vorwirft bdquoZu den allgemeinen Cha- rakterzuumlgen die man fast bei jedem Deutschen heutzutage findet gehoumlrt neben der Unterwuumlrfigkeit gegenuumlber jeder offiziellen Auto- ritaumlt und ihrer Kameraderie ein hochmuumltiges Gefuumlhl der kollektiven Uumlberlegenheitldquo (96 S 7) Das freilich ist eine recht genaue Uumlber- setzung der Massenformel des Livius bdquoaut servit humiliter aut superbe dominaturldquo Jedoch weiszlig Le Bon noch mehr bdquoMan beob- achtet bei den Intellektuellen ebenso wie beim einfachen Volk den Mangel an Erziehung die Brutalitaumlt und das voumlllige Fehlen ritterli- chen Geistesldquo (96 S 72) bdquoDer Theorie nach ist Deutschland zwar christlich aber der friedfertige Jesus der Bibel ist dort zu einer ebenso wilden Gottheit geworden wie der altertuumlmliche Odin der pausenlos von Eroberungen und Massakern traumlumtldquo (96 S 47) Immerhin einen bdquoArchetypus Wotanldquo hat C G Jung bei den Deutschen 935 auch festgestellt er schreibt ihm zu daszlig er bdquoals autonomer Faktor kollektive Wirkungen erzeugt und dadurch ein Bild seiner eigenen Natur entwirft In Ruhezeiten dagegen (sei) einem die Existenz des Archetyps Wotan unbewuszligt wie eine latente Epilepsieldquo Derlei Gehaumlssigkeiten muumlssen ertragen werden Noch heute sehr bitter zu lesen ist aber Le Bons Resuumlmee aus dem ersten Weltkrieg bdquoEin Volk von Gott dazu auserwaumlhlt die Welt zu erobern und zu beherrschen gibt eine solche Mission nicht so leicht auf Deutschland wird darauf nicht verzichten bevor es nicht meh- rere Male (plusieurs fois) besiegt worden istldquo (96 S 353)Der Autor der Massenpsychologie hat selbst Propaganda getrieben

ndash auf deutscher Seite taten das ebenfalls nicht wenige Schriftsteller und Gelehrte ndash Thomas Mann unter ihnen Im Wiener Kriegsarchiv widmeten sich zur gleichen Zeit Stefan Zweig und Alfred Polgar neben anderen einer Taumltigkeit die Hofmannsthal wenig respektvoll als bdquoHeldenfrisierenldquo bezeichnete ndash man bereitete die Kriegsberichte

EINFUumlHRUNG XXXV

fuumlr den Genuszlig des Publikums entsprechend zu Es besteht somitkein Grund sich gegenseitig etwas nachzutragen freilich ist auch dafuumlr keiner ersichtlich daszlig die linke Antibougeoisie der Weimarer Zeit und weit daruumlber hinaus so gerne bereit war die schon im Altertum formulierten Massenattribute ganz speziell den Deutschen so zuzuschreiben als handelte es sich um die Ergebnisse neuester ForschungAn einige ihrer Angehoumlrigen wandte sich 935 der kurz zuvor aus der orthodoxen Schule ausgeschlossene Psychoanalytiker Wilhelm Reich bdquoSie vernachlaumlssigen die hilflose fuumlhrungsbeduumlrftige ja oft autoritaumltssuumlchtige Struktur der Masse Sie sehen nur deren Freiheits- sehnsucht doch diese Sehnsucht darf mit der Faumlhigkeit frei zu sein hellip nicht verwechselt werdenldquo (935 S 7) Den Schluszlig aus solchen und aumlhnlichen Beobachtungen hatte Lenin schon 902 in Muumlnchen gezogen indem er sich vornahm nicht auf die Spontanei- taumlt der Arbeitermassen sondern auf eine Geheimorganisation streng ausgelesener und sorgfaumlltig geschulter bdquoBerufsrevolutionaumlreldquo zu set- zen bdquoWas den Appell an die Masse zur Aktion betrifft so wird das von selbst kommen sobald es eine energische politische Agitation lebendige und aufruumlttelnde Enthuumlllungen geben wirdldquo denn bdquodas politische Klassenbewuszligtsein kann dem Arbeiter nur von auszligen gebracht werdenldquo heiszligt es in bdquoWas tunldquo (S 08 u 7)Der Zeitgeist der vor Grotesken nicht zuruumlckschreckt will es daszlig genau im gleichen Jahr und ebenfalls in Muumlnchen Stefan George

bdquoDie Aufnahme in den Ordenldquo als Weihespiel entwarf der Juumlngling antwortet darin dem Groszligmeister bdquoDer von den dunklen maumlchten fast verwirrte hellip Dankt dem geboumlte das genesung bringt hellip Zu welchem joch ihr seinen nacken zwingt hellip Um eure ruhe bittet der verirrteldquoIm gleichen Jahr 902 lieszlig in Paris der Neo-Rosenkreuzer Peacuteladan unter dem Titel bdquoPereatldquo den 5 Band der bdquoDeacutecadence Latineldquo erscheinen waumlhrend Le Bon seine bdquoPolitische Psychologieldquo veroumlf- fentlichteKein Zweifel die Diktatoren kannten ob sie nun auf einen nationa- len oder auf einen internationalen Sozialismus zusteuerten den Autor nur zu gut der 894 gemeint hatte bdquoder Sozialismus wird uumlbrigens ein viel zu druumlckendes Regime sein als daszlig er von Dauer sein koumlnnteldquo (894 S 38) Man muszlig hinzusetzen Sie die Diktato- ren hatte Le Bon sich als Leser uumlberhaupt nicht gewuumlnscht

XXXVI EINFUumlHRUNG

LITERATUR

ADORNO T W u a The authoritarian personality New York 950 (dt Studien zum autoritaumlren Charakter Frankfurt 973)BAUDELAIRE CH Der Dandy (863) in Ausgewaumlhlte Werke hgb v Franz Blei Muumlnchen o JBROCH H Massenwahntheorie hgb v P M Luumltzeler Frankfurt 979BYRNE D An introduction to personality Englewood Cliffs 974CANETTI E Masse und Macht Duumlsseldorf 978 2DE MAN H Vermassung und Kulturverfall Bern 950FREUD S Jenseits des Lustprinzips (920) Ges W XIIIFREUD S Massenpsychologie und Ichanalyse (92) Ges W XIIIFREUD S Warum Krieg (932) Ges W XVIFROMM E Escape from freedom New York 94 (dt Die Furcht vor der Freiheit Zuumlrich 945)GOULD S J The mismeasure of man New York 98HAGEMANN W Der Mythos der Masse Beitr z Publizistik Bd 4 Heidel- berg 95HERKNER W (Hgb) Attribution Psychologie der Kausalitaumlt Bern 980HOFSTAumlTTER P R Gruppendynamik Kritik der Massenpsychologie Rein- bek 97 2HOFSTAumlTTER P R Einfuumlhrung in die Sozialpsychologie Stuttgart 973 5 Kroumlner TA Nr 295HOFSTAumlTTER P R Individuum und Gesellschaft Berlin 973JANIS I L Victims of group think Boston 972JASPERS K Die geistige Situation der Zeit Berlin 93JASPERS K Vom Ursprung und Ziel der Geschichte Frankfurt 955 2JUNG C G Wotan Neue Schweiz Rundschau 3 93536KELLEY H H u a Attribution theory and research in Ann Rev Psy- chol 3 980KRONER B Massenpsychologie und kollektives Verhalten in C F Grau- mann (Hgb) Sozialpsychologie Handbuch d Psychol Bd 7 Goumlttin- gen 972LAUGHLIN P R u a Group size member activity and social decision schemes on a intellective task in J personality and social Psychol 3 975LENIN W Was tun (902) Berlin (Ost) 97MACCHIAVELLI N Discorsi sopra la prima Deca di Tito Livio uumlbers v F v Oppeln-Bronikowski Koumlln 965MACCHIAVELLI N Der Fuumlrst uumlbers von R Zorn Stuttgart 955 Kroumlner TA Nr 235MAC DOUGALL The group mind Cambridge 920MILGRAM S u TOCH H Collective behavior crowds and social move- ments in Handbook of social Psychol vol 4 Reading 969MOEDE W Experimentelle Massenpsychologie Leipzig 920

ORTEGA Y GASSET J Der Aufstand der Massen (930) Stuttgart 957PICARD E Gustave Le Bon et son œuvre Paris 909PRAZ M Liebe Tod und Teufel die schwarze Romantik (948) Muumlnchen 98REICH W Masse und Staat (935) enthalten in Massenpsychologie des Faschismus Koumlln 97 2REIWALD P Vom Geist der Massen Zuumlrich 948 3RIESMAN D u a The lonely crowd New Haven 950 (dt Die einsame Masse Reinbek 958)SCHACHTER S The psychology of affiliation Stanford 959SCHICKEDANZ H J (Hgb) Der Dandy Texte und Bilder aus dem 9 Jahrhundert Dortmund 980SCHONAUER F Stefan George Reinbek 960SHAW M E Groupdynamics the psychology of small group behavior New York 976 2SMELSER N J Theorie des kollektiven Verhaltens Koumlln 972SPENGLER O Der Untergang des Abendlandes Muumlnchen 9822SUCHANEK-FROumlHLICH S Kulturgeschichte Frankreichs Stuttgart 968 Kroumlner TA Nr 358TARKIAINEN T Die athenische Demokratie Muumlnchen 972WITTE E H Das Verhalten in Gruppensituationen Goumlttingen 979

LITERATURXXXVIII

VORWORT ZUR ERSTEN AUFLAGE

Meine fruumlhere Arbeit war der Darstellung der Rassenseele gewid- met Hier wollen wir die Massenseele untersuchenDer Inbegriff der gemeinsamen Merkmale die allen Angehoumlrigen einer Rasse durch Vererbung zuteil wurden macht die Seele dieser Rasse aus Wenn sich jedoch eine gewisse Anzahl solcher einzelnen massenweise zur Tat vereinigt so zeigt sich daszlig sich aus dieser Vereinigung bestimmte neue psychologische Eigentuumlmlichkeiten ergeben die zu den Rassenmerkmalen hinzukommen und sich zuweilen erheblich von ihnen unterscheidenDie organisierten Massen haben zu allen Zeiten eine wichtige Rolle im Voumllkerleben gespielt niemals aber in solchem Maszlige wie heute Die unbewuszligte Wirksamkeit der Massen die an die Stelle der bewuszligten Tatkraft der einzelnen tritt bildet ein wesentliches Kenn- zeichen der Gegenwart Ich habe versucht das schwierige Problem der Massen in streng wissenschaftlicher Weise zu behandeln also methodisch und unbekuumlmmert um Meinungen Theorien und Dok- trinen Nur so glaube ich kommt man zur Erkenntnis der Wahr- heit besonders wenn es sich wie hier um eine Frage handelt die die Geister lebhaft erregt Der Forscher der sich um die Erklaumlrung einer Erscheinung bemuumlht hat sich um die Interessen die durch seine Untersuchung beruumlhrt werden koumlnnen nicht zu kuumlmmern Ein ausgezeichneter Denker Goblet drsquoAlviella hat in einer seiner Schrif- ten gesagt ich gehoumlre keiner zeitgenoumlssischen Kritik an und traumlte zuweilen in Gegensatz zu gewissen Folgerungen aller Schulen Hof- fentlich verdient die vorliegende Arbeit das gleiche Urteil Zu einer Schule gehoumlren heiszligt deren Vorurteile und Standpunkte teilen muumlssenIch muszlig jedoch dem Leser erklaumlren warum ich aus meinen Studien Schluumlsse ziehe welche von denen abweichen die sich auf den ersten Blick daraus ergeben z B wenn ich den auszligerordentlichen geisti- gen Tiefstand der Massen feststelle und doch behaupte es sei unge-

Psychologische Gesetze der Voumllkerentwicklung

XXXIX

achtet dieses Tiefstandes gefaumlhrlich die Organisation der MassenanzutastenSorgfaumlltige Beobachtung der geschichtlichen Tatsachen hat mir naumlm- lich stets gezeigt daszlig es ganz und gar nicht in unserer Macht steht die sozialen Organismen die ebenso kompliziert sind wie andere Organisationen jaumlh tiefgehenden Umwandlungen zu unterwerfen Zuweilen ist die Natur radikal doch nicht so wie wir es verstehen daher gibt es nichts Traurigeres fuumlr ein Volk als die Leidenschaft der groszligen Umgestaltungen so vortreff lich sie theoretisch scheinen moumlgen Nuumltzlich waumlren sie nur dann wenn es moumlglich waumlre die Seelen der Voumllker ploumltzlich zu aumlndern Die Zeit allein hat diese Macht Die Menschen werden von Ideen Gefuumlhlen und Gewohn- heiten geleitet von Eigenschaften die in ihnen selbst stecken Ein- richtungen und Gesetze sind Offenbarungen unserer Seele der Aus- druck ihrer Beduumlrfnisse Da die Einrichtungen und Gesetze von der Seele ausgehen wird sie von ihnen nicht beeinfluszligtDas Studium der sozialen Erscheinungen laumlszligt sich nicht von dem der Voumllker trennen bei denen sie sich gebildet haben Philosophisch betrachtet koumlnnen diese Erscheinungen unbedingten Wert haben praktisch aber sind sie nur von bedingtem WertMan muszlig also beim Studium einer sozialen Erscheinung dieselbe Sache nacheinander von zwei ganz verschiedenen Gesichtspunkten aus betrachten Wir sehen demnach daszlig die Lehren der reinen Vernunft sehr oft denen der praktischen entgegengesetzt sind Es gibt keine Tatsachen auch nicht auf physischem Gebiet auf die sich diese Unterscheidung nicht anwenden lieszlige Vom Gesichtspunkt der unbedingten Wahrheit aus sind ein Wuumlrfel ein Kreis unveraumlnderli- che geometrische Figuren die mittels feststehender Formeln genau zu bestimmen sind Fuumlr den Gesichtssinn koumlnnen diese geometri- schen Figuren sehr mannigfache Formen annehmen In der Wirk- lichkeit kann die Perspektive den Wuumlrfel in eine Pyramide oder in ein Quadrat den Kreis in eine Ellipse oder Gerade verwandeln Und diese angenommenen Formen sind von viel groumlszligerer Bedeutung als die wirklichen denn sie sind die einzigen die wir sehen und die sich photographisch oder zeichnerisch wiedergeben lassen Das Unwirk- liche ist in gewissen Faumlllen wahrer als das Wirkliche Es hieszlige die Natur umformen und unkenntlich machen wollte man sich die Dinge in ihren streng geometrischen Formen vorstellen In einer Welt deren Bewohner die Dinge nur abbilden oder photographieren koumlnnten jedoch nicht beruumlhren wuumlrde man nur sehr schwer zu

VORWORT ZUR ERSTEN AUFLAGEXL

einer genauen Vorstellung ihrer Form gelangen und die Kenntnisdieser Form die nur einer geringen Zahl von Gelehrten zugaumlnglich waumlre wuumlrde nur schwaches Interesse weckenDer Philosoph der die sozialen Erscheinungen studiert muszlig sich vor Augen halten daszlig sie neben ihrem theoretischen auch prakti- schen Wert haben und daszlig dieser vom Gesichtspunkt der Kulturent- wicklung der einzig bedeutsame ist Das muszlig ihn sehr vorsichtig machen gegen die Folgerungen welche die Logik ihm zunaumlchst einzugeben scheint Auch andere Gruumlnde veranlassen ihn zur Zuruumlckhaltung Die sozialen Tatsachen sind so verwickelt daszlig man sie in ihrer Gesamtheit nicht umfassen und die Wirkungen ihrer wechselseitigen Beeinflussung nicht voraussagen kann Auch schei- nen sich hinter den sichtbaren Tatsachen oft Tausende von unsicht- baren Ursachen zu verbergen Die sichtbaren sozialen Tatsachen scheinen die Folgen einer riesigen unbewuszligten Wirkungskraft zu sein die nur zu oft unserer Untersuchung unzugaumlnglich ist Die wahrnehmbaren Erscheinungen lassen sich den Wogen vergleichen welche der Oberflaumlche des Ozeans die unterirdischen Erschuumltterun- gen mitteilen die in seinen Tiefen vorgehen und die wir nicht kennen In den meisten Faumlllen zeigt die Handlungsweise der Massen eine auszligerordentlich niedrige Geistigkeit aber in anderen Handlun- gen scheinen sie von jenen geheimnisvollen Kraumlften gelenkt zu wer- den welche die Alten Schicksal Natur Vorsehung nannten die wir als die Stimmen der Toten bezeichnen und deren Macht wir nicht verkennen koumlnnen so unbekannt uns auch ihr Wesen ist Oft scheint es als ob die Voumllker in ihrem Schoszlig verborgene Kraumlfte tragen von denen sie gefuumlhrt werden Kann etwas verwickelter logischer wunderbarer sein als eine Sprache Und entspringt nicht dies wohlgeordnete und feine Gebilde der unbewuszligten Massenseele Die gelehrtesten Hochschulen verzeichnen nur die Regeln dieser Sprachen waumlren aber nicht imstande sie zu schaffen Wissen wir sicher ob die genialen Ideen der groszligen Maumlnner ausschlieszliglich ihr eigenes Werk sind Zweifellos sind sie stets Schoumlpfungen einzelner Geister aber die unzaumlhligen Koumlrnchen die den Boden fuumlr den Keim dieser Ideen bilden hat die Massenseele sie nicht erzeugtGewiszlig uumlben die Massen ihre Wirkungskraft stets unbewuszligt aus Aber vielleicht ist gerade dies Unbewuszligte das Geheimnis ihrer Kraft In der Natur gibt es Wesen die nur aus Instinkt handeln und Taten vollbringen deren wunderbare Mannigfaltigkeit wir anstaunen Der Gebrauch der Vernunft ist fuumlr die Menschheit nochraquo zu neu und zu

VORWORT ZUR ERSTEN AUFLAGE XLI

unvollkommen um die Gesetze des Unbewuszligten enthuumlllen zu koumln-nen und besonders um es zu ersetzen Der Anteil des Unbewuszligten an unseren Handlungen ist ungeheuer und der Anteil der Vernunft sehr klein Das Unbewuszligte ist eine Wirkungskraft die wir noch nicht erkennen koumlnnen Wollen wir uns also in den engen aber sicheren Grenzen der wissenschaftlich erkennbaren Dinge halten und nicht auf dem Felde unbestimmter Vermutungen und nichtiger Vor- aussetzungen umherirren so duumlrfen wir nur die Erscheinungen fest- stellen die uns zugaumlnglich sind und muumlssen uns damit begnuumlgen Jede Folgerung die wir aus unseren Beobachtungen ziehen ist mei- stens voreilig denn hinter den wahrgenommenen Erscheinungen gibt es solche die wir undeutlich sehen und hinter diesen wahr- scheinlich noch andere die wir uumlberhaupt nicht erkennen

Le Bon

XLII VORWORT ZUR ERSTEN AUFLAGE

EINLEITUNG

DAS ZEITALTER DER MASSEN

Die groszligen Erschuumltterungen welche den Kulturwenden vorangehen scheinen auf den ersten Blick durch bedeut- same politische Veraumlnderungen bestimme zu sein durch Voumllkerinvasion oder durch den Sturz von Herrscherhaumlu- sern Eine aufmerksame Untersuchung dieser Ereignisse enthuumlllt jedoch hinter ihren scheinbaren Ursachen als wahre Ursache eine tiefgehende Veraumlnderung in den Anschauun- gen der Voumllker Das sind nicht die wahren historischen Erschuumltterungen die uns durch ihre Groumlszlige und Heftigkeit verwundern Die einzigen Veraumlnderungen von Bedeutung

ndash die einzigen aus welchen die Erneuerung der Kulturen hervorgeht ndash vollziehen sich innerhalb der Anschauungen der Begriffe und des Glaubens Die bemerkenswerten Er- eignisse der Geschichte sind die sichtbaren Wirkungen der unsichtbaren Veraumlnderungen des menschlichen Denkens Wenn diese groszligen Ereignisse so selten sind so hat das seinen Grund darin daszlig es nichts Bestaumlndigeres in einer Rasse gibt als das Erbgut ihrer GefuumlhleDas gegenwaumlrtige Zeitalter bildet einen jener kritischen Zeitpunkte in denen das menschliche Denken im Begriff ist sich zu wandelnDa die Ideen der Vergangenheit obwohl halb zerstoumlrt noch sehr maumlchtig und die Ideen die sie ersetzen sollen erst in der Bildung begriffen sind so ist die Gegenwart eine Periode des Uumlberganges und der AnarchieWas aus diesem notwendig etwas chaotischen Zeitraum einmal hervorgehen wird ist im Augenblick nicht leicht zu sagen Auf welchem Grundgedanken wird sich die kuumlnf-

tige Gesellschaft aufbauen Wir wissen es noch nicht Schon jetzt aber kann man voraussehen daszlig sie bei ihrer Or- ganisation mit einer neuen Macht der juumlngsten Herrscherin der Gegenwart zu rechnen haben wird mit der Macht der Massen Auf den Ruinen so vieler einst fuumlr wahr gehal- tener und jetzt toter Ideen so vieler Maumlchte die durch Revolutionen nach und nach gebrochen worden sind hat diese Macht allein sich erhoben und scheint bald die aumln- dern aufsaugen zu wollen Waumlhrend alle unsre alten An- schauungen schwanken und verschwinden und die alten Gesellschaftsstuumltzen eine nach der andern einstuumlrzen ist die Macht der Massen die einzige Kraft die durch nichts be- droht wird und deren Ansehen immer mehr waumlchst Das Zeitalter in das wir eintreten wird in Wahrheit das Z eit a lter der Ma ssen seinVor kaum einem Jahrhundert bestanden die Haupttrieb- kraumlfte der Ereignisse in der uumlberlieferten Politik der Staaten und dem Wettstreit der Fuumlrsten Die Meinung der Massen galt in den meisten Faumlllen gar nichts Heute gelten die politischen Uumlberlieferungen die persoumlnlichen Bestre- bungen der Herrscher und deren Wettstreit nur noch wenig Die Stimme des Volkes hat das Uumlbergewicht er- langt Sie schreibt den Koumlnigen ihr Verhalten vor In der Seele der Massen nicht mehr in den Fuumlrstenberatungen bereiten sich die Schicksale der Voumllker vorDer Eintritt der Volksklassen in das politische Leben ihre fortschreitende Umwandlung zu fuumlhrenden Klassen ist eines der hervorstechendsten Kennzeichen unsrer Uumlber- gangszeit Dieser Eintritt wird nicht durch das allgemeine Stimmrecht gekennzeichnet das lange Zeit so wenig ein- fluszligreich und anfangs so leicht zu lenken war Die Geburt der Macht der Masse entstand zuerst durch die Verbrei- tung gewisser Gedankengaumlnge die langsam von den Gei- stern Besitz ergriffen sodann durch die allmaumlhliche Ver- einigung der einzelnen zur Verwirklichung der bisher theo- retischen Anschauungen Die Vereinigung ermoumlglichte es den Massen sich wenn auch nicht sehr richtige so doch

2 DAS ZEITALTER DER MASSEN

wenigstens ganz bestimmte Ideen von ihren Interessen zu bilden und das Bewuszligtsein ihrer Kraft zu erlangen Sie gruumlnden Syndikate denen sich alle Machthaber unterwer- fen Arbeitsboumlrsen die allen Wirtschaftsgesetzen zum Trotz die Bedingungen der Arbeit und des Lohnes zu regeln suchen Sie entsenden in die Parlamente Abgeordnete denen aller Unternehmungsgeist alle Selbstaumlndigkeit fehlt und die oft nur zu Wortfuumlhrern der Ausschuumlsse die sie gewaumlhlt hatten herabgewuumlrdigt wurdenHeute werden die Forderungen der Massen nach und nach immer deutlicher und laufen auf nichts Geringeres hinaus als auf den gaumlnzlichen Umsturz der gegenwaumlrtigen Gesell- schaft um sie jenem primitiven Kommunismus zuzufuumlhren der vor dem Beginn der Kultur der normale Zustand aller menschlichen Gemeinschaft war Begrenzung der Arbeits- zeit Enteignung von Bergwerken Eisenbahnen Fabriken und Boden gleiche Verteilung aller Produkte Abschaffung aller oberen Klassen zugunsten der Volksklassen usw ndash das sind ihre ForderungenJe weniger die Masse vernuumlnftiger Uumlberlegung faumlhig ist um so mehr ist sie zur Tat geneigt Die Organisation hat ihre Kraft ins Ungeheure gesteigert Die Glaubenslehren die wir auftauchen sehen werden bald die Macht der alten Glaubenslehren besitzen d h die tyrannische und herrische Kraft welche sich aller Auseinandersetzung entzieht Das goumlttliche Recht der Massen wird das goumlttliche Recht der Koumlnige ersetzenDie Lieblingsschriftsteller der jetzigen Bourgeoisie die am besten deren etwas beschraumlnkte Ideen ihre kurzsichtigen Anschauungen ihren allgemeingehaltenen Skeptizismus und oft uumlbermaumlszligigen Egoismus schildern geraten vor der neuen Macht die sie heranwachsen sehen voumlllig auszliger Fassung und richten um die Verwirrung der Geister zu bekaumlmpfen einen verzweifelten Appell an die sittlichen Kraumlfte der Kirche die sie einst so gering schaumltzten Sie sprechen vom Bankrott der Wissenschaft und erinnern uns an die Leh- ren der geoffenbarten Wahrheiten Aber diese Neubekehr-

3ENTWICKLUNG DES GEGENWAumlRTIGEN ZEITALTERS

ten vergessen daszlig die Gnade wenn sie sie wirklich be- ruumlhrte doch nicht die gleiche Macht uumlber jene Seelen hat die sich wenig um das Jenseits kuumlmmern Die Massen wol- len heute die Goumltter nicht mehr die ihre ehemaligen Her- ren gestern noch verleugneten und zerstoumlren halfen Die Fluumlsse flieszligen nicht zu ihren Quellen zuruumlckDie Wissenschaft hat mitnichten Bankrott gemacht und hat nichts mit der gegenwaumlrtigen Anarchie der Geister oder mit der neuen Macht zu tun die in ihrem Schoszlige empor- waumlchst Sie hat uns die Wahrheit verheiszligen oder wenig- stens die Erkenntnis der Zusammenhaumlnge die unsrem Ver- stande zugaumlnglich sind sie hat uns niemals den Frieden und das Gluumlck versprochen In uumlberlegener Gleichguumlltigkeit gegen unsre Gefuumlhle houmlrt sie unsre Klagen nicht und nichts ver- mag uns die Taumluschungen wiederzugeben die sie vertriebAllgemeine Symptome die bei allen Nationen erkennbar sind zeigen uns das reiszligende Anwachsen der Macht der Massen Was es auch bringen mag wir werden es ertragen muumlssen Alle Anschuldigungen sind nur nutzloses Gerede Vielleicht bedeutet der Aufstieg der Massen eine der letzten Etappen der Kulturen des Abendlandes die Ruumlckkehr zu jenen Zeiten verworrener Anarchie die stets dem Auf- bluumlhen einer neuen Gesellschaft voranzugehen scheinen Aber wie waumlre er zu verhindernBisher bestand die Aufgabe der Massen offenbar in diesen groszligen Zerstoumlrungen der alten Kulturen Die Geschichte lehrt uns daszlig in dem Augenblick da die moralischen Kraumlfte das Ruumlstzeug einer Gesellschaft ihre Herrschaft verloren haben die letzte Aufloumlsung von jenen unbewuszlig- ten und rohen Massen welche recht gut als Barbaren ge- kennzeichnet werden herbeigefuumlhrt wird Bisher wurden die Kulturen von einer kleinen intellektuellen Aristokratie geschaffen und geleitet niemals von den Massen Die Mas- sen haben nur Kraft zur Zerstoumlrung Ihre Herrschaft bedeutet stets eine Stufe der Aufloumlsung Eine Kultur setzt feste Regeln Zucht den Uumlbergang des Triebhaften zum Vernuumlnftigen die Vorausberechnung der Zukunft uumlber-

DAS ZEITALTER DER MASSEN4

haupt einen hohen Bildungsgrad voraus ndash Bedingungen fuumlr welche die sich selbst uumlberlassenen Massen voumlllig unzu- gaumlnglich sind Vermoumlge ihrer nur zerstoumlrerischen Macht wirken sie gleich jenen Mikroben welche die Aufloumlsung geschwaumlchter Koumlrper oder Leichen beschleunigen Ist das Gebaumlude einer Kultur morsch geworden so fuumlhren die Massen seinen Zusammenbruch herbei Jetzt tritt ihre Hauptaufgabe zutage Ploumltzlich wird die blinde Macht der Masse fuumlr einen Augenblick zur einzigen Philosophie der GeschichteWird es sich mit unsrer Kultur ebenso verhalten Es ist zu befuumlrchten aber wir wissen es noch nichtWir muumlssen uns damit abfinden die Herrschaft der Massen zu ertragen da unvorsichtige Haumlnde allmaumlhlich alle Schran- ken die jene zuruumlckhalten konnten niedergerissen haben Wir kennen diese Massen von denen man jetzt so viel spricht Die Psychologen von Fach die nicht in ihrer Naumlhe leben haben sie stets ignoriert und sich mit ihnen nur in bezug auf die Verbrechen beschaumlftigt zu denen sie faumlhig sind Zweifellos gibt es verbrecherische Massen aber es gibt auch tugendhafte heroische und noch viele anders- artige Massen Die Massenverbrechen bilden lediglich einen Sonderfall ihres Seelenlebens und lassen ihre geistige Be- schaffenheit nicht besser erkennen als die eines Einzel- wesens von dem man nur seine Laster kenntDoch offen gestanden Alle Herren der Erde alle Reli- gions- und Reichsstifter die Apostel aller Glaubensrichtun- gen die hervorragenden Staatsmaumlnner und in einer be- scheideneren Sphaumlre die einfachen Haumlupter kleiner mensch- licher Gemeinschaften waren stets unbewuszligte Psychologen mit einer instinktiven und oft sehr sicheren Kenntnis der Massenseele weil sie diese gut kannten wurden sie so leicht Machthaber Napoleon erfaszligte wunderbar das Seelen- leben der franzoumlsischen Massen aber er verkannte oft voumlllig die Massenseele fremder Rassen Diese Unkenntnis Uumlbrigens verstanden sich seine kluumlgsten Ratgeber nicht besser darauf Tal- leyrand schrieb ihm Spanien wuumlrde seine Soldaten als Befreier empfangen Es empfing sie wie Raubtiere Ein mit den Erbinstinkten der Rasse vertrauter Psychologe haumltte diesen Empfang leicht voraussehen koumlnnen

DIE MASSEN ALS ZERSTOumlRERINNEN DER KULTUR 5

veranlaszligte ihn namentlich in Spanien und Ruszligland Kriege zu fuumlhren die seinen Sturz vorbereiteten

Die Kenntnis der Psychologie der Massen ist heute das letzte Hilfsmittel fuumlr den Staatsmann der diese nicht etwa beherrschen ndash das ist zu schwierig geworden ndash aber wenig- stens nicht allzusehr von ihnen beherrscht werden willDie Massenpsychologie zeigt wie auszligerordentlich wenig Einfluszlig Gesetze und Einrichtungen auf die urspruumlngliche Natur der Massen haben und wie unfaumlhig diese sind Mei- nungen zu haben auszliger jenen die ihnen eingefloumlszligt wur- den Regeln welche auf rein begrifflichem Ermessen be- ruhen vermoumlgen sie nicht zu leiten Nur die Eindruumlcke die man in ihre Seele pflanzt koumlnnen sie verfuumlhren Darf z B ein Gesetzgeber der eine neue Steuer auflegen will die theoretisch gerechteste waumlhlen Keinesfalls Die unge- rechteste kann praktisch fuumlr die Massen die beste sein wenn sie am unauffaumllligsten und leichtesten in Erscheinung tritt Auf diese Weise wird eine noch so hohe indirekte Steuer allezeit von der Masse angenommen werden Wenn sie taumlglich pfennigweise fuumlr Konsumartikel entrichtet wird stoumlrt sie die Gewohnheiten nicht und beeinfluszligt sie wenig Man lege an ihrer Stelle eine proportionale auf einmal zu entrichtende Steuer auf die Loumlhne oder anderen Einkom- men mag sie auch theoretisch zehnmal weniger hart sein als die andre so wird sie heftigen Widerspruch erregen An Stelle der taumlglichen Pfennige die man nicht spuumlrt tritt naumlmlich eine verhaumlltnismaumlszligig hohe Geldsumme die am Zahl- tag riesig groszlig erscheint und sehr nachdruumlcklich empfunden wird Sie waumlre nur dann unbemerkt verbraucht worden wenn sie Pfennig fuumlr Pfennig zur Seite gelegt worden waumlre aber ein so wirtschaftliches Gebaren wuumlrde ein Maszlig von Voraus- sicht beweisen dessen die Massen unfaumlhig sindDies Beispiel enthuumlllt sonnenklar ihre geistige Verfassung Einem Psychologen wie Napoleon ist sie nicht entgangen aber die Gesetzgeber weiche die Massenseele nicht beachten wuumlr- den sie nicht verstehen Die Erfahrung hat ihnen noch nicht

6 DAS ZEITALTER DER MASSEN

genuumlgend bewiesen daszlig die Menschen sich niemals von den Vorschriften der reinen Vernunft leiten lassenSo lieszlige sich die Massenpsychologie noch auf vieles andere anwenden Ihre Kenntnis wirft hellstes Licht auf zahlreiche historische und oumlkonomische Erscheinungen die ohne sie voumlllig unverstaumlndlich bleibenSelbst wenn es lediglich das Interesse unsrer Neugier be- friedigte verdiente das Studium der Massenpsychologie in Angriff genommen zu werden denn es ist ebenso inter- essant die Triebkraumlfte der menschlichen Handlungen zu entraumltseln wie die eines Minerals oder einer PflanzeUnser Studium der Massenseele wird nur einen kurzen Uumlberblick eine bloszlige Zusammenfassung unsrer Unter- suchungen bieten koumlnnen Man darf von ihr nicht mehr als einige anregende Gesichtspunkte verlangen Andere werden das Gebiet besser bearbeiten Heute ist es noch jungfraumlulicher Boden den wir beackern

Die wenigen Autoren die sich mit dem Studium der Psychologie der Massen abgeben haben ihre Untersuchungen nur hinsichtlich der Verbrechen ange- stellt Da ich diesem Stoffgebiet nur ein kurzes Kapitel gewidmet habe so verweise ich den Leser auf die Arbeiten von Tarde und die Schrift von Sighele bdquoDie verbrecherische Masseldquo Die letztere Arbeit enthaumllt keinen ein- zigen neuen Gedanken des Autors gibt aber eine Zusammenstellung von Tat- sachen die der Psychologe verwerten kann uumlbrigens sind meine Schluszlig- folgerungen betreffs der Kriminalitaumlt und Moralitaumlt der Massen denen der beiden Autoren die ich nannte ganz entgegengesetztMan wird in meinen verschiedenen Arbeiten besonders in meiner Schrift bdquoDie Psychologie des Sozialismusldquo einige Ergebnisse aus den Gesetzen finden welche die Massenpsychologie beherrschen Diese Gesetze Sassen sich auszligerdem auf den verschiedensten Gebieten anwenden Der Direktor des Koumlnigl Konservatoriums in Bruumlssel A Gevaert hat von den Gesetzen die ich in einer Abhandlung uumlber Musik darlegte welche er treffend als bdquoMassenkunstldquo bezeichnete eine bemerkenswerte Anwendung gemacht bdquoIhre beiden Schriftenldquo schrieb mir dieser ausgezeichnete Lehrer bei Uumlbersendung seiner Abhandlung bdquohaben mir die Loumlsung eines von mir fruumlher als unloumlslich betrachteten Problems gebracht die erstaunliche Eignung jeder Masse ein neues oder altes ein einheimisches oder fremdes ein einfaches oder zusammengesetztes Tonstuumlck zu empfinden vorausgesetzt daszlig es schoumln gespielt wird und daszlig die Musiker einen begei- sterten Dirigenten habenldquo Herr Gevaert zeigt vortrefflich warum bdquoein Werk welches ausgezeichneten Musikern bei Durchsicht der Partitur in der Einsam- keit ihres Zimmers unverstaumlndlich blieb oft von einem jeder technischen Bil- dung ermangelnden Auditorium ohne weiteres erfaszligt wirdldquo Ebenso ausge- zeichnet erklaumlrt er weshalb diese aumlsthetischen Eindruumlcke keinerlei Spuren hinterlassen

DIE MASSEN UND DER STAATSMANN 7

ERSTES BUCH

DIE MASSENSEELE

1 KAPITEL

Allgemeine Kennzeichen der Massen Das psychologische Gesetz von ihrer seelischen Einheit

Im gewoumlhnlichen Wortsinn bedeutet Masse eine Vereinigung irgendwelcher einzelner von beliebiger Nationalitaumlt belie- bigem Beruf und Geschlecht und beliebigem Anlaszlig der Ver- einigungVom psychologischen Gesichtspunkt bedeutet der Ausdruck bdquoMasseldquo etwas ganz anderes Unter bestimmten Umstaumlnden und nur unter diesen Umstaumlnden besitzt eine Versammlung von Menschen neue von den Eigenschaften der einzelnen die diese Gesellschaft bilden ganz verschiedene Eigentuumlm- lichkeiten Die bewuszligte Persoumlnlichkeit schwindet die Ge- fuumlhle und Gedanken aller einzelnen sind nach derselben Richtung orientiert Es bildet sich eine Gemeinschaftsseele die wohl veraumlnderlich aber von ganz bestimmter Art ist Die Gesamtheit ist nun das geworden was ich mangels eines besseren Ausdrucks als organisierte Masse oder wenn man lieber will als psychologische Masse bezeichnen werde Sie bildet ein einziges Wesen und unterliegt dem Gesetz der see- lischen Einheit der Massen (loi de lrsquouniteacute mentale des foules) Die Tatsache daszlig viele Individuen sich zufaumlllig zusammen- finden verleiht ihnen noch nicht die Eigenschaften einer organisierten Masse Tausend zufaumlllig auf einem oumlffentlichen Platz ohne einen bestimmten Zweck versammelte einzelne bilden keineswegs eine Masse im psychologischen Sinne Da- mit sie die besonderen Wesenszuumlge der Masse annehmen be- darf es des Einflusses gewisser Reize deren Wesensart wir zu bestimmen haben

Das Schwinden der bewuszligten Persoumlnlichkeit und die Orien- tierung der Gefuumlhle und Gedanken nach einer bestimmten Richtung die ersten Vorstoumlszlige der Masse auf dem Weg sich zu organisieren erfordern nicht immer die gleich- zeitige Anwesenheit mehrerer einzelner an einem einzigen Ort Tausende von getrennten einzelnen koumlnnen im ge- gebenen Augenblick unter dem Einfluszlig gewisser heftiger Gemuumltsbewegungen etwa eines groszligen nationalen Ereig- nisses die Kennzeichen einer psychologischen Masse an- nehmen Irgendein Zufall der sie vereinigt genuumlgt dann daszlig ihre Handlungen sogleich die besondere Form der Massenhandlungen annehmen In gewissen historischen Augenblicken kann ein halbes Dutzend Menschen eine psychologische Masse ausmachen waumlhrend hunderte zu- faumlllig vereinigte Menschen sie nicht bilden koumlnnen Anderer- seits kann bisweilen ein ganzes Volk ohne sichtbare Zu- sammenscharung unter dem Druck gewisser Einfluumlsse zur Masse werdenHat sich eine psychologische Masse gebildet so erwirbt sie vorlaumlufige aber bestimmbare allgemeine Merkmale Diesen allgemeinen Merkmalen gesellen sich besondere Kennzeichen veraumlnderlicher Art hinzu je nach den Ele- menten aus denen die Masse sich zusammensetzt und durch die ihre geistige Struktur zu veraumlndern istDie psychologischen Massen lassen sich also einteilen Das Studium dieser Einteilung wird uns zeigen daszlig eine hete- rogene d h aus ungleichartigen Elementen zusammen- gesetzte Masse mit homogenen d h aus mehr oder minder aumlhnlichen Elementen zusammengesetzten Massen (Sekten Kasten Klassen) allgemeine Kennzeichen gemein hat und auszligerdem noch Besonderheiten aufweist durch die sie sich voneinander unterscheiden lassenBevor wir uns aber mit den verschiedenen Arten der Masse befassen muumlssen wir zuerst die allgemeinen Kenn- zeichen untersuchen Wir werden gleich dem Naturforscher vorgehen der mit der Beschreibung der allgemeinen Merk- male der Mitglieder einer Familie beginnt bevor er sich

WAS IST EINE MASSE 11

mit den besonderen Merkmalen befaszligt welche die Unter- scheidung der Gattungen und Arten dieser Familie ermoumlg- lichenDie genaue Schilderung der Massenseele ist nicht leicht weil ihre Organisation nicht bloszlig nach Rasse und Zu- sammensetzung der Gesamtheit sondern auch nach der Natur und dem Grade der Anreize schwankt denen diese Gesamtheit unterliegt Aber dieselbe Schwierigkeit besteht fuumlr das psychologische Studium jedes beliebigen Wesens Nur in Romanen aber nicht im wirklichen Leben haben die einzelnen einen bestaumlndigen Charakter aufzuweisen Allein die Gleichfoumlrmigkeit der Umgebung schafft die sicht- bare Gleichartigkeit der Charaktere Ich habe anderwaumlrts gezeigt daszlig alle geistigen Beschaffenheiten Charaktermoumlg- lichkeiten enthalten die sich unter dem Einf luszlig eines jaumlhen Umgebungswechsels offenbaren koumlnnen So befanden sich unter den wildesten grausamsten Konventmitgliedern gutmuumltige Buumlrger die unter normalen Verhaumlltnissen fried- liche Notare oder ehrsame Beamte geworden waumlren Als der Sturm voruumlber war nahmen sie ihren Normalcharakter als friedliche Buumlrger wieder an Unter ihnen fand Napo- leon seine willigsten DienerDa wir hier nicht alle Stufen der Massenbildung studieren koumlnnen werden wir sie besonders in dem Zustand ihrer vollendeten Organisation ins Auge fassen Wir werden auf diese Weise sehen was sie werden koumlnnen aber nicht was sie immer sind Allein in diesem fortgeschrittenen Organisationszustand bauen sich auf dem unveraumlnderlichen und vorherrschenden Rassenuntergrunde gewisse neue und besondere Merkmale auf und es vollzieht sich die Wen- dung aller Gefuumlhle und Gedanken der Gesamtheit nach einer uumlbereinstimmenden Richtung So allein offenbart sich was ich oben das psychologische Gesetz der seelischen Einheit der Massen genannt habeVerschiedene psychische Kennzeichen der Massen haben sie gemein mit alleinstehenden Individuen waumlhrend andere im Gegenteil nur bei Gesamtheiten anzutreffen sind Wir

12 ALLGEMEINE KENNZEICHEN DER MASSEN

wollen zunaumlchst die besonderen Merkmale studieren um ihre Bedeutung recht aufzuzeigenDas Uumlberraschendste an einer psychologischen Masse ist welcher Art auch die einzelnen sein moumlgen die sie bilden wie aumlhnlich oder unaumlhnlich ihre Lebensweise Beschaumlfti- gungen ihr Charakter oder ihre Intelligenz ist durch den bloszligen Umstand ihrer Umformung zu Masse besitzen sie eine Art Gemeinschaftsseele vermoumlge deren sie in ganz andrer Weise fuumlhlen denken und handeln als jedes von ihnen fuumlr sich fuumlhlen denken und handeln wuumlrde Es gibt gewisse Ideen und Gefuumlhle die nur bei den zu Massen verbundenen einzelnen auftreten oder sich in Handlungen umsetzen Die psychologische Masse ist ein unbestimmtes Wesen das aus ungleichartigen Bestandteilen besteht die sich fuumlr einen Augenblick miteinander verbunden haben genau so wie die Zellen des Organismus durch ihre Ver- einigung ein neues Wesen mit ganz anderen Eigenschaften als denen der einzelnen Zellen bildenIn Widerspruch zu einer Anschauung die sich befremd- licherweise bei einem so scharfsinnigen Philosophen wie Herbert Spencer findet gibt es in dem Haufen der eine Masse bildet keineswegs eine Summe und einen Durch- schnitt der Bestandteile sondern Zusammenfassung und Bildung neuer Bestandteile genau so wie in der Chemie sich bestimmte Elemente wie z B die Basen und Saumluren bei ihrem Zustandekommen zur Bildung eines neuen Koumlr- pers verbinden dessen Eigenschaften von denen der Koumlr- per die an seinem Zustandekommen beteiligt waren voumll- lig verschieden sindEs ist leicht festzustellen inwieweit sich der einzelne in einer Masse vom alleinstehenden einzelnen unterscheidet weniger leicht aber ist die Aufdeckung der Ursachen dieser VerschiedenheitUm diesen Ursachen wenigstens einigermaszligen naumlherzu- kommen muszlig man sich zunaumlchst an die Feststellung der modernen Psychologie erinnern daszlig nicht nur im orga- nischen Leben sondern auch in den Vorgaumlngen des Ver-

GESETZ VON DER SEELISCHEN EINHEIT DER MASSEN 13

standes die unbewuszligten Erscheinungen eine ausschlagge- bende Rolle spielen Das bewuszligte Geistesleben bildet nur einen sehr geringen Teil im Vergleich zum unbewuszligten Seelenleben Der geschickteste Analytiker der schaumlrfste Beobachter kann nur eine sehr kleine Anzahl bewuszligter Triebfedern die ihn fuumlhren entdecken Unsere bewuszligten Handlungen entspringen einer unbewuszligten Grundlage die namentlich durch Vererbungseinfluumlsse geschaffen wird Diese Grundlage enthaumllt die zahllosen Ahnenspuren aus denen sich die Rassenseele aufbaut Hinter den eingestandenen Ursachen unserer Handlungen gibt es zweifellos geheime Gruumlnde die wir nicht eingestehen hinter diesen aber liegen noch gehei- mere die wir nicht einmal kennen Die Mehrzahl unserer taumlglichen Handlungen ist nur die Wirkung verborgener Triebkraumlfte die sich unserer Kenntnis entziehenDurch die unbewuszligten Bestandteile die der Rassenseele zugrunde liegen aumlhneln sich alle einzelnen dieser Rasse durch ihre bewuszligten Anlagen dagegen ndash Fruumlchte der Erziehung vor allem aber einer besonderen Erblichkeit ndash unterscheiden sie sich voneinander Menschen von ver- schiedenartigster Intelligenz haben aumluszligerst aumlhnliche Triebe Leidenschaften und Gefuumlhle In allem was Gegenstand des Gefuumlhls ist Religion Politik Moral Sympathien und Antipathien usw uumlberragen die ausgezeichnetsten Men- schen nur selten das Niveau der gewoumlhnlichen einzelnen Zwischen einem groszligen Mathematiker und seinem Schuster kann verstandesmaumlszligig ein Abgrund klaffen aber hinsicht- lich des Charakters ist der Unterschied oft nichtig oder sehr geringEben diese allgemeinen Charaktereigenschaften die vom Unbewuszligten beherrscht werden und der Mehrzahl der normalen Angehoumlrigen einer Rasse ziemlich gleichmaumlszligig eigen sind werden in den Massen vergemeinschaftlicht In der Gemeinschaftsseele verwischen sich die Verstandes- faumlhigkeiten und damit auch die Persoumlnlichkeit der einzel- nen Das Ungleichartige versinkt im Gleichartigen und die unbewuszligten Eigenschaften uumlberwiegen

14 ALLGEMEINE KENNZEICHEN DER MASSEN

Eben die Vergemeinschaftlichung der gewoumlhnlichen Eigen- schaften erklaumlrt uns warum die Massen niemals Hand- lungen ausfuumlhren koumlnnen die eine besondere Intelligenz beanspruchen Die Entscheidungen von allgemeinem In- teresse die von einer Versammlung hervorragender aber verschiedenartiger Leute getroffen werden sind jenen welche eine Versammlung von Dummkoumlpfen treffen wuumlrde nicht merklich uumlberlegen Sie koumlnnen in der Tat nur die mittelmaumlszligigen Allerweltseigenschaften vergemeinschaft- lichen Die Masse nimmt nicht den Geist sondern nur die Mittelmaumlszligigkeit in sich auf Es hat nicht wie man so oft wiederholt die bdquoganze Welt mehr Geist als Voltaireldquo sondern Voltaire hat zweifellos mehr Geist als die bdquoganze Weltldquo wenn man unter dieser die Massen verstehtBeschraumlnkten sich aber die Individuen der Masse auf Ver- schmelzung ihrer allgemeinen Eigenschaften so ergaumlbe sich daraus nur ein Durchschnitt aber nicht wie wir sagten eine Schoumlpfung neuer Eigentuumlmlichkeiten Wie bilden sich diese neuen Eigentuumlmlichkeiten Das haben wir jetzt zu untersuchenDas Auftreten besonderer Charaktereigentuumlmlichkeiten der Masse wird durch verschiedene Ursachen bestimmt Die erste dieser Ursachen besteht darin daszlig der einzelne in der Masse schon durch die Tatsache der Menge ein Gefuumlhl unuumlberwindlicher Macht erlangt welches ihm gestattet Trieben zu froumlnen die er fuumlr sich allein notwendig gezuumlgelt haumltte Er wird ihnen um so eher nachgeben als durch die Namenlosigkeit und demnach auch Unverantwortlichkeit der Masse das Verantwortungsgefuumlhl das die einzelnen stets zuruumlckhaumllt voumlllig verschwindetEine zweite Ursache die geistige Uumlbertragung (contagion mentale) bewirkt gleichfalls das Erscheinen der besonderen Wesenszuumlge der Masse und zugleich ihre Richtung Die Uumlbertragung ist leicht festzustellen aber noch nicht zu er- klaumlren man muszlig sie den Erscheinungen hypnotischer Art zuordnen mit denen wir uns sogleich beschaumlftigen werden In der Masse ist jedes Gefuumlhl jede Handlung uumlbertragbar

DIE MASSE VOM UNBEWUSSTEN BEHERRSCHT 15

und zwar in so hohem Grade daszlig der einzelne sehr leicht seine persoumlnlichen Wuumlnsche den Gesamtwuumlnschen opfert Diese Faumlhigkeit ist seiner eigentlichen Natur durchaus ent- gegengesetzt und nur als Bestandteil einer Masse ist der Mensch dazu faumlhigNoch eine dritte und zwar die wichtigste Ursache ruft in den zur Masse vereinigten einzelnen besondere Eigenschaf- ten hervor welche denen der alleinstehenden einzelnen voumlllig widersprechen ich rede von der Beeinfluszligbarkeit (suggestibilite) von der die obenerwaumlhnte geistige Uumlbertra- gung uumlbrigens nur eine Wirkung istUm diese Erscheinung zu verstehen muumlssen wir uns ge- wisse neue Entdeckungen der Physiologie vergegenwaumlrti- gen Wir wissen heute daszlig ein Mensch in einen Zustand versetzt werden kann der ihn seiner bewuszligten Persoumln- lichkeit beraubt und ihn allen Einfluumlssen des Hypnotiseurs der ihm sein Bewuszligtsein genommen hat gehorchen und Handlungen begehen laumlszligt die zu seinem Charakter und seinen Gewohnheiten in schaumlrfstem Gegensatz stehen Sorg- faumlltige Beobachtungen scheinen nun zu beweisen daszlig ein einzelner der lange Zeit im Schoszlige einer wirkenden Masse eingebettet war sich alsbald ndash durch Ausstroumlmungen die von ihr ausgehen oder sonst eine noch unbekannte Ur- sache ndash in einem besonderen Zustand befindet der sich sehr der Verzauberung naumlhert die den Hypnotisierten unter dem Einfluszlig des Hypnotiseurs uumlberkommt Da das Verstandesleben des Hypnotisierten lahmgelegt ist wird er der Sklave seiner unbewuszligten Kraumlfte die der Hypnoti- seur nach seinem Belieben lenkt Die bewuszligte Persoumlnlich- keit ist voumlllig ausgeloumlscht Wille und Unterscheidungsver- moumlgen fehlen alle Gefuumlhle und Gedanken sind in die Sinne verlegt die durch den Hypnotiseur beeinfluszligt werdenUngefaumlhr in diesem Zustand befindet sich der einzelne als Glied einer Masse Er ist sich seiner Handlungen nicht mehr bewuszligt Waumlhrend bei ihm wie beim Hypnotisierten gewisse Faumlhigkeiten aufgehoben sind koumlnnen andere auf einen Zustand houmlchster Uumlberspannung getrieben werden

16 ALLGEMEINE KENNZEICHEN DER MASSEN

Unter dem Einfluszlig einer Suggestion wird er sich mit un- widerstehlichem Ungestuumlm auf gewisse Taten werfen Und dies Ungestuumlm ist in den Massen noch unwiderstehlicher als bei den Hypnotisierten weil die fuumlr alle einzelnen gleiche Suggestion durch Gegenseitigkeit waumlchst Die ein- zelnen in einer Masse die eine hinreichend starke Persoumln- lichkeit haben um dem Einfluszlig zu widerstehen sind in zu geringer Anzahl vorhanden und der Strom reiszligt sie mit Houmlchstens koumlnnen sie vermittels eines anderen Einflusses eine Ablenkung versuchen Ein gluumlcklicher Ausdruck ein im rechten Augenblick angewandter bildlicher Vergleich hat oft die Massen von den blutigsten Taten abgehaltenDie Hauptmerkmale des einzelnen in der Masse sind also Schwinden der bewuszligten Persoumlnlichkeit Vorherrschaft des unbewuszligten Wesens Leitung der Gedanken und Gefuumlhle durch Beeinflussung und Uumlbertragung in der gleichen Rich- tung Neigung zur unverzuumlglichen Verwirklichung der ein- gefloumlszligten Ideen Der einzelne ist nicht mehr er selbst er ist ein Automat geworden dessen Betrieb sein Wille nicht mehr in der Gewalt hatAllein durch die Tatsache Glied einer Masse zu sein steigt der Mensch also mehrere Stufen von der Leiter der Kultur hinab Als einzelner war er vielleicht ein gebildetes Indivi- duum in der Masse ist er ein Triebwesen also ein Barbar Er hat die Unberechenbarkeit die Heftigkeit die Wildheit aber auch die Begeisterung und den Heldenmut urspruumlng- licher Wesen denen er auch durch die Leichtigkeit aumlhnelt mit der er sich von Worten und Vorstellungen beeinflussen und zu Handlungen verfuumlhren laumlszligt die seine augenschein- lichsten Interessen verletzen In der Masse gleicht der ein- zelne einem Sandkorn in einem Haufen anderer Sand- koumlrner das der Wind nach Belieben emporwirbeltAus diesem Grunde sprechen Schwurgerichte Urteile aus die jeder Geschworene als einzelner miszligbilligen wuumlrde Parlamente nehmen Gesetze und Vorlagen an die jedes Mitglied einzeln ablehnen wuumlrde Einzeln genommen waren die Maumlnner des Konvents aufgeklaumlrte Buumlrger mit fried-

UMWANDLUNG DER GEFUumlHLE DES EINZELNEN 17

lichen Gewohnheiten Zur Masse vereinigt zauderten sie nicht unter dem Einfluszlig einiger Fuumlhrer die offenbar un- schuldigsten Menschen aufs Schafott zu schicken brachen unter Auszligerachtlassung ihres eignen Vorteils deren Un- verletzlichkeit und verringerten ihre ScharNicht nur in seinen Handlungen weicht das Glied der Masse von seinem normalen Ich ab Schon bevor es jede Unabhaumlngigkeit einbuumlszligte haben sich seine Gedanken und Gefuumlhle umgeformt und zwar so daszlig der Geizige zum Verschwender der Zweif ler zum Glaumlubigen der Ehren- mann zum Verbrecher der Hasenfuszlig zum Helden wird Der Verzicht auf alle seine verbrieften Vorrechte den der Adel in einem Augenblick der Begeisterung in der be- ruumlhmten Nacht vom 4 August 789 leistete waumlre sicher- lich von seinen Mitgliedern als einzelnen niemals ange- nommen wordenAus den vorstehenden Beobachtungen ist zu schlieszligen daszlig die Masse dem alleinstehenden Menschen intellektuell stets untergeordnet ist Hinsichtlich der Gefuumlhle aber und der durch sie bewirkten Handlungen kann sie unter Umstaumln- den besser oder schlechter sein Es haumlngt alles von der Art des Einflusses ab unter dem die Masse steht Das haben die Schriftsteller die die Masse nur vom kriminellen Ge- sichtspunkt studiert haben vollstaumlndig verkannt Gewiszlig ist die Masse oft verbrecherisch oft aber auch heldenhaft Man bringt sie leicht dazu sich fuumlr den Triumph eines Glaubens oder einer Idee in den Tod schicken zu lassen begeistert sie fuumlr Ruhm und Ehre daszlig sie sich wie im Zeitalter der Kreuzzuumlge fast ohne Brot und Wasser zur Befreiung des goumlttlichen Grabes von den Unglaumlubigen oder wie im Jahre 793 zur Verteidigung des vaterlaumlndi- schen Bodens fortreiszligen laumlszligt Gewiszlig ein unbewuszligtes Hel- dentum aber durch solche Heldentaten vollzieht sich die Geschichte Wollte man nur die mit kalter Uumlberlegung ausgefuumlhrten Groszligtaten auf das Aktivkonto der Voumllker schreiben so wuumlrden in den Weltannalen nur wenige ver- zeichnet sein

18 ALLGEMEINE KENNZEICHEN DER MASSEN

2 KAPITEL

Gefuumlhle und Sittlichkeit der Massen

Nach diesem allgemeinen Hinweis auf die Hauptkenn- zeichen der Massen kommen wir nun zur Untersuchung der EinzelheitenVerschiedene besondere Eigenschaften der Massen wie Triebhaftigkeit (impulsiviteacute) Reizbarkeit (irritabiliteacute) Un- faumlhigkeit zum logischen Denken Mangel an Urteil und kritischem Geist Uumlberschwang der Gefuumlhle (exageacuteration des sentiments) und noch andere sind bei Wesen einer nied- rigeren Entwicklungsstufe wie beim Wilden und beim Kinde ebenfalls zu beobachten Ich streife diese Uumlberein- stimmung nur im Voruumlbergehen denn ihre Ausfuumlhrung wuumlrde uumlber den Rahmen dieser Arbeit hinausgehen Sie waumlre unnoumltig fuumlr alle mit der Psychologie der Primitiven Vertrauten und fuumlr jene die nichts von ihr wissen ohne rechte UumlberzeugungskraftIch gehe nun die verschiedenen Merkmale die sich bei der Mehrzahl der Massen leicht beobachten lassen der Reihe nach durch

sect Triebhaftigkeit Beweglichkeit und Erregbarkeit der Massen

Bei der Untersuchung ihrer grundlegenden Charakterzuumlge sagten wir daszlig die Masse beinahe ausschlieszliglich vom Un- bewuszligten geleitet wird Ihre Handlungen stehen viel oumlfter unter dem Einfluszlig des Ruumlckenmarks als unter dem des Gehirns Die vollzogenen Handlungen koumlnnen ihrer Aus- fuumlhrung nach vollkommen sein da sie aber nicht vom Ge- hirn ausgehen so handelt der einzelne nach zufaumllligen Reizen Die Masse ist der Spielball aller aumluszligeren Reize deren unaufhoumlrlichen Wechsel sie widerspiegelt Sie ist also die Sklavin der empfangenen Anregungen Der allein- stehende einzelne kann ja denselben Reizen unterliegen

wie die Masse da ihm aber sein Gehirn die unangenehmen Folgen des Nachgebens zeigt so gehorcht er ihnen nicht Physiologisch laumlszligt es sich so erklaumlren daszlig der alleinste- hende einzelne die Faumlhigkeit zur Beherrschung seiner Emp- findungen hat die Masse aber nicht dazu imstande istDie mannigfachen Triebe denen die Massen gehorchen koumlnnen je nach dem Anreiz edel oder grausam heldenhaft oder feige sein stets aber sind sie so unabweisbar daszlig der Selbsterhaltungstrieb vor ihnen zuruumlcktrittDa die Reize die auf eine Masse wirken sehr wechseln und die Massen ihnen immer gehorchen so sind sie natuumlr- lich aumluszligerst wandelbar Daher sehen wir sie auch in dem- selben Augenblick von der blutigsten Grausamkeit zum unbedingtesten Heldentum oder Edelmut uumlbergehen Die Masse wird leicht zum Henker ebenso leicht aber auch zum Maumlrtyrer Aus ihrem Herzen floumlssen die Stroumlme von Blut die fuumlr den Triumph jedes Glaubens notwendig sind Man braucht nicht zu den Zeitaltern der Helden zuruumlck- zugehen um zu erkennen wozu die Massen faumlhig sind Nie markten sie bei einem Aufstand um ihr Leben und erst vor wenigen Jahren haumltte ein General der ploumltzlich volkstuumlmlich geworden war wenn er es verlangt haumltte leicht hunderttausend Menschen gefunden bereit sich fuumlr seine Sache toumlten zu lassenNichts ist also bei den Massen vorbedacht Sie koumlnnen unter dem Einfluszlig von Augenblicksreizen die ganze Folge der entgegengesetzten Gefuumlhle durchlaufen Sie gleichen den Blaumlttern die der Sturm aufwirbelt nach allen Rich- tungen verstreut und wieder fallen laumlszligt Die Betrachtung gewisser revolutionaumlrer Massen wird uns einige Beispiele fuumlr die Veraumlnderlichkeit ihrer Gefuumlhle gebenDiese Veraumlnderlichkeit macht sie schwer regierbar beson- ders wenn ein Teil der oumlffentlichen Gewalt in ihre Haumlnde gefallen ist Wuumlrden die Notwendigkeiten des Alltags- lebens nicht eine Art unsichtbarer Regelung der Ereignisse herausbilden so koumlnnten die Demokratien nicht bestehen Wenn auch die Massen die Dinge leidenschaftlich be-

20 GEFUumlHLE UND SITTLICHKEIT DER MASSEN

gehren so wollen sie sie doch nicht fuumlr lange Zeit Sie sind ebenso unfaumlhig zu ausdauerndem Wollen wie zum DenkenDie Masse ist nicht nur triebhaft und wandelbar Gleich dem Wilden laumlszligt sie nicht zu daszlig sich zwischen ihre Be- gierde und die Verwirklichung dieser Begierde ein Hinder- nis erhebt um so weniger als ihre Uumlberzahl ihr das Ge- fuumlhl unwiderstehlicher Macht gewaumlhrt Fuumlr den einzelnen in der Masse schwindet der Begriff des Unmoumlglichen Der alleinstehende einzelne ist sich klar daruumlber daszlig er allein keinen Palast einaumlschern keinen Laden pluumlndern koumlnnte und die Versuchung dazu kommt ihm kaum in den Sinn Als Glied einer Masse aber uumlbernimmt er das Machtbe- wuszligtsein das ihm die Menge verleiht und wird der ersten Anregung zu Mord und Pluumlnderung augenblicklich nach- geben Ein unerwartetes Hindernis wird wuumltend zertruumlm- mert Wenn der menschliche Organismus dauernde Wut zulieszlige so koumlnnte man die Wut als den normalen Zustand der gehemmten Masse bezeichnenDie Erregbarkeit Triebhaftigkeit und Veraumlnderlichkeit der Massen sowie das gesamte Empfinden des Volkes das wir zu untersuchen haben werden stets durch die grundlegen- den Rasseeigenschaften abgewandelt Sie bilden den festen Boden in dem alle unsere Gefuumlhle wurzeln Ohne Zweifel sind die Massen reizbar und triebhaft aber in den mannig- fachsten Abstufungen Der Unterschied zwischen einer la- teinischen und einer angelsaumlchsischen Masse z B ist auf- fallend Die juumlngsten Ereignisse unserer Geschichte geben ein sprechendes Bild davon Im Jahre 870 hat die Ver- oumlffentlichung eines einfachen Telegramms mit dem Bericht uumlber eine angeblich einem Botschafter zugefuumlgte Beleidigung genuumlgt einen Wutausbruch zu entfachen der zur unmittel- baren Ursache eines furchtbaren Krieges wurde Einige Jahre spaumlter erzeugte die telegraphische Anzeige einer un- bedeutenden Schlappe bei Langson einen neuen Ausbruch der den sofortigen Sturz der Regierung herbeifuumlhrte Zu gleicher Zeit erregte die viel schwerere Niederlage einer

TRIEBHAFTIGKEIT BEWEGLICHKEIT ERREGBARKEIT 21

englischen Expedition bei Khartum nur eine sehr schwache Bewegung in England und kein Ministerium fiel Uumlberall sind die Massen weibisch die weibischsten aber sind die lateinischen Massen Wer sich auf sie stuumltzt kann sehr hoch und sehr schnell steigen aber stets in der Naumlhe des tarpeji- schen Felsens und mit der Gewiszligheit eines Tages hinunter- gestuumlrzt zu werden

sect 2 Beeinfluszligbarkeit und Leichtglaumlubigkeit der Massen

Als einen der allgemeinen Charakterzuumlge bezeichneten wir die uumlbermaumlszligige Beeinf luszligbarkeit und wiesen nach wie ansteckend eine Beeinflussung in jeder Menschenansamm- lung ist woraus sich die blitzschnelle Gerichtetheit der Gefuumlhle in einem bestimmten Sinne erklaumlrt So parteilos man sich die Masse auch vorstellt so befindet sie sich doch meistens in einem Zustand gespannter Erwartung der die Beeinflussung beguumlnstigt Die erste klar zum Ausdruck gebrachte Beeinflussung teilt sich durch Uumlbertragung augen- blicklich allen Gehirnen mit und gibt sogleich die Gefuumlhls- richtung an Bei allen Beeinfluszligten draumlngt die fixe Idee danach sich in eine Tat umzuformen Ob es sich darum handelt einen Palast in Brand zu stecken oder sich zu opfern die Masse ist mit der gleichen Leichtigkeit dazu bereit Alles haumlngt von der Art des Anreizes ab nicht mehr wie beim alleinstehenden einzelnen von den Bezie- hungen zwischen der eingegebenen Tat und dem Maszlig der Vernunft das sich ihrer Verwirklichung widersetzen kann So muszlig die Masse die stets an den Grenzen des Unbe- wuszligten umherirrt allen Einfluumlssen unterworfen ist von der Heftigkeit ihrer Gefuumlhle erregt wird welche allen Wesen eigen ist die sich nicht auf die Vernunft berufen koumlnnen alles kritischen Geistes bar von einer uumlbermaumlszligigen Leichtglaumlubigkeit sein Nichts erscheint ihr unwahrschein- lich und das darf man nicht vergessen wenn man begrei-

22 GEFUumlHLE UND SITTLICHKEIT DER MASSEN

fen will wie leicht die unwahrscheinlichsten Legenden und Berichte zustande kommen und sich verbreiten Die Entstehung von Legenden die so leicht in den Massen umlaufen ist nicht nur die Folge vollkommener Leicht- glaumlubigkeit sondern auch der ungeheuerlichen Entstellun- gen welche die Ereignisse in der Phantasie der Menschen- ansammlungen erfahren Der einfachste Vorfall von der Masse gesehen ist sofort ein entstelltes Geschehnis Sie denkt in Bildern und das hervorgerufene Bild loumlst eine Folge anderer Bilder aus ohne jeden logischen Zusammen- hang mit dem ersten Diesen Zustand verstehen wir leicht wenn wir bedenken welche sonderbaren Vorstellungs- reihen zuweilen ein Erlebnis in uns hervorruft Die Ver- nunft beweist die Zusammenhanglosigkeit dieser Bilder aber die Masse beachtet sie nicht und vermengt die Zusaumltze ihrer entstellenden Phantasie mit dem Ereignis Die Masse ist unfaumlhig das Persoumlnliche von dem Sachlichen zu unter- scheiden Sie nimmt die Bilder die in ihrem Bewuszligtsein auftauchen und sehr oft nur eine entfernte Aumlhnlichkeit mit der beobachteten Tatsache haben fuumlr WirklichkeitDie Entstellungen mit denen eine Masse ein Ereignis um- formt dessen Zeuge sie gewesen ist scheinen unzaumlhlig und von verschiedener An zu sein da die Menschen aus denen die Masse besteht von sehr verschiedenem Temperament sind Aber so ist es nicht Infolge der Uumlbertragung sind die Entstellungen durch die einzelnen einer Gemeinschaft alle von gleicher Art und gleichem Wesen Die erste Ent- stellung die ein Glied der Gesamtheit vorbringt formt den Kern des ansteckenden Einflusses Bevor der heilige Georg allen Kreuzfahrern auf den Mauern von Jerusalem er- schien war er sicher zuerst nur von einem von ihnen wahrgenommen worden Durch Beeinflussung und Uumlber-

Wer noch die Belagerung von Paris mitgemacht hat erlebte viele Faumllle dieser Leichtglaumlubigkeit der Massen an die unwahrscheinlichsten Dinge Ein brennendes Wachslicht in einem houmlheren Stockwerk galt sofort fuumlr ein Zeichen das man den Belagerern geben wollte Zwei Sekunden Uumlberlegung wuumlrden bewiesen haben daszlig man unmoumlglich aus einer Entfernung von mehreren Meilen dieses Kerzenlicht sehen kann

BEEINFLUSSBARKEIT UND LEICHTGLAumlUBIGKEIT 23

tragung wurde das gemeldete Wunder sofort von allen angenommenSo vollzieht sich der Vorgang von Kollektivhalluzina- tionen die in der Geschichte so haumlufig sind und alle klas- sischen Merkmale der Echtheit zu haben scheinen da es sich hier um Erscheinungen handelt die von Tausenden von Menschen festgestellt wurdenDie geistige Beschaffenheit der einzelnen aus denen die Masse besteht widerspricht nicht diesem Grundsatz Denn diese Eigenschaften sind bedeutungslos In dem Augenblick da sie zu einer Masse gehoumlren werden der Ungebildete und der Gelehrte gleich unfaumlhig zur BeobachtungDiese Behauptung mag widersinnig klingen Um sie zu beweisen muumlszligte man auf eine groszlige Anzahl historischer Tatsachen zuruumlckgreifen und dazu wuumlrden mehrere Baumlnde nicht genuumlgenDa ich aber den Leser doch nicht unter dem Eindruck un- bewiesener Behauptungen lassen moumlchte so will ich einige Beispiele anfuumlhren die ich auf gut Gluumlck aus der groszligen Anzahl die man zitieren koumlnnte herausgreifeDer folgende Fall wurde gewaumlhlt weil er besonders all- gemeinguumlltig fuumlr Kollektivhalluzinationen ist Er wirkte sich auf eine Menge aus die aus den verschiedensten ein- zelnen ndash unwissenden und gebildeten ndash bestand Er wird von dem Schiffsleutnant Julien Feacutelix in seinem Buch uumlber die Meeresstroumlmungen nebenher berichtet und ist auch in die bdquoRevue Scientifiqueldquo aufgenommen wordenDie Fregatte bdquoLa Belle-Pouleldquo kreuzte auf See um die Korvette bdquoLe Berceauldquo wiederzufinden von der sie durch einen heftigen Orkan getrennt worden war Es war am hellen lichten Tage Ploumltzlich signalisiert die Wache ein Schiff in Seenot Die Mannschaft richtet ihre Blicke auf die bezeichnete Stelle und alle Offiziere und Matrosen sehen deutlich ein menschenbeladenes Wrack welches von kleinen Fahrzeugen auf denen Notsignale flatterten ge- schleppt wurde Admiral Desfosseacutes lieszlig ein Boot bemannen um den Schiffbruumlchigen zu Hilfe zu eilen Waumlhrend sie sich

24 GEFUumlHLE UND SITTLICHKEIT DER MASSEN

naumlherten sahen die im Boot befindlichen Matrosen und Offiziere bdquoMassen von Menschen sich hin und her bewegen die Haumlnde ausstrecken und vernahmen den dumpfen und verworrenen Laumlrm einer groszligen Anzahl Stimmenldquo Als das Boot angekommen war fand man nichts weiter vor als einige mit Blaumlttern bedeckte Baumaumlste die sich von der benachbarten Kuumlste losgerissen hatten Vor einem so hand- greiflichen Beweis schwindet die TaumluschungDies Beispiel enthuumlllt ganz klar den Verlauf der Kollektiv- taumluschungen wie wir ihn beschrieben haben Auf der einen Seite eine Masse im Zustand gespannter Aufmerksamkeit auf der andern eine Suggestion die von der Wache ausgeht die ein schiffbruumlchiges Fahrzeug auf dem Meer signalisiert eine Suggestion die durch Uumlbertragung von allen Anwesen- den Offizieren wie Matrosen aufgenommen wirdEine Masse braucht nicht zahlreich zu sein um die Faumlhig- keit richtigen Sehens zu verlieren und die wirklichen Tat- sachen durch davon abweichende Taumluschungen zu ersetzen Die Versammlung einiger einzelner bildet eine Masse und selbst wenn es hervorragende Gelehrte waumlren so wuumlrden sie doch alle fuumlr die Dinge die auszligerhalb ihres Faches liegen die Massenkennzeichen annehmen Das Be- obachtungsvermoumlgen und der kritische Geist eines jeden von ihnen schwinden sofortEin scharfsinniger Psychologe Davey liefert uns dafuumlr ein recht merkwuumlrdiges Beispiel welches vor kurzem in den

bdquoAnnales des Sciences psychiquesldquo mitgeteilt wurde und es verdient hier berichtet zu werden Davey berief eine Versammlung ausgezeichneter Beobachter ein unter ihnen den hervorragenden englischen Forscher Wallace und fuumlhrte ihnen nachdem er sie die Gegenstaumlnde untersuchen und beliebig hatte versiegeln lassen alle klassischen Phauml- nomene des Spiritismus vor Materialisation von Geistern Schiefertafelschrift usw Nachdem er hierauf von diesen beruumlhmten Beobachtern schriftliche Berichte erhalten hatte in welchen erklaumlrt wurde die beobachteten Erscheinungen seien nur auf uumlbernatuumlrlichem Wege moumlglich gewesen ent-

BEEINFLUSSBARKEIT UND LEICHTGLAumlUBIGKEIT 25

huumlllte er ihnen daszlig sie das Ergebnis sehr einfacher Kniffe waren bdquoDas Erstaunliche an diesem Versuch Daveysldquo schreibt der Verfasser des Berichts bdquoist nicht die Bewun- derung der Kunststuumlcke als solcher sondern die auszliger- ordentliche Geistlosigkeit der Berichte welche die unein- geweihten Zeugen daruumlber abgaben Denn die Zeugen haben zahlreiche und genaue Berichte geliefert die voumlllig irrig sind die aber wenn man ihre Schilderungen fuumlr richtig haumllt zu dem Ergebnis fuumlhren daszlig die geschilderten Vorgaumlnge durch Betrug nicht zu erklaumlren sind Die von Davey ersonnenen Methoden waren so einfach daszlig man sich uumlber die Kuumlhnheit wundert mit der er sie anwandte er besaszlig aber eine solche Macht uumlber den Geist der Masse daszlig er ihr das was sie nicht sah als gesehen aufzwingen konnteldquo Diese Macht hat der Hypnotiseur immer uumlber den Hypnotisierten Sieht man aber wie sie sich auf uumlber- legene von vornherein miszligtrauische Geister auswirkt dann begreift man mit welcher Leichtigkeit die gewoumlhn- lichen Massen zu taumluschen sindEs gibt unzaumlhlige aumlhnliche Beispiele Vor einigen Jahren gaben die Zeitungen die Geschichte von zwei kleinen er- trunkenen Maumldchen wieder die aus der Seine gezogen wurden Diese Kinder wurden zuerst in bestimmtester Weise von einem Dutzend Zeugen erkannt Vor so uumlber- einstimmenden Aussagen schwand auch der leiseste Zweifel des Untersuchungsrichters er lieszlig den Totenschein aus- fertigen In dem Augenblick aber da man sich zur Beerdi- gung anschickte entdeckte man durch Zufall daszlig die mit den Opfern Identifizierten noch voumlllig lebendig waren und kaum eine entfernte Aumlhnlichkeit mit den ertrunkenen Klei- nen besaszligen Wie in mehreren der fruumlher angefuumlhrten Beispiele hatte die Behauptung des ersten Zeugen der das Opfer einer Taumluschung war zur Beeinflussung aller an- deren genuumlgtIn solchen Faumlllen ist der Ausgangspunkt fuumlr die Beein- flussung stets die Taumluschung die durch mehr oder weniger unbestimmte Erinnerungen in einem einzelnen erzeugt

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wird auszligerdem die Uumlbertragung durch Mitteilung dieses ersten Irrtums Ist der erste Beobachter leicht erregbar so genuumlgt es oft daszlig der Leichnam den er zu erkennen glaubt abgesehen von aller wirklichen Aumlhnlichkeit eine Besonderheit etwa eine Narbe oder ein Bekleidungsmerk- mal aufzuweisen hat wodurch bei ihm die Vorstellung einer andern Person ausgeloumlst werden kann Die einge- bildete Vorstellung kann dann zum Kern einer Art Kri- stallisation werden welche den Bereich des Verstandes er- greift und allen kritischen Geist lahmt Der Beobachter sieht dann nicht mehr die Sache selbst sondern das Bild das in seiner Seele aufgetaucht ist Auf diese Weise erklaumlrt sich das vermeintliche Wiedererkennen von Kinderleichen durch die Muumltter wie in dem folgenden schon alten Fall an dem sich die beiden Arten von Beeinflussung deren Ab- lauf ich erklaumlrt habe deutlich offenbaren

bdquoDas Kind wurde von einem anderen Kinde erkannt ndash das sich irrte Die Reihe des unrichtigen Wiedererkennens lief nun ab Und nun geschah etwas sehr Merkwuumlrdiges An dem Tage nachdem die Leiche durch einen Schuumller wiedererkannt worden war schrie eine Frau auf Ach mein Gott das ist mein Kindlsquo Man fuumlhrte sie zur Leiche sie untersucht die Kleider und stellt eine Narbe an der Stirn fest Gewiszliglsquo sagte sie es ist mein armer Junge der seit Ende Juli vermiszligt wird Man wird ihn mir ent- fuumlhrt und getoumltet habenlsquo Die Frau war Hausmeisterin in der Rue de Four und hieszlig Chavandret Man lieszlig ihren Schwager kommen und dieser sagte ohne Zoumlgern Das ist der kleine Philibertlsquo Mehrere Bewohner der Straszlige ganz abgesehen von seinem Lehrer fuumlr den die Schulmedaille ausschlaggebend war erkannten in dem Kinde von la Villette Philibert Chavandret Nun Nachbarn Schwager Lehrer und Mutter hatten sich geirrt Sechs Wochen spaumlter war die Identitaumlt des Kindes festgestellt Es war ein Knabe aus Bordeaux der dort getoumltet und mit der Post nach Paris gebracht worden war ldquo bdquoEclairldquo vom 2 April 895

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Wir koumlnnen wieder feststellen daszlig dies bdquoErkennenldquo meistens bei Frauen und Kindern also gerade bei den erregbarsten Wesen vorkommt Es zeigt gleichzeitig wie wenig Wert solche Zeugnisse vor Gericht haben koumlnnen Besonders Kinderaus- sagen sollten nie herangezogen werden Die Richter wieder- holen immer man luumlge in diesem Alter nicht das ist ein Gemeinplatz Besaumlszligen sie eine etwas tiefere psychologische Bildung so wuumlszligten sie ganz im Gegenteil in diesem Alter luumlgt man stets Gewiszlig ist die Luumlge harmlos sie bleibt aber dennoch eine Luumlge Besser wuumlrde die Verurteilung eines An- geklagten nach dem Spiel bdquoKopf oder Schriftldquo erfolgen als wie so oft geschehen nach dem Zeugnis eines KindesUm aber auf die Beobachtungen zuruumlckzukommen die von den Massen gemacht werden so koumlnnen wir daraus schlieszligen daszlig die Kollektivbeobachtungen die verfehltesten von allen sind und daszlig sie meistens nur die einfache Taumluschung eines einzelnen sind die durch Uumlbertragung alle andern beeinfluszligt hat Unzaumlhlige Faumllle beweisen daszlig man gegen die Zeugenschaft der Masse das groumlszligte Miszligtrauen hegen muszlig Tausende von Menschen erlebten den beruumlhmten Reiterangriff der Schlacht bei Sedan und doch ist es unmoumlg- lich aus den widersprechenden Berichten von Augenzeugen festzustellen von wem er kommandiert wurde Der englische General Wolseley hat in einem neuen Buch den Beweis er- bracht daszlig man bis jetzt uumlber die wichtigsten Ereignisse der Schlacht bei Waterloo obwohl Hunderte von Zeugen sie beglaubigt hatten in groumlszligtem Irrtum befangen war

Wissen wir auch nur von einer einzigen Schlacht wie sie sich wirklich ab- gespielt hat Ich zweifle sehr daran Wir kennen Sieger und Besiegte aber wahrscheinlich weiter nichts Was drsquoHarcourt uumlber die Schlacht von Solferino berichtet die er teils mitgemacht und teils gesehen hat laumlszligt sich auf alle Schlachten anwenden bdquoDie Generaumlle (natuumlrlich durch Hunderte von Aussagen unterrichtet) setzen ihre offiziellen Berichte auf die mit der Verbreitung der Berichte betrauten Offiziere aumlndern diese Schriftstuumlcke und setzen die end- guumlltige Fassung fest der Generalstabschef kritisiert und erneuert sie nochmals Man bringt sie zum Feldmarschall er ruft Sie befinden sich in einem voumllli- gen Irrtumlsquo und nimmt eine neue Uumlberarbeitung vor Von dem urspruumlnglichen Bericht bleibt fast nichts stehenldquo DrsquoHarcourt erzaumlhlt dies als Beweis der Un- moumlglichkeit die Wahrheit uumlber das packendste und aufs genaueste beobachtete Ereignis festzustellen

28 GEFUumlHLE UND SITTLICHKEIT DER MASSEN

All diese Beispiele zeigen ich wiederhole es wie wenig Wert die Zeugenschaft der Massen hat Die Lehrbuumlcher der Logik zaumlhlen die Uumlbereinstimmung zahlreicher Zeugen zur Klasse der sichersten Beweise die man zur Erhaumlrtung einer Tatsache erbringen kann Aber was wir von der Psychologie der Massen wissen zeigt wie sehr sie sich in diesem Punkte taumluschen Die Ereignisse die von der groumlszlig- ten Anzahl von Personen beobachtet wurden sind sicher am zweifelhaftesten Zu erklaumlren eine Tatsache sei von Tausenden von Zeugen gleichzeitig festgestellt worden heiszligt erklaumlren daszlig das wirkliche Ereignis von dem ange- nommenen Bericht im allgemeinen erheblich abweichtAus dem Vorstehenden folgt klar daszlig die Geschichtswerke als reine Phantasiegebilde zu betrachten sind Es sind Phantasieberichte schlecht beobachteter Ereignisse nebst nachtraumlglich ersonnenen Erklaumlrungen Haumltte uns die Ver- gangenheit nicht ihre Literaturdenkmaumller ihre Kunst- und Bauwerke hinterlassen so wuumlszligten wir nicht die geringste Tatsache von ihr Kennen wir ein einziges wahres Wort uumlber das Leben der groszligen Maumlnner die in der Menschheit eine hervorragende Rolle spielten Houmlchstwahrscheinlich nicht Im Grunde hat uumlbrigens ihr tatsaumlchliches Leben recht wenig Interesse fuumlr uns Die legendaumlren Helden nicht die wirklichen Helden haben Eindruck auf die Massen ge- machtLeider sind die Legenden selbst nicht von Dauer Die Phantasie der Massen formt sie je nach den Zeiten und den Rassen um Vom grausamen Jehova der Bibel bis zum Gott der Liebe der heiligen Therese ist ein groszliger Schritt und der in China verehrte Buddha hat mit dem in Indien angebeteten keinen Zug gemeinEs bedarf nicht des Ablaufs von Jahrhunderten damit sich die Heldenlegende in der Phantasie der Massen wandelt diese Wandlung erfolgt oft innerhalb weniger Jahre Wir haben in unsern Tagen erlebt wie sich die Legende eines der groumlszligten Helden der Geschichte in weniger als fuumlnfzig Jahren wiederholt veraumlndert hat Unter den Bourbonen

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wurde Napoleon zu einer idyllischen menschenfreundlichen und freisinnigen Persoumlnlichkeit einem Freunde der Armen die wie der Dichter sagt sein Andenken in ihrer Huumltte fuumlr lange Zeit bewahren wuumlrden Dreiszligig Jahre spaumlter war der gutmuumltige Held zu einem grausamen Despoten gewor- den zu einem Usurpator von Macht und Freiheit der drei Millionen Menschen nur zur Befriedigung seines Ehrgeizes geopfert hatte Gerade jetzt wandelt sich die Legende wieder Wenn einige Dutzend Jahrhunderte daruumlber hin- gegangen sind werden die zukuumlnftigen Forscher angesichts dieser widersprechenden Berichte vielleicht das Dasein des Helden bezweifeln wie wir bisweilen das Dasein Buddhas bezweifeln und werden dann in ihm nur einen Sonnen- mythus oder eine Fortentwicklung der Herkulessage er- blicken Zweifellos werden sie sich uumlber diese Ungewiszligheit leicht troumlsten denn da sie eine bessere psychologische Er- kenntnis haben werden als wir heutzutage so werden sie wissen daszlig die Geschichte nur Mythen zu verewigen vermag

sect 3 Uumlberschwang (exageacuteration) und Einseitigkeit (simplisme) der Massengefuumlhle

Alle Gefuumlhle gute und schlechte die eine Masse aumluszligert haben zwei Eigentuumlmlichkeiten sie sind sehr einfach und sehr uumlberschwenglich Wie in so vielen andern naumlhert sich auch in dieser Beziehung der einzelne der einer Masse angehoumlrt den primitiven Wesen Gefuumlhlsabstufungen nicht zugaumlnglich sieht er die Dinge grob und kennt keine Uumlber- gaumlnge Der Uumlberschwang der Gefuumlhle in der Masse wird noch dadurch verstaumlrkt daszlig er sich durch Suggestion und Uumlbertragung sehr rasch ausbreitet und daszlig Anerkennung die er erfaumlhrt seinen Spannungsgrad erheblich steigertDie Einseitigkeit und Uumlberschwenglichkeit der Gefuumlhle der Massen bewahren sie vor Zweifel und Ungewiszligheit Den Frauen gleich gehen sie sofort bis zum Aumluszligersten Ein aus- gesprochener Verdacht wird sogleich zu unumstoumlszliglicher

30 GEFUumlHLE UND SITTLICHKEIT DER MASSEN

Gewiszligheit Ein Keim von Abneigung und Miszligbilligung den der einzelne kaum beachten wuumlrde waumlchst beim Ein- zelwesen der Masse sofort zu wildem HaszligDie Heftigkeit der Gefuumlhle der Massen wird besonders bei den ungleichartigen Massen durch das Fehlen jeder Verantwortlichkeit noch gesteigert Die Gewiszligheit der Straflosigkeit die mit der Groumlszlige der Menge zunimmt und das Bewuszligtsein einer bedeutenden augenblicklichen Ge- walt bedingt durch die Masse ermoumlglichen der Gesamtheit Gefuumlhle und Handlungen die dem einzelnen unmoumlglich sind In den Massen verlieren die Dummen Ungebildeten und Neidischen das Gefuumlhl ihrer Nichtigkeit und Ohn- macht an seine Stelle tritt das Bewuszligtsein einer rohen zwar vergaumlnglichen aber ungeheuren KraftUngluumlcklicherweise ruft der Uumlberschwang schlechter Ge- fuumlhle bei den Massen den vererbten Rest der Instinkte des Urmenschen herauf die beim alleinstehenden und verant- wortlichen einzelnen durch die Furcht vor Strafe gezuumlgelt werden So erklaumlrt sich die Neigung der Massen zu schlim- men AusschreitungenWenn die Massen geschickt beeinfluszligt werden koumlnnen sie heldenhaft und opferwillig sein Sie sind es sogar in viel houmlherem Maszlige als der einzelne Wir werden beim Studium der Massenmoral bald Gelegenheit haben auf diesen Punkt zuruumlckzukommenDa die Masse nur durch uumlbermaumlszligige Empfindungen erregt wird muszlig der Redner der sie hinreiszligen will starke Aus- druumlcke gebrauchen Zu den gewoumlhnlichen Beweismitteln der Redner in Volksversammlungen gehoumlrt Schreien Be- teuern Wiederholen und niemals darf er den Versuch machen einen Beweis zu erbringenDie gleiche Uumlbertreibung der Gefuumlhle verlangt die Masse von ihren Helden Ihre Eigenschaften und hervorragenden Tugenden muumlssen stets vergroumlszligert werden Im Theater fordert die Masse von dem Helden des Dramas Tugenden einen Mut und eine Moral wie sie im Leben niemals vor- kommen

UumlBERSCHWANG UND EINSEITIGKEIT 31

Man spricht mit Recht von der besonderen Optik des Thea- ters Zweifellos ist sie vorhanden aber ihre Gesetze haben nichts mit dem gesunden Menschenverstand und der Logik zu tun Die Kunst zur Masse zu sprechen ist von unter- geordnetem Rang erfordert jedoch ganz besondere Faumlhig- keiten Beim Lesen gewisser Stuumlcke kann man sich ihren Erfolg oft nicht erklaumlren Im allgemeinen sind die Theater- direktoren selbst uumlber den Erfolg sehr im Ungewissen wenn ihnen die Stuumlcke eingereicht werden denn um ur- teilen zu koumlnnen muumlszligten sie sich in eine Masse verwan- deln Wenn wir uns mit Einzelheiten befassen koumlnnten waumlre es leicht auch noch den bedeutenden Einfluszlig der Rasse aufzuzeigen Das Drama das in dem einen Lande die Masse begeistert hat oft in einem andern keinen oder nur einen durchschnittlichen Achtungserfolg weil es nicht die Kraumlfte spielen laumlszligt die das neue Publikum bewegen koumlnntenIch brauche nicht besonders zu betonen daszlig der Uumlber- schwang der Massen sich nur auf die Gefuumlhle und in keiner Weise auf den Verstand erstreckt Die Tatsache der bloszligen Zugehoumlrigkeit des einzelnen zur Masse bewirkt wie ich bereits zeigte eine betraumlchtliche Senkung der Voraussetzun- gen seines Verstandes In seinen Untersuchungen uumlber die Massenverbrechen hat Tarde das gleichfalls festgestellt

Dadurch erklaumlrt es sich auch daszlig gewisse Theaterstuumlcke die von allen Direktoren zuruumlckgewiesen wurden zuweilen auszligerordentliche Erfolge er- zielen wenn ihre Auffuumlhrung doch zufaumlllig zustande kommt Der Erfolg des Coppeacuteeschen Stuumlckes bdquoPour la Couronneldquo das zehn Jahre lang trotz des Namens seines Autors von allen Direktoren der ersten Theater abgelehnt wurde ist bekannt bdquoCharleys Tanteldquo wurde nach einer ganzen Reihe von Ablehnungen auf Kosten eines Boumlrsenmaklers aufgefuumlhrt und erzielte in Frank- reich zweihundert in England uumlber tausend Auffuumlhrungen Ohne die ge- nannte Erklaumlrung daszlig sich die Theaterdirektoren nicht in die Seele der Masse versetzen koumlnnen waumlre es unbegreiflich daszlig maszliggebende Einzelne die Wert darauf legen sich nicht durch schwere Irrtuumlmer bloszligzustellen solche Fehlurteile faumlllen koumlnnen

32 GEFUumlHLE UND SITTLICHKEIT DER MASSEN

sect 4 Unduldsamkeit Herrschsucht (autoritarisme) und Konservatismus der Massen

Die Massen kennen nur einfache und uumlbertriebene Gefuumlhle Meinungen Ideen Glaubenssaumltze die man ihnen einfloumlszligt werden daher nur in Bausch und Bogen von ihnen ange- nommen oder verworfen und als unbedingte Wahrheiten oder ebenso unbedingte Irrtuumlmer betrachtet So geht es stets mit Uumlberzeugungen die auf dem Wege der Beeinflussung nicht durch Nachdenken erworben wurden Jedermann weiszlig wie unduldsam die religioumlsen Glaubenssaumltze sind und welche Gewaltherrschaft sie uumlber die Seelen ausuumlbenDa die Masse in das was sie fuumlr Wahrheit oder Irrtum haumllt keinen Zweifel setzt andererseits ein klares Bewuszligt- sein ihrer Kraft besitzt so ist sie ebenso eigenmaumlchtig wie unduldsam Der einzelne kann Widerspruch und Ausein- andersetzung anerkennen die Masse duldet sie niemals In den oumlffentlichen Versammlungen wird der leiseste Wider- spruch eines Redners sofort mit Wutgeschrei und groben Schmaumlhungen beantwortet und wenn der Redner beharr- lich ist folgen leicht Taumltlichkeiten und der Redner wird hinausgeworfen Ohne die einschuumlchternde Anwesenheit der Sicherheitsbehoumlrde wuumlrde man oft den Gegner lynchen Herrschsucht und Unduldsamkeit finden sich bei allen Ar- ten der Massen aber in ganz verschiedenen Graden und hier kommt wieder der Grundbegriff der Rasse zur Gel- tung die alles Fuumlhlen und Denken der Menschen beherrscht Herrschsucht und Unduldsamkeit sind besonders bei den lateinischen Massen ausgebildet und zwar in solchem Maszlige daszlig es ihnen fast gelungen ist das Gefuumlhl der per- soumlnlichen Unabhaumlngigkeit das bei den Angelsachsen so maumlchtig ist bei ihnen voumlllig zu vernichten Die lateinischen Massen haben nur Gefuumlhl fuumlr die Gesamt-Unabhaumlngigkeit ihrer Sekte und bezeichnend fuumlr diese Unabhaumlngigkeit ist das Beduumlrfnis alle Andersglaumlubigen sofort und gewaltsam fuumlr ihren eigenen Glauben zu gewinnen Von der Inquisi- tion angefangen konnten sich bei den lateinischen Voumllkern

die Jakobiner aller Zeiten niemals zu einem andern Frei- heitsbegriff aufschwingenHerrschsucht und Unduldsamkeit sind fuumlr die Massen sehr klare Gefuumlhle die sie ebenso leicht ertragen wie sie sie in die Tat umsetzen Die Massen erkennen die Macht an und werden durch Guumlte die sie leicht fuumlr eine Art Schwauml- che halten nur maumlszligig beeinfluszligt Niemals galten ihre Sym- pathien den guumltigen Herren sondern den Tyrannen von denen sie kraftvoll beherrscht wurden Ihnen haben sie stets die groumlszligten Denkmaumller errichtet Wenn sie den ge- stuumlrmten Despoten gern mit Fuumlszligen treten so geschieht das weil er seine Macht eingebuumlszligt hat und in die Reihe der Schwachen eingereiht wird die man verachtet und nicht fuumlrchtet Das Urbild des Massenhelden wird stets Caumlsaren- charakter zeigen Sein Helmbusch verfuumlhrt sie seine Macht floumlszligt ihnen Achtung ein und sein Schwert fuumlrchten sieStets bereit zur Auflehnung gegen die schwache Obrigkeit beugt sich die Masse knechtisch vor einer starken Herr- schaft Ist die Haltung der Obrigkeit schwankend so wen- det sich die Masse die stets ihren aumluszligersten Gefuumlhlen folgt abwechselnd von der Anarchie zur Sklaverei von der Sklaverei zur AnarchieUumlbrigens wuumlrde man die Psychologie der Massen ganz miszligverstehen wenn man an die Vorherrschaft ihrer revo- lutionaumlren Triebe glaubte Nur ihre Gewalttaten taumluschen uns uumlber diesen Punkt Die Ausbruumlche der Empoumlrung und Zerstoumlrung sind immer nur von kurzer Dauer Die Massen werden zu sehr vom Unbewuszligten geleitet und sind also dem Einfluszlig uralter Vererbung zu sehr unterworfen als daszlig sie nicht aumluszligerst beharrend sein muumlszligten Wenn sie sich selbst uumlberlassen werden erlebt man bald daszlig sie ihrer Zuumlgellosigkeit uumlberdruumlssig instinktiv der Knecht- schaft zusteuern Die kuumlhnsten und schroffsten Jakobiner stimmten Bonaparte entschieden zu als er alle Freiheiten aufhob und seine eiserne Hand schwer fuumlhlen lieszligDie Geschichte der Voumllkerrevolutionen ist fast unverstaumlnd- lich wenn man die von Grund aus beharrenden Trieb-

34 GEFUumlHLE UND SITTLICHKEIT DER MASSEN

kraumlfte der Massen verkennt Sie wuumlnschen zwar die Namen ihrer Einrichtungen zu wechseln und um diesen Wechsel zu vollziehen machen sie zuweilen sogar groszlige Revolu- tionen durch aber der Kern dieser Einrichtungen ist zu sehr Ausdruck der erblichen Beduumlrfnisse der Rasse als daszlig sie nicht immer wiederkehren muumlszligten Die unauf- houmlrliche Veraumlnderlichkeit der Massen erstreckt sich nur auf ganz aumluszligerliche Dinge In Wahrheit haben sie nicht weiter erklaumlrbare Beharrungsinstinkte und wie alle Primitiven eine fetischistische Ehrfurcht vor den Uumlberlieferungen einen unbewuszligten Abscheu vor allen Neuerungen die ihre realen Lebensbedingungen aumlndern koumlnnten Haumltte die De- mokratie in der Zeit der Erfindung der mechanischen Web- stuumlhle der Dampfmaschine der Eisenbahnen die Macht besessen uumlber die sie heute verfuumlgt so waumlre die Verwirk- lichung dieser Erfindungen unmoumlglich gewesen Es ist ein Gluumlck fuumlr den Fortschritt der Kultur daszlig die Uumlbermacht der Massen erst dann geboren wurde als die groszligen Ent- deckungen der Wissenschaft und der Industrie vollendetwaren

sect 5 Sittlichkeit der Massen

Wenn wir mit dem Begriff Sittlichkeit den Sinn fuumlr die Achtung vor gewissen sozialen Gebraumluchen und die be- staumlndige Unterdruumlckung eigennuumltziger Antriebe verbinden dann liegt es auf der Hand daszlig die Massen zu triebhaft und veraumlnderlich sind um fuumlr Sittlichkeit empfaumlnglich zu sein Wenn wir aber unter dem Begriff der Sittlichkeit das augenblickliche Auftreten gewisser Eigenschaften wie Ent- sagung Ergebenheit Uneigennuumltzigkeit Selbstaufopferung Rechtsgefuumlhl verstehen so koumlnnen wir sagen die Massen sind oft eines sehr hohen Maszliges von Sittlichkeit faumlhigDie wenigen Psychologen die sich mit dem Studium der Massen befaszligt haben taten es nur in bezug auf ihre ver- brecherischen Handlungen Und in Anbetracht der Haumlufig- keit solcher Taten haben sie die Massen als sittlich sehr tiefstehend beurteilt

SITTLICHKEIT 35

Gewiszlig erbringen sie oft den Beweis dafuumlr aber wie kommtdas Nur weil die Triebe zerstoumlrerischer Wildheit Uumlber- reste aus der Urzeit sind die in jedem von uns schlum- mern Fuumlr den einzelnen waumlre es zu gefaumlhrlich diese Triebe zu befriedigen waumlhrend ihm sein Untertauchen in einer unverantwortlichen Masse durch die ihm Straflosig- keit gesichert ist voumlllige Freiheit der Triebbefriedigung gewaumlhrt Da wir diese Zerstoumlrungstriebe gewoumlhnlich nicht an unseren Mitmenschen ausuumlben koumlnnen so beschraumlnken wir uns darauf sie an Tieren auszulassen Derselben Quelle entspringen die Jagdleidenschaft und die Grausamkeit der Massen Die Masse die ein wehrloses Opfer langsam zu Tode quaumllt gibt den Beweis feiger Grausamkeit fuumlr den Philosophen aber ist sie in hohem Maszlige mit der Grausam- keit der Jaumlger verwandt die dutzendweise zusammen- kommen um mit Vergnuumlgen zu sehen daszlig ihre Hunde einem ungluumlcklichen Hirsch den Bauch aufreiszligenWenn nun die Masse imstande ist Mordtaten Brandstif- tungen und Verbrechen aller Art zu begehen so ist sie ebenso zu Taten der Hingabe Aufopferung und Uneigen- nuumltzigkeit faumlhig sogar in houmlherem Maszlige als der einzelne Besonders wirkt man auf den einzelnen in der Masse wenn man sich auf die Gefuumlhle fuumlr Ruhm und Ehre Re- ligion und Vaterland beruft Die Geschichte ist voller Bei- spiele dieser Art wie sie die Kreuzzuumlge bieten und die Freiwilligen von 793 Nur die Gesamtheiten sind groszliger Uneigennuumltzigkeit und Aufopferung faumlhig Wie viele Mas- sen haben sich fuumlr Uumlberzeugungen und Ideen die sie kaum verstanden heldenhaft hinschlachten lassen Massen die in Streik treten streiken oft wohl mehr um einem Kampfruf zu folgen als um einen Lohnzuschlag zu erlangen Das persoumlnliche Interesse ist bei den Massen selten eine maumlch- tige Triebkraft waumlhrend es bei dem einzelnen fast den ausschlieszliglichen Antrieb bildet Es ist wahrlich nicht der Eigennutz der die Massen in so viele Kriege fuumlhrte die fuumlr ihren Verstand unbegreiflich waren und in denen sie

36 GEFUumlHLE UND SITTLICHKEIT DER MASSEN

sich so leicht niedermetzeln lieszligen wie die Lerchen die durch den Spiegel des Jaumlgers hypnotisiert werdenSelbst die ausgemachtesten Schufte nehmen oft allein durch die Tatsache der Vereinigung in einer Masse sehr strenge moralische Grundsaumltze an Taine zeigt daszlig die Menschen- schlaumlchter der Septembertage [792] die bei ihren Opfern vorgefundenen Brieftaschen und Schmuckstuumlcke die sie leicht an sich nehmen konnten auf den Tisch der Ausschuumlsse nieder- legten Die heulende wimmelnde elende Volksmasse die in der Revolution vom Jahre 848 in die Tuilerien eindrang nahm nichts von den Gegenstaumlnden die sie blendeten und von denen ein jeder Brot fuumlr viele Tage bedeutet haumltteDiese Versittlichung des einzelnen durch die Masse ist ge- wiszlig keine feste Regel aber sie ist haumlufig zu beobachten und selbst unter viel weniger ernsten Umstaumlnden als den von mir angefuumlhrten Wie ich bereits sagte verlangt die Masse im Theater von dem Helden des Dramas uumlbertrie- ben hohe Tugenden und selbst eine Zuhoumlrerschaft die aus niedrigen Elementen zusammengesetzt ist erweist sich oft- mals als sehr pruumlde Der berufsmaumlszligige Lebemann der Zu- haumllter der Bummler und Sportvogel murrt oft bei einer etwas gewagten Szene oder einer schluumlpfrigen Rede die doch im Vergleich zu ihren uumlbrigen Unterhaltungen recht harmlos istFroumlnen die Massen also oft niedrigen Instinkten so bieten sie manchmal auch wieder Beispiele hochsittlicher Hand- lungsweise Wenn Uneigennuumltzigkeit Entsagung bedin- gungslose Hingabe an ein eingebildetes oder wirkliches Ideal sittliche Tugenden sind dann kann man sagen daszlig die Massen diese Tugenden oft in einem so hohen Grade besitzen wie ihn die weisesten Philosophen selten erreicht haben Gewiszlig uumlben sie diese Tugenden unbewuszligt aus aber darauf kommt es nicht an Haumltten die Massen zuweilen nachgedacht und ihren eigenen Vorteil wahrgenommen dann haumltte sich vielleicht keine Kultur auf der Oberflaumlche unseres Planeten entfaltet und die Menschheit waumlre ohne Geschichte geblieben

SITTLICHKEIT 37

3 KAPITEL

Ideen Urteile und Einbildungskraft der Massen

sect Die Ideen der Massen

Die Untersuchungen einer fruumlheren Arbeit von mir uumlber die Bedeutung der Ideen fuumlr die Entwicklung der Voumllker haben bewiesen daszlig sich jede Zivilisation aus einer ge- ringen Anzahl selten erneuter Grundideen entwickelt Ich habe dort dargelegt wie sich diese Ideen in der Seele der Massen festsetzen wie muumlhsam sie in sie eindringen und welche Macht sie dann gewinnen Ich zeigte wie die gro- szligen historischen Umwaumllzungen meistens aus der Veraumln- derung dieser Grundideen entstehenDa ich diesen Gegenstand hinreichend behandelt habe so moumlchte ich nicht darauf zuruumlckkommen und will mich dar- auf beschraumlnken einige Worte uumlber die Ideen zu sagen die den Massen zugaumlnglich sind und unter welchen Formen sie sie erfassenMan kann sie in zwei Klassen einteilen Zu der einen zaumlhlen wir die zufaumllligen und fluumlchtigen Ideen die unter dem Einfluszlig des Augenblicks entstehen z B die Vorliebe fuumlr eine Person oder eine Lehre Zu der anderen die Grundideen denen Umgebung Vererbung Glaube groszlige Dauerhaftigkeit verleihen wie z B die religioumlsen Glau- benssaumltze von ehemals die demokratischen und sozialen Ideen von heuteMan kann sich die Grundideen als die Wassermasse eines langsam dahinstroumlmenden Flusses die fluumlchtigen Ideen als die kleinen immer wechselnden Wellen vorstellen die seine Oberflaumlche erregen und obwohl ohne wirkliche Be- deutung sichtbarer sind als der Fluszliglauf selbstIn unseren Tagen geraten die Grundanschauungen von denen unsere Vaumlter lebten immer mehr ins Wanken und gleichzeitig erweisen sich die Einrichtungen die auf ihnen beruhen als voumlllig erschuumlttert Taumlglich bilden sich viele

jener kleinen fluumlchtigen Ideen von denen ich eben sprach aber nur wenige von ihnen scheinen uumlberwiegenden Ein- fluszlig gewinnen zu sollenWelche Ideen den Massen auch suggeriert werden moumlgen zur Wirkung koumlnnen sie nur kommen wenn sie in sehr einfacher Form aufzunehmen sind und sich in ihrem Geist in bildhafter Erscheinung widerspiegeln Kein Band logi- scher Uumlbereinstimmung oder Folgerichtigkeit verbindet diese Vorstellungsbilder miteinander sie koumlnnen einander vertreten wie die Glaumlser der Laterna magica die der Vor- fuumlhrer der Schachtel entnimmt in der sie uumlbereinander- geschichtet lagen Man wird also einsehen daszlig in der Masse die entgegengesetztesten Vorstellungen einander fol- gen Unter dem Einfluszlig einer der verschiedenen in ihrem Verstand aufgespeicherten Ideen folgt die Masse dem Zu- fall des Augenblicks und wird infolgedessen die verschie- denartigsten Taten begehen Der voumlllige Mangel an kriti- schem Geist laumlszligt sie die Widerspruumlche nicht sehenDiese Erscheinung tritt uumlbrigens nicht nur bei den Massen auf Man trifft sie auch bei vielen einzelnen nicht nur bei Primitiven Ich habe es bei gelehrten Hindus die an unse- ren europaumlischen Universitaumlten studierten und promovier- ten beobachtet Ohne die feste Grundlage ihrer ererbten religioumlsen oder sozialen Ideen im geringsten zu beeintraumlch- tigen hatte sich daruumlber eine Schicht abendlaumlndischer mit jenen nicht verwandter Anschauungen gelegt Bei zufaumllligen Gelegenheiten kamen nun bald diese bald jene in Worten oder Taten zum Vorschein und derselbe Mensch zeigte so die offensichtlichsten Widerspruumlche Freilich Wider- spruumlche mehr scheinbarer als wirklicher Art denn nur die ererbten Vorstellungen sind beim einzelnen maumlchtig genug um zu Triebkraumlften seines Verhaltens zu werden Nur dann wenn der Mensch infolge von Kreuzungen aus ver- schiedenen Erbmassen beeinfluszligt wird koumlnnen sich seine Handlungen wirklich von einem Augenblick zum anderen voumlllig widersprechen Es ist unnoumltig diese Erscheinungen hier besonders zu betonen obwohl sie von wesentlicher

DIE IDEE DER MASSEN 39

psychologischer Bedeutung sind Meiner Meinung nach be- darf es zu ihrem Verstaumlndnis wenigstens zehnjaumlhriger Rei- sen und BeobachtungenDa die Ideen den Massen nur in sehr einfacher Gestalt zu- gaumlnglich sind muumlssen sie sich um volkstuumlmlich zu werden oft voumlllig umformen Wenn es sich um hochwertige philo- sophische oder wissenschaftliche Ideen handelt kann man die grundlegenden Veraumlnderungen feststellen deren sie beduumlrfen um von Stufe zu Stufe bis zum Standort der Massen hinabzusteigen Diese Veraumlnderungen sind beson- ders abhaumlngig von der Rasse der die Masse angehoumlrt doch sie verkleinern oder vereinfachen stets Daher gibt es in Wahrheit vorn sozialen Gesichtspunkt keine Rangordnung der Ideen d h mehr oder weniger hohe Anschauungen Schon durch die Tatsache daszlig eine Idee zu den Massen gelangt und hier zu wirken vermag wird sie beinahe all dessen entkleidet was ihre Groumlszlige und Erhabenheit aus- machteDer Wert einer Idee ihrer Rangordnung nach ist uumlbrigens bedeutungslos nur die von ihr erzeugten Wirkungen sind zu beachten Die christlichen Ideen des Mittelalters die demokratischen Ideen des 8 Jahrhunderts die sozialisti- schen Ideen der Gegenwart stehen gewiszlig nicht besonders hoch man kann sie in philosophischer Beziehung als ziem- lich armselige Irrtuumlmer betrachten aber ihre Bedeutung war und ist ungeheuer und noch lange werden sie die wesentlichsten Mittel zur Fuumlhrung der Staaten bleibenAber selbst wenn die Idee die Veraumlnderung durchgemacht hat durch die sie fuumlr die Massen annehmbar wurde wirkt sie nur wenn sie ndash durch verschiedene Vorgaumlnge die noch zu erforschen sind ndash in das Unbewuszligte eingedrungen und zu einem Gefuumlhl geworden ist Diese Umwandlung dauert im allgemeinen sehr langeMan darf nicht glauben eine Idee koumlnne durch den Beweis ihrer Richtigkeit selbst bei gebildeten Geistern Wirkungen erzielen Man wird davon uumlberzeugt wenn man sieht wie wenig Einfluszlig die klarste Beweisfuumlhrung auf die Mehrzahl

40 IDEEN URTEILE UND EINBILDUNGSKRAFT DER MASSEN

der Menschen hat Der unumstoumlszligliche Beweis kann von einem geuumlbten Zuhoumlrer angenommen worden sein aber das Unbewuszligte in ihm wird ihn schnell zu seinen ur- spruumlnglichen Anschauungen zuruumlckfuumlhren Sehen wir ihn nach einigen Tagen wieder wird er aufs neue mit genau denselben Worten seine Einwaumlnde vorbringen Er steht tatsaumlchlich unter dem Einfluszlig fruumlherer Anschauungen die aus Gefuumlhlen gewachsen sind und nur sie wirken auf die Motive unserer Worte und TatenHat sich aber eine Idee endlich in die Seele der Massen eingegraben dann entwickelt sie eine unwiderstehliche Macht und es ergibt sich eine ganze Reihe von Wirkungen Die philosophischen Ideen die zur Franzoumlsischen Revolu- tion fuumlhrten brauchten fast ein Jahrhundert um in der Volksseele Wurzel zu fassen Man weiszlig welche unwider- stehliche Gewalt sie dann entfalteten Der Ansturm eines ganzen Volkes zur Eroberung der sozialen Gleichheit zur Verwirklichung begrifflicher Rechte und idealer Freiheiten erschuumltterte die abendlaumlndische Welt bis auf den Grund Zwanzig Jahre lang fielen die Voumllker uumlbereinander her und Europa lernte Hekatomben kennen die mit denen des Dschingiskhan und Tamerlan zu vergleichen sind Nie trat so klar zutage was die Leidenschaft der Ideen die die Faumlhigkeit haben die Richtung der Gefuumlhle zu aumlndern her- vorbringen kannIdeen brauchen lange Zeit um sich in der Masse festzu- setzen und sie brauchen nicht weniger Zeit um wieder daraus zu verschwinden Auch sind die Massen in bezug auf Ideen immer mehrere Generationen hinter den Wissen- schaftlern und Philosophen zuruumlck Alle Staatsmaumlnner wis- sen heute wieviel Irrtum in den Grundideen steckt die ich soeben anfuumlhrte da aber ihr Einfluszlig noch sehr stark ist so sind sie genoumltigt nach Grundsaumltzen zu regieren an deren Wahrheit sie nicht mehr glauben

DIE IDEE DER MASSEN 41

sect 2 Die Urteile der Massen

Man kann nicht mit unbedingter Bestimmtheit sagen daszlig Massen durch Schluszligfolgerungen nicht zu beeinf lussen waumlren Aber die Beweise die sie anwenden und die wel- che auf sie wirken scheinen vom Standpunkt der Logik so untergeordneter Art daszlig man sie allein mit Hilfe der Analogie als Schluumlsse gelten lassen kannDie untergeordneten Schluszligfolgerungen beruhen ebenso wie die houmlherentwickelten auf Ideenverbindungen aber die von den Massen in Verbindung gebrachten Ideen sind nur durch Aumlhnlichkeit und Aufeinanderfolge verknuumlpft Sie verketten sich wie die des Eskimo der aus Erfahrung weiszlig daszlig das Eis ein durchsichtiger Koumlrper im Munde schmilzt und der daraus schlieszligt daszlig Glas ebenfalls ein durch- sichtiger Koumlrper auch im Munde schmelzen muumlsse oder wie die des Wilden der sich einbildet wenn er das Herz eines tapferen Feindes verzehre erwerbe er dessen Tapfer- keit oder auch wie die des Arbeiters der von seinem Arbeitgeber ausgebeutet wurde und daraus schlieszligt daszlig alle Unternehmer Ausbeuter seienVerknuumlpfung aumlhnlicher Dinge wenn sie auch nur ober- flaumlchliche Beziehungen zueinander haben und vorschnelle Verallgemeinerung von Einzelfaumlllen das sind die Merk- male der Massenlogik Schluszligfolgerungen solcher Art wer- den den Massen durch geschickte Redner immer wieder vorgesetzt Von ihnen allein lassen sie sich beeinflussen Eine logische Kette unumstoumlszliglicher Urteile wuumlrde fuumlr die Massen voumlllig unfaszligbar sein und deshalb darf man sagen daszlig sie gar nicht oder falsch urteilen und durch Logik nicht zu beeinflussen sind Oft staunen wir beim Lesen uumlber die Schwaumlche gewisser Reden die ungeheuren Ein- druck auf ihre Zuhoumlrer gemacht haben aber man vergiszligt daszlig sie dazu bestimmt waren Massen hinzureiszligen und nicht dazu von Philosophen gelesen zu werden Der Red- ner der mit der Masse in inniger Verbindung steht weiszlig die Bilder hervorzurufen durch die sie verfuumlhrt wird

Gelingt ihm das so ist sein Ziel erreicht und ein Band voll Reden wiegt die wenigen Phrasen nicht auf durch die es gelang die Seelen so zu verfuumlhren daszlig sie sich uumlber- zeugen lieszligenEs ist uumlberfluumlssig zu bemerken daszlig die Unfaumlhigkeit der Massen richtig zu urteilen ihnen jede Moumlglichkeit kriti- schen Geistes raubt das heiszligt die Faumlhigkeit Wahrheit und Irrtum voneinander zu unterscheiden und ein scharfes Urteil abzugeben Die Urteile die die Massen annehmen sind nur aufgedraumlngte niemals gepruumlfte Urteile Viele einzelne erheben sich in dieser Beziehung nicht uumlber die Masse Die Leichtigkeit mit der gewisse Meinungen all- gemein werden haumlngt vor allem mit der Unfaumlhigkeit der meisten Menschen zusammen sich auf Grund ihrer beson- deren Schluumlsse eine eigne Meinung zu bilden

sect 3 Die Einbildungskraft der Massen

Die auffallende Einbildungskraft der Massen ist wie bei allen Wesen fuumlr die logisches Denken nicht in Frage kommt leicht aufs tiefste zu erregen Die Bilder die in ihrem Geist durch eine Person ein Ereignis einen Un- gluumlcksfall hervorgerufen werden sind fast so lebendig wie die wirklichen Dinge Die Massen befinden sich ungefaumlhr in der Lage eines Schlaumlfers dessen Denkvermoumlgen im Augenblick aufgehoben ist so daszlig in seinem Geist Bilder von aumluszligerster Heftigkeit aufsteigen die sich aber schnell verfluumlchtigen wuumlrden wenn die Uumlberlegung mitzureden haumltte Fuumlr die Massen die weder zur Uumlberlegung noch zum logischen Denken faumlhig sind gibt es nichts Unwahrschein- liches Vielmehr die unwahrscheinlichsten Dinge sind in der Regel die auffallendstenDaher werden die Massen stets durch die wunderbaren und legendaumlren Seiten der Ereignisse am staumlrksten er- griffen Das Wunderbare und das Legendaumlre sind tatsaumlch- lich die wahren Stuumltzen einer Kultur Der Schein hat in der Geschichte stets eine groumlszligere Rolle gespielt als das

DIE EINBILDUNGSKRAFT DER MASSEN 43

Sein Das Unwirkliche hat stets den Vorrang vor dem WirklichenDie Massen koumlnnen nur in Bildern denken und lassen sich nur durch Bilder beeinflussen Nur diese schrecken oder verfuumlhren sie und werden zu Ursachen ihrer Taten Darum haben auch Theatervorstellungen die das Bild in seiner klarsten Form geben stets einen ungeheuren Einfluszlig auf die Massen Fuumlr den roumlmischen Poumlbel bildeten einst Brot und Spiele das Gluumlcksideal Dies Ideal hat sich im Laufe der Zeiten wenig geaumlndert Nichts erregt die Phantasie des Volkes so stark wie ein Theaterstuumlck Alle Versammelten empfinden gleichzeitig dieselben Gefuumlhle und wenn sie sich nicht sofort in Taten umsetzen so geschieht das nur weil auch der unbewuszligte Zuschauer nicht im Zweifel sein kann daszlig er das Opfer einer Taumluschung ist und uumlber ein- gebildete Abenteuer geweint oder gelacht hat Manchmal jedoch sind die Gefuumlhle die durch diese Bilder suggeriert werden stark genug um wie die gewoumlhnlichen Suggestio- nen danach zu streben sich in Taten umzusetzen Man hat schon oft die Geschichte von jenem Volkstheater erzaumlhlt das den Schauspieler der den Verraumlter spielte nach Schluszlig der Vorstellung schuumltzen muszligte um ihn den Angriffen der uumlber seine vermeintlichen Verbrechen empoumlrten Zuschauer zu entziehen Das ist meiner Meinung nach eins der tref- fendsten Beispiele fuumlr den geistigen Zustand der Massen und besonders fuumlr die Leichtigkeit mit der man sie beein- f luszligt Das Unwirkliche ist in ihren Augen fast ebenso wichtig wie das Wirkliche Sie haben eine auffallende Nei- gung keinen Unterschied zu machenIn der Phantasie des Volkes ist die Macht der Eroberer und die Kraft der Staaten begruumlndet Wenn man auf sie Ein- druck macht reiszligt man die Massen mit Alle bedeutenden geschichtlichen Ereignisse die Entstehung des Buddhismus des Christentums des Islams der Reformation der Revolu- tion und in unserer Zeit das drohende Hereinbrechen des Sozialismus sind die unmittelbaren oder mittelbaren Folgen starker Eindruumlcke auf die Phantasie der Massen

44 IDEEN URTEILE UND EINBILDUNGSKRAFT DER MASSEN

Auch die groszligen Staatsmaumlnner aller Zeiten und Laumlnder die unumschraumlnkten Gewaltherrscher einbegriffen haben die Volksphantasie als Stuumltze ihrer Macht betrachtet Nie- mals haben sie versucht gegen sie zu regieren bdquoIch habe den Krieg in der Vendeacutee beendigt indem ich katholisch wurdeldquo sagte Napoleon im Staatsrat bdquoin Aumlgypten habe ich dadurch Fuszlig gefaszligt daszlig ich mich zum Mohammedaner machte und die italienischen Priester gewann ich indem ich ultramontan wurde Wenn ich uumlber ein juumldisches Volk herrschte wuumlrde ich den Salomonischen Tempel wieder aufbauen lassenldquo Seit Alexander und Caumlsar hat es viel- leicht niemals ein groszliger Mann besser verstanden Ein- druck auf die Massenseele zu machen es war Napoleons staumlndige Sorge sie zu beeinflussen Von ihr traumlumte er bei seinen Siegen in seinen Reden seinen Abhandlungen bei all seinen Taten ndash und noch auf seinem Totenbett traumlumte er davonWie macht man Eindruck auf die Phantasie der Massen Wir werden es gleich sehen Einstweilen sei nur gesagt daszlig dieser Zweck nie durch den Versuch erreicht wird auf Geist und Vernunft zu wirken Antonius brauchte keine ge- lehrte Rhetorik um das Volk gegen Caumlsars Moumlrder aufzu- wiegeln Er las ihnen Caumlsars Testament vor und zeigte ihnen seinen LeichnamAlles was die Phantasie der Massen erregt erscheint in der Form eines packenden klaren Bildes das frei ist von jedem Deutungszubehoumlr und nur durch einige wunderbare Tatsachen gestuumltzt einen groszligen Sieg ein groszliges Wunder ein groszliges Verbrechen eine groszlige Hoffnung Sie pflegt die Dinge in Bausch und Bogen aufzunehmen und ohne jemals ihre Entwicklung zu beachten Hundert kleine Verbrechen oder hundert kleine Unfaumllle werden auf die Phantasie der Massen oft nicht die geringste Wirkung ausuumlben wohl aber wird sie durch ein einziges unerhoumlrtes Verbrechen ein einziges groszliges Ungluumlck tief erschuumlttert wenn es auch viel weniger blutig ist als die hundert kleinen Unfaumllle zu- sammengenommen Die groszlige Grippe-Epidemie an der

45DIE EINBILDUNGSKRAFT DER MASSEN

vor einigen Jahren in Paris fuumlnftausend Menschen inner- halb weniger Wochen starben machte auf die Volksphan- tasie wenig Eindruck Freilich wandelte sich diese Heka- tombe im wahrsten Sinne nicht in einige sichtbare Bilder sondern nur in die taumlglichen statistischen Berichte um Ein Ungluumlcksfall der statt fuumlnftausend nur fuumlnfhundert Men- schenleben kostet aber an einem einzigen Tage auf einem oumlffentlichen Platz in einem sichtbaren Geschehnis eintraumlte z B der Einsturz des Eiffelturms wuumlrde einen ungeheuren Eindruck auf die Einbildungskraft gemacht haben Der mutmaszligliche Verlust eines Ozeandampfers von dem man irrtuumlmlich glaubte er sei auf hoher See untergegangen erregte die Massenphantasie acht Tage lang auszligerordent- lich Die Statistik zeigt nun aber daszlig in demselben Jahre tausend groszlige Schiffe Schiffbruch erlitten Aber um diese allmaumlhlichen Verluste die auf andre Art recht erhebliche Opfer an Menschenleben und Handelswerten forderten kuumlmmerten sich die Massen keinen AugenblickAlso nicht die Tatsachen als solche erregen die Volksphan- tasie sondern die Art und Weise wie sie sich vollziehen Sie muumlssen durch Verdichtung ndash wenn ich so sagen darf ndash ein packendes Bild hervorbringen das den Geist erfuumlllt und ergreift Die Kunst die Einbildungskraft der Massen zu erregen ist die Kunst sie zu regieren

4 KAPITEL

Die religioumlsen Formen die alle Uumlberzeugungen der Masse annehmen

Wir haben gesehen daszlig die Massen nicht uumlberlegen daszlig sie Ideen in Bausch und Bogen annehmen oder verwerfen weder Auseinandersetzung noch Widerspruch dulden und daszlig die Einfluumlsse die auf sie wirken den Bereich ihrer Vernunft gaumlnzlich erfuumlllen und danach streben sich so- gleich in die Tat umzusetzen Wir haben gezeigt daszlig die

46 DIE RELIGIOumlSEN FORMEN DER MASSENUumlBERZEUGUNGEN

entsprechend beeinfluszligten Massen bereit sind sich fuumlr das Ideal zu opfern das man ihnen suggeriert hat Wir haben schlieszliglich festgestellt daszlig sie nur heftige und extreme Gefuumlhle kennen Die Zuneigung wird bei ihnen schnell zur Anbetung und kaum geborene Abneigung wandelt sich in Haszlig Diese allgemeinen Merkmale lassen uns die Art ihrer Uumlberzeugungen ahnenDie naumlhere Untersuchung der Uumlberzeugungen der Masse sowohl in den Zeiten des Glaubens als in den groszligen politischen Erhebungen wie etwa im vorigen Jahrhundert ergibt daszlig diese Uumlberzeugungen stets eine besondere Form aufweisen die ich nicht besser zu bezeichnen weiszlig als mit dem Namen religioumlsen GefuumlhlsDies Gefuumlhl besitzt sehr einfache Kennzeichen Anbetung eines vermeintlichen houmlheren Wesens Furcht vor der Ge- walt die ihm zugeschrieben wird blinde Unterwerfung unter seine Befehle Unfaumlhigkeit seine Glaubenslehren zu untersuchen die Bestrebung sie zu verbreiten die Neigung alle als Feinde zu betrachten die sie nicht an- nehmen Ob sich ein derartiges Gefuumlhl auf einen unsicht- baren Gott auf ein steinernes Idol auf einen Helden oder auf eine politische Idee richtet ndash sobald es die angefuumlhrten Merkmale aufweist ist es immer religioumlser Art Das Uumlber- natuumlrliche und das Wunderbare sind uumlberall darin wieder- zuerkennen Die Massen umkleiden das politische Bekennt- nis oder den siegreichen Anfuumlhrer der sie fuumlr den Augen- blick zur Schwaumlrmerei hinreiszligt mit derselben geheimnis- vollen MachtNicht nur dann ist man religioumls wenn man eine Gottheit anbetet sondern auch dann wenn man alle Kraumlfte seines Geistes alle Unterwerfung seines Willens alles Gluten des Fanatismus dem Dienst einer Macht oder eines Wesens weiht das zum Ziele und Fuumlhrer der Gedanken und Handlungen wirdMit dem religioumlsen Gefuumlhl sind gewoumlhnlich Unduldsamkeit und Fanatismus verbunden Sie sind unausbleiblich bei allen die das Geheimnis des irdischen und himmlischen

DIE RELIGIOumlSEN FORMEN DER MASSENUumlBERZEUGUNGEN 47

Gluumlckes zu besitzen glauben Die beiden Eigenschaften sind bei allen in einer Gruppe vereinigten Menschen wiederzu- finden wenn irgendein Glaube sie erhebt Die Jakobiner der Schreckenstage waren ebenso tief religioumls wie die Ka- tholiken der Inquisition und ihr grausamer Eifer ent- sprang der gleichen QuelleDie Uumlberzeugungen der Massen nehmen die Eigenschaften der blinden Unterwerfung der grausamen Unduldsamkeit und des Beduumlrfnisses nach Verbreitung an die mit dem religioumlsen Gefuumlhl verbunden sind so daszlig man also sagen kann alle ihre Uumlberzeugungen haben eine religioumlse Form Der Held dem die Masse zujubelt ist in der Tat ein Gott fuumlr sie Napoleon war es fuumlnfzehn Jahre lang und keine Gottheit hat eifrigere Anbeter gehabt auch sandte keine die Menschen leichter in den Tod Die Heiden- und Chri- stengoumltter uumlbten niemals eine vollkommenere Herrschaft uumlber die Seelen ausAlle Stifter religioumlser und politischer Glaubensbekenntnisse haben sie nur dadurch begruumlndet daszlig sie es verstanden den Massen jene Gefuumlhle des religioumlsen Fanatismus ein- zufloumlszligen die bewirken daszlig der Mensch sein Gluumlck in der Anbetung findet und ihn dazu treiben sein Leben fuumlr sein Idol zu opfern So war es zu allen Zeiten In seinem schouml- nen Buch uumlber das roumlmische Gallien macht Pustel de Cou- langes darauf aufmerksam daszlig das roumlmische Kaiserreich sich keineswegs durch seine Kraft sondern durch die reli- gioumlse Bewunderung erhielt die es einfloumlszligte bdquoEs waumlre in der Geschichte ohne Beispielldquo sagt er mit Recht bdquodaszlig eine Regierung die von der Bevoumllkerung verabscheut wird fuumlnf Jahrhunderte gewaumlhrt haumltte hellip Es waumlre unerklaumlrlich daszlig dreiszligig Legionen des Kaiserreichs hundert Millionen Menschen zum Gehorsam zwingen konntenldquo Sie gehorch- ten aber nur weil der Kaiser der die Groumlszlige Roms ver- koumlrperte einmuumltig als Gott verehrt wurde Im kleinsten Flecken des Reiches besaszlig der Kaiser seine Altaumlre bdquoIn jener Zeit sah man von einem Ende des Reiches bis zum andern in den Seelen eine neue Religion entstehen deren

48 DIE RELIGIOumlSEN FORMEN DER MASSENUumlBERZEUGUNGEN

Gottheiten die Kaiser selbst waren Einige Jahre vor dem christlichen Zeitalter errichtete ganz Gallien welches durch sechzig Staumldte vertreten wurde dem Augustus gemeinsam einen Tempel bei Lyon hellip Seine Priester die von der Gesamtheit der gallischen Staumldte gewaumlhlt wurden waren die ersten Persoumlnlichkeiten des Landes hellip Man kann un- moumlglich dies alles der Furcht und der knechtischen Unter- werfung zuschreiben Ganze Voumllker sind nicht knechtisch und sind es nicht drei Jahrhunderte lang Nicht allein die Houmlflinge verehrten den Fuumlrsten sondern Rom und nicht Rom allein auch Gallien Spanien Griechenland und AsienldquoHeutzutage besitzen die meisten groszligen Seeleneroberer keine groszligen Altaumlre mehr wohl aber Statuen oder Bilder und der Kultus den man mit ihnen treibt ist von dem fruumlheren nicht erheblich verschieden Man faumlngt an die Philosophie der Geschichte ein wenig zu verstehen wenn man diesen Angelpunkt der Psychologie der Massen recht begriffen hat Fuumlr die Massen muszlig man entweder ein Gott sein oder man ist nichtsDas sind nicht nur aberglaumlubische Anschauungen einer anderen Zeit die die Vernunft endguumlltig verscheucht hat In seinem ewigen Kampf mit der Vernunft wurde das Ge- fuumlhl nie besiegt Zwar wollen die Massen die Worte Gott- heit und Religion von denen sie so lange beherrscht wur- den nicht mehr houmlren aber zu keiner Zeit sah man sie so viele Bildwerke und Altaumlre errichten wie seit einem Jahr- hundert Die Volksbewegung die unter dem Namen Bou- langismus bekannt wurde hat bewiesen wie leicht die religioumlsen Instinkte der Massen der Erneuerung faumlhig sind Damals gab es kein Dorfwirtshaus in dem nicht das Bild des Helden zu finden war Man schrieb ihm die Macht zu allen Ungerechtigkeiten allen Uumlbeln abzuhelfen und Tau- sende von Menschen haumltten ihr Leben fuumlr ihn hingegeben Welchen Platz haumltte er in der Geschichte eingenommen wenn sein Charakter mit der Legende Schritt gehalten haumltte

49MACHT DER RELIGIOumlS GEWORDENEN UumlBERZEUGUNGEN

Auch ist es eine uumlberfluumlssige Banalitaumlt zu wiederholen die Massen beduumlrften einer Religion Denn alle politischen religioumlsen und sozialen Glaubenslehren finden bei ihnen nur Aufnahme unter der Bedingung daszlig sie eine religioumlse Form angenommen haben die sie jeder Auseinandersetzung entzieht Wenn es moumlglich waumlre die Massen zu bewegen den Atheismus anzunehmen so wuumlrde er ganz zum un- duldsamen Eifer eines religioumlsen Gefuumlhls und in seinen aumluszligeren Formen bald zu einem Kultus werden Ein merk- wuumlrdiges Beispiel bietet uns die Entwicklung der kleinen positivistischen Sekte Sie gleicht jenem Nihilisten dessen Geschichte der tiefgruumlndige Dostojewskij uns erzaumlhlt Vom Geiste erleuchtet zerbrach er eines Tages die Bildwerke der Gottheiten und Heiligen die den Altar seiner Kapelle schmuumlckten loumlschte die Kerzen aus und ersetzte ohne einen Augenblick zu zoumlgern die zerstoumlrten Bilder durch die Werke einiger atheistischer Philosophen dann zuumlndete er pietaumltvoll die Kerzen wieder an Der Gegenstand seines religioumlsen Glaubens war ein andrer geworden aber kann man behaupten daszlig sich seine religioumlsen Gefuumlhle geaumlndert hattenIch wiederhole noch einmal gewisse historische Ereignisse und zwar gerade die wichtigsten kann man nur verstehen wenn man die Form welche die Uumlberzeugungen der Mas- sen stets annehmen in Rechnung stellt Viele soziale Er- scheinungen sollten lieber von Psychologen als von Natur- forschern studiert werden Unser groszliger Historiker Taine hat die Revolution nur als Naturforscher studiert und so ist ihm die wirkliche Entwicklung der Ereignisse recht oft verborgen geblieben Er hat die Tatsachen vorzuumlglich be- obachtet aber da er die Massenpsychologie nicht genuumlgend erforscht hatte konnte sie der beruumlhmte Schriftsteller nicht immer aus den Ursachen erklaumlren Da die Tatsachen ihn durch ihre Blutigkeit und Wildheit und ihren Anarchismus erschreckten so erschienen ihm die Helden in dem groszligen Epos nur als eine Horde epileptischer Wilder die sich zuumlgellos ihren Trieben hingaben Die Gewalttaten der Re-

50 DIE RELIGIOumlSEN FORMEN DER MASSENUumlBERZEUGUNGEN

volution ihre Metzeleien ihr Beduumlrfnis nach Verbreitung ihre Kriegserklaumlrung an alle Koumlnige sind nur zu erklaumlren wenn man bedenkt daszlig sie zur Befestigung eines neuen religioumlsen Glaubens dienten Die Reformation die Bartho- lomaumlusnacht die Religionskriege die Inquisition die Schreckenstage sind Erscheinungen derselben Art unter dem Einfluszlig dieser religioumlsen Gefuumlhle die notwendig dazu fuumlh- ren mit Feuer und Schwert alles auszurotten was sich der Einfuumlhrung des neuen Glaubens entgegenstellt Das Ver- fahren der Inquisition und der Schreckenstage ist das aller wahrhaft Uumlberzeugten sie waumlren keine Glaumlubigen wenn sie anders verfuumlhrenUmwaumllzungen gleich jenen die ich erwaumlhnte sind nur moumlglich wenn die Massenseele sie ins Leben ruft Die un- umschraumlnktesten Gewaltherrscher koumlnnten sie nicht ent- fesseln Die Historiker die uns die Bartholomaumlusnacht als das Werk eines Koumlnigs zeigen kennen die Psychologie der Massen ebensowenig wie die der Koumlnige Solche Kund- gebungen koumlnnen nur der Massenseele entspringen Die unumschraumlnkteste Macht des eigenmaumlchtigsten Herrschers reicht kaum weiter als zu einer geringen Beschleunigung oder Verzoumlgerung des Zeitpunktes Nicht die Koumlnige haben die Bartholomaumlusnacht die Religionskriege verursacht und nicht Robespierre Danton oder Saint-Just waren die Ur- heber der Schreckenstage Hinter solchen Ereignissen findet man immer wieder die Seele der Massen

RELIGION OHNE GOTT ATHEISMUS 51

ZWEITES BUCH

DIE MEINUNGEN UND GLAUBENSLEHREN DER MASSEN

1 KAPITEL

Entfernte Triebkraumlfte der Glaubenslehren und Meinungen der Massen

Wir haben bisher den geistigen Zustand der Massen stu- diert Wir kennen die Art ihres Fuumlhlens Denkens Schlie- szligern Nun wollen wir sehen auf welche Weise ihre Mei- nungen und Glaubenslehren entstehen und sich befestigen Zwei verschiedene Arten von Triebkraumlften bestimmen diese Meinungen und Glaubenslehren mittelbare und unmittel- bare TriebkraumlfteDie mittelbaren Triebkraumlfte befaumlhigen die Massen zur An- nahme gewisser Uumlberzeugungen und verhindern das Ein- dringen anderer Sie bereiten den Boden auf dem man ploumltzlich neue Ideen hervorsprieszligen sieht deren Kraft und Wirkung Staunen erregen die aber nur scheinbar ploumltzlich sind Der Ausbruch und die Verwirklichung gewisser Ideen bei den Massen zeigen oft eine blitzartige Ploumltzlichkeit Doch das ist nur die oberflaumlchliche Wirkung hinter der man meistens eine lange Vorarbeit suchen muszligDieser langen Arbeit ohne die sie wirkungslos bleiben wuumlrden uumlbergeordnet sind die unmittelbaren Antriebe die die lebendige Uumlberzeugung der Massen hervorrufen ndash also der Idee ihre Gestalt geben und sie mit all ihren Folgen entfesseln Diese unmittelbaren Triebkraumlfte sind der An- laszlig fuumlr das Auftauchen der Entschluumlsse die eine Gesamt- heit zu einer jaumlhen Erhebung fuumlhren ndash durch sie bricht ein Aufruhr los oder wird ein Streik beschlossen sie brin- gen durch riesige Stimmenmehrheit einen Menschen zur Macht oder stuumlrzen eine Regierung Bei allen groszligen Ge- schehnissen der Geschichte kann man die ununterbrochene

Wirkung dieser beiden Arten von Triebkraumlften feststellen Als eins der klarsten Beispiele koumlnnte man die Franzoumlsische Revolution anfuumlhren deren mittelbare Antriebe die Kri- tiken der Schriftsteller und die Erpressungen des Adels waren Die so vorbereitete Massenseele war infolgedessen leicht aufzuruumltteln durch unmittelbare Antriebe wie die Ansprachen der Redner und den Widerstand des Hofes gegen unbedeutende ReformenZu den mittelbaren Triebkraumlften gehoumlren allgemeine Fak- toren die allen Glaubensbekenntnissen und Anschauungen zugrunde liegen das sind die Rasse die Uumlberlieferungen die Zeit die Einrichtungen und die ErziehungWir wollen ihre jeweilige Aufgabe untersuchen

sect Die Rasse

Als ein Antrieb ersten Ranges ist die Rasse zu betrachten denn sie ist allein schon viel bedeutender als alle uumlbrigen Ich habe sie in einer andern Schrift genuumlgend untersucht und brauche hier nicht ausfuumlhrlich darauf zuruumlckzukom- men Ich zeigte in jener Schrift was eine geschichtliche Masse ist und daszlig wenn sich ihre Charaktermerkmale ge- bildet haben ihre Glaubenslehren ihre Einrichtungen ihre Kunst kurz alle ihre Kulturelemente den aumluszligeren Aus- druck ihrer Seele bilden Die Kraft der Rasse ist so groszlig daszlig kein Element von einem Volk zum andern uumlbergehen koumlnnte ohne die tiefgehendsten Umwandlungen zu er- fahren Die Umgebung die Umstaumlnde die Ereignisse spie- geln die augenblicklichen sozialen Einfluumlsse wider Sie koumln- nen von bedeutender Wirkung sein aber dieser Einfluszlig ist stets nur ein augenblicklicher wenn er im Gegensatz zu den Rasseneinfluumlssen d h zu der ganzen Ahnenreihe steht

Da diese Lehre noch sehr neu ist und ohne sie die Geschichte voumlllig un- verstaumlndlich bleibt so habe ich ihrer Darlegung mehrere Kapitel meines Wer- kes bdquoDie psychologischen Gesetze der Voumllkerentwicklungldquo gewidmet Der Leser wird daraus ersehen daszlig obwohl der Schein truumlgt weder die Sprache noch die Religion noch die Kuumlnste noch irgendein Kulturelement uumlberhaupt un- veraumlndert von einem Volk zum andern uumlbergehen kann

DIE RASSE 51

Wir werden noch in mehreren Kapiteln dieser Arbeit Gelegenheit haben auf den Einfluszlig der Rasse zuruumlckzu- kommen und zu zeigen daszlig er stark genug ist die Sonder- merkmale der Massenseele zu beherrschen Daraus ergibt sich der Umstand daszlig die Massen der verschiedenen Laumln- der in ihrem Glauben und Verhalten sehr betraumlchtliche Unterschiede aufweisen und nicht auf die gleiche Weise zu beeinflussen sind

sect 2 Die Uumlberlieferungen

Die Uumlberlieferungen umfassen die Ideen Beduumlrfnisse und Gefuumlhle der Vorzeit Sie bilden die Einheit der Rasse und lasten mit ihrem ganzen Gewicht auf unsSeit die Embryologie den ungeheuren Einf luszlig der Ver- gangenheit auf die Entwicklung der Wesen gezeigt hat haben sich die biologischen Wissenschaften gewandelt und die historischen werden es auch tun wenn dieser Gedanke weiter verbreitet sein wird Noch ist er nicht hinreichend bekannt und viele Staatsmaumlnner sind damit auf dem Standpunkt der Theoretiker des vergangenen Jahrhunderts stehengeblieben daszlig sie glauben eine Gesellschaft koumlnne mit ihrer Vergangenheit brechen und allein durch die Kraft der Vernunft von Grund auf erneuert werdenEin Volk ist ein Organismus der durch die Vergangenheit geschaffen wurde Wie alle Organismen kann er sich nur durch langsame Anhaumlufung von Erbmasse veraumlndernDie wahren Fuumlhrer der Voumllker sind die Uumlberlieferungen und wie ich schon mehrmals wiederholte nur die aumluszligeren Formen veraumlndern sich leicht Ohne Uumlberlieferung d h ohne Volksseele ist keine Kultur moumlglich So bestanden denn auch die beiden groszligen Aufgaben des Menschen seit er auf der Welt ist in der Schaffung eines Netzes von Uumlberlieferungen und in ihrer Zerstoumlrung nach Verbrauch ihrer nuumltzlichen Wirkungen Keine Kultur ohne beharrende Uumlberlieferungen ohne ihre langsame Ausschaltung kein Fortschritt Die Schwierigkeit besteht darin das richtige

ENTFERNTE TRIEBKRAumlFTE DES GLAUBENS DER MASSEN56

Gleichgewicht zwischen Beharrung und Veraumlnderlichkeit zu finden Diese Schwierigkeit ist ungeheuer Hat ein Volk durch viele Geschlechter seine Gewohnheiten zu sehr er- starren lassen so kann es sich nicht mehr aumlndern und wird wie China unfaumlhig zur Vervollkommnung Selbst gewalt- same Veraumlnderungen bleiben wirkungslos denn dann wer- den entweder die zerrissenen Glieder der Kette wieder zusammengeschweiszligt und die Vergangenheit nimmt ihre Herrschaft unveraumlndert wieder auf oder die Bruchstuumlcke bleiben getrennt und dann folgt der Anarchie bald die EntartungEs ist also die Aufgabe eines Volkes die Einrichtungen der Vergangenheit zu bewahren indem es sie nur nach und nach veraumlndert Die Roumlmer im Altertum und die Eng- laumlnder in der Neuzeit sind fast die einzigen die sie ver- wirklicht habenGerade die Massen und namentlich die Massen aus denen sich die Klassen zusammensetzen sind die zaumlhesten Be- wahrer der uumlberlieferten Ideen und widersetzen sich am hartnaumlckigsten ihrem Wechsel Ich habe bereits auf den konservativen Geist der Massen hingewiesen und gezeigt daszlig viele Revolten nur auf eine Veraumlnderung von Worten hinauslaufen Gegen Ende des 8 Jahrhunderts konnte man angesichts der zerstoumlrten Kirchen der verjagten oder guillotinierten Priester der allgemeinen Verfolgung des katholischen Kultus glauben die alten religioumlsen Ideen haumltten alle Macht eingebuumlszligt und doch muszligte nach einigen Jahren infolge allgemeiner Forderungen der abgeschaffte Kultus wieder eingesetzt werden Der Bericht des alten Konventsmitgliedes Fourcroy den Taine anfuumlhrt ist in dieser Hinsicht sehr klar bdquoWas man uumlberall von der Feier des Sonntags und dem Kirchenbesuch sieht beweist daszlig die Masse der Franzosen zu den alten Gebraumluchen zuruumlckkehren will und es ist nicht mehr an der Zeit sich diesem nationalen Hang zu widersetzen Die groszlige Masse der Menschen braucht Religion einen Kultus und Priester Es ist ein Irrtum einiger moder- ner Philosophen dem ich selbst verfallen war an die Moumlglichkeit einer Bil- dung zu glauben die verbreitet genug waumlre um die religioumlsen Vorurteile zu zerstoumlren sie sind fuumlr die gruumlszlige Anzahl der Ungluumlcklichen eine Quelle des Trostes hellip Man muszlig daher der Masse des Volkes ihre Priester ihre Altaumlre und ihren Kultus lassenldquo

DIE UumlBERLIEFERUNGEN 57

Kein Beispiel koumlnnte besser die Macht der Gewohnheit uumlber die Menschenseele zeigen Die furchtbarsten Idole werden nicht in den Tempeln beherbergt und die gewalt- taumltigsten Tyrannen wohnen nicht in den Palaumlsten Sie wauml- ren leicht zu stuumlrzen Aber die unsichtbaren Herren die unsere Seelen beherrschen entziehen sich jedem Angriff und geben nur der langsamen Abnutzung durch die Jahr- hunderte nach

sect 3 Die Zeit

Einer der wirksamsten Faktoren in den gesellschaftlichen wie in den sozialen Fragen ist die Zeit Sie ist der wahre Schoumlpfer und der groszlige Zerstoumlrer Sie hat die Berge aus Sandkoumlrnern aufgebaut und die winzige Zelle der geo- logischen Urzeit zur menschlichen Wuumlrde erhoben Die Einwirkung der Jahrhunderte genuumlgt um jede beliebige Erscheinung umzuformen Mit Recht sagt man daszlig eine Ameise die Zeit genug haumltte den Montblanc abtragen koumlnnte Ein Wesen das die magische Gewalt besaumlszlige die Zeit nach Belieben zu veraumlndern haumltte die Macht die von den Glaumlubigen ihren Goumlttern zugeschrieben wirdAber wir haben uns hier nur mit dem Einfluszlig der Zeit auf die Entstehung der Anschauungen der Massen zu be- schaumlftigen Unter diesem Gesichtspunkt ist ihre Wirkung ebenfalls ungeheuer Sie haumllt die groszligen Kraumlfte wie die der Rasse die sich nicht ohne sie bilden koumlnnen in ihrer Abhaumlngigkeit Sie laumlszligt alle Glaubenslehren entstehen und absterben Von ihr empfangen sie ihre Macht und sie ent- zieht sie ihnen auch wiederDie Zeit bereitet die Meinungen und Glaubensbekenntnisse der Massen vor d h den Boden auf dem sie keimen Daraus folgt daszlig gewisse Ideen nur zu einer bestimmten Zeit dann nicht mehr zu verwirklichen sind Die Zeit haumluft unermeszligliche Uumlberreste von Glaubensbekenntnissen und Gedanken an denen die Ideen eines Zeitalters ent- springen Sie keimen nicht durch Zufall und Ungefaumlhr Ihre Wurzeln reichen tief in die Vergangenheit Wenn sie

58 ENTFERNTE TRIEBKRAumlFTE DES GLAUBENS DER MASSEN

bluumlhen so hatte die Zeit ihre Bluumlte vorbereitet und um ihren Ursprung zu erfassen muszlig man stets zuruumlckgehen Sie sind Toumlchter der Vergangenheit und Muumltter der Zu- kunft stets aber Sklavinnen der ZeitSo ist denn die Zeit unsere wahre Meisterin und man braucht sie nur walten zu lassen um zu sehen wie alle Dinge sich wandeln Heute beunruhigen uns die bedroh- lichen Anspruumlche der Massen und die Zerstoumlrungen und Umwaumllzungen die sie ahnen lassen Die Zeit allein wird es auf sich nehmen das Gleichgewicht wieder herzustellen

bdquoKeine Ordnungldquo schreibt treffend Lavisse bdquowurde an einem Tage gegruumlndet Die politischen und sozialen Orga- nisationen sind Werke die Jahrhunderte erfordern der Feudalismus bestand Jahrhunderte lang formlos und chao- tisch bevor er seine Richtlinien fand die absolute Mon- archie bestand ebenfalls durch Jahrhunderte bis sie regel- rechte Herrschaftsmittel herausbildete und es gab groszlige Verwirrungen in diesen Uumlbergangszeitenldquo

sect 4 Die politischen und sozialen Einrichtungen

Der Gedanke Einrichtungen koumlnnten den Uumlbeln der Ge- sellschaft abhelfen der Fortschritt der Nationen sei die Folge der Vervollkommnung der Verfassungen und Regie- rungen und die sozialen Umwandlungen koumlnnten sich durch Erlasse vollziehen dieser Gedanke ist noch ganz allgemein verbreitet Die Franzoumlsische Revolution nahm ihn zum Ausgangspunkt und die sozialen Lehren der Gegenwart stuumltzen sich auf ihnUnunterbrochene Erfahrungen konnten diesen fuumlrchter- lichen Wahn nicht ernstlich erschuumlttern Vergebens haben die Philosophen und Historiker versucht seine Sinnlosig- keit zu beweisen Immerhin war es ein Leichtes fuumlr sie zu zeigen daszlig alle Einrichtungen Toumlchter der Ideen Ge- fuumlhle und Sitten sind und daszlig diese Ideen Gefuumlhle und Sitten nicht dadurch umgestaltet werden daszlig man die Gesetze umgestaltet Ein Volk waumlhlt die meisten Einrich-

DIE ZEIT 59

tungen nicht nach Belieben ebensowenig wie es die Farbe seiner Augen oder Haare waumlhlt Einrichtungen und Regie- rungsformen sind ein Rasseerzeugnis Weit entfernt davon die Schoumlpfer einer Epoche zu sein sind sie deren Geschoumlpfe Die Voumllker werden nicht nach ihren augenblicklichen Lau- nen sondern ihrem Charakter gemaumlszlig regiert Die Bildung einer Staatsordnung erfordert Jahrhunderte und Jahr- hunderte braucht es zu ihrer Wandlung Die Einrichtungen haben keinen unmittelbaren Wert sie sind an sich weder gut noch schlecht Zu einer bestimmten Zeit koumlnnen sie fuumlr ein bestimmtes Volk gut und fuumlr ein anderes grund- schlecht seinEin Volk hat also keineswegs die Macht seine Einrich- tungen wirklich zu veraumlndern Gewiszlig kann es um den Preis gewaltsamer Revolutionen ihre Namen aumlndern aber der Kern bleibt derselbe Die Namen sind nur leere Eti- ketten die ein Historiker der sich mit dem wahren Wert der Dinge befaszligt nicht in Rechnung zu ziehen braucht So ist England das demokratischste Land der Welt ob- wohl es eine monarchistische Regierung hat waumlhrend in den spanisch-amerikanischen Republiken trotz ihrer demokrati- schen Verfassung die haumlrteste Despotie herrscht Nicht die Regierung sondern der Charakter der Voumllker bestimmt ihre Schicksale Diese Wahrheit habe ich in einer fruumlhe- ren Arbeit mit Hilfe bestimmter Beispiele zu begruumlnden versuchtEs ist also ein kindisches Unterfangen eine zwecklose rhetorische Uumlbung die Zeit mit der Anfertigung von Ver- fassungen zu vergeuden Die Notwendigkeit und die Zeit uumlbernehmen ihre Ausarbeitung wenn man sie nur walten laumlszligt Der groszlige Historiker Macaulay zeigt in einem Satz der von den Politikern aller lateinischen Laumlnder auswendig

Das erkennen selbst in den Vereinigten Staaten die entschiedensten Repu- blikaner Die amerikanische Zeitung bdquoForumldquo gibt dieser Meinung die ich nach der bdquoReview of Reviewsldquo vom Dezember 894 wiedergebe bestimmten Ausdruck bdquoSelbst die gluumlhendsten Feinde der Aristokratie duumlrfen nie ver- gessen daszlig heute England das demokratischste Land der Erde ist in dem die Rechte des einzelnen am meisten geachtet werden und die einzelnen die meiste Freiheit besitzenldquo

60 ENTFERNTE TRIEBKRAumlFTE DES GLAUBENS DER MASSEN

gelernt werden muumlszligte daszlig die Angelsachsen es so mach- ten Nachdem er die scheinbaren Wohltaten der Gesetze vom Standpunkt der reinen Vernunft ein Chaos von Un- sinnigkeiten und Widerspruumlchen angefuumlhrt hat vergleicht er die Dutzende von Verfassungen die in den Erschuumltte- rungen der lateinischen Voumllker Europas und Amerikas untergegangen sind mit der Verfassung Englands und zeigt daszlig diese sich nur aumluszligerst langsam stuumlckweise unter dem Einfluszlig unmittelbarer Notwendigkeit veraumlnderte aber niemals durch berechnete Vernunftgruumlnde bdquoSich nie um die Anordnung wohl aber um die Nuumltzlichkeit kuumlmmern nie eine Ausnahme beseitigen nur weil es eine Ausnahme ist nie eine Neuerung einfuumlhren es sei denn es mache sich eine Unzutraumlglichkeit fuumlhlbar und auch dann nur gerade so viel erneuern daszlig diese Unzutraumlglichkeit abgestellt wird nie einen Antrag stellen der uumlber den Einzelfall den man behandelt hinausgeht Das sind die Regeln die seit den Zeiten Johannes bis zum Zeitalter Viktorias unsere 250 Parlamente allgemein geleitet habenldquoMan muumlszligte die Gesetze und Einrichtungen eines jeden Volkes eins nach dem andern vornehmen um zu zeigen in welchem Maszlige sie der Ausdruck der Beduumlrfnisse ihrer Rasse und deshalb nicht gewaltsam umzuwandeln sind Man kann sich mit den Vorteilen und Uumlbelstaumlnden der Zentralisation philosophisch auseinandersetzen wenn wir aber sehen wie ein Volk das aus verschiedenen Rassen besteht tausendjaumlhrige Anstrengungen macht um Schritt fuumlr Schritt diese Zentralisation zu erreichen wenn wir feststellen daszlig eine groszlige Revolution deren Ziel die Zer- truumlmmerung aller Einrichtungen der Vergangenheit war sich genoumltigt sah diese Zentralisation nicht allein anzu- erkennen sondern sogar zu uumlbertreiben so koumlnnen wir sagen sie ist das Ergebnis gebieterischer Notwendigkeiten eine unmittelbare Folge des Daseins und koumlnnen nur den Mangel an Weitblick bei den Politikern die von ihrer Aufhebung reden beklagen Wenn durch einen Zufall ihre Meinung siegte so waumlre dieser Erfolg das Signal zu einer

DIE POLITISCHEN UND SOZIALEN EINRICHTUNGEN 61

tiefgreifenden Anarchie die obendrein zu einer viel druumlk- kenderen Zentralisation als der fruumlheren fuumlhren wuumlrdeAus dem Vorstehenden ist zu schlieszligen daszlig man in den Einrichtungen nicht das Mittel zu suchen hat die Seelen der Massen nachhaltig zu bewegen Gewisse Laumlnder mit demokratischen Einrichtungen wie die Vereinigten Staaten bluumlhen wunderbar auf waumlhrend andre wie die spanisch- amerikanischen Republiken trotz durchaus aumlhnlicher Ein- richtungen in der traurigsten Anarchie dahinleben Diese Einrichtungen haben ebensowenig mit der Groumlszlige der einen wie mit dem Niedergang der andern zu tun Die Voumllker werden immer von ihrem Charakter beherrscht und alle Einrichtungen die sich diesem Charakter nicht innig an- schmiegen sind nichts als ein ausgeliehenes Gewand eine voruumlbergehende Verkleidung Gewiszlig hat es blutige Kriege und gewaltige Revolutionen gegeben um Einrichtungen einzufuumlhren denen man wie den Reliquien der Heiligen die uumlbernatuumlrliche Macht zuschreibt das Gluumlck hervorzu- zaubern In gewissem Sinne koumlnnte man sagen Einrich- tungen wirken auf die Massenseele da sie solche Erhebun- gen verursachen In Wahrheit sind es nicht die Einrich- tungen die so wirken denn wir wissen daszlig sie siegend oder besiegt an sich keinerlei Wert besitzen Wenn wir ihren Siegeszug verfolgen verfolgen wir nur Taumluschungen

sect 5 Unterricht und Erziehung

An erster Stelle unter den herrschenden Gedanken unsrer Zeit steht die Idee der Unterricht habe den bestimmten Wenn man die tiefgehenden religioumlsen und politischen Uneinigkeiten welche die verschiedenen Gebiete Frankreichs trennen mit den separatistischen Ten- denzen vergleicht die in der Revolutionszeit auftraten und sich von neuem gegen Ende des deutsch-franzoumlsischen Krieges zeigten so sieht man daszlig die verschiedenen Rassen die auf unserem Boden leben noch lange nicht mit- einander verschmolzen sind Die kraftvolle Zentralisation und die Schaffung kuumlnstlicher Departements zum Zweck der Vermischung der fruumlheren Provin- zen waren gewiszlig das nuumltzlichste Werk der Revolution Koumlnnte die Dezen- tralisation von der heute kurzsichtige Geister so viel reden bewerkstelligt werden so wuumlrde sie unfehlbar zu den blutigsten Kaumlmpfen fuumlhren Das zu verkennen heiszligt unsre Geschichte voumlllig vergessen

62 ENTFERNTE TRIEBKRAumlFTE DES GLAUBENS DER MASSEN

Erfolg die Menschen zu bessern und sogar einander aumlhn- lich zu machen Nur durch seine Wiederholung ist dieser Satz schlieszliglich zu einem der unerschuumltterlichsten Saumltze der Demokratie geworden Er ist ebenso unantastbar ge- worden wie einst die Dogmen der KircheAber in diesem Punkt wie in so vielen anderen stehen die Ideen der Demokratie in schaumlrfstem Gegensatz zu den Ergebnissen der Psychologie und der Erfahrung Mehrere hervorragende Philosophen besonders Herbert Spencer konnten leicht beweisen daszlig der Unterricht den Men- schen weder sittlicher noch gluumlcklicher macht daszlig er die Instinkte und Leidenschaften des Menschen nicht aumlndert und schlecht geleitet oft mehr Schaden als Nutzen bringt Die Statistiker bestaumltigen diese Ansicht indem sie zeigen daszlig die Kriminalitaumlt mit der Verbreitung des Unterrichts oder wenigstens einer gewissen Art des Unterrichts zu- nimmt daszlig die aumlrgsten Feinde der Gesellschaft die Anar- chisten oft aus den Besten der Schule hervorgehen Ein hoher Justizbeamter Adolphe Guillot berichtet daszlig man jetzt dreitausend gebildete auf tausend ungebildete Ver- brecher rechnen kann und daszlig innerhalb fuumlnfzig Jahren das Verbrechertum von 227 auf 552 von hunderttausend Einwohnern gestiegen ist was einen Zuwachs von 33 Pro- zent bedeutet Er hat auch in Uumlbereinstimmung mit seinen Kollegen festgestellt daszlig die Kriminalitaumlt besonders bei den jungen Leuten zunimmt bei denen die unentgeltliche Pflichtschule an die Stelle des Lehrherrn getreten istGewiszlig hat niemals jemand behauptet daszlig gut geleiteter Unterricht keine praktischen sehr nuumltzlichen Ergebnisse haben koumlnnte wenn auch nicht in sittlicher Hinsicht so doch in bezug auf die Entfaltung der beruflichen Faumlhig- keiten Leider haben besonders seit dreiszligig Jahren die lateinischen Voumllker ihre Unterrichtsformen auf ganz falschen Voraussetzungen aufgebaut und beharren trotz der Beobach- tungen der hervorragendsten Koumlpfe in ihren bedauerlichen Irrtuumlmern Ich selbst habe in verschiedenen Schriften ge- Vgl bdquoPsychologie des Sozialismusldquo bdquoPsychologie der Erziehungldquo

UNTERRICHT UND ERZIEHUNG 63

zeigt daszlig unsere gegenwaumlrtige Erziehung die Mehrzahl derer denen sie zuteil wurde in Feinde der Gesellschaft verwandelt die vielfach die Gefolgschaft der schlimmsten Formen des Sozialismus bildenDie erste Gefahr dieser Erziehung die treffend als latei- nisch gekennzeichnet wird beruht auf einem psychologi- schen Grundirrtum sich einzubilden die Intelligenz ent- wickle sich durch Auswendiglernen von Lehrbuumlchern Ferner bemuumlht man sich soviel als moumlglich zu lehren und von der Volksschule bis zur Doktor- oder Staatspruumlfung hat der junge Mann sich nur mit dem Inhalt von Buumlchern voll- zustopfen ohne jemals sein Urteil oder seine Entschluszlig- kraft zu uumlben Der Unterricht besteht fuumlr ihn im Hersagen und Gehorchen bdquoAufgaben lernen eine Grammatik oder einen Abriszlig auswendig wissen gut wiederholen gut nach- machenldquo schreibt der ehemalige Unterrichtsminister Jules Simon bdquodas ist eine komische Erziehung bei der jede An- strengung nur ein Beweis des Glaubens an die Unfehl- barkeit des Lehrers ist und dazu fuumlhrt uns herabzusetzen und unfaumlhig zu machenldquoWaumlre diese Erziehung nur nutzlos so koumlnnte man sich damit begnuumlgen die ungluumlcklichen Kinder zu bedauern denen man statt vieler notwendiger Dinge lieber die Genealogie der Soumlhne Chlotars die Kaumlmpfe zwischen Neu- strien und Austrasien oder zoologische Einteilungen bei- bringt aber sie bildet eine viel ernstere Gefahr sie be- wirkt bei dem der sie genossen hat einen heftigen Wider- willen gegen die Verhaumlltnisse in denen er geboren ist und den nachdruumlcklichen Wunsch aus ihnen herauszukommen Der Arbeiter will nicht mehr Arbeiter der Bauer nicht mehr Bauer bleiben und der letzte Kleinbuumlrger sieht fuumlr seine Soumlhne keine andere Moumlglichkeit als die Laufbahn eines festbesoldeten Staatsbeamten Anstatt die Menschen fuumlr das Leben vorzubereiten bereitet die Schule sie nur fuumlr oumlffentliche Aumlmter vor in denen man ohne einen Schim- mer von Tatkraft Erfolg haben kann Sie erzeugt am Fuszlige der sozialen Leiter die proletarischen Heere die mit ihrem

64 ENTFERNTE TRIEBKRAumlFTE DES GLAUBENS DER MASSEN

Los unzufrieden und stets zum Aufstand bereit sind oben aber unsere leichtfertige zugleich skeptische und glaumlubige Bourgeoisie mit ihrem uumlbertriebenen Vertrauen zur Staats- vorsehung die sie gleichwohl unaufhoumlrlich beschimpft weil sie stets ihre eigenen Fehler der Regierung zuschiebt und unfaumlhig ist ohne die Vermittlung der Obrigkeit etwas zu unternehmenDer Staat kann nur eine kleine Anzahl der Anwaumlrter verwenden die er mit Hilfe von Handbuumlchern fabriziert und dafuumlr auszeichnet und laumlszligt die andern ohne Beschaumlf- tigung Er muszlig sich also dareinfinden die ersten zu er- naumlhren und die andern zu Feinden zu haben Von der Spitze bis zum Fuszlig der sozialen Pyramide belagert heute das riesige Heer der Anwaumlrter die verschiedenen Aumlmter Ein Kaufmann findet schwer einen Stellvertreter in den Kolonien aber es gibt Tausende von Kandidaten die sich um die bescheidensten oumlffentlichen Stellungen bemuumlhen Das Seinedepartement allein zaumlhlt zwanzigtausend be- schaumlftigungslose Lehrer und Lehrerinnen die Feld und Werkstatt verachten und sich an den Staat wenden um leben zu koumlnnen Da die Zahl der Auserwaumlhlten be- schraumlnkt ist so muszlig notwendigerweise die der Unzufrie- denen ungeheuer groszlig sein Sie sind zu allen Revolutionen bereit gleichguumlltig unter weichem Fuumlhrer und zu welchen Zielen Der Erwerb unnuumltzer Kenntnisse ist ein sicheres Mittel einen Menschen zum Empoumlrer zu machen

Uumlbrigens ist dies nicht nur eine besondere Erscheinung bei den lateinischen Voumllkern man kann sie auch in China feststellen das ebenfalls von einer festen Hierarchie von Mandarinen geleitet wird und wo das Mandarinat wie bei uns auf dem Wege von Pruumlfungen erlangt wird deren einziges Erfordernis das fehlerlose Hersagen dicker Lehrbuumlcher ist Das Heer beschaumlftigungsloser Gelehrter wird heute in China fuumlr ein wahres Nationalungluumlck gehalten Auch in Indien hat sich seitdem die Englaumlnder dort Schulen gegruumlndet um die Eingeborenen zu belehren nicht um sie zu erziehen eine besondere Klasse von Gelehrten die der Babus gebildet die zu unversoumlhnlichen Feinden der eng- lischen Macht werden wenn es ihnen nicht gelingt eine Anstellung zu er- halten Die erste Wirkung des Unterrichts bei alten Babus ob angestellt oder ohne Beschaumlftigung war ein auszligerordentliches Sinken ihrer Sittlichkeit Ich habe diesen Punkt in meinem Buch bdquoDie Kulturen Indiensldquo ausfuumlhrlich be- handelt Alle Autoren die die Halbinsel besuchten haben das ebenfalls fest- gestellt

UNTERRICHT UND ERZIEHUNG 65

Es ist offenbar zu spaumlt sich einer solchen Stroumlmung ent- gegenzustemmen Die Erfahrung allein die letzte Lehr- meisterin der Voumllker wird es uumlbernehmen uns unsern Irrtum zu zeigen Sie allein wird maumlchtig genug sein uns die Notwendigkeit des Ersatzes unserer abscheulichen Lehr- buumlcher unserer klaumlglichen Pruumlfungen durch einen berufs- maumlszligigen Unterricht zu beweisen der die Jugend befaumlhigt zu den Feldern zu den Werkstaumltten zu den kolonialen Unternehmungen zuruumlckzukehren die heute verlassen sind Diesen berufsmaumlszligigen Unterricht den alle aufgeklaumlrten Geister jetzt fordern empfingen einst unsere Vaumlter und die Voumllker die heute die Welt durch ihren Willen ihre Tatkraft ihren Unternehmungsgeist beherrschen haben ihn sich zu bewahren gewuszligt Auf bemerkenswerten Seiten seiner Buumlcher deren wesentlichste Stellen ich spaumlter an- fuumlhren werde hat Taine klar gezeigt daszlig unsere Erzie- hung einst ungefaumlhr so war wie heute die englische oder amerikanische Erziehung und er hat durch einen bedeuten- den Vergleich zwischen dem lateinischen und angelsaumlch- sischen System die Folgen der beiden Erziehungsmethoden ins hellste Licht geruumlckt Vielleicht koumlnnte man noch alle Unzutraumlglichkeiten unserer klassischen Bildung hinnehmen selbst wenn sie nur Entwurzelte und Unzufriedene heran- bildete wenn nur der oberf laumlchliche Erwerb so vieler Kenntnisse und das luumlckenlose Hersagen so vieler Lehr- buumlcher die Voraussetzungen der Intelligenz heben wuumlrde Ist das aber wirklich der Fall Ach nein Urteil Erfah- rung Tatkraft und Charakter sind die Bedingungen des Erfolges im Leben sie sind nicht aus Buumlchern zu lernen Buumlcher sind nuumltzliche Nachschlagewerke aber es ist durchaus unnuumltz lange Teilstuumlcke daraus im Kopf aufzu- speichernDaszlig der berufsmaumlszligige Unterricht die Intelligenz in einem Maszlige entwickelt das der klassische Unterricht nie erreicht hat Taine sehr gut in folgenden Zeilen gezeigt bdquoDie Ideen bilden sich nur in ihrer natuumlrlichen und regelrechten Um- gebung Ihre Keime werden durch die unzaumlhligen Wahr-

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nehmungseindruumlcke genaumlhrt die der junge Mensch taumlglich in der Werkstatt im Bergwerk beim Gericht im Arbeits- zimmer auf der Schiffswerft im Krankenhaus beim An- blick der Werkzeuge Betriebsstoffe und Unternehmungen in Gegenwart der Kunden der Arbeiter der Arbeit des gut oder schlecht ausgefuumlhrten kostspieligen oder gewinn- bringenden Unternehmens empfaumlngt Das sind die kleinen Sonderwahrnehmungen der Augen des Ohres der Haumlnde und sogar des Geruchs die unwillkuumlrlich empfangen und unbewuszligt verarbeitet werden und sich in ihm ordnen so daszlig sie ihm fruumlher oder spaumlter die und die neue Ver- bindung Vereinfachung Ersparnis Vervollkommnung oder Erfindung eingeben All dieser wertvollen Verbindungen all dieser fuumlr seine Entwicklung foumlrderlichen unentbehr- lichen Moumlglichkeiten ist der junge Franzose beraubt und zwar gerade im fruchtbaren Alter sieben oder acht Jahre ist er in einer Schule eingesperrt fern von unmittelbarer eigener Erfahrung die ihm einen genauen und lebendigen Begriff von den Dingen den Menschen und den verschie- denen Umgangsformen gegeben haumltteldquo

bdquohellip Wenigstens neun von zehn haben ihre Zeit und ihre Muumlhe mehrere Jahre ihres Lebens und zwar fruchtbare wichtige ja entscheidende Jahre verloren man rechne zunaumlchst die Haumllfte oder zwei Drittel derer die zur Pruuml- fung gehen ab ich meine die Abgewiesenen ferner von den Zugelassenen Gepruumlften und Ausgezeichneten noch die Haumllfte oder zwei Drittel naumlmlich die Uumlberarbeiteten Man hat ihnen zu viel zugemutet wenn man von ihnen ver- langte an einem bestimmten Tage auf einem Stuhl oder vor einer Tafel zwei Stunden lang fuumlr eine Menge von Wissenschaften zum lebenden Nachschlagewerk alles menschlichen Wissens zu dienen Tatsaumlchlich sind sie es an diesem Tage zwei Stunden lang wirklich oder beinahe gewesen aber einen Monat spaumlter sind sie es nicht mehr Sie koumlnnten die Pruumlfung nicht wieder bestehen ihre Ge- daumlchtnis-Errungenschaften sind zu zahlreich und druumlckend und entgleiten unaufhoumlrlich ihrem Geist und sie machen

UNTERRICHT UND ERZIEHUNG 67

keine neuen Ihre Geisteskraft hat nachgelassen der be- fruchtende Saft ist vertrocknet der erwachsene Mensch kommt zum Vorschein und oft ist es der fertige Mensch Ist der in seinem Beruf und verheiratet so ergibt er sich drein sich im Kreise und fuumlr unabsehbare Zeit immer in demselben Kreise zu bewegen er verschanzt sich hinter seinem beschraumlnkten Amt das er fehlerlos ausfuumlllt ohne das Geringste daruumlber hinaus zu tun Das ist das Durch- schnittsergebnis der Ertrag wiegt die Unkosten bestimmt nicht auf In England und Amerika wo man wie ehemals vor 789 auch bei uns in Frankreich den umgekehrten Prozeszlig durchmachte ist der Ertrag ebenso groszlig oder groumlszligerldquoDer hervorragende Historiker zeigt uns dann den Unter- schied zwischen unserm und dem angelsaumlchsischen System Dort geschieht die Belehrung nicht durch das Buch sondern durch die Sache selbst Der Techniker z B bildet sich in einer Fabrik nie in einer Schule jeder kann genau den Grad erreichen der seiner Intelligenz entspricht als Ar- beiter oder Werkmeister wenn er nicht weiterkann als Ingenieur wenn es seine Faumlhigkeiten zulassen Das Ver- fahren ist fuumlr die ganze Gesellschaft demokratischer und nuumltzlicher als wenn man die Laufbahn eines Menschen von einer mehrstuumlndigen Pruumlfung abhaumlngig macht die er im Alter von achtzehn bis zwanzig Jahren abzulegen hatbdquoIm Krankenhaus im Bergwerk in der Fabrik beim Architekten beim Anwalt macht der in jungen Jahren zu- gelassene Schuumller seine Lehr- und Probezeit durch unge- faumlhr wie bei uns ein Schreiber in einem Buumlro oder ein Malerlehrling in der Werkstatt Vorher und bis zu seinem Eintritt konnte er nur ein paar allgemeine kurzgefaszligte Kurse besuchen um einen geeigneten Rahmen zu haben dem er die Beobachtungen die er jeden Augenblick macht einfuumlgen kann Je nach Faumlhigkeit hat er in seiner freien Zeit meist Gelegenheit einige technische Kurse zu besuchen um seine taumlglichen Erfahrungen je nach deren Stand zu verknuumlpfen Bei einer derartigen Ausbildung waumlchst und

68 ENTFERNTE TRIEBKRAumlFTE DES GLAUBENS DER MASSEN

entwickelt sich die praktische Faumlhigkeit von selbst bis zu dem Grade den die Anlagen des Schuumllers erreichen koumln- nen und in der Richtung die seine kuumlnftige Taumltigkeit die besondere Arbeit der er sich von nun an widmen will er- fordert Auf diese Weise kommt in England und in den Vereinigten Staaten der junge Mann rasch dazu alles was in ihm ist aus sich herauszuholen Mit fuumlnfundzwanzig Jahren und wenn ihm die Voraussetzungen dazu nicht fehlen noch fruumlher ist er ein nuumltzlicher Arbeiter oder sogar ein selbstaumlndiger Unternehmer nicht nur ein Ge- triebe sondern noch mehr ein Antrieb ndash In Frankreich wo der umgekehrte Ausbildungsgang geherrscht hat und mit jeder Generation chinesischer wird ist die Summe der verlorenen Kraumlfte unermeszliglich groszligldquoUnd der bedeutende Philosoph gelangt zu folgendem Er- gebnis uumlber das zunehmende Miszligverhaumlltnis zwischen un- serer lateinischen Erziehung und dem Leben

bdquoAuf allen drei Stufen des Unterrichts der der Kindheit des Knaben- und des Juumlnglingsalters ist die theoretische Vorbereitung auf der Schulbank und aus Buumlchern verlaumln- gert und uumlberbuumlrdet worden im Hinblick auf die Pruumlfung den akademischen Grad das Diplom und das Patent und durch die schlechten Mittel die Anwendung eines unnatuumlr- lichen und antisozialen Bildungsganges die uumlbermaumlszligige Hinausschiebung der praktischen Lehre durch das Internat den kuumlnstlichen Drill und die mechanische Gedaumlchtnis- uumlberfuumlllung durch Uumlberarbeitung ohne Ruumlcksicht auf die Zukunft das Mannesalter und die Pflichten des Mannes die er bald uumlben muszlig durch Vernachlaumlssigung der wirk- lichen Welt in die der junge Mensch bald eintreten wird der Gesellschaft die ihn umgibt der er sich anpassen muszlig will er nicht von vornherein verzichten des menschlichen Daseinskampfes fuumlr den er zu seiner Verteidigung und um sich zu halten im voraus geruumlstet und gewappnet geuumlbt abgehaumlrtet sein muszlig Diese unentbehrliche Aus- ruumlstung diese Errungenschaft die wichtiger ist als alle anderen diese Tuumlchtigkeit des gesunden Menschenverstan-

UNTERRICHT UND ERZIEHUNG 69

des des Willens und der Nerven in unseren Schulen wird sie nicht gewonnen ganz im Gegenteil statt den Menschen tuumlchtiger zu machen machen sie ihn untuumlchtig fuumlr seine naumlchste und kuumlnftige Stellung Daher sind nach dem Ver- lassen der Schule sein Eintritt in die Welt und seine ersten Schritte auf dem Felde des praktischen Wirkens nichts als eine Reihe schmerzlicher Niederlagen aus denen er ver- wundet und fuumlr lange Zeit zermuumlrbt verkruumlppelt hervor- geht Es ist eine harte und gefaumlhrliche Probe bei der das geistige und sittliche Gleichgewicht erschuumlttert wird und Gefahr laumluft nicht wiederhergestellt zu werden Die Ent- taumluschung kam zu jaumlh und zu vollstaumlndig der Betrug war zu groszlig und der Ekel zu stark Sind wir im vorstehenden von der Massenpsychologie ab- gewichen Gewiszlig nicht Wenn wir die Ideen und Glau- bensmeinungen die heute in ihr keimen und morgen auf- gehen werden verstehen wollen so muumlssen wir wissen wie der Boden dafuumlr vorbereitet wurde Der Unterricht den die Jugend eines Landes genieszligt erlaubt uns die Schicksale dieses Landes ein wenig vorauszusehen Die Er- ziehung die der heutigen Generation zuteil wird recht- fertigt die duumlstersten Ahnungen Hand in Hand mit dem Unterricht und der Erziehung veredelt sich die Massenseele oder verdirbt Es war daher notwendig zu zeigen wie das gegenwaumlrtige System sie geformt hat und wie die Masse der Unbeteiligten und Gleichguumlltigen allmaumlhlich zu einem riesigen Heer Unzufriedener wurde das bereit ist allen Einfluumlssen der Weltverbesserer und Redner zu folgen Die Schule bildet heute Unzufriedene und Anarchisten und bereitet fuumlr die lateinischen Voumllker die Zeiten des Nieder- gangs vor

Taine Le reacutegime moderne II 894 ndash Es sind fast die letzten Seiten die Taine schrieb Sie fassen die Ergebnisse der langen Erfahrungen des groszligen Denkers ausgezeichnet zusammen Die Erziehung ist unser einziges Mittel die Seele eines Volkes ein wenig zu beeinflussen und der Gedanke ist tief- traurig daszlig es fast niemand in Frankreich gibt der zu begreifen vermag daszlig unser gegenwaumlrtiger Unterricht eine furchtbare Ursache der Entartung ist Anstatt die Jugend zu erheben erniedrigt und verdirbt er sie

70 ENTFERNTE TRIEBKRAumlFTE DES GLAUBENS DER MASSEN

2 KAPITEL

Unmittelbare Triebkraumlfte der Anschauungen der Massen

Wir haben die mittelbaren und vorbereitenden Triebkraumlfte festgestellt die der Massenseele besondere Empfaumlnglichkeit verleihen indem sie das Aufbluumlhen gewisser Gefuumlhle und Ideen bei den Massen ermoumlglichen Jetzt haben wir noch die Triebkraumlfte zu untersuchen die eine unmittelbare Handlung bewirken koumlnnen Im naumlchsten Kapitel werden wir dann sehen wie diese Triebkraumlfte zu benutzen sind damit sie all ihre Wirkungen erzielen koumlnnenDer erste Teil dieses Werkes behandelte die Gefuumlhle Ideen und Uumlberzeugungen von Gesamtheiten (collectiviteacutes) Aus ihrer Kenntnis kann man offenbar die Mittel die Massen- seele zu beeinflussen in allgemeiner Weise feststellen Wir wissen bereits was auf die Einbildungskraft der Massen Eindruck macht kennen die Macht der Uumlbertragung von Beeinflussungen besonders jenen die in bildhafter Form auftreten Da aber die moumlglichen Beeinflussungen ganz ver- schiedenen Ursprung haben so koumlnnen auch die Faktoren die auf die Massen zu wirken vermoumlgen recht verschieden sein man muszlig sie daher gesondert untersuchen Die Mas- sen sind so etwas wie die Sphinx der antiken Sage man muszlig die Fragen die ihre Psychologie uns stellt loumlsen oder darauf gefaszligt sein von ihnen verschlungen zu werden

sect Bilder Worte und Redewendungen

Beim Studium der Einbildungskraft der Massen fanden wir daszlig sie namentlich durch Bilder erregt wird Diese Bilder stehen einem nicht immer zur Verfuumlgung aber man kann sie durch geschickte Anwendung von Worten und Redewendungen hervorrufen Werden sie kunstgerecht an- gewandt so besitzen sie wirklich die geheimnisvolle Macht die ihnen einst die Adepten der Magie zuschrieben Sie rufen in der Massenseele die furchtbarsten Stuumlrme hervor

und koumlnnen sie auch besaumlnftigen Man koumlnnte allein aus den Knochen der Menschen die der Macht der Worte und Redewendungen zum Opfer fielen eine houmlhere Pyramide als die des alten Cheops erbauen Die Macht der Worte ist mit den Bildern verbunden die sie hervorrufen und voumlllig unabhaumlngig von ihrer wahren Bedeutung Worte deren Sinn schwer zu erklaumlren ist sind oft am wirkungs- vollsten So z B die Ausdruumlcke Demokratie Sozialismus Gleichheit Freiheit u a deren Sinn so unbestimmt ist daszlig dicke Baumlnde nicht ausreichen ihn festzustellen Und doch knuumlpft sich eine wahrhaft magische Macht an ihre kurzen Silben als ob sie die Loumlsung aller Fragen ent- hielten In ihnen ist die Zusammenfassung der verschie- denen unbewuszligten Erwartungen und der Hoffnung auf ihre Verwirklichung lebendigMit Vernunft und Beweisgruumlnden kann man gewisse Worte und Redewendungen nicht bekaumlmpfen Man spricht sie mit Andacht vor den Massen aus und sogleich werden die Mienen ehrfurchtsvoll und die Koumlpfe neigen sich Viele sehen in ihnen Naturkraumlfte oder uumlbernatuumlrliche Maumlchte Sie rufen in den Seelen groszligartige und unbestimmte Bilder hervor aber eben das Unbestimmte das sie verwischt ver- mehrt ihre geheimnisvolle Macht Sie lassen sich mit jenen furchtbaren Gottheiten vergleichen die hinter dem Alier- heiligsten verborgen sind und denen der Andaumlchtige nur mit Zittern nahtDa die Bilder die durch die Worte hervorgerufen werden unabhaumlngig sind von ihrem Sinn so wandeln sie sich von Zeitalter zu Zeitalter von Volk zu Volk waumlhrend die Formeln dafuumlr die gleichen bleiben Mit bestimmten Wor- ten verbinden sich zeitweilig bestimmte Bilder das Wort ist nur der Klingelknopf der sie hervorruftNicht alle Worte und Redewendungen besitzen die Macht Bilder hervorzurufen und es gibt solche die sich danach abnutzen und in der Seele nichts mehr hervorrufen Sie bleiben dann leerer Schall dessen Hauptnutzen darin be- steht allen die von ihnen Gebrauch machen das Denken

72 UNMITTELBARE TRIEBKRAumlFTE DER MASSEN-ANSCHAUUNG

zu ersparen Mit einem kleinen Vorrat von Redewen- dungen und Gemeinplaumltzen die wir in der Jugend erlern- ten besitzen wir alles Noumltige um ohne die ermuumldende Notwendigkeit nachdenken zu muumlssen durchs Leben zu gehenBetrachtet man eine bestimmte Sprache so sieht man daszlig sich die Worte aus denen sie sich zusammensetzt im Laufe der Zeit nur ziemlich langsam veraumlndern aber un- aufhoumlrlich veraumlndern sich die Bilder die sie hervorrufen oder der Sinn den man ihnen unterlegt Und in einer anderen Arbeit bin ich daher zu dem Schluszlig gekommen daszlig die genaue Uumlbersetzung einer Sprache besonders einer toten Sprache voumlllig unmoumlglich ist Was tun wir denn in Wirklichkeit wenn wir einen franzoumlsischen Ausdruck ins Lateinische Griechische oder Sanskrit uumlbertragen wollen oder selbst wenn wir nur versuchen ein Buch zu ver- stehen das vor einigen Jahrhunderten in unserer eigenen Sprache geschrieben wurde Wir uumlbertragen einfach die Bilder und Vorstellungen die das moderne Leben in un- serem Verstand erzeugt hat auf die voumlllig verschiedenen Begriffe und Bilder die das antike Leben in der Seele von Rassen hervorbrachte deren Lebensbedingungen keine Aumlhn- lichkeit mit den unsrigen zeigen Die Menschen der Revo- lutionszeit glaubten die Griechen und Roumlmer nachzuahmen und gaben nur den alten Worten einen Sinn den sie nie- mals gehabt hatten Welche Aumlhnlichkeit koumlnnte zwischen den Einrichtungen der Griechen und solchen bestehen die heute mit gleichlautenden Worten bezeichnet werden Was war eine Republik damals anderes als eine wesentlich aristokratische aus einer Vereinigung kleiner Despoten gebildete Einrichtung die eine versklavte in voumllliger Ab- haumlngigkeit gehaltene Masse beherrschte Diese kommunalen Aristokratien die sich auf Sklaverei gruumlndeten haumltten nicht einen Augenblick ohne sie bestehen koumlnnenUnd wie koumlnnte das Wort Freiheit fuumlr ein Zeitalter das die Gedankenfreiheit noch nicht einmal ahnte und keinen groumlszligeren und uumlberdies seltneren Frevel kannte als uumlber

BILDER WORTE UND REDEWENDUNGEN 73

die Goumltter die Gesetze und die Sitten der Buumlrgerschaft zu streiten dieselbe Bedeutung haben wie fuumlr uns Das Wort Vaterland bedeutete in der Seele eines Atheners oder Spar- taners die Verehrung Athens oder Spartas keineswegs aber Griechenlands das aus vielen Stadtstaaten bestand die sich fortwaumlhrend bekriegten und miteinander wetteiferten Welche Bedeutung hatte dasselbe Wort bei den wetteifern- den Staumlmmen von verschiedener Rasse Sprache und Reli- gion des alten Galliens die Caumlsar so leicht besiegte weil er unter ihnen stets Verbuumlndete hatte Rom allein verlieh Gallien ein Vaterland indem es ihm die politische und religioumlse Einheit gab Doch man braucht gar nicht so weit zuruumlckzugehen knapp zwei Jahrhunderte genuumlgen glaubt man das Wort Vaterland sei von den franzoumlsischen Prin- zen die sich wie der groszlige Condeacute mit dem Feinde gegen ihren eigenen Herrscher verbanden in seiner jetzigen Be- deutung verstanden worden Und hatte dasselbe Wort fuumlr die Emigranten nicht noch einen ganz andern Sinn als heutzutage Sie glaubten den Gesetzen der Ehre zu gehor- chen wenn sie Frankreich bekaumlmpften und gehorchten ihnen damit tatsaumlchlich von ihrem Gesichtspunkt aus da das Lehnsgesetz den Vasallen dem Lehnsherrn verband und nicht dem Lande und dort wo sich der Herr befand auch das wahre Vaterland warUnzaumlhlige Worte haben so ihre Bedeutung im Laufe der Zeit entscheidend geaumlndert Wir koumlnnen nur noch mit groszliger Muumlhe ihre fruumlhere Bedeutung verstehen Man muszlig viel lesen hat man mit Recht gesagt um nur zu begreifen was in den Augen unsrer Groszligeltern Worte wie bdquoder Koumlnigldquo und bdquodie koumlnigliche Familieldquo bedeuteten Wie steht es da erst mit schwierigeren AusdruumlckenDie Worte haben also nur veraumlnderliche und vergaumlngliche Bedeutungen die mit den Zeiten und Voumllkern wechseln Wollen wir durch sie auf die Massen wirken so muumlssen wir den Sinn kennen den sie fuumlr die Massen im gege- benen Augenblick haben nicht aber jenen den sie einst besaszligen oder den sie fuumlr Persoumlnlichkeiten von ganz be-

74 UNMITTELBARE TRIEBKRAumlFTE DER MASSEN-ANSCHAUUNG

sonderer geistiger Beschaffung haben koumlnnen Worte sind ebenso lebendig wie IdeenWenn also die Massen infolge politischer Umwaumllzungen oder nach einem Glaubenswechsel einen tiefen Widerwillen gegen die Bilder haben die durch bestimmte Worte aus- geloumlst werden so ist es die erste Aufgabe des wahren Staatsmannes die Bezeichnungen zu aumlndern ohne ndash wohl- gemerkt ndash an die Dinge selbst zu ruumlhren da diese zu sehr an eine ererbte Geistesverfassung gebunden sind als daszlig man sie aumlndern koumlnnte Der geistreiche Tocqueville hat darauf aufmerksam gemacht daszlig die Arbeit des Konsulats und des Kaisertums vor allen Dingen darin bestand die Mehrzahl der Einrichtungen der Vergangenheit mit neuen Bezeichnungen zu versehen folglich die Ausdruumlcke die in der Phantasie der Massen verhaszligte Bilder hervorriefen durch andre zu ersetzen deren Neuheit das unmoumlglich machte Die

bdquoTailleldquo wurde zur Grundsteuer die bdquoGabelleldquo zur Salz- steuer die Verbrauchssteuer zu indirekten Steuern und Zoumll- len die Meister- und Zunfttaxe zur Gewerbesteuer uswEine der wichtigsten Aufgaben der Staatsmaumlnner besteht also darin die Dinge die die Massen unter ihren alten Bezeichnungen verabscheuen mit volkstuumlmlichen oder we- nigstens bedeutungslosen Namen zu taufen Die Macht der Worte ist so groszlig daszlig gutgewaumlhlte Bezeichnungen genuuml- gen um den Massen die verhaszligtesten Dinge annehmbar zu machen Taine bemerkt ganz richtig daszlig die Jakobiner durch Berufung auf die damals sehr volkstuumlmlichen Worte

bdquoFreiheitldquo und bdquoBruumlderlichkeitldquo einen Despotismus der des Koumlnigreichs Dahomey wuumlrdig gewesen waumlre ein Tri- bunal wie die Inquisition und Menschenhekatomben gleich denen des alten Mexiko heraufbeschwoumlren konnten Die Regierungskunst besteht wie die der Rechtsanwaumllte darin daszlig man die Worte zu meistern versteht Eine schwierige Kunst denn in derselben Gesellschaft haben die gleichen Worte fuumlr die verschiedenen sozialen Schichten oft ganz verschiedene Bedeutung Sie gebrauchen anscheinend diesel- ben Worte sprechen aber nicht dieselbe Sprache

BILDER WORTE UND REDEWENDUNGEN 75

In den vorstehenden Beispielen haben wir als Haupt- ursache fuumlr den Bedeutungswandel der Worte besonders die Zeit in Betracht gezogen Wollten wir auch die Rasse heranziehen so wuumlrden wir sehen daszlig zu gleicher Zeit bei Voumllkern von gleicher Kultur aber verschiedener Rasse die gleichen Worte oft ganz verschiedenartigen Vorstellungen entsprechen Diese Unterschiede kann man ohne zahlreiche Reisen nicht kennenlernen und verstehen und ich will sie daher nicht hervorheben Ich beschraumlnke mich auf die Be- merkung daszlig gerade die gebraumluchlichsten Worte bei den verschiedenen Voumllkern die verschiedenste Bedeutung haben So z B die Ausdruumlcke bdquoDemokratieldquo und bdquoSozialismusldquo die heute soviel gebraucht werdenSie entsprechen in Wirklichkeit fuumlr die lateinische und die angelsaumlchsische Seele inhaltlich und bildlich voumlllig ent- gegengesetzten Vorstellungen Bei den lateinischen Voumllkern bedeutet das Wort Demokratie vor allem die Ausloumlschung des Willens und der Tatkraft des einzelnen vor dem Staat Dem Staat wird immer mehr aufgeladen er soll fuumlhren zentralisieren monopolisieren fabrizieren An ihn wenden sich bestaumlndig alle Parteien ohne Ausnahme Radikale Sozialisten Monarchisten Bei den Angelsachsen nament- lich bei den Amerikanern bedeutet dasselbe Wort im Gegenteil die angespannteste Entfaltung des Willens und der Persoumlnlichkeit das moumlglichste Zuruumlcktreten des Staates den man mit Ausnahme der Polizei des Heeres und der diplomatischen Beziehungen nichts leiten laumlszligt nicht einmal den Unterricht Dasselbe Wort hat also bei diesen beiden Voumllkern einen voumlllig entgegengesetzten Sinn

sect 2 Die Taumluschungen (illusions)

Seit der Morgenroumlte der Kultur sind die Voumllker immer dem Einfluszlig von Taumluschungen ausgesetzt gewesen Den

In den bdquoPsychologischen Gesetzen der Voumllkerentwicklungldquo habe ich klar auf den Unterschied hingewiesen der das lateinische Ideal der Demokratie von dem angelsaumlchsischen Ideal der Demokratie unterscheidet

76 UNMITTELBARE TRIEBKRAumlFTE DER MASSEN-ANSCHAUUNG

Schoumlpfern von Taumluschungen haben sie die meisten Tempel Bildwerke und Altaumlre errichtet Fruumlher waren es religioumlse heute sind es philosophische Taumluschungen ndash aber immer findet man diese furchtbaren Herrscherinnen an der Spitze aller Kulturen die nacheinander auf unserm Planeten bluumlhten In ihrem Namen stiegen die Tempel Chaldaumlas und Aumlgyptens die Kirchenbauten des Mittelalters empor in ihrem Namen wurde ganz Europa vor einem Jahr- hundert umgewaumllzt Es gibt nicht eine einzige unserer kuumlnstlerischen politischen oder sozialen Anschauungen die nicht ihren maumlchtigen Stempel truumlge Oft schuumlttelt sie der Mensch um den Preis furchtbarer Umwaumllzungen ab aber er scheint dazu verdammt zu sein sie immer wieder auf- zurichten Ohne sie haumltte er die primitive Barbarei nicht hinter sich lassen koumlnnen und ohne sie wuumlrde er ihr bald wieder verfallen Zweifellos sind es leere Schatten aber diese Toumlchter unserer Traumlume haben die Voumllker gezwun- gen all das zu schaffen was den Glanz der Kuumlnste und die Groumlszlige der Kultur ausmacht

bdquoWenn man alle Kunstwerke und Denkmaumller in den Mu- seen und Bibliotheken die dem Einfluszlig der Religion ihr Dasein verdanken zerstoumlren und auf den Steinen ihrer Vorhoumlfe zertruumlmmern koumlnnte was bliebe von den groszligen Traumlumen der Menschheit uumlbrigldquo schreibt ein Autor der die Summe unseres Wissens zieht bdquoDie Daseinsberech- tigung der Goumltter Helden und Dichter besteht darin den Menschen ihren Anteil an Hoffnungen und Taumluschungen zu geben ohne die sie nicht leben koumlnnen Eine Zeitlang schien die Wissenschaft diese Aufgabe zu uumlbernehmen Sie hat sich aber bei den idealhungrigen Gemuumltern um ihr Ansehen gebracht weil sie nicht mehr genug zu verspre- chen wagt und nicht genug zu luumlgen weiszligldquoDie Philosophen des vergangenen Jahrhunderts widmeten sich mit Eifer der Zerstoumlrung der religioumlsen politischen und sozialen Taumluschungen von denen unsere Vaumlter viele Jahrhunderte lang gelebt hatten Diese Zerstoumlrung lieszlig die Quellen der Hoffnung und Ergebung versiegen Hinter den

DIE TAumlUSCHUNGEN 77

geopferten Chimaumlren fanden sie die blinden Naturkraumlfte die unerbittlich sind gegen Schwaumlche und kein Mitleid kennenTrotz all ihrer Fortschritte hat die Philosophie nicht ver- mocht den Massen ein Ideal zu bieten das sie bezaubern koumlnnte Da ihnen aber Taumluschungen unentbehrlich sind so wenden sie sich unwillkuumlrlich wie die Motte dem Licht den Rednern zu die sie ihnen bieten Die groszlige Trieb- kraft der Voumllkerentwicklung war niemals die Wahrheit sondern der Irrtum Und wenn heute der Sozialismus seine Macht wachsen sieht so erklaumlrt es sich daraus daszlig er die einzige Taumluschung darstellt die noch lebendig ist Wissen- schaftliche Beweisfuumlhrungen koumlnnen seine Entwicklung nicht aufhalten Seine Hauptstaumlrke liegt darin daszlig er von Koumlpfen verteidigt wird die die Tatsachen der Wirklichkeit genuumlgend verkennen um es zu wagen den Menschen kuumlhn das Gluumlck zu versprechen Die soziale Taumluschung herrscht heute auf allen Ruinen die die Vergangenheit auftuumlrmte und ihr gehoumlrt die Zukunft Nie haben die Massen nach Wahrheit geduumlrstet Von den Tatsachen die ihnen miszlig- fallen wenden sie sich ab und ziehen es vor den Irrtum zu vergoumlttern wenn er sie zu verfuumlhren vermag Wer sie zu taumluschen versteht wird leicht ihr Herr wer sie aufzu- klaumlren sucht stets ihr Opfer

sect 3 Die Erfahrung

Die Erfahrung ist so ziemlich das einzige wirksame Mittel um der Massenseele eine Wahrheit fest einzupflanzen und zu gefaumlhrlich gewordene Taumluschungen zu zerstoumlren Dazu muszlig die Erfahrung auf einer breiten Grundlage ruhen und oft wiederholt werden Die von einer Generation gesam- melten Erfahrungen sind im allgemeinen fuumlr die folgende nutzlos darum hat es keinen Zweck geschichtliche Ereig- nisse als Beweise anzufuumlhren Ihr einziger Nutzen ist daszlig sie zeigt in welchem Maszlige die Erfahrungen in jedem Zeit- alter wiederholt werden muumlssen um irgendwelchen Einfluszlig

78 UNMITTELBARE TRIEBKRAumlFTE DER MASSEN-ANSCHAUUNG

zu gewinnen und den Erfolg zu haben auch nur einen Irrtum der mit der Massenseele verwachsen ist auszu- rottenUnser Jahrhundert und das vorhergehende werden von den Historikern der Zukunft zweifellos als eine Zeit merk- wuumlrdiger Erfahrungen bezeichnet werden Kein anderes Zeitalter hat so viele aufzuweisenDie gewaltigste Erfahrung war die Franzoumlsische Revo- lution Um zu entdecken daszlig man eine Gesellschaft nicht mit den Mitteln der reinen Vernunft von Grund auf er- neuern kann muszligten einige Millionen Menschen hinge- schlachtet und ganz Europa zwanzig Jahre lang erschuumlttert werden Um uns durch die Erfahrung zu beweisen daszlig Caumlsaren den Voumllkern die ihnen zujauchzen teuer zu stehen kommen waren innerhalb fuumlnfzig Jahren zwei vernich- tende Erfahrungen noumltig die trotz ihrer Verstaumlndlichkeit nicht uumlberzeugend genug gewesen zu sein scheinen Gleich- wohl kostete die erste drei Millionen Menschen und einen feindlichen Einmarsch die zweite eine Zerreiszligung des Lan- des und die Notwendigkeit stehender Heere Eine dritte waumlre beinahe vor kurzem gemacht worden und wird eines Tages sicherlich gemacht werden Um uns zu beweisen daszlig das riesige deutsche Heer nicht wie man uns vor 870 lehrte eine Art harmloser Nationalgarde ist war der schreckliche Krieg noumltig der uns so viel gekostet hat Um zu der Erkenntnis zu kommen daszlig das Schutzzollsystem

Die Anschauung der Massen bildete sich in diesem Fall durch die groben Verbindungen unaumlhnlicher Dinge deren Mechanik ich fruumlher erklaumlrt habe Weil damals unsere Nationalgarde aus friedlichen Kleinbuumlrgern ohne jede straffe Zucht bestand und nicht ernst zu nehmen war erweckte alles was einen aumlhnlichen Namen trug dieselben Bilder und wurde folglich fuumlr ebenso harmlos gehalten Der Irrtum der Massen wurde damals wie es bei allge- meinen Anschauungen so oft der Fall ist von den Fuumlhrern geteilt In einer Rede die Herr Thiers am 3 Dezember 867 in der Deputiertenkammer hielt wiederholte er ein Staatsmann der der Massenanschauung oft gefolgt ist Preuszligen besitze auszliger einem aktiven Heere an Zahl dem unsrigen fast gleich nur eine Nationalgarde die von derselben Art wie wir sie einmal besessen und demnach ohne Bedeutung sei ndash eine ebenso richtige Behauptung wie die beruumlhmte Prophezeiung desselben Staatsmannes uumlber die Zukunfts- losigkeit der Eisenbahnen

DIE ERFAHRUNG 79

die Voumllker die es anwenden endguumlltig zugrunde richtet werden noch unheilvolle Erfahrungen noumltig sein Diese Beispiele lieszligen sich ins Unendliche vermehren

sect 4 Die Vernunft

Bei der Aufzaumlhlung der Faktoren die imstande sind die Massenseele zu erregen koumlnnten wir uns die Erwaumlhnung der Vernunft ersparen wenn man nicht den negativen Wert ihres Einflusses aufzeigen muumlszligteWir haben bereits festgestellt daszlig die Massen durch logi- sche Beweise nicht zu beeinflussen sind und nur grobe Ideenverbindungen begreifen Daher wenden sich auch die Redner die Eindruck auf sie zu machen verstehen an ihr Gefuumlhl und niemals an ihre Vernunft Die Gesetze der Logik haben keinerlei Einfluszlig auf sie Um die Massen zu uumlberzeugen muszlig man sich zunaumlchst genau Rechenschaft geben uumlber die Gefuumlhle die sie beseelen muszlig den An- schein erwecken daszlig man sie teilt dann versuchen sie zu veraumlndern indem man mittels angedeuteter Ideenverbin- dungen gewisse zwingende Bilder hervorruft ferner muszlig man im Notfall sein Vorhaben aufgeben koumlnnen und vor

Meine ersten Beobachtungen uumlber die Kunst der Massenbeeinflussung und die schwachen Hilfsmittel die die Logik in dieser Beziehung bietet machte ich waumlhrend der Belagerung von Paris an dem Tage an dem ich den Mar- schall Vhellip nach dem Louvre dem Sitz der damaligen Regierung bringen sah weil eine wuumltende Volksmenge ihn dabei uumlberrascht haben wollte als er den Festungsplan entwendete um ihn den Preuszligen zu verkaufen Ein Re- gierungsmitglied G P hellip ein beruumlhmter Redner trat heraus um eine Ansprache an die Massen zu halten die die unverzuumlgliche Hinrichtung des Gefangenen verlangten Ich erwartete der Redner werde die Unsinnigkeit der Beschuldigung durch die Feststellung beweisen daszlig der angeklagte Marschall ausgerechnet einer der Konstrukteure der Befestigung sei deren Plan man uumlbrigens in allen Buchhandlungen kaufen konnte Zu meiner groszligen Verbluumlf- fung ndash ich war damals noch sehr jung ndash lautete die Rede ganz anders bdquoDem Recht wird Genuumlge geschehenldquo rief der Redner indem er auf den Gefangenen zuging bdquowird in unerbittlicher Weise Genuumlge geschehen Laszligt die Regierung der nationalen Verteidigung eure Sache durchfuumlhren einstweilen werden wir den Angeklagten einsperrenldquo Durch diese scheinbare Genugtuung besaumlnftigt zerstreute sich die Menge und der Marschall konnte schon nach Verlauf einer Viertelstunde seine Wohnung aufsuchen Sicherlich waumlre er totgeschlagen wor- den wenn sein Verteidiger der wuumltenden Menge die logischen Beweisgruumlnde vorgehalten haumltte die meine groszlige Jugend sehr uumlberzeugend fand

80 UNMITTELBARE TRIEBKRAumlFTE DER MASSEN-ANSCHAUUNG

allen Dingen jeden Augenblick die Gefuumlhle erraten die man erweckt Diese Notwendigkeit seine Ausdrucksweise je nach dem erzielten Erfolg im Augenblick zu veraumlndern verurteilt jede vorbereitete und eingelernte Rede von vorn- herein zur Wirkungslosigkeit Der Redner folgt seinen eignen Gedanken nicht denen seiner Zuhoumlrer und verliert schon allein durch diese Tatsache jeden EinfluszligDie logischen Koumlpfe die an die ziemlich knappen Schluszlig- ketten der Vernunft gewoumlhnt sind koumlnnen sich nicht ent- halten ihre Zuflucht zu dieser Uumlberzeugungsweise zu neh- men wenn sie sich an die Massen wenden und sind immer wieder uumlber das Fehlschlagen ihrer Beweise uumlberrascht

bdquoDie gewoumlhnlichen mathematischen Schluumlsse die sich auf den Syllogismus d h auf Identitaumltsketten gruumlnden sind notwendigldquo schreibt ein Logiker hellip bdquoIhre Notwendigkeit wuumlrde selbst die Zustimmung einer anorganischen Masse erzwingen wenn sie den Identitaumltsketten folgen koumlnnteldquo Gewiszlig aber die Menge ist ebensowenig imstande ihnen zu folgen oder sie auch nur zu verstehen wie die anorganische Masse Man mache z B den Versuch primitive Wesen Wilde oder Kinder durch ein logisches Urteil zu uumlber- zeugen und man wird einsehen wie wenig Wirkung diese Beweisfuumlhrung hatMan braucht nicht einmal bis zu den primitiven Wesen hinabzusteigen um die voumlllige Ohnmacht der Logik im Kampf gegen Gefuumlhle festzustellen Erinnern wir uns nur daran wie hartnaumlckig sich viele Jahrhunderte hindurch die religioumlsen Vorurteile gehalten haben die der einfachsten Logik widersprechen Fast zweitausend Jahre lang beugten sich die aufgeklaumlrtesten Geister unter ihre Gesetze und erst in der modernen Zeit war es uumlberhaupt moumlglich ihre Wahrheiten anzuzweifeln Das Mittelalter und die Renais- sance hatten genug aufgeklaumlrte Koumlpfe aber nicht ein ein- ziger war darunter dem die Vernunft die kindischen Seiten seines Aberglaubens enthuumlllt und auch nur einen leisen Zweifel an den Bosheiten des Teufels oder an der Not- wendigkeit der Hexenverbrennungen wachgerufen haumltte

DIE VERNUNFT 81

Ist es zu bedauern daszlig die Massen nie von der Vernunft geleitet werden Wir wagen es nicht zu behaupten Der menschlichen Vernunft waumlre es wahrscheinlich nicht ge- lungen die Menschheit mit derselben Glut und Kuumlhnheit die Bahnen der Kultur zu fuumlhren zu der ihre Trugbilder sie fortgerissen haben Die Trugbilder waren Erzeugnisse des Unbewuszligten von dem wir geleitet werden und sie waren wahrscheinlich notwendig Jede Rasse birgt in ihrer geistigen Verfassung die Gesetze ihres Schicksals und viel- leicht gehorcht sie diesen Gesetzen infolge eines untruumlg- lichen Instinktes auch dann wenn ihre unvernuumlnftigsten Aumluszligerungen in Erscheinung treten Es scheint manchmal als ob die Voumllker geheimen Kraumlften unterworfen waumlren gleich jenen die die Eichel in eine Eiche umwandeln oder den Kometen zwingen seine Bahn einzuhaltenDas wenige was wir uumlber diese Kraumlfte erforschen koumlnnen muszlig in dem allgemeinen Entwicklungsgang der Voumllker ge- sucht werden und nicht in den einzelnen Tatsachen aus denen sich diese Entwicklung zu ergeben scheint Wuumlrde man nur diese einzelnen Tatsachen in Betracht ziehen so schiene es als sei die Geschichte von ungereimten Zufaumlllen beherrscht Es war unglaubhaft daszlig ein unwissender Zim- mermann aus Galilaumla zweitausend Jahre hindurch zu einem allmaumlchtigen Gott werden konnte in dessen Namen die bedeutendsten Kulturen gegruumlndet wurden unglaubhaft war es auch daszlig einige arabische Horden die ihre Wuumlste ver- lieszligen den groumlszligten Teil der alten griechisch-roumlmischen Welt erobern konnten unglaubhaft war es endlich daszlig in einem sehr gealterten und in Rangordnungen festgelegten Europa ein einfacher Artillerieleutnant es zuwege brachte uumlber eine groszlige Anzahl von Voumllkern und Koumlnigen zu herrschenUumlberlassen wir also die Vernunft den Philosophen aber ver- langen wir nicht von ihr daszlig sie sich allzuviel in die Re- gierung der Menschen einmische Nicht vermoumlge sondern oft trotz der Vernunft bildeten sich Gefuumlhle wie Ehre Ent- sagung religioumlser Glaube Ruhmes- und Vaterlandsliebe die bis heute die groszligen Triebfedern aller Kultur gewesen sind

82 UNMITTELBARE TRIEBKRAumlFTE DER MASSEN-ANSCHAUUNG

3 KAPITEL

Die Fuumlhrer der Massen und ihre Uumlberzeugungsmittel

Die Geistesverfassung der Massen ist uns jetzt bekannt und wir wissen nun auch welche Kraumlfte auf sie wirken Jetzt haben wir zu untersuchen wie diese Kraumlfte angewandt wer- den muumlssen und durch wen sie nutzbringend in Taumltigkeit umgesetzt werden

sect Die Fuumlhrer der Massen

Sobald eine gewisse Anzahl lebender Wesen vereinigt ist einerlei ob eine Herde Tiere oder eine Menschenmenge unterstellen sie sich unwillkuumlrlich einem Oberhaupt d h einem FuumlhrerIn den menschlichen Massen spielt der Fuumlhrer eine hervor- ragende Rolle Sein Wille ist der Kern um den sich die An- schauungen bilden und ausgleichen Die Masse ist eine Herde die sich ohne Hirten nicht zu helfen weiszligSehr oft war der Fuumlhrer zuerst ein Gefuumlhrter der selbst von der Idee hypnotisiert war deren Apostel er spaumlter wurde Sie hat ihn so sehr erfuumlllt daszlig neben ihr alles verschwand und daszlig ihm nun jede gegenteilige Anschauung als Irrtum und Aberglaube erscheint So z B Robespierre der von seinen wunderlichen Ideen so hypnotisiert war daszlig er sich zu ihrer Verbreitung der Mittel der Inquisition bedienteMeistens sind die Fuumlhrer keine Denker sondern Maumlnner der Tat Sie haben wenig Scharfblick und koumlnnten auch nicht anders sein da der Scharfblick im allgemeinen zu Zweifel und Untaumltigkeit fuumlhrt Man findet sie namentlich unter den Nervoumlsen Reizbaren Halbverruumlckten die sich an der Grenze des Irrsinns befinden So abgeschmackt auch die verfochtene Idee oder das verfolgte Ziel sein mag gegen ihre Uumlberzeugung wird alle Logik zunichte Ver- achtung und Verfolgung stoumlrt sie nicht oder erregt sie nur noch mehr Persoumlnliches Interesse Familie alles wird ge-

opfert Sogar der Selbsterhaltungstrieb ist bei ihnen aus- geschaltet und zwar in solchem Maszlige daszlig die einzige Be- lohnung die sie oft anstreben das Martyrium ist Die Staumlrke ihres Glaubens verleiht ihren Worten eine groszlige suggestive Macht Die Menge houmlrt immer auf den Men- schen der uumlber einen starken Willen verfuumlgt Die in der Masse vereinigten Einzelnen verlieren allen Willen und wenden sich instinktiv dem zu der ihn besitztAn Fuumlhrern hat es den Voumllkern nie gefehlt aber sie besit- zen nicht alle die starken Uumlberzeugungen die den Apostel machen Oft sind es geschickte Redner die nur ihre eigenen Interessen verfolgen und durch Schmeicheln niedriger In- stinkte zu uumlberreden suchen Der Einf luszlig den sie aus- uumlben bleibt stets nur aumluszligerlich Die groszligen Uumlberzeugten die die Massenseele erhoben haben wie Peter von Amiens Luther Savonarola die Revolutionsmaumlnner begeisterten erst nachdem sie selbst durch einen Glauben begeistert waren Dann freilich konnten sie in den Seelen jene furcht- bare Macht erzeugen die Glaube heiszligt und den Menschen zum voumllligen Sklaven seines Traumes machtGlauben erwecken sei es religioumlser politischer oder sozialer Glaube Glaube an eine Person oder an eine Idee das ist die besondere Rolle des groszligen Fuumlhrers Von allen Kraumlf- ten die der Menschheit zur Verfuumlgung stehen war der Glaube stets eine der bedeutendsten und mit Recht schreibt ihm das Evangelium die Macht zu Berge zu versetzen Dem Menschen einen Glauben schenken heiszligt seine Kraft verzehnfachen Die groszligen geschichtlichen Ereignisse wur- den oft von unbekannten Glaumlubigen verwirklicht die nichts als ihren Glauben besaszligen Nicht die Gelehrten und Philo- sophen vor allem nicht die Skeptiker haben die groszligen Religionen geschaffen die die Welt und die riesigen Reiche die sich von der einen Erdhaumllfte bis zur andern erstreckten beherrscht habenDoch solche Beispiele passen nur fuumlr die groszligen Fuumlhrer und die sind so selten daszlig die Geschichte ihre Zahl leicht feststellen koumlnnte Sie bilden den Gipfel einer absteigenden

84 DIE FUumlHRER UND IHRE UumlBERZEUGUNGSMITTEL

Reihe von den Fuumlhrernaturen angefangen bis hinunter zum Arbeiter der in einer rauchigen Kneipe seine Genos- sen nach und nach begeistert indem er fortwaumlhrend ein paar kaum verstandene Redensarten wiederholt die nach seiner Meinung alle Traumlume und Hoffnungen verwirk- lichen wuumlrdenIn allen sozialen Schichten von der houmlchsten bis zur nied- rigsten geraumlt der Mensch sobald er nicht mehr allein- steht leicht unter die Herrschaft eines Fuumlhrers Die meisten Menschen besonders in den Massen des Volkes haben von nichts auszligerhalb ihres Berufsfaches eine klare und richtige Vorstellung Sie sind nicht imstande sich selbst zu leiten so dient ihnen der Fuumlhrer als Wegweiser Er kann zur Not aber nur sehr unzureichend durch Zeitungen ersetzt wer- den die ihren Lesern Meinungen anfertigen und Redens- arten bieten welche alles Denken ersparenDie Herrschaft der Fuumlhrer ist aumluszligerst gewaltsam und ver- dankt nur dieser Gewalt ihre Geltung Man kann oft er- leben wie leicht sie sich in unruhigsten Arbeiterschichten Gehorsam verschaffen ohne ein anderes Mittel als ihr Ansehen anzuwenden Sie bestimmen die Zahl der Arbeits- stunden die Lohntarife beschlieszligen die Streiks lassen sie zu einer bestimmten Stunde beginnen und endenHeute haben es die Fuumlhrer darauf abgesehen nach und nach die oumlffentlichen Gewalten zu ersetzen soweit man sie eroumlrtern und schwaumlchen kann Durch ihre Gewaltherrschaft erreichen diese neuen Herren daszlig die Massen ihnen viel leichter folgen als irgendeiner Regierung Verschwindet durch einen Zufall der Fuumlhrer und ist nicht sofort Ersatz da so wird die Masse wieder eine Menge ohne Zusammen- hang und Widerstandskraft Waumlhrend eines Streiks der Pariser Omnibusangestellten genuumlgte die Verhaftung der beiden Anfuumlhrer die ihn leiteten um ihm sofort ein Ende zu bereiten Nicht das Freiheitsbeduumlrfnis sondern der Diensteifer herrscht stets in der Massenseele Ihr Drang zu gehorchen ist so groszlig daszlig sie sich jedem der sich zu ihrem Herrn erklaumlrt instinktiv unterordnen

DIE FUumlHRER DER MASSEN 85

Innerhalb der Klasse der Fuumlhrer laumlszligt sich eine ziemlich scharfe Einteilung vornehmen Zu der einen Art gehoumlren die energischen willensstarken aber nicht ausdauernden Menschen zur andern viel selteneren die Menschen mit einem starken ausdauernden Willen Die ersteren sind heftig tapfer kuumlhn Sie taugen besonders dazu einen Handstreich durchzufuumlhren die Massen trotz der Gefahr mitzureiszligen und die jungen Rekruten in Helden zu ver- wandeln So waren z B im ersten Kaiserreich Ney und Murat So war auch noch zu unserer Zeit Garibaldi ein talentloser aber energischer Abenteurer dem es gelang mit einer Handvoll Menschen sich des ehemaligen Koumlnigreichs Neapel zu bemaumlchtigen obwohl es von einem regelrechten Heer verteidigt wurdeAber wenn die Energie solcher Fuumlhrer auch gewaltig ist so ist sie doch nur voruumlbergehend und uumlberdauert kaum den Aufschwung den sie erzeugten Sind die Helden in den Strom des gewoumlhnlichen Lebens zuruumlckgetaucht so geben sie die fruumlher so feurig waren Beweise von er- staunlicher Schwaumlche Sie scheinen unfaumlhig zum Nach- denken und koumlnnen sich in den einfachsten Verhaumlltnissen nicht zurechtfinden nachdem sie doch vorher die andern so gut zu leiten verstanden Diese Fuumlhrer koumlnnen ihre Aufgabe nur dann erfuumlllen wenn sie selbst unausgesetzt gefuumlhrt und angetrieben werden stets einen Menschen oder eine Idee uumlber sich fuumlhlen und genauen Verhaltungsregeln folgen muumlssenDie zweite Fuumlhrerklasse die der Menschen mit ausdauern- dem Willen uumlbt trotz ihres weniger glaumlnzenden Auftretens einen viel bedeutenderen Einfluszlig aus Zu ihnen gehoumlren die wahren Begruumlnder von Religionen oder groszligen Wer- ken Paulus Mohammed Kolumbus Lesseps Moumlgen sie intelligent beschraumlnkt oder unbedeutend sein stets wird die Welt fuumlr sie eintreten Der beharrliche Wille den sie besitzen ist eine unendlich seltene und unendlich maumlchtige Eigenschaft die sich alles unterwirft Man ist sich nicht immer klar genug daruumlber was ein starker und stetiger

86 DIE FUumlHRER UND IHRE UumlBERZEUGUNGSMITTEL

Wille vermag Nichts widersteht ihm weder die Natur noch die Goumltter noch die MenschenDas juumlngste Beispiel hat uns der beruumlhmte Ingenieur ge- geben der zwei Erdteile voneinander trennte und den Versuch durchfuumlhrte den dreitausend Jahre hindurch die groumlszligten Herrscher vergeblich unternommen hatten Er scheiterte spaumlter an einem gleichartigen Unternehmen aber dann war er alt und im Alter erlischt alles auch der WilleUm die Macht des Willens zu beweisen braucht man nur die Geschichte der Schwierigkeiten die bei dem Durch- stich des Suezkanals zu uumlberwinden waren mit allen Ein- zelheiten zu erzaumlhlen Ein Augenzeuge Doktor Cazalis hat die Ausfuumlhrung dieses Riesenwerkes in einige ergrei- fende Zeilen zusammengefaszligt wie sie dessen unsterblicher Urheber schilderte bdquoEr erzaumlhlte Tag fuumlr Tag in einzelnen Abschnitten das Gedicht vom Kanal Er erzaumlhlte von allem was er zu uumlberwinden hatte von allem Unmoumlg- lichen das er moumlglich gemacht hatte von allen Wider- staumlnden den Buumlndnissen gegen ihn den Bitterkeiten Un- faumlllen Schlappen die ihn aber nie entmutigen und lahmen konnten er dachte an England das ihn bekaumlmpfte ihn unablaumlssig angriff erinnerte an Aumlgypten und Frankreich die zoumlgerten an den franzoumlsischen Konsul der sich mehr als die andern den ersten Arbeiten widersetzte und wie man sich ihm entgegenstellte indem man die Arbeiter durch den Durst zu beeinflussen suchte und ihnen das Trinkwasser verweigerte dann sprach er vom Marine- ministerium und von den Ingenieuren von all den ernsten erfahrenen Kennern ihrer Wissenschaft die naturgemaumlszlig alle feindlich gesinnt und theoretisch von dem Fehlschlag uumlberzeugt waren den sie berechneten und in Aussicht stell- ten wie man eine Sonnenfinsternis fuumlr einen bestimmten Tag oder eine bestimmte Stunde voraussagtldquo Das Buch in dem das Leben all dieser groszligen Fuumlhrer zu schildern waumlre wuumlrde nicht viele Namen enthalten aber diese Na- men standen an der Spitze der wichtigsten Ereignisse der Kultur und Geschichte

DIE FUumlHRER DER MASSEN 87

sect 2 Die Wirkungsmittel der Fuumlhrer Behauptung Wiederholung Uumlbertragung

Wenn es sich darum handelt eine Masse fuumlr den Augen- blick mitzureiszligen und sie zu bestimmen irgend etwas zu tun etwa einen Palast zu pluumlndern sich bei der Verteidi- gung eines befestigten Platzes oder einer Barrikade toumlten zu lassen so muszlig man durch raschen Einfluszlig auf sie wir- ken Der erfolgreichste ist das Beispiel Doch ist dann not- wendig daszlig die Masse schon durch gewisse Umstaumlnde vorbereitet ist und besonders daszlig der der sie mitreiszligen will die Eigenschaft besitzt die ich spaumlter als Einf luszlig untersuchen werdeHandelt es sich jedoch darum der Massenseele Ideen und Glaubenssaumltze langsam einzufloumlszligen z B die modernen so- zialen Lehren so wenden die Fuumlhrer verschiedene Verfah- ren an Sie benutzen hauptsaumlchlich drei bestimmte Arten die Behauptung die Wiederholung und die Uumlbertragung oder Ansteckung (contagion) Ihre Wirkung ist ziemlich langsam aber ihre Erfolge sind von DauerDie reine einfache Behauptung ohne Begruumlndung und jeden Beweis ist ein sichres Mittel um der Massenseele eine Idee einzufloumlszligen Je bestimmter eine Behauptung je freier sie von Beweisen und Belegen ist desto mehr Ehrfurcht erweckt sie Die religioumlsen Schriften und die Gesetzbuumlcher aller Zeiten haben sich stets einfacher Behauptungen be- dient Die Staatsmaumlnner die zur Durchfuumlhrung einer poli- tischen Angelegenheit berufen sind die Industriellen die ihre Erzeugnisse durch Anzeigen verbreiten kennen den Wert der BehauptungDie Behauptung hat aber nur dann wirklichen Einf luszlig wenn sie staumlndig wiederholt wird und zwar moumlglichst mit denselben Ausdruumlcken Napoleon sagte es gaumlbe nur eine einzige ernsthafte Redefigur die Wiederholung Das Wie- derholte befestigt sich so sehr in den Koumlpfen daszlig es schlieszliglich als eine bewiesene Wahrheit angenommen wirdMan versteht den Einfluszlig der Wiederholung auf die Mas-

sen gut wenn man sieht welche Macht sie uumlber die auf- geklaumlrtesten Koumlpfe hat Das Wiederholte setzt sich schlieszlig- lich in den tiefen Bereichen des Unbewuszligten fest in denen die Ursachen unserer Handlungen verarbeitet werden Nach einiger Zeit wenn wir vergessen haben wer der Urheber der wiederholten Behauptung ist glauben wir schlieszliglich daran Daher die erstaunliche Wirkung der An- zeige Haben wir hundertmal gelesen die beste Schokolade sei die Schokolade X so bilden wir uns ein wir haumltten es haumlufig gehoumlrt und glauben schlieszliglich es sei wirklich so Tausend schriftliche Zeugnisse uumlberreden uns so sehr zu glauben das Y-Pulver habe die bedeutendsten Persoumlnlich- keiten von den hartnaumlckigsten Krankheiten geheilt daszlig wir uns am Ende wenn wir selbst an einem derartigen Uumlbel erkranken versucht fuumlhlen es zu probieren Lesen wir taumlglich in derselben Zeitung A sei ein ausgemachter Schuft und B ein Ehrenmann so werden wir schlieszliglich davon uumlberzeugt vorausgesetzt allerdings daszlig wir nicht zu oft in einem andern Blatt die entgegengesetzte Meinung lesen die die Eigenschaften der beiden miteinander ver- tauscht Behauptung und Wiederholung allein sind maumlchtig genug um einander bekaumlmpfen zu koumlnnenWenn eine Behauptung oft genug und einstimmig wieder- holt wurde wie das bei gewissen Finanzunternehmungen der Fall ist die jede Konkurrenz aufkaufen so bildet sich das was man eine geistige Stroumlmung (courant drsquoopinion) nennt und der maumlchtige Mechanismus der Ansteckung kommt dazu Unter den Massen uumlbertragen sich Ideen Gefuumlhle Erregungen Glaubenslehren mit ebenso starker Ansteckungskraft wie Mikroben Diese Erscheinung beob- achtet man auch bei Tieren wenn sie in Scharen zusammen sind Das Krippenbeiszligen eines Pferdes im Stall wird bald von den andern Pferden desselben Stalles nachgeahmt Ein Schreck die wirre Bewegung einiger Schafe greift bald auf die ganze Herde uumlber Die Uumlbertragung der Gefuumlhle er- klaumlrt die ploumltzlichen Paniken Gehirnstoumlrungen wie der Wahnsinn verbreiten sich gleichfalls durch Uumlbertragung

BEHAUPTUNG WIEDERHOLUNG UumlBERTRAGUNG 89

Es ist bekannt wie haumlufig der Irrsinn bei Psychiatern auf- tritt Man berichtet sogar von Geisteskrankheiten z B der Platzangst die vom Menschen auf Tiere uumlbertragen werdenDie Uumlbertragung erfordert nicht die gleichzeitige Anwesen- heit der Individuen an demselben Ort sie kann auch aus der Entfernung unter dem Eindruck gewisser Ereignisse erfolgen die alle Geister in dieselbe Richtung lenken und ihnen die besonderen Merkmale der Masse verleihen be- sonders wenn sie durch die fruumlher erwaumlhnten mittelbaren Faktoren vorbereitet sind So hat z B der Revolutions- ausbruch von 848 der von Paris ausging in jaumlher Weise auf einen groszligen Teil Europas uumlbergegriffen und mehrere Monarchien erschuumlttert Die Nachahmung der man so groszligen Einf luszlig auf die sozialen Erscheinungen zugeschrieben hat ist in Wahrheit nur eine einfache Wirkung der Uumlbertragung Da ich ihre Rolle an anderer Steile bereits beschrieben habe so be- schraumlnke ich mich auf die Wiederholung dessen was ich vor vielen Jahren daruumlber sagte und was seitdem von andern Autoren ausgefuumlhrt wurde

bdquoWie die Tiere ist der Mensch von Natur ein nachahmen- des Wesen Nachahmung ist ihm Beduumlrfnis doch wohlge- merkt nur unter der Bedingung daszlig sie leicht ist aus diesem Beduumlrfnis wird die Macht der Mode geboren Mag es sich nun um Meinungen Ideen literarische Aumluszligerungen oder einfach um die Kleidung handeln wie viele wagen es sich ihrer Herrschaft zu entziehen Nicht mit Beweis- gruumlnden sondern durch Vorbilder leitet man die Massen Jedem Zeitalter druumlckt eine kleine Anzahl von einzelnen ihr Siegel auf das die Masse unbewuszligt nachahmt Aber diese einzelnen duumlrfen sich nicht allzu weit von den uumlber- kommenen Ideen entfernen Die Nachahmung wuumlrde dann zu schwierig und ihr Einfluszlig waumlre gleich Null Deshalb

Siehe meine letzten Arbeiten bdquoPolitische Psychologieldquo bdquoMeinungen und An- schauungenldquo bdquoDie Franzoumlsische Revolution und die Psychologie der Revo- lunonenldquo

90 DIE FUumlHRER UND IHRE UumlBERZEUGUNGSMITTEL

haben die Menschen die ihrer Zeit zu sehr uumlberlegen sind keinerlei Einf luszlig Der Abstand ist zu groszlig Aus dem- selben Grunde haben die Europaumler trotz aller Vorzuumlge ihrer Kultur einen so unbedeutenden Einf luszlig auf die Voumllker des OrientsldquobdquoDie vereinigte Wirkung von Vergangenheit und gegen- seitiger Nachahmung macht alle Menschen desselben Landes und desselben Zeitalters schlieszliglich so aumlhnlich daszlig selbst bei denen deren besondere Pflicht es doch waumlre sich ihr zu entziehen bei Philosophen Gelehrten Schriftstellern Gedanken und Stil eine Familienaumlhnlichkeit zeigen die sofort die Zeit der sie angehoumlren erkennen laumlszligt Eine kurze Unterhaltung mit irgendeinem Menschen genuumlgt um seinen Lesestoff seine regelmaumlszligige Beschaumlftigung und die Umgebung in der er lebt von Grund auf erkennen zu lassen ldquoDie Ansteckung ist stark genug den Menschen nicht nur gewisse Meinungen sondern auch bestimmte Arten des Fuumlhlens aufzuzwingen Sie bewirkt die Miszligachtung von Werken wie z B der Oper bdquoTannhaumluserldquo und macht einige Jahre spaumlter aus ihren aumlrgsten Verleumdern Be- wundererUumlberzeugung und Glaube der Massen verbreiten sich nur durch den Vorgang der Uumlbertragung niemals mit Hilfe von Vernunftgruumlnden Im Wirtshause befestigen sich durch Behauptung Wiederholung und Uumlbertragung die heutigen Begriffe der Arbeiter und der Glaube der Masse ist zu allen Zeiten ebenso geschaffen worden Treffend vergleicht Renan die Begruumlnder des Christentums mit den bdquosozialisti- schen Arbeitern die ihre Ideen von Wirtshaus zu Wirts- haus verbreitenldquo Und schon Voltaire hat in bezug auf die christliche Religion festgestellt bdquomehr als hundert Jahre habe ihr nur der gemeinste Poumlbel angehangenldquoIn Beispielen analog den angefuumlhrten geht die Uumlber- tragung wenn sie sich in den Volksschichten ausgewirkt hat in die houmlheren Gesellschaftsschichten uumlber Heutzutage Gustave le Bon Der Mensch und die Gesellschaften 88 Bd 2 S 6

BEHAUPTUNG WIEDERHOLUNG UumlBERTRAGUNG 91

sehen wir daszlig die sozialistischen Lehren anfangen auch die zu ergreifen die vermutlich ihre ersten Opfer sein werden Vor der mechanischen Ansteckung tritt sogar der persoumlnliche Vorteil zuruumlckDaher zwingt sich jede volkstuumlmlich gewordene Anschau- ung schlieszliglich immer auch den houmlchsten sozialen Schichten auf so offensichtlich auch die Unsinnigkeit der siegreichen Anschauung sein mag Diese Wirkung der unteren sozialen Schichten auf die Oberklassen ist um so merkwuumlrdiger als die Glaubensanschauungen der Masse mehr oder weniger immer von einer houmlheren Idee herruumlhren die in der Um- gebung in der sie geboren wurde haumlufig ohne Wirkung blieb Die Fuumlhrer die von dieser houmlheren Idee ergriffen wurden bemaumlchtigen sich ihrer entstellen sie und gruumlnden eine Sekte die sie aufs neue entstellt und so entstellt unter den Massen verbreitet Ist sie einmal eine volkstuumlmliche Wahrheit geworden so geht sie auf irgendeine Weise zu ihrer Quelle zuruumlck und wirkt dann auf die Oberklassen eines Volkes Wohl fuumlhrt letzten Endes die Intelligenz die Welt aber sie fuumlhrt sie wahrlich von weitem Die Schoumlpfer der Ideen sind laumlngst wieder zu Staub geworden wenn als Ergebnis der Vorgaumlnge die ich beschrieben habe ihr Gedanke schlieszliglich triumphiert

sect 3 Der Nimbus (Le prestige)

Eine groszlige Macht verleiht den Ideen die durch Behaup- tung Wiederholung und Uumlbertragung verbreitet wurden zuletzt jene geheimnisvolle Gewalt die Nimbus heiszligtAlles was in der Welt geherrscht hat Ideen oder Men- schen hat sich hauptsaumlchlich durch die unwiderstehliche Kraft die sich Nimbus nennt durchgesetzt Wohl erfassen wir alle die Bedeutung des Ausdrucks Nimbus (prestige) aber man wendet ihn in so mannigfacher Weise an daszlig er nicht ganz leicht zu umschreiben waumlre Der Nimbus ver- traumlgt sich mit gewissen Gefuumlhlen wie Bewunderung oder Furcht er beruht sogar auf ihnen kann aber sehr wohl

92 DIE FUumlHRER UND IHRE UumlBERZEUGUNGSMITTEL

ohne sie bestehen Am meisten Nimbus haben die Totenalso Wesen die wir nicht fuumlrchten wie Alexander Caumlsar Mohammed Buddha Andrerseits erscheinen Wesen oder Gebilde die wir nicht bewundern z B die scheuszliglichen Gottheiten der unterirdischen Tempel Indiens mit starkem Nimbus bekleidetDer Nimbus ist in Wahrheit eine Art Zauber den eine Persoumlnlichkeit ein Werk oder eine Idee auf uns ausuumlbt Diese Bezauberung lahmt alle unsre kritischen Faumlhigkeiten und erfuumlllt unsre Seelen mit Staunen und Ehrfurcht Die Gefuumlhle die so hervorgerufen werden sind unerklaumlrlich wie alle Gefuumlhle aber wahrscheinlich von derselben Art wie die Suggestion der ein Hypnotisierter unterliegt Der Nimbus ist der maumlchtige Quell aller Herrschaft Goumltter Koumlnige und Frauen haumltten ohne ihn niemals herrschen koumlnnenMan kann die verschiedenen Arten des Nimbus auf zwei Grundformen zuruumlckfuumlhren auf den erworbenen und den persoumlnlichen Nimbus Als erworbenen Nimbus bezeichnet man den durch Namen Reichtum und Ansehen entstan- denen Nimbus Er kann vom persoumlnlichen Nimbus unab- haumlngig sein Der persoumlnliche Nimbus ist dagegen etwas Individuelles und kann mit Ansehen Ruhm und Reichtum zusammen bestehen oder durch sie verstaumlrkt werden aber auch sehr wohl unabhaumlngig davon vorhanden seinDer e r w o r b e n e oder kuumlnstliche Nimbus ist am wei- testen verbreitet Die bloszlige Tatsache daszlig jemand eine ge- wisse Stellung einnimmt ein gewisses Vermoumlgen besitzt gewisse Titel hat bildet einen Glorienschein des Einflusses so gering auch sein persoumlnlicher Wert sein mag Ein Soldat in Uniform ein Beamter in der roten Robe haben immer einen Nimbus Pascal hat die Notwendigkeit von Talar und Peruumlcke fuumlr die Richter treffend erklaumlrt ohne sie wuumlrden sie einen groszligen Teil ihrer Macht einbuumlszligen Der grimmigste Sozialist wird durch den Anblick eines Fuumlrsten oder Grafen bewegt und um einen Kaufmann nach Be-

DER NIMBUS 93

lieben zu beschwindeln genuumlgt es einen solchen Titel an- zunehmen Der Nimbus von dem ich eben sprach geht von Personen aus man kann ihm den Nimbus zur Seite stellen den Anschauungen Werke der Literatur oder Kunst usw aus- uumlben Er beruht nur auf angehaumlufter Wiederholung Da die Geschichte die Literatur- und Kunstgeschichte nur die Wiederholung derselben Urteile ist die niemand nachzu- pruumlfen versucht so wiederholt schlieszliglich jeder das was er in der Schule gelernt hat Es gibt gewisse Namen und Dinge an die niemand zu ruumlhren wagt In einem mo- dernen Leser erzeugen die Homerischen Epen unstreitig eine unermeszligliche Langeweile aber wer wagt es das zu sagen Das Parthenon ist in seinem gegenwaumlrtigen Zu- stande eine ziemlich uninteressante Ruine aber es hat solchen Nimbus daszlig man es nur noch mit seinem ganzen Anhang historischer Erinnerungen betrachten kann Es ist die Eigentuumlmlichkeit des Nimbus daszlig er verhindert die Dinge so zu sehen wie sie sind und daszlig er alle unsre Urteile lahmt Die Massen verlangen stets die einzelnen meist nach fertigen Anschauungen Der Erfolg dieser An- schauungen ist unabhaumlngig von der Wahrheit oder dem Irrtum den sie enthalten er beruht einzig und allein auf ihrem Nimbus

Man findet diesen Einfluszlig der Titel Ordensbaumlnder und Uniformen auf die Massen in allen Laumlndern selbst dort wo das Gefuumlhl persoumlnlicher Unab- haumlngigkeit zur staumlrksten Entfaltung kam Um das zu beleuchten fuumlhre ich hier eine interessante Stelle aus dem neuen Buch eines Reisenden an die von dem Einfluszlig gewisser Persoumlnlichkeiten in England handelt bdquoBei verschiedenen Begegnungen konnte ich mich von dem Rausch uumlberzeugen in den die Be- ruumlhrung mit einem Peer von England oder sein Anblick die vernuumlnftigsten Englaumlnder versetztldquo

bdquoVorausgesetzt daszlig sein Aufwind seinem Range entspricht lieben sie ihn von vornherein und ertragen in seiner Gegenwart alles von ihm mit Entzuumlk- ken Man sieht sie vor Vergnuumlgen erroumlten wenn er sich ihnen naumlhert und wenn er mit ihnen spricht so erhoumlht die Freude die sie daruumlber empfinden diese Roumlte und verleiht ihren Augen einen ungewoumlhnlichen Glanz Sie haben den Lord im Blute koumlnnte man sagen wie der Spanier den Tanz der Deutsche die Musik und der Franzose die Revolution Ihre Leidenschaft fuumlr Pferde und fuumlr Shakespeare ist weniger heftig die Befriedigung und der Stolz darauf weniger tief Das Peersbuch hat groszligen Absatz und man findet es wie die Bibel in allen Haumlndenldquo

94 DIE FUumlHRER UND IHRE UumlBERZEUGUNGSMITTEL

Ich komme nun zum p er s oumln l ic hen Nimbus Er ist von ganz andrer Beschaffenheit als der kuumlnstliche oder erwor- bene Er ist unabhaumlngig von allen Titeln allem Ansehen Die wenigen Menschen die ihn besitzen uumlben einen wahr- haft magnetischen Zauber auf ihre Umgebung aus auch auf sozial Gleichgestellte und man gehorcht ihnen wie die wilde Bestie dem Baumlndiger gehorcht den sie so leicht verschlingen koumlnnteDie groszligen Fuumlhrer der Massen wie Buddha Jesus Mo- hammed Jeanne drsquoArc Napoleon besaszligen diese Art des Einflusses in hohem Maszlige und haben sich besonders durch ihn Geltung verschafft Goumltter Helden und Glaubens- lehren setzen sie durch ohne Eroumlrterung zu dulden sobald sie darauf eingehen untergraben sie sich selbstDie groszligen Persoumlnlichkeiten die ich anfuumlhrte besaszligen ihre bezaubernde Macht schon ehe sie beruumlhmt waren und waumlren ohne sie nicht beruumlhmt geworden Es ist z B klar daszlig Napoleon auf dem Gipfel seines Ruhms allein durch seine Macht einen ungeheuren Einfluszlig hatte aber er besaszlig ihn zum Teil schon in der Anfangszeit seiner Laufbahn als er noch keine Macht hatte und voumlllig unbekannt war Als er noch ein unbekannter General durch Fuumlrsprache zum Befehlshaber des italienischen Heeres ernannt worden war trat er unter rauhe Generale die dem jungen vom Direktorium ihnen aufgezwungenen Eindringling einen ab- schreckenden Empfang bereiten wollten Aber von der ersten Minute vom ersten Zusammentreffen an ohne Re- densarten Gesten Drohungen beim ersten Anblick des kuumlnftigen groszligen Mannes waren sie zahm Taine gibt uns nach zeitgenoumlssischen Erinnerungen einen interessanten Be- richt uumlber diese Zusammenkunft

bdquoDie Divisionsgeneraumlle unter anderen Augereau ein tap- ferer grober Haudegen der stolz war auf seine groszlige Figur und seine Tapferkeit kommen voreingenommen gegen den kleinen Emporkoumlmmling den man ihnen aus Paris sendet ins Hauptlager Durch die Beschreibung die man ihnen von ihm gegeben hat ist Augereau in feind-

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seliger Stimmung von vornherein widerspenstig ein Guumlnst- ling von Barras ein General des Vendeacutemiaire ein Straszligen- general den man fuumlr einen eingesponnenen Brummbaumlren haumllt weil er immer nur nachdenkt er soll ein kleines Gesicht haben und steht in dem Ruf ein Mathematiker und Traumlumer zu sein Sie werden empfangen und Bona- parte laumlszligt auf sich warten Endlich erscheint er den Degen umgeschnallt bedeckt sich setzt seine Plaumlne auseinander gibt Ihnen seine Befehle und verabschiedet sie Augereau ist stumm geblieben erst drauszligen faszligt er sich und findet seine gewoumlhnlichen Fluumlche wieder er und Massena sind sich daruumlber einig dieser kleine Teufelskerl von General hat ihm Furcht eingefloumlszligt er kann sich den Einfluszlig nicht erklaumlren von dem er sich durch den ersten Blick uumlberwaumlltigt fuumlhlteldquoAls Napoleon ein groszliger Mann geworden war wuchs sein Einfluszlig mit seinem Ruhm und glich dem Einfluszlig den eine Gottheit auf ihre Anbeter hat General Vandamme ein revolutionaumlrer Haudegen noch brutaler und energischer als Augereau sagte eines Tages 85 als sie zusammen die Tuilerientreppe hinaufstiegen zu Marschall drsquoOrnanobdquoMein Lieber dieser Teufelskerl uumlbt auf mich einen Zau- ber aus den ich nicht begreife Das geht so weit daszlig ich der weder Gott noch Teufel fuumlrchtet in seiner Naumlhe fast wie ein Kind zu zittern beginne und er koumlnnte mich dazu bringen durch ein Nadeloumlhr ins Feuer zu gehenldquoDen gleichen Zauber uumlbte Napoleon auf alle aus die sich ihm naumlherten Der Kaiser kannte seine Wirkung wohl und wuszligte sie noch zu vermehren indem er die groszligen Persoumlnlichkeiten seiner Umgebung zu denen mehrere jener beruumlhmten Konventsmitglieder gehoumlrten die Europa so sehr gefuumlrchtet hatte etwas schlechter als Stallknechte behandelte Die zeitgenoumlssischen Be- richte sind voll von derartigen bezeichnenden Tatsachen Eines Tages fuhr Napoleon im versammelten Staatsrat Beugnot den er wie einen ungeschickten Diener behandelte grob an bdquoNun Sie groszliger Dummkopf haben Sie Ihren Kopf wiedergefundenldquo Darauf verbeugte sich Beugnot der wie ein Regiments- tambour gewachsen war sehr tief und der kleine Mann hebt die Hand und nimmt den groszligen beim Ohr wie Beugnoc schreibt bdquoein Zeichen berauschender Gunst eine vertrauliche Gebaumlrde des leutselig redenden Herrnldquo Solche Bei- spiele geben einen klaren Begriff von dem Grad der Plattheit den Nimbus hervorrufen kann sie machen die ungeheure Verachtung des groszligen Despoten fuumlr die Menschen seiner Umgebung begreiflich

96 DIE FUumlHRER UND IHRE UumlBERZEUGUNGSMITTEL

Davoust sagte als er von Marets und seiner Ergebenheit sprach bdquoWenn der Kaiser uns beiden sagte Die Inter- essen meiner Politik erfordern die Zerstoumlrung von Paris ohne daszlig es jemand erfaumlhrt und die Stadt verlaumlszligt so wuumlrde Maumlret dessen bin ich sicher das Geheimnis wahren er wuumlrde sich aber nicht enthalten koumlnnen es so weit zu verletzen daszlig er seine Familie veranlaszligte die Stadt zu verlassen Ich aber wuumlrde aus Furcht etwas zu verraten mein Weib und meine Kinder darin lassenldquoAn diese erstaunliche Macht der Bezauberung muszlig man denken will man die wunderbare Ruumlckkehr von der Insel Elba begreifen die schnelle Eroberung Frankreichs durch einen alleinstehenden Mann der gegen alle organisierten Kraumlfte eines groszligen Landes zu kaumlmpfen hatte von dem man annehmen muszligte daszlig es seiner Tyrannei muumlde war Er brauchte die ausgesandten Generale die geschworen hatten ihn gefangenzunehmen nur anzublicken Alle unterwarfen sich ihm ohne Widerstand

bdquoNapoleon landet fast allein und als Fluumlchtling der kleinen Insel Elba die sein Koumlnigreich war in Frankreichldquo schreibt General Wolseley bdquound bringt es zuwege in weni- gen Wochen ohne Blutvergieszligen die gesamte Machtorgani- sation Frankreichs unter seinem legitimen Koumlnig umzu- stoszligen hat die persoumlnliche Macht eines Menschen sich je bewunderungswuumlrdiger bekundet Wie erstaunlich ist aber die Macht die er von Anfang bis Ende dieses Feldzuges seines letzten auch uumlber die Verbuumlndeten ausuumlbte indem er sie zwang seine Entschluumlsse anzunehmen und es fehlte nicht viel so haumltte er sie zerschmettertldquoSein Nimbus uumlberlebte ihn und wuchs weiter Er machte seinen unbekannten Neffen zum Kaiser Angesichts der heutigen Erneuerung seiner Legende sieht man wie maumlchtig dieser groszlige Schatten noch ist Miszlighandelt die Menschen schlachtet sie zu Millionen ab fuumlhrt einen feindlichen Ein- bruch nach dem andern herbei alles ist euch gestattet wenn ihr genuumlgend Nimbus besitzt und das Talent ihn aufrechtzuerhalten

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Gewiszlig habe ich hier ein ganz besonderes Ausnahmebeispielherangezogen aber es war geeignet die Entwicklung der groszligen Religionen Lehren und Reiche verstaumlndlich zu machen Ohne die Macht welche der Nimbus auf die Masse ausuumlbt wuumlrde diese Entwicklung unbegreiflich seinAber der Nimbus gruumlndet sich nicht allein auf das per- soumlnliche Ansehen den militaumlrischen Ruhm und die reli- gioumlse Angst er kann auch einen unbedeutenderen Ursprung haben und doch noch betraumlchtlich sein Das neunzehnte Jahrhundert bietet uns mehrere Beispiels dafuumlr Das eine woran die Nachwelt von Zeit zu Zeit erinnert wird ist in der Geschichte des beruumlhmten Mannes gegeben der das Antlitz der Erde und die Handelsbeziehungen der Voumllker aumlnderte indem er zwei Erdteile voneinander trennte Sein Unternehmen gelang ihm durch seinen ungeheuren Willen aber auch durch den Zauber den er auf seine ganze Um- gebung ausuumlbte Um die einstimmige Gegnerschaft die er vorfand zu besiegen brauchte er sich nur zu zeigen einen Augenblick zu sprechen und die Gegner wurden durch den Zauber der von ihm ausging seine Freunde Die Eng- laumlnder bekaumlmpften sein Vorhaben besonders wuumltend er brauchte nur in England zu erscheinen um alle Stimmen fuumlr sich zu gewinnen Als er spaumlter durch Southampton kam laumluteten die Glocken waumlhrend seiner Durchreise Als er alles besiegt hatte Menschen und Dinge glaubte er nicht mehr an Hindernisse und wollte in Panama mit denselben Mitteln Suez wiederholen Aber der Glaube der Berge versetzt versetzt sie nur wenn sie nicht zu hoch sind Die Berge widerstanden und die daraus folgende Katastrophe zerstoumlrte die leuchtende Ruhmesglorie die den Helden um- gab Sein Leben lehrt wie der Einfluszlig wachsen und ver- gehen kann Nachdem er den groumlszligten Helden der Ge- schichte gleichgekommen wurde er von der Obrigkeit sei- nes Landes zum gemeinen Verbrecher gestempelt Nach seinem Tode wurde sein Sarg einsam durch gleichguumlltige

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Massen getragen Nur die Herrscher des Auslandes lieszligen seinem Andenken Ehre widerfahren Jedoch die verschiedenen Beispiele die angefuumlhrt wurden stellen nur Grenzfaumllle dar Zur genauen Begruumlndung der Psychologie des Nimbus muumlszligten sie an das Ende einer Reihe gestellt werden die von den Begruumlndern der Reli- gionen und Staaten bis zum Kleinbuumlrger reicht der durch einen neuen Anzug oder eine Auszeichnung auf seine Nachbarn Eindruck zu machen suchtZwischen den aumluszligersten Gliedern dieser Reihe liegen alle Arten des Nimbus auf den verschiedenen Kulturgebieten der Wissenschaft der Kuumlnste der Literatur usw und es zeigt sich daszlig er den Grundstoff der Uumlberzeugung bildet Das Wesen die Idee oder die Sache von denen der Nimbus ausgeht werden infolge ihrer ansteckenden

Ein auslaumlndisches Blatt die Wiener bdquoNeue Freie Presseldquo hat gelegentlich des Schicksals von Lesseps sehr scharfsinnige psychologische Bemerkungen ge- macht die daher hier mitgeteilt seien

bdquoNach der Verurteilung Ferdinands von Lesseps hat man kein Recht mehr sich uumlber das traurige Ende von Christoph Columbus zu wundern Ist Lesseps ein Gauner dann ist jede edle Taumluschung ein Verbrechen Das Altertum haumltte das Andenken von Lesseps mit einer Ruhmesglorie bekraumlnzt und ihn im Olymp den Nektarbecher leeren lassen denn er hat das Antlitz der Erde veraumlndert und Werke ausgefuumlhrt die die Schoumlpfung vervollkommnen Durch die Ver- urteilung von Lesseps hat sich der Praumlsident des Appellationsgerichtes un- sterblich gemacht denn stets werden die Voumllker den Namen des Mannes ver- langen der nicht fuumlrchtete sein Jahrhundert dadurch zu erniedrigen einen Greis mit Straumlflingsjacke zu bekleiden dessen Leben der Ruhm seiner Zeit- genossen warldquo bdquoMan rede uns hinfort nicht von unbeugsamer Gerechtigkeit dort wo buumlrokratischer Haszlig gegen alle kuumlhnen groszligen Unternehmungen herrscht Die Voumllker beduumlrfen der wagemutigen Maumlnner die an sich selbst glauben und ohne Ruumlcksicht auf ihr eigenes Ich alle Hindernisse bewaumlltigen Das Genie kann nicht vorsichtig sein mit Vorsicht konnte es den Kreis menschlicher Betaumltigung nie erweitern

hellip Ferdinand von Lesseps hat den Rausch des Triumphs und die Bitterkeit der Enttaumluschungen gekannt Suez und Panama Hier empoumlrt sich das Gemuumlt gegen die Moral des Erfolges Als es Lesseps gelang zwei Meere zu ver- binden da erwiesen ihm Fuumlrsten und Voumllker Ehre heute da er an den Felsen der Cordilleren Schiffbruch leidet ist er ein gemeiner Gauner Es ist der Krieg der Gesellschaftsklassen die Unzufriedenheit der Buumlrokraten und Be- amten die sich mittels des Strafgesetzes an denen raumlchen die sich uumlber die andern erheben moumlchten Die modernen Gesetzgeber sind in Verlegenheit an- gesichts dieser gewaltigen Ideen des Menschengeistes das Publikum versteht davon noch weniger und es faumlllt einem Staatsanwalt leicht zu beweisen daszlig Stanley ein Meuchelmoumlrder und Lesseps ein Betruumlger seildquo

99DER NIMBUS

Wirkung sofort nachgeahmt und bestimmen fuumlr ein ganzes Menschenalter die Art des Fuumlhlens und die Form des Gedankenausdrucks Uumlberdies geschieht die Nachahmung meistens unbewuszligt und das macht sie vollkommen Die modernen Maler welche die verwischten Farben und die starre Haltung gewisser Primitiver erneuern haben keine Ahnung von der Quelle ihrer Begeisterung sie glauben so sehr an ihre Urspruumlnglichkeit daszlig man an ihnen auch weiterhin nur die naiven und unfertigen Seiten bemerkt haben wuumlrde wenn nicht ein hervorragender Meister diese Kunstform wiedererweckt haumltte Die welche nach dem Muster eines beruumlhmten Neuerers ihre Leinwand mit vio- letten Schatten bedecken sehen in der Natur nicht mehr Violett als man vor fuumlnfzig Jahren sah aber sie unter- liegen dem besonderen persoumlnlichen Eindruck eines Malers der einen groszligen Nimbus zu erlangen wuszligte Aus allen Gebieten der Kunst lassen sich leicht derartige Beispiele anfuumlhrenMan ersieht aus dem Vorhergehenden daszlig an der Ent- stehung des Nimbus zahlreiche Faktoren beteiligt sein koumln- nen Einer der bedeutendsten war stets der Erfolg Jeder Mensch der Erfolg hat jede Idee die sich durchsetzt wird damit schon anerkanntDer Nimbus verschwindet immer im Augenblick des Miszlig- erfolges Der Held dem die Masse gestern zujubelte wird morgen von ihr angespien wenn das Schicksal ihn schlug Je groumlszliger der Nimbus um so heftiger der Ruumlckschlag Die Masse betrachtet dann den gefallenen Helden als ihres- gleichen und raumlcht sich dafuumlr daszlig sie sich einer Uumlberlegen- heit gebeugt hat die sie nicht mehr anerkennt Als Robespierre seinen Kollegen und einer ganzen Anzahl sei- ner Zeitgenossen den Hals abschneiden lieszlig besaszlig er einen ungeheuren Nimbus Die Verschiebung weniger Stimmen be- raubte ihn augenblicklich dieses Nimbus und die Masse folgte ihm mit ebenso vielen Verwuumlnschungen zur Guillotine wie am Tage zuvor seinen Opfern Die Glaumlubigen zertruumlmmerten stets voll Wut die Bildwerke ihrer fruumlheren Goumltter

100 DIE FUumlHRER UND IHRE UumlBERZEUGUNGSMITTEL

Durch Miszligerfolg aufgehoben ist der Nimbus schnell ver- loren Er kann sich auch abnutzen indem man ihn dis- kutiert das geht langsamer aber sicher Der diskutierte Nimbus ist kein Nimbus mehr Die Goumltter und Menschen die ihren Nimbus lange zu bewahren wuszligten haben Er- oumlrterungen nie geduldet Wer von den Massen bewundert sein will muszlig sie stets in Abstand halten

4 KAPITEL

Grenzen der Veraumlnderlichkeit der Grundanschauungen und Meinungen der Massen

sect Die unveraumlnderlichen Grundanschauungen (croyances fixes)

Es besteht ein enger Parallelismus zwischen den morpho- logischen und psychologischen Merkmalen der Lebewesen Unter den morphologischen Merkmalen finden wir gewisse unveraumlnderliche oder doch so wenig veraumlnderliche Ele- mente daszlig geologische Zeitalter noumltig sind um sie zu ver- aumlndern Neben diesen unveraumlnderlichen unreduzierbaren Elementen finden sich recht bewegliche die durch das Milieu die Kunst des Zuumlchters oder Gaumlrtners leicht so ge- wandelt werden koumlnnen daszlig sich dem oberf laumlchlichen Beobachter die Grundmerkmale verbergenDer gleichen Erscheinung begegnen wir in der sittlichen Welt Neben den unveraumlnderlichen seelischen Bestandteilen einer Rasse sind bewegliche und wechselnde Elemente vor- handen Darum finden wir bei der Untersuchung der An- schauungen und Meinungen eines Volkes stets einen festen Grund auf dem sich Anschauungen angesiedelt haben die ebenso fluumlchtig sind wie der Sand der die Felsen bedecktDie Grundanschauungen und Meinungen der Massen bilden also zwei scharfgetrennte Gruppen Zu der einen gehoumlren die staumlndigen Grundgedanken die mehrere Jahrhunderte

101GRENZEN DER VERAumlNDERLICHKEIT DER GRUNDANSCHAUUNGEN

uumlberdauern und auf denen eine ganze Kultur beruht So z B der feudale Gedanke die Ideen des Christentums und der Reformation und heutzutage die nationalen Grund- gedanken die demokratischen und sozialen Ideen Zur anderen gehoumlren die wechselnden Ansichten des Augen- blicks die meistens aus allgemeinen Gedanken abgeleitet werden und die jedes Zeitalter entstehen und vergehen sieht z B die Theorien die zu bestimmten Zeiten Kunst und Literatur beherrschen und die Romantik den Natura- lismus usw hervorbrachten So wandelbar wie die Mode wechseln sie wie die kleinen Wellen die auf der Ober- flaumlche eines Sees unaufhoumlrlich entstehen und vergehenDie Zahl der allgemeinen Grundanschauungen ist nicht groszlig Ihr Entstehen und Vergehen bilden die Houmlhepunkte in der Geschichte jeder historischen Rasse Sie bilden das eigentliche Geruumlst der KulturEine fluumlchtige Meinung haftet leicht in der Massenseele aber einen festen Glauben in ihr zu verankern ist sehr schwer ebenso schwer aber ist er wieder zu zerstoumlren wenn er sich einmal festgesetzt hat Man kann ihn wohl nur um den Preis gewaltsamer Revolutionen aumlndern und nur wenn der Glaube seine Herrschaft uumlber die Seelen fast ganz eingebuumlszligt hat Die Revolutionen helfen dann dabei die Grundanschauung endguumlltig abzuwerfen die man schon fast aufgegeben hatte deren gaumlnzliche Aufhebung aber durch die Macht der Gewohnheit verhindert wurde Be- ginnende Revolutionen sind in Wahrheit schwindende GrundanschauungenEine groszlige Grundanschauung wird an dem Tage zum Tode verurteilt an dem man anfaumlngt ihren Wert zu be- streiten Da jede allgemeine Grundanschauung nur eine Einbildung ist so kann sie nur bestehen solange sie der Pruumlfung entgehtAber selbst wenn eine Grundanschauung stark erschuumlttert ist bewahren die Einrichtungen die von ihr abgeleitet sind ihre Macht und erloumlschen nur langsam Hat sie schlieszliglich ihre Macht voumlllig eingebuumlszligt dann bricht alles

102 GRENZEN DER VERAumlNDERLICHKEIT DER GRUNDANSCHAUUNGEN

zusammen was von ihr getragen wurde Es war noch keinem Volk vergoumlnnt seine Grundanschauungen zu aumln- dern ohne gleichzeitig dazu verurteilt zu sein alle Be- standteile seiner Kultur umzuwandelnEs wandelt sie so lange um bis es eine neue allgemeine Grundanschauung angenommen hat und lebt bis dahin notgedrungen in Anarchie Die allgemeinen Grundanschau- ungen sind die notwendigen Stuumltzen der Kulturen Sie geben den Ideen ihre Richtung und sie allein erwecken das Gewissen und erschaffen das PflichtgefuumlhlDie Voumllker haben es stets als nuumltzlich empfunden sich allgemeine Glaubensanschauungen zu bilden und instinktiv erfaszligt daszlig ihr Schwinden die Stunde des Niedergangs anzeigen wuumlrde Der fanatische Kultus Roms war fuumlr die Roumlmer der Glaube der sie zu Herren der Welt machte Dieser Glaube starb und Rom ging zugrunde Erst als die Barbaren die Zerstoumlrer der roumlmischen Kultur einige einheitliche Glaubensanschauungen gewonnen hatten er- reichten sie einen gewissen Zusammenhalt und konnten die Anarchie uumlberwindenMit gutem Grund waren also die Voumllker stets unduldsam bei der Verteidigung ihrer Uumlberzeugungen So tadelnswert diese Unduldsamkeit vom philosophischen Standpunkt ist im Leben der Voumllker ist sie als eine Tugend anzusehen Um den Grund zu allgemeinen Glaubensuumlberzeugungen zu legen oder sie aufrechtzuerhalten hat das Mittelalter viele Scheiterhaufen errichtet und so viele Erfinder und Neuerer die der Folter entgangen waren muszligten in Ver- zweiflung sterben Um solche Uumlberzeugungen zu vertei- digen ist die Welt immer wieder umgestuumlrzt worden sind Millionen Menschen auf den Schlachtfeldern gefallen und werden dort noch weiterhin fallenWir haben schon gesagt daszlig sich der Einfuumlhrung einer allgemeinen Grundanschauung groszlige Schwierigkeiten ent- gegenstellen wenn sie aber endguumlltig Fuszlig gefaszligt hat ist ihre Macht lange Zeit unuumlberwindlich und mag sie philo- sophisch noch so falsch sein so draumlngt sie sich doch den

DIE UNVERAumlNDERLICHEN GRUNDANSCHAUUNGEN 103

erleuchtetsten Geistern auf Haben nicht die Voumllker Euro- pas seit fuumlnfzehn Jahrhunderten religioumlse Legenden die bei naumlherer Betrachtung ebenso barbarisch sind wie der Moloch-Mythus als unbestreitbare Wahrheiten betrachtet Der entsetzliche Widersinn des Mythus von einem Gotte der sich fuumlr den Ungehorsam eines seiner Geschoumlpfe durch furchtbare Marter an seinem Sohne raumlcht ist viele Jahr- hunderte nicht bemerkt worden Die groumlszligten Geister wie Galilei Newton Leibniz haben auch nicht einen Augen- blick daruumlber nachgedacht daszlig die Wahrheit solcher Le- genden bezweifelt werden koumlnnte Nichts beweist schla- gender die Hypnose die durch allgemeine Grundanschau- ungen bewirkt wird aber nichts zeigt auch besser die beschaumlmenden Grenzen unseres GeistesSobald der Massenseele eine neue Lehre eingepflanzt wurde beeinfluszligt sie die Einrichtungen die Kuumlnste und die Sitten Ihre Herrschaft uumlber die Seelen ist dann unumschraumlnkt Die Maumlnner der Tat denken nur an ihre Verwirklichung die Gesetzgeber nur an ihre Anwendung Philosophen Kuumlnstler Schriftsteller beschaumlftigen sich nur damit sie in verschiedene Formen zu uumlbertragenDurch die allgemeinen Grundanschauungen haben sich die Menschen jedes Zeitalters mit einem Netz von Uumlberliefe- rungen Meinungen und Gewohnheiten umgeben aus des- sen Maschen sie nicht entwischen koumlnnen und durch die sie einander immer etwas aumlhnlich werden Der unabhaumlngigste Geist denkt nicht daran sich ihnen zu entziehen Die echteste Tyrannei beherrscht die Seelen u nbew u szligt denn sie allein ist nicht zu bekaumlmpfen Tiberius Dschingiskhan Napoleon waren zweifellos furchtbare Tyrannen aber Moses Buddha Jesus Mohammed Luther haben aus ihrem Grabe heraus eine nicht weniger tiefgehende Herr- schaft uumlber die Seelen ausgeuumlbt Ein Tyrann kann durch eine Verschwoumlrung gestuumlrzt werden was vermag sie aber

Barbarisch im philosophischen Sinne wohlverstanden In Wirklichkeit haben sie eine ganz neue Kultur gegruumlndet und Jahrhunderte lang den Menschen be- zaubernde Traum- und Hoffnungsparadiese sehen lassen wie er sie nie mehr kennen wird

GRENZEN DER VERAumlNDERLICHKEIT DER GRUNDANSCHAUUNGEN104

gegen einen wohlgefestigten Glauben In ihrem heftigen Kampf gegen den Katholizismus ist unsere groszlige Revo- lution trotz der scheinbaren Zustimmung der Massen und trotz der Zerstoumlrungsmittel die von ihr ebenso unerbittlich angewandt wurden wie von der Inquisition unterlegen Die einzigen wahren Tyrannen der Menschheit sind immer die Schatten der Toten gewesen oder die Einbildungen die sie sich selbst geschaffen hatIch wiederhole Der philosophische Unsinn gewisser allge- meiner Grundanschauungen war nie ein Hindernis fuumlr ihren Triumph Dieser Triumph scheint sogar nur dann moumlglich zu sein wenn sie irgendwelchen geheimnisvollen Unsinn enthalten Die offenbare geistige Armut der sozia- listischen Lehren der Gegenwart wird nicht verhindern daszlig sie sich der Massenseele einpflanzen Ihre wahre Un- zulaumlnglichkeit im Vergleich zu jedem religioumlsen Glauben besteht einzig darin Da das Gluumlcksideal das der Glaube in Aussicht stellte nur in einem zukuumlnftigen Leben ver- wirklicht werden sollte so konnte niemand diese Ver- wirklichung bestreiten da das sozialistische Gluumlcksideal sich auf Erden verwirklichen soll so wird die Nichtigkeit der Verheiszligungen sogleich bei den ersten Verwirklichungs- versuchen an den Tag treten und der neue Glaube wird jeden Einfluszlig verlieren Seine Macht wird also nur bis zum Tage seiner Verwirklichung wachsen Und deshalb wird die neue Religion wie alle fruumlheren zunaumlchst eine zerstoumlrende Taumltigkeit ausuumlben ohne wie sie spaumlter eine schoumlpferische Rolle uumlbernehmen zu koumlnnen

sect 2 Die veraumlnderlichen Meinungen (opinions mobiles) der Massen

Uumlber den festen Glaubensanschauungen deren Macht wir darlegten liegt eine Schicht von Meinungen Ideen Ge- danken die fortwaumlhrend entstehen und vergehen Manche sind sehr vergaumlnglich und die bedeutendsten uumlberdauern kaum das Leben einer Generation Wir haben bereits fest-

DIE VERAumlNDERLICHEN MEINUNGEN 105

gestellt daszlig die Veraumlnderungen dieser Meinungen zu- weilen mehr an ihrer Oberflaumlche als in ihrem Wesen vor- gehen und immer den Stempel der Rasseneigenschaften tragen Wenn wir beispielsweise die politischen Einrich- tungen unseres Landes betrachten sehen wir daszlig die scheinbar entgegengesetzten Parteien Monarchisten Radi- kale Imperialisten Sozialisten usw voumlllig uumlbereinstim- mende Ideale haben und daszlig diese Ideale sich einzig und allein auf die geistige Verfassung unserer Rasse beziehen denn unter den gleichen Namen finden sich bei andren Rassen ganz entgegengesetzte Ideale Weder durch die Namen der Anschauungen noch durch ihre taumluschenden Anpassungen wird der Kern der Dinge veraumlndert Die Buumlrger der Revolutionszeit die ganz erfuumlllt von der latei- nischen Literatur gebannt von der roumlmischen Republik ihre Gesetze Liktorenbuumlndel Togen uumlbernahmen wurden dadurch noch keine Roumlmer weil sie unter der Herrschaft einer maumlchtigen historischen Taumluschung standenEs ist die Aufgabe des Philosophen zu erforschen was sich unter den scheinbaren Veraumlnderungen von den alten Uumlberzeugungen erhaumllt und in der Flut der Meinungen diejenigen Bewegungen herauszufinden die durch die Grundanschauungen und die Rassenseele bestimmt werden Ohne diesen philosophischen Maszligstab koumlnnte man glau- ben die Massen aumlnderten ihre politischen und religioumlsen Uumlberzeugungen haumlufig und wirklich Die ganze Geschichte der Politik der Religion der Kunst und der Literatur scheint das in der Tat zu bezeugenNehmen wir z B einen kurzen Zeitabschnitt unserer eignen Geschichte etwa von 790 bis 820 also dreiszligig Jahre die Dauer eines Menschenalters Wir sehen innerhalb dieser Zeit wie die Massen die erst monarchistisch sind revo- lutionaumlr dann imperialistisch und schlieszliglich wieder mon- archistisch werden In der Religion wenden sie sich in der gleichen Zeit vom Katholizismus zum Atheismus dann zum Deismus und kehren zu den strengsten Formen des Katho- lizismus zuruumlck Und nicht allein die Massen auch die

106 GRENZEN DER VERAumlNDERLICHKEIT DER GRUNDANSCHAUUNGEN

Fuumlhrer sind denselben Veraumlnderungen unterworfen Man sieht die groszligen Konventsmitglieder die geschworenen Feinde der Koumlnige die von Gott und Teufel nichts wissen wollen ergebene Diener Napoleons werden und unter Ludwig XVIII bei den Prozessionen fromm ihre Kerzen tragenUnd welche Wandlungen dann in den Massenanschau- ungen der folgenden siebzig Jahre Das bdquoperfide Albionldquo vom Beginn dieses Jahrhunderts wird unter den Erben Napoleons Frankreichs Verbuumlndeter Ruszligland das zwei- mal mit uns im Kriege lag und sich uumlber unsere letzten Schicksalsschlaumlge so sehr gefreut hatte wird ploumltzlich als Freund betrachtetIn der Literatur der Kunst der Philosophie geht der Wechsel noch schneller vor sich Romantik Naturalismus Mystizismus usw tauchen auf und verschwinden im raschen Wechsel Die gestern gefeierten Kuumlnstler und Schriftsteller werden morgen aufs tiefste verachtetWas sehen wir aber wenn wir diese scheinbar so tiefen Wandlungen untersuchen Alle Ansichten die im Gegen- satz stehen zu den Grundanschauungen und -gefuumlhlen der Rasse sind nur von sehr kurzer Dauer und der abgelenkte Strom nimmt rasch seinen gewohnten Lauf wieder auf Die Anschauungen die sich an keine Grunduumlberzeugung an kein Gefuumlhl der Rasse knuumlpfen und die also keinen Bestand haben koumlnnen sind allen Zufaumlllen oder wenn man will den geringsten Veraumlnderungen der Verhaumlltnisse preisgegeben Sie sind mit Hilfe von Suggestion und An- steckung entstanden sind stets fluumlchtiger Art und erschei- nen und verschwinden auch oft ebenso schnell wie die Sandduumlnen die der Wind am Meeresstrande bildetDie Anzahl der unbestaumlndigen Meinungen der Massen ist heutzutage groumlszliger als je und zwar aus drei verschiedenen GruumlndenErstens buumlszligen die alten Glaubenslehren nach und nach ihre Herrschaft ein und wirken nicht mehr wie fruumlher richtunggebend auf die Meinungen Das Erloumlschen der

DIE VERAumlNDERLICHEN MEINUNGEN 107

Gesamtuumlberzeugungen gibt Raum fuumlr eine Menge Sonder- anschauungen ohne Vergangenheit und ZukunftZweitens waumlchst die Macht der Massen immer mehr und findet immer weniger Gegengewicht so daszlig sich die auszliger- ordentliche Beweglichkeit der Ideen die wir bei ihnen fanden frei entfalten kannDrittens fuumlhrt die neuerdings so verbreitete Presse unauf- houmlrlich die entgegengesetzten Meinungen vor den Augen der Masse voruumlber Die Wirkungen die jede von ihnen eben hervorzurufen suchte werden bald von widerspre- chenden Einfluumlssen aufgehoben Keine Meinung kann sich richtig verbreiten und alle fuumlhren nur ein vergaumlngliches Dasein Sie sind tot bevor sie bekannt genug sind um allgemein zu werdenAus diesen mannigfachen Ursachen ist eine ganz neue Er- scheinung der Weltgeschichte hervorgegangen die fuumlr die heutige Zeit sehr bezeichnend ist ich meine die Unfaumlhig- keit der Regierungen die oumlffentliche Meinung zu lenkenEinst und dies Einst liegt gar nicht so weit hinter uns wurde die oumlffentliche Meinung von der Tatkraft der Re- gierung dem Einfluszlig einiger Schriftsteller und einer ganz geringen Anzahl von Zeitungen getragen Heutzutage haben die Schriftsteller allen Einfluszlig eingebuumlszligt und die Zeitungen spiegeln nur die oumlffentliche Meinung wider Und was die Staatsmaumlnner anbelangt so denken sie nicht daran sie zu lenken sondern suchen ihr nur zu folgen Ihre Furcht vor der oumlffentlichen Meinung ist fast schon Schrecken und raubt ihrer Haltung jede FestigkeitDie Meinung der Massen zeigt also das Bestreben immer mehr zum entscheidenden Lenker der Politik zu werden Sie bringt es heute schon fertig Buumlndnisse vorzuschreiben wie wir es vor kurzem bei dem russischen Buumlndnis sahen das fast ausschlieszliglich aus einer Volksbewegung hervor- gingEs ist ein sehr eigenartiges Zeichen unserer Zeit daszlig Paumlpste Koumlnige und Kaiser sich dem Brauch der Befragung durch Vertreter der Tageszeitungen unterwerfen um dem

108 GRENZEN DER VERAumlNDERLICHKEIT DER GRUNDANSCHAUUNGEN

Urteil der Massen ihre Gedanken uumlber eine bestimmte Angelegenheit zu unterbreiten Einst konnte man sagen Politik sei nicht Sache des Gefuumlhls Kann man das heute noch wenn man sieht daszlig sie sich von den Einfallen der unbestaumlndigen Massen die keine Vernunft kennen und nur vom Gefuumlhl beherrscht werden leiten laumlszligtDie Presse die einstige Leiterin der oumlffentlichen Meinung hat wie die Regierungen gleichfalls der Macht der Massen weichen muumlssen Gewiszlig besitzt sie noch eine bedeutende Macht aber doch nur weil sie lediglich die Widerspiege- lung der oumlffentlichen Meinung und ihrer unaufhoumlrlichen Schwankungen ist Sie ist zum einfachen Informations- mittel geworden und hat darauf verzichtet irgendwelche Ideen oder Lehren zu verbreiten Sie geht allen Veraumlnde- rungen des oumlffentlichen Geistes nach sie ist dazu verpflich- tet weil sie sonst Gefahr laumluft durch die Maszlignahmen der Konkurrenz ihre Leser zu verlieren Die alten ehrwuumlr- digen und einfluszligreichen Blaumltter von ehedem deren Aus- spruumlche von der vergangenen Generation noch ehrfurchts- voll wie Weissagungen angehoumlrt wurden sind verschwun- den oder zu Nachrichtenvermittlungen geworden die von unterhaltenden Neuigkeiten Gesellschaftsklatsch und ge- schaumlftlichen Anzeigen umrahmt sind Welches Blatt waumlre heute reich genug seinen Schriftleitern eigne Meinungen gestatten zu koumlnnen Und welches Gewicht koumlnnten diese Meinungen bei Lesern haben die nur unterrichtet oder unterhalten werden wollen und hinter jeder Empfehlung Berechnung wittern Die Kritik hat nicht einmal mehr die Macht ein Buch oder ein Theaterstuumlck durchzusetzen Sie kann schaden aber nicht nuumltzen Die Blaumltter sind sich der Nutzlosigkeit jeder Eigenmeinung so bewuszligt daszlig sie all- maumlhlich die literarischen Kritiken eingeschraumlnkt haben und sich damit begnuumlgen den Namen des Buches nebst zwei drei Zeilen Empfehlung zu bringen und in zwanzig Jah- ren wird es sich mit der Theaterkritik wohl ebenso ver- haltenDas Aushorchen der Meinungen ist heute die Hauptsorge

DIE VERAumlNDERLICHEN MEINUNGEN 109

der Presse und der Regierungen Welche Wirkung dies Ereignis jener Gesetzentwurf jene Rede hervorrief ist wissenswert fuumlr sie Das ist nicht leicht denn nichts ist beweglicher und wandelbarer als das Denken der Massen Man kann es erleben daszlig sie das was sie gestern bejubel- ten heute mit dem Bannfluch belegenDas Endergebnis dieses gaumlnzlichen Mangels an Meinungs- richtung und der gleichzeitigen Aufloumlsung der Grunduumlber- zeugungen ist die voumlllige Zerbroumlckelung aller Anschau- ungen und die wachsende Gleichguumlltigkeit der Massen wie der einzelnen gegen alles was ihren unmittelbaren Vorteil nicht greifbar beruumlhrt Wissenschaftliche Lehren wie der Sozialismus haben wirklich uumlberzeugte Anhaumlnger nur in den ungebildeten Schichten z B unter Berg- und Fabrik- arbeitern Der Kleinbuumlrger der halbgebildete Handwerker sind zu miszligtrauisch gewordenDie Entwicklung die seit dreiszligig Jahren so verlaumluft ist uumlberraschend In fruumlheren gar nicht so weit zuruumlckliegen- den Zeiten hatten die Meinungen noch eine allgemeine Richtung Sie wurden von der Annahme einiger Grund- uumlberzeugungen abgeleitet Allein aus der Tatsache daszlig man Monarchist war ergeben sich notwendigerweise auf den Gebieten der Geschichte und der Wissenschaft be- stimmte scharfumgrenzte Ansichten waumlhrend der Repu- blikaner ganz entgegengesetzte fuumlr sich in Anspruch nahm Ein Monarchist wuszligte genau daszlig der Mensch nicht vom Affen abstammt und ein Republikaner wuszligte nicht weni- ger genau daszlig er von ihm abstammt Der Monarchist muszligte mit Abscheu der Republikaner begeistert von der Revolution sprechen Gewisse Namen wie Robespierre Marat muszligten mit andaumlchtiger Miene andre wieder wie Caumlsar Augustus Napoleon nur unter Schmaumlhungen aus- gesprochen werden Bis zu unserer Sorbonne herauf herrschte diese kindliche GeschichtsauffassungHeute verliert jede Meinung durch Eroumlrterung und Zer- gliederung ihren Nimbus ihre Stuumltzpunkte werden schnell unsicher und es bleiben nur wenige Ideen uumlbrig die uns

110 GRENZEN DER VERAumlNDERLICHKEIT DER GRUNDANSCHAUUNGEN

zu leidenschaftlicher Parteinahme bewegen koumlnnten Der moderne Mensch verfaumlllt immer mehr der Gleichguumlltig- keitWir wollen diese allgemeine Erschoumlpfung der Anschau- ungen nicht allzusehr bedauern Daszlig sie eine Entartungs- erscheinung im Voumllkerleben ist laumlszligt sich nicht bestreiten Wohl haben die Seher Apostel Fuumlhrer mit einem Wort die Uumlberzeugten eine ganz andere Gewalt als die Ver- neiner Kritiker und Gleichguumlltigen aber wir duumlrfen nicht vergessen daszlig eine einzige Anschauung die genuumlgend Nimbus gewaumlnne um sich durchzusetzen mit Hilfe der Macht der Massen bald eine so tyrannische Gewalt er- langen wuumlrde daszlig sich alsbald alle vor ihr beugen muumlszligten und die Zeit der freien Meinungsaumluszligerung waumlre dann fuumlr lange Zeit vorbei Zeitweilig sind die Massen friedfertige Herren wie es gelegentlich Heliogabal und Tiberius auch waren aber sie haben auch wilde Launen Ist eine Kultur reif ihnen in die Haumlnde zu fallen so ist sie zu vielen Zufaumlllen ausgesetzt als daszlig sie noch lange Zeit uumlberdauern koumlnnte Wenn irgend etwas die Stunde des Niedergangs aufhalten kann so ist es nur die auszligerordentliche Ver- aumlnderlichkeit der Meinungen und die wachsende Gleich- guumlltigkeit der Massen gegen alle allgemeinen Grund- anschauungen

111DIE VERAumlNDERLICHEN MEINUNGEN

DRITTES BUCH

EINTEILUNG UND BESCHREIBUNG DER VERSCHIEDENEN ARTEN

VON MASSEN

1 KAPITEL

Einteilung der Massen

Wir haben in dieser Arbeit bisher die allgemeinen den Massen gemeinsamen Merkmale festgestellt Es bleiben uns noch die besonderen Merkmale zu erforschen die diesen allgemeinen je nach der Art der Gesamtheiten vorgeord- net sindStellen wir zunaumlchst in aller Kuumlrze eine Einteilung der Massen aufUnser Ausgangspunkt ist die einfache Menge (la simple multitude) Ihre unterste Art ist dann gegeben wenn sie sich aus Einzelwesen verschiedener Rassen zusammensetzt Ihr einziges allgemeines Band ist der mehr oder weniger geachtete Wille eines Anfuumlhrers Als Beispiel fuumlr diese Massenform koumlnnen die Barbaren verschiedener Herkunft dienen die eine Reihe von Jahrhunderten hindurch das Roumlmische Reich verheertenUumlber diesen zusammenhanglosen Massen stehen jene die unter dem Einfluszlig gewisser Faktoren gemeinsame Merk- male angenommen haben und schlieszliglich eine Rasse bilden Sie werden gelegentlich die Sondermerkmale der Massen aufweisen aber immer gemaumlszligigt durch die Eigentuumlmlich- keiten ihrer RasseDie verschiedenen Arten der Massen die bei jedem Volk zu beobachten sind lassen sich folgendermaszligen einteilen

A Ungleichartige Massen (foules heacuteteacuterogegravenes) Namenlose (z B Straszligenansammlungen) 2 Nicht namenlose (z B Geschworenengericht Parla- ment)

B Gleichartige Massen (foules homogegravenes) Sekten (politische religioumlse und andere Sekten) 2 Kasten (militaumlrische Priester- Arbeiterkaste usw) 3 Klassen (Buumlrger Bauern usw)Wir geben kurz die unterscheidenden Merkmale dieser ver- schiedenen Arten von Massen an

sect Ungleichartige Massen

Die Wesenszuumlge dieser Gesamtheiten haben wir bereits studiert Sie setzen sich aus irgendwelchen einzelnen zu- sammen Beruf oder Intelligenz sind unwichtigWir haben in dieser Arbeit gezeigt daszlig die seelische Ver- fassung der Menschen in der Masse wesentlich abweicht von der Seelenverfassung die sie als einzelne haben und daszlig vor dieser Abweichung die Intelligenz nicht rettet Wir sahen daszlig Intelligenz in den Gesamtheiten keine Rolle spielt Nur unbewuszligte Gefuumlhle koumlnnen in ihnen wirksam werdenEin Grundfaktor die Rasse macht es uns moumlglich die ver- schiedenen ungleichartigen Massen ziemlich scharf zu sondern Schon wiederholt kamen wir auf die Bedeutung der Rasse zuruumlck und zeigten daszlig sie der maumlchtigste Faktor ist der die Macht hat die menschlichen Handlungen zu bestim- men Ihre Wirkung zeigt sich auch in den Eigenschaften der Masse Eine Menge die aus irgendwelchen verschie- denen Einzelwesen die aber entweder Englaumlnder oder Chinesen sein muumlssen zusammengesetzt ist unterscheidet sich grundlegend von einer anderen Masse die etwa aus Russen Franzosen oder Spaniern bestehtDie tiefen Unterschiede die durch die ererbte geistige Konstitution in der Gefuumlhls- und Denkweise der Menschen begruumlndet werden treten klar zutage wenn unter gewissen Umstaumlnden die allerdings selten vorkommen einzelne verschiedener Nationalitaumlten zu einer einzigen Masse ver- Einzelheiten uumlber die verschiedenen Arten der Massen findet man in meinen letzten Arbeiten

115UNGLEICHARTIGE MASSEN

einigt werden so gleichartig anscheinend die Interessen sein moumlgen Die Versuche der Sozialisten auf groszligen Zusam- menkuumlnften die Vertreter der Arbeiterschaft aller Laumlnder zu vereinigen endeten stets in heftiger Zwietracht Eine lateinische Masse so revolutionaumlr oder konservativ sie auch sein mag wird sich zur Erfuumlllung ihrer Forderungen stets an den Staat wenden Sie ist stets zentralistisch und mehr oder minder monarchistisch Eine englische und amerikani- sche Masse hingegen kennt den Staat nicht und wendet sich nur an die persoumlnliche Tatkraft Eine franzoumlsische Masse haumllt vor allem viel auf Gleichheit eine englische auf Frei- heit Diese Rassen Verschiedenheiten bringen fast ebenso- viele Abarten der Masse hervor als es Voumllker gibtDie Rassenseele beherrscht also voumlllig die Massenseele Sie ist der maumlchtige Grundstoff der die Schwankungen der Massenseele bestimmt Die niederen Eigenschaften der Masse sind um so weniger betont je staumlrker die Rassenseele ist Das ist ein Grundgesetz Der Staat der Masse und die Herrschaft der Masse bedeuten die Barbarei oder die Ruumlck- kehr zur Barbarei Durch Erwerbung einer festgefuumlgten Seele schuumltzt sich die Rasse immer mehr vor unuumlberlegter Gewalt der Massen und laumlszligt die Barbarei hinter sichDie einzige Einteilung die sich fuumlr die ungleichartigen Massen auszliger ihrer Bestimmung nach Rassen durchfuumlhren laumlszligt ist die Einteilung in namenlose Massen wie die der Straszligen und nicht namenlose Massen wie z B die bera- tenden Ausschuumlsse und die Schwurgerichte Das Fehlen des Verantwortlichkeitgefuumlhls bei den ersteren und sein Vor- handensein bei den letzteren draumlngt ihre Handlungsweise oft in verschiedene Richtung

sect 2 Gleichartige Massen

Die gleichartigen Massen umfassen erstens die Sekten zweitens die Kasten drittens die KlassenDie Sekte bezeichnet den ersten Grad in der Organisation gleichartiger Massen Zu ihr gehoumlren einzelne deren Er-

116 DIE VERSCHIEDENEN ARTEN VON MASSEN

ziehung Beruf und Milieu oft sehr verschieden ist und die nur durch das Band der Uumlberzeugung miteinander verbun- den sind so z B die religioumlsen und politischen SektenDie Kaste stellt den houmlchsten Organisationsgrad dar des- sen die Masse faumlhig ist Waumlhrend die Sekte einzelne um- faszligt deren Beruf Bildung und Milieu oft sehr verschie- den sind und die sich nur durch Gemeinsamkeit der Uumlber- zeugung zusammenschlieszligen gehoumlren zur Kaste nur ein- zelne von gleichem Beruf und folglich auch ziemlich aumlhn- licher Bildung und fast gleichen Lebensverhaumlltnissen So z B die militaumlrische und die PriesterkasteDie Klasse wird von einzelnen verschiedenen Ursprungs gebildet die weder wie die Mitglieder einer Sekte durch die Uumlbereinstimmung der Uumlberzeugung noch durch die Gleichheit des Berufes wie die Mitglieder einer Kaste sondern durch bestimmte Interessen Lebensgewohnheiten und ihre Erziehung einander aumlhnlich sind So z B die Klasse der Buumlrger der Bauern uswDa ich in dieser Arbeit nur die ungleichartigen Massen zu studieren habe so werde ich mich nur mit einigen Arten dieser Gattung der Massen beschaumlftigen die ich als be- zeichnende Beispiele herausgreife

2 KAPITEL

Die sogenannten verbrecherischen Massen

Da nach einer bestimmten Erregungszeit die Massen in den Zustand einfacher unbewuszligter Automaten zuruumlckfallen die von Beeinflussungen abhaumlngig sind so scheint es schwie- rig zu sein sie in irgendeinem Falle als verbrecherisch zu bezeichnen Ich behalte jedoch diese irrige Bezeichnung bei weil sie durch die psychologischen Forschungen uumlblich ge- worden ist Gewisse Handlungen der Masse sind an sich betrachtet sicherlich verbrecherisch aber doch nur in dem- selben Sinne wie die Tat eines Tigers der einen Hindu

117GLEICHARTIGE MASSEN VERBRECHERISCHE MASSEN

verschlingt nachdem er ihn erst von seinen Jungen zu ihrer Unterhaltung hat zerfleischen lassenDie Verbrechen der Massen sind in der Regel die Folge einer starken Suggestion und die einzelnen die daran teil- nahmen sind hinterher davon uumlberzeugt einer Pflicht ge- horcht zu haben Das ist beim gewoumlhnlichen Verbrecher durchaus nicht der FallDie Geschichte der Verbrechen die durch die Massen be- gangen wurden laumlszligt dies klar erkennenAls bezeichnendes Beispiel kann man die Ermordung des Gouverneurs der Bastille du Launay anfuumlhren Nach der Eroberung dieser Festung hagelten von allen Seiten aus der aufs aumluszligerste gereizten Menge die ihn umgab Hiebe auf den Gouverneur Man schlug vor ihn zu haumlngen zu enthaupten oder an den Schweif eines Pferdes zu binden Bei dem Versuch sich zu befreien versetzte er einem der Umstehenden versehentlich einen Fuszligtritt Da machte je- mand den Vorschlag ndash dem die Menge sofort zujauchzte

ndash der Getretene solle dem Gouverneur den Hals ab- schneiden

bdquoDieser ein stellenloser Koch der halb und halb aus Neu- gierde nach der Bastille gegangen war um zu sehen was don vorging glaubt weil dies die allgemeine Ansicht ist die Tat sei patriotisch und glaubt sogar eine Auszeich- nung zu verdienen wenn er ein Ungeheuer toumltet Man gibt ihm einen Saumlbel mit dem er auf den bloszligen Hals losschlaumlgt da aber der schlechtgeschliffene Saumlbel nicht schneidet zieht er ein kleines Messer mit schwarzem Heft aus der Tasche und vollendet (da er als Koch Fleisch zu bearbeiten weiszlig) erfolgreich seine OperationldquoHier zeigt sich klar der fruumlher festgestellte Mechanismus Gehorsam gegen einen Einfluszlig der um so maumlchtiger wirkt weil er einer Gesamtheit entstammt die Uumlberzeugung des Moumlrders damit eine aumluszligerst verdienstvolle Tat getan zu haben eine Uumlberzeugung die um so natuumlrlicher ist da er auf die einmuumltige Zustimmung seiner Mitbuumlrger rechnen kann Eine derartige Tat kann vielleicht gesetzlich aber

118 DIE VERSCHIEDENEN ARTEN VON MASSEN

nicht psychologisch als Verbrechen bezeichnet werden Die allgemeinen Merkmale der sogenannten verbrecherischen Massen sind genau dieselben die wir bei allen Mas- sen festgestellt haben Beeinfluszligbarkeit Leichtglaumlubigkeit Uumlberschwang der guten und schlechten Gefuumlhle das Her- vortreten gewisser Formen der Sittlichkeit uswAlle diese Merkmale finden wir bei der Masse der Sep- tembermaumlnner wieder die in unserer Geschichte das un- seligste Andenken hinterlassen haben Sie zeigen uumlbrigens viel Aumlhnlichkeit mit den Urhebern der Bartholomaumlusnacht Die Einzelheiten des Berichtes entnehme ich Taine der sie aus zeitgenoumlssischen Erinnerungen geschoumlpft hat Es ist nicht genau bekannt wer Befehl oder Veranlassung gege- ben hat die Gefangenen abzuschlachten um die Gefaumlng- nisse zu raumlumen Ob es Danton war wie es wahrscheinlich ist oder ein anderer ist gleichguumlltig wir haben es nur mit dem maumlchtigen Einfluszlig zu tun den die mit dem Blutbade beauftragte Menge empfingDie Schar der Menschenschlaumlchter umfaszligte ungefaumlhr drei- hundert Mitglieder und zeigte vollkommen die Grundform einer ungleichartigen Masse Abgesehen von einer ganz geringen Anzahl gewerbsmaumlszligiger Bettler bestand sie na- mentlich aus Haumlndlern und Handwerkern aller Art aus Schustern Schlossern Peruumlckenmachern Maurern Ange- stellten Dienstmaumlnnern usw Unter dem Einfluszlig der emp- fangenen Suggestion sind sie wie der obenerwaumlhnte Koch voumlllig uumlberzeugt davon eine vaterlaumlndische Pflicht zu er- fuumlllen Sie uumlben ein doppeltes Amt aus das des Richters und das des Henkers und halten sich in keiner Weise fuumlr VerbrecherDurchdrungen von der Wichtigkeit ihrer Aufgabe bilden sie zunaumlchst eine Art Gerichtshof und sofort zeigt sich der beschraumlnkte Geist und das nicht weniger beschraumlnkte Rechtsgefuumlhl der Massen Angesichts der betraumlchtlichen Anzahl der Angeklagten wird zunaumlchst entschieden die Adligen die Priester die Offiziere die Diener des Koumlnigs d h diejenigen deren Beruf in den Augen eines guten

119DIE SOGENANNTEN VERBRECHERISCHEN MASSEN

Patrioten allein schon ein Schuldbeweis ist sollen in Hau- fen niedergemetzelt werden ohne daszlig es eines besonderen Urteils bedarf Im uumlbrigen wird nach Aussehen und An- sehen verurteilt Das unausgebildete Gewissen der Masse ist auf diese Weise befriedigt sie kann rechtmaumlszligig an die Abschlachtung gehen und den Instinkten der Grausamkeit deren Entstehen ich an anderer Stelle behandelt habe und die die Gesamtheiten stets in hohem Maszlige entfalten koumln- nen freien Lauf lassen Sie stehen uumlbrigens ndash das ist die Regel bei den Massen ndash einer gleichzeitigen Offenbarung entgegengesetzter Gefuumlhle nicht im Wege so z B der Empfindsamkeit die oft ebenso wie ihre Grausamkeit bis zum aumluszligersten geht bdquoSie haben das offenherzige Mitge- fuumlhl und die bewegliche Empfindlichkeit der Pariser Ar- beiter Als ein Foumlderierter vernahm daszlig man in der Abtei die Haumlftlinge seit sechsundzwanzig Stunden ohne Wasser gelassen hatte wollte er durchaus den nachlaumlssigen Pfoumlrt- ner umbringen und haumltte es getan wenn nicht die Ge- fangenen selbst fuumlr ihn gebeten haumltten Ist ein Gefangener (von ihrem fliegenden Gerichtshof) freigesprochen so wird er von den Waumlchtern und Henkern kurz von jedermann umarmt und stuumlrmisch begruumlszligtldquo Dann kehrt man zur Ab- schlachtung der uumlbrigen zuruumlck Waumlhrend des Blutbades herrscht andauernd liebenswuumlrdige Froumlhlichkeit Man singt und tanzt um die Leichen herum stellt den bdquoDamenldquo die gluumlcklich daruumlber sind zu sehen daszlig Aristokraten ge- toumltet werden Baumlnke zur Verfuumlgung Auch weiterhin wer- den Proben einer besonderen Houmlflichkeit gegeben Als sich ein Henker in der Abtei beklagt die etwas entfernter sitzenden Damen saumlhen schlecht und nur einige der An- wesenden haumltten das Vergnuumlgen die Aristokraten zu schla- gen gibt man die Richtigkeit dieser Beobachtung zu und bestimmt daszlig man die Opfer langsam zwischen zwei Reihen von Moumlrdern hindurchgehen lasse die zur Ver- laumlngerung der Qualen nur mit dem Saumlbelruumlcken schlagen duumlrfen In der Festung werden die Opfer voumlllig entkleidet eine halbe Stunde lang zerfleischt dann wenn jedermann

120 DIE VERSCHIEDENEN ARTEN VON MASSEN

alles gut gesehen hat erledigt man sie indem man ihnen den Bauch aufschlitzt Die Menschenschlaumlchter sind im uumlbrigen sehr gewissenhaft und bekunden jene Sittlichkeit auf deren Vorhandensein im Herzen der Massen wir be- reits hinwiesen Sie legen das Geld und den Schmuck der Opfer auf dem Tisch des Ausschusses niederIn allen ihren Handlungen finden sich diese unentwickel- ten Formen des Denkens die fuumlr die Massenseele bezeich- nend sind So macht irgend jemand nach einer Abschlach- tung von zwoumllf- bis fuumlnfzehnhundert Volksfeinden darauf aufmerksam ndash und seine Anregung wird sofort angenom- men ndash daszlig in den andern Gefaumlngnissen in denen alte Bettler Landstreicher jugendliche Haumlftlinge sitzen in Wahrheit nur unnuumltze Fresser eingesperrt waumlren deren man sich am besten entledige Uumlbrigens muumlszligten sich unter ihnen auch Volksfeinde befinden wie z B eine gewisse Frau Delarue die Witwe eines Giftmischers bdquoSie soll wuumltend sein im Gefaumlngnis zu sitzen wenn sie koumlnnte wuumlrde sie Paris in Brand stecken das soll sie gesagt haben das hat sie gesagt Fort mit ihrldquo Der Beweis ist uumlber- zeugend und haufenweise wird alles abgeschlachtet Inbe- griffen sogar etwa fuumlnfzig Kinder von zwoumllf bis siebzehn Jahren die ja auch Volksfeinde werden koumlnnten und folg- lich beseitigt werden muszligtenNach einer Woche der Arbeit waren all diese Maszlignahmen ausgefuumlhrt und die Menschenschlaumlchter durften von Ruhe traumlumen Da sie tief davon durchdrungen waren dem Vaterland gut gedient zu haben verlangten sie von den Machthabern eine Belohnung die Eifrigsten forderten so- gar eine AuszeichnungDie Geschichte der Kommune von 870 weist aumlhnliche Tatsachen auf Der wachsende Einfluszlig der Massen und das allmaumlhliche Zuruumlckweichen der Maumlchte vor ihnen wird sicherlich noch viele andre hinzufuumlgen

DIE SOGENANNTEN VERBRECHERISCHEN MASSEN 121

3 KAPITEL

Die Geschworenen bei den Schwurgerichten

Da wir uns hier nicht mit allen Arten der Geschworenen befassen koumlnnen so werde ich mich nur mit den wichtig- sten den Beisitzern der Schwurgerichte beschaumlftigen Sie bieten uns ein vortreffliches Beispiel fuumlr die nicht namen- lose ungleichartige Masse Wir finden hier die Beeinfluszlig- barkeit die Vorherrschaft der unbewuszligten Gefuumlhle die geringe Faumlhigkeit zum Denken den Einfluszlig der Fuumlhrer usw Ihre Beobachtung wird uns Gelegenheit geben be- merkenswerte Proben von Fehlern kennenzulernen die von Leuten begangen werden die mit der Psychologie der Gesamtheiten nicht vertraut sindDie Geschworenen sind zunaumlchst ein Beispiel fuumlr die ge- ringe Bedeutung die den geistigen Voraussetzungen der verschiedenen Wesen aus denen sich eine Masse zusam- mensetzt bei Entscheidungen zukommt Wir haben ge- sehen daszlig in einer beratenden Versammlung die aufge- fordert wird ein Urteil abzugeben die Intelligenz keine Rolle spielt wenn es sich um eine Frage handelt die nicht rein technischer Natur ist und daszlig in einer Versammlung von Gelehrten und Kuumlnstlern uumlber allgemeine Angelegen- heiten Urteile abgegeben werden die sich von denen einer Maurerversammlung kaum wesentlich unterscheiden Zu manchen Zeiten traf die Verwaltung unter den Personen die zu Geschworenen ernannt wurden eine sorgfaumlltige Auswahl sie stammten aus den aufgeklaumlrten Klassen der Lehrer Beamten wissenschaftlich Gebildeten usw Heut- zutage gehoumlren die Geschworenen hauptsaumlchlich den Klein- haumlndlern Handwerksmeistern Angestellten usw an Und zur groszligen Verwunderung der Fachschriftsteller zeigt die Statistik daszlig die Entscheidungen ganz gleich bleiben wie die Geschworenen auch zusammengesetzt sein moumlgen Selbst die Juristen die der Einrichtung der Schwurgerichte so feindlich gegenuumlberstanden muszligten die Richtigkeit dieser

Feststellung anerkennen Ein ehemaliger Schwurgerichts- praumlsident Bernard des Glajeux schreibt in seinen bdquoEr- innerungenldquo daruumlber folgendes

bdquoHeute liegt die Auswahl der Geschworenen in Wirklich- keit in den Haumlnden der Stadtraumlte die nach ihrem Belieben zulassen und ausscheiden und sich in der Hauptsache von politischen Verhaumlltnissen und Wahlsorgen leiten lassen die mit ihrer Stellung verbunden sind hellip Die Mehrzahl der Gewaumlhlten besteht aus Kauf leuten von so geringer Bedeutung daszlig man sie fruumlher nicht zugelassen haumltte und aus Beamten bestimmter Verwaltungsbehoumlrden In der Rolle des Richters vereinigen sich alle Anschauungen mit allen Berufsarten viele zeigen den Eifer der Neulinge und Menschen die den besten Willen haben begegnet man in den einfachsten Staumlnden Der Geist der Geschworenen hat sich nicht geaumlndert ihre Urteile sind sich gleichgebliebenldquoWir wollen aus diesem Satz die ganz richtigen Folgerun- gen nicht aber die recht schwachen Erklaumlrungen beibe- halten Diese Schwaumlche ist besonders erstaunlich denn die Psychologie der Massen und folglich auch der Geschwore- nen scheint meistens den Anwaumllten wie den Richtern un- bekannt gewesen zu sein Den Beweis dafuumlr liefert mir die Tatsache die derselbe Autor anfuumlhrt daszlig einer der be- ruumlhmtesten Rechtsanwaumllte des Schwurgerichts Lachaud ausnahmslos von seinem Recht Gebrauch machte die gebildeten Mitglieder der Geschworenen abzulehnen Die Erfahrung aber ndash und die Erfahrung allein ndash uumlberzeugte ihn schlieszliglich von der Zwecklosigkeit dieser Ablehnung Die Staatsanwaltschaft und die Rechtsanwaumllte haben wenigstens in Paris vollstaumlndig darauf verzichtet und doch haben sich wie des Giajeux bemerkt die Urteile nicht geaumlndert bdquosie sind weder besser noch schlechterldquoWie alle Massen werden die Geschworenen sehr stark durch Gefuumlhle und sehr wenig durch Beweisgruumlnde beeinfluszligt Ein Rechtsanwalt schreibt bdquoSie koumlnnen dem Anblick einer stillenden Frau oder der Vorfuumlhrung der Waisen nicht widerstehenldquo bdquoEine Frau braucht nur angenehm zu seinldquo

123DIE GESCHWORENEN

sagt des Glajeux bdquoso gewinnt sie das Wohlgefallen der GeschworenenldquoGegen Verbrechen von denen sie selbst betroffen werden koumlnnten und die uumlberdies gerade fuumlr die Gesellschaft die furchtbarsten sind zeigen sich die Geschworenen unerbitt- lich andrerseits sind sie gegen die sogenannten Verbrechen der Leidenschaft sehr nachsichtig Selten beurteilen sie Kindesmord unehelicher Muumltter streng und noch weniger das verlassene Maumldchen das seinen Verfuumlhrer mit Vitriol uumlberschuumlttet Sie fuumlhlen instinktiv sehr gut daszlig diese Verbrechen fuumlr die Gesellschaft wenig gefaumlhrlich sind und daszlig in einem Lande wo das Gesetz verlassene Maumldchen nicht schuumltzt ihre Rache mehr Nutzen stiftet indem sie kuumlnftige Verfuumlhrer von vornherein abschreckt Wie alle Massen werden die Geschworenen durch An- sehen stark geblendet und Praumlsident des Glajeux macht mit Recht darauf aufmerksam daszlig sie ihrer Zusammen- setzung nach zwar sehr demokratisch ihren Neigungen nach aber sehr aristokratisch seien bdquoName Geburt Reich- tum Ruhm und die Anwesenheit eines bekannten An- walts alles Auszeichnende und Glaumlnzende sind fuumlr den Angeklagten eine erhebliche UnterstuumltzungldquoEs muszlig die Hauptsorge eines guten Anwalts sein auf die Gefuumlhle der Geschworenen einzuwirken und wie bei allen Massen wenig zu begruumlnden oder Beweisfuumlhrungen nur in andeutender Form zu geben Ein englischer Anwalt der

Nebenbei bemerkt entbehrt diese Unterscheidung zwischen gesellschaftsfeind- lichen und nicht gesellschaftsfeindlichen Verbrechen die mit richtigem Instinkt von den Geschworenen gemacht wird keineswegs der Richtigkeit Das Ziel der Strafgesetze soll doch offenbar der Schutz der Gesellschaft gegen Ver- brechen nicht aber Rache sein Nun sind aber unsere Strafgesetzbuumlcher und besonders unsere Richter voumlllig von dem Rachegeist des alten urspruumlnglichen Gesetzes erfuumlllt und der Ausdruck bdquoSuumlhneldquo (vindicta) wird noch taumlglich gebraucht Der Beweis fuumlr diese Neigung der Richter ist die Weigerung vieler von ihnen das vortreffliche Gesetz Beacuteranger anzuwenden welches die Strafe des Verurteilten aufschiebt bis er ruumlckfaumlllig wird Und doch kann kein Richter daruumlber im unklaren sein ndash denn die Statistik beweist es ja ndash daszlig die Verbuumlszligung der ersten Strafe fast unfehlbar den Ruumlckfall nach sich zieht Die Richter glauben wenn sie einen Schuldigen freisprechen die Gesellschaft sei ungeraumlcht geblieben Ehe sie das zulassen schaffen sie lieber einen gefaumlhr- lichen Ruumlckfaumllligen

124 DIE VERSCHIEDENEN ARTEN VON MASSEN

wegen seiner Erfolge am Schwurgericht beruumlhmt war hat dies Verfahren ausgezeichnet geschildert

bdquoAufmerksam beobachtet er waumlhrend seiner Verteidigungs- rede die Geschworenen Der Augenblick ist guumlnstig Mit Hilfe seines Spuumlrsinnes und auch gewohnheitsmaumlszligig liest der Anwalt die Wirkung jedes Satzes jedes Wortes in den Mienen und zieht seine Schluumlsse daraus Es handelt sich vor allem darum die Mitglieder herauszufinden die im voraus fuumlr den Fall eingenommen sind Der Verteidiger versichert sich ihrer im Handumdrehen dann wendet er sich an die Mitglieder die unguumlnstig gestimmt zu sein scheinen und bemuumlht sich zu erraten warum sie gegen den Angeklagten sind Das ist der schwierigste Teil der Arbeit denn es kann auszliger dem Gerechtigkeitsgefuumlhl noch unzaumlhlige Gruumlnde geben einen Menschen verurteilen zu wollenldquoDiese wenigen Zeilen fassen die Absichten der Redner- kunst treffend zusammen und zeigen uns die Wertlosigkeit der eingelernten Rede weil man jeden Augenblick je nach dem erzielten Eindruck die Ausdrucksweise aumlndern muszlig Der Redner braucht nicht alle Mitglieder des Gerichts auf seine Seite zu bringen sondern nur die tonangebenden die die Gesamtmeinung beeinflussen Wie bei allen Massen gibt es auch hier eine kleine Anzahl von fuumlhrenden ein- zelnen bdquoIch habe die Erfahrung gemachtldquo sagt der oben erwaumlhnte Anwalt bdquodaszlig im Augenblick der Urteilsfaumlllung ein oder zwei energische Maumlnner genuumlgen um die uumlbrigen Geschworenen mitzureiszligenldquo Diese zwei oder drei Maumlnner muszlig man durch geschickte Beeinflussung uumlberzeugen Zu- erst und vor allem muszlig man ihnen gefallen Der Massen- mensch dem man gefaumlllt ist schon beinahe uumlberzeugt und gut vorbereitet alle Gruumlnde die man ihm darlegt fuumlr ausgezeichnet zu halten In einer interessanten Arbeit uumlber Lachaud finde ich folgende Anekdote

bdquoMan weiszlig daszlig Lachaud als er beim Schwurgericht ar- beitete waumlhrend der ganzen Dauer seiner Verteidigungs- reden zwei oder drei Geschworene von denen er wuszligte

DIE GESCHWORENEN 125

oder fuumlhlte daszlig sie einfluszligreich aber unzugaumlnglich waren nicht aus den Augen verlor In der Regel gelang es ihm die Widerspenstigen zu gewinnen Aber einmal fand er in der Provinz einen den er vergebens dreiviertel Stunden lang bearbeitete den ersten auf der zweiten Bank den siebenten Geschworenen Es war zum Verzweifeln Ploumltz- lich mitten im leidenschaftlichen Redefluszlig haumllt Lachaud inne und wendet sich an den Vorsitzenden des Gerichts- hofes mit den Worten Herr Praumlsident koumlnnte man nicht den Vorhang dort vorn herunterlassen den siebenten Herrn Geschworenen blendet die Sonnelsquo Der siebente Ge- schworene erroumltete laumlchelte dankte Er war der Verteidi- gung gewonnenldquoVerschiedene Autoren und zwar sehr namhafte haben in der letzten Zeit die Einrichtung der Schwurgerichte den einzigen Schutz gegen die wirklich sehr haumlufigen Irrtuumlmer einer aufsichtslosen Kaste heftig bekaumlmpft Einige moumlch- ten daszlig die Geschworenen nur aus den gebildeten Staumlnden gewaumlhlt wuumlrden Aber wir haben schon festgestellt daszlig in diesem Falle die Entscheidungen den jetzt gefaumlllten gleichen werden Andre die sich auf die Irrtuumlmer der Geschwore- nen berufen moumlchten sie abschaffen und durch Richter er- setzen Wie koumlnnen sie aber vergessen daszlig die Irrtuumlmer die den Geschworenen so oft vorgeworfen werden stets

Der Richterstand ist in der Tat der einzige Verwaltungszweig dessen Maszlig- nahmen keiner Uumlberwachung unterstellt sind Keine Revolution hat es fertig- gebracht dem demokratischen Frankreich jenes Habeas-corpus-Recht zu errin- gen auf das England so stolz ist Wir haben die Tyrannen verbannt aber in jeder Stadt verfuumlgt eine Obrigkeit nach Belieben uumlber Ehre und Freiheit der Buumlrger Ein unbedeutender Untersuchungsrichter der die Universitaumlt kaum verlieszlig hat die empoumlrende Macht die angesehensten Buumlrger gegen die er den bloszligen Verdacht einer Schuld hegt fuumlr den er niemand Rechenschaft schuldig ist ins Gefaumlngnis zu schicken Er kann sie sechs Monate ja sogar ein Jahr unter dem Vorwande der Untersuchung dort festhalten und sie schlieszliglich ohne Entschaumldigung oder Entschuldigung entlassen Der Vorladungsbefehl ist dem bdquolettre de cachetldquo dem koumlniglichen geheimen Haftbefehl gleichwertig nur mit dem Unterschied daszlig der letztere der mit Recht der alten Monarchie so zum Vorwurf gemacht wird nur sehr bedeutenden Persoumlnlichkeiten zur Verfuumlgung stand waumlhrend er sich heute in den Haumlnden einer ganzen Buumlrger- klasse befindet die keineswegs fuumlr die aufgeklaumlrteste und unabhaumlngigste gelten kann

126 DIE VERSCHIEDENEN ARTEN VON MASSEN

zuerst von den Richtern begangen wurden denn wenn der Angeklagte vor den Geschworenen erscheint so wird er bereits von verschiedenen Richtern fuumlr schuldig gehalten vom Untersuchungsrichter vom Staatsanwalt vom An- klagesenat Und sieht man denn nicht daszlig der Angeklagte seine einzige Aussicht fuumlr unschuldig erklaumlrt zu werden einbuumlszligte wenn er schlieszliglich von Richtern anstatt von Geschworenen abgeurteilt wuumlrde Die Irrtuumlmer der Ge- schworenen sind zuerst stets Irrtuumlmer der Richter gewesen An diese allein muszlig man sich halten wenn man auf be- sonders ungeheuerliche Justizirrtuumlmer wie die Verurtei- lung des Dr Xhellip stoumlszligt der auf die Anzeige eines halb- idiotischen Maumldchens das den Arzt beschuldigte er habe sie fuumlr dreiszligig Franken abortieren lassen von einem wirklich recht beschraumlnkten Untersuchungsrichter verfolgt wurde und der ohne den Entruumlstungsausbruch der Oumlffent- lichkeit der seine sofortige Begnadigung durch das Staats- oberhaupt zur Folge hatte ins Gefaumlngnis gewandert waumlre Die Ehrenhaftigkeit die dem Verurteilten von all seinen Mitbuumlrgern zuerkannt wurde lieszlig die Ungeheuerlichkeit des Irrtums besonders offenbar werden Selbst die Richter erkannten das und doch taten sie aus Kastengeist alles moumlgliche um die Unterzeichnung der Begnadigung zu ver- hindern In allen solchen Faumlllen houmlren die Geschworenen von technischen Einzelheiten die sie nicht verstehen ver- wirrt naturgemaumlszlig auf die Staatsanwaltschaft da sie sich sagen daszlig der Fall schlieszliglich von Richtern die in allen Feinheiten bewandert sind gepruumlft sei Wer sind also die wahren Urheber des Irrtums die Geschworenen oder die Richter Darum wollen wir sorgfaumlltig uumlber unsere Schwur- gerichte wachen Sie bilden vielleicht die einzige Gattung der Masse die durch keinen einzelnen zu ersetzen ist Nur sie koumlnnen die Haumlrten des Gesetzes mildern das fuumlr alle gleich im Prinzip blind sein muszlig und Sonderfaumllle nicht kennen darf Der Richter der nur den Wortlaut des Ge- setzes kennt und fuumlr Mitleid unzugaumlnglich ist wuumlrde mit seiner Berufshaumlrte den Raubmoumlrder zu derselben Strafe

DIE GESCHWORENEN 127

verurteilen wie das arme Maumldchen das zum Kindesmord gedraumlngt wird weil es von seinem Verfuumlhrer verlassen und dem Elend preisgegeben ist waumlhrend die Geschworenen sehr wohl fuumlhlen daszlig das verfuumlhrte Maumldchen viel weniger schuld ist als der Verfuumlhrer der dem Gesetz entschluumlpft und daszlig es all ihre Nachsicht verdientObwohl ich die Psychologie der Kasten so wie die der andern Massen sehr wohl kenne kann ich mir keinen Fall denken der mich wenn ich eines Verbrechens angeklagt waumlre nicht vorziehen lieszlige lieber mit Geschworenen als mit Richtern zu tun zu haben Bei den ersten haumltte ich groszlige Aussicht schuldlos erkannt zu werden bei den letz- teren nur sehr geringe Wir haben die Macht der Massen zu fuumlrchten aber noch mehr die Macht gewisser Kasten Die Massen lassen sich vielleicht uumlberzeugen die Kasten geben niemals nach

4 KAPITEL

Die Waumlhlermassen

Die Waumlhlermassen d h die Gesamtheiten die zur Wahl der Inhaber gewisser Aumlmter berufen sind bilden ungleich- artige Massen da sie aber nur in einer ganz bestimmten Frage ihre Wirksamkeit entfalten naumlmlich bei der Wahl zwischen mehreren Kandidaten so lassen sich bei ihnen nur einige der fruumlher beschriebenen Merkmale beobachten Besonders hervorragend ist die geringe Urteilsfaumlhigkeit dann der Mangel an kritischem Denken die Erregbarkeit Leichtglaumlubigkeit und Einfalt der Massen Auch entdeckt man in ihren Entscheidungen den Einfluszlig der Fuumlhrer und die Wirkung der bereits angefuumlhrten Triebkraumlfte Behaup- tung Wiederholung Nimbus und UumlbertragungSehen wir nun zu wie sie zu gewinnen sind Ihre Psycho- logie laumlszligt sich nach bewaumlhrter Methode klar ableiten Als erste Eigenschaft muszlig der Bewerber einen Nimbus

128 DIE VERSCHIEDENEN ARTEN VON MASSEN

haben Persoumlnlicher Nimbus kann nur durch Reichtum ersetzt werden Talent und selbst Genie sind keine Vor- bedingungen fuumlr den ErfolgFolglich ist der persoumlnliche Nimbus des Bewerbers um sich ohne weitere Eroumlrterungen durchsetzen zu koumlnnen von ausschlaggebender Bedeutung Daszlig die Waumlhler die in der Mehrzahl aus Arbeitern und Bauern bestehen so selten einen ihrer Leute als Vertreter waumlhlen erklaumlrt sich daraus daszlig ihre Standesgenossen keinen Nimbus bei ihnen haben Sie waumlhlen einen ihresgleichen fast nur aus nebensaumlchlichen Gruumlnden etwa um einen hochgestellten Manne einem maumlchtigen Arbeitgeber entgegenzutreten weil der Waumlhler Tag fuumlr Tag die Abhaumlngigkeit von diesem empfindet und sich so einbildet einen Augenblick seiner Herr zu seinAber der Besitz des Nimbus genuumlgt fuumlr den Bewerber nicht zur Sicherung des Erfolges Der Waumlhler haumllt darauf daszlig man seinen Begierden und Eitelkeiten schmeichelt Der Kandidat muszlig uumlbertriebene Schmeicheleien anwenden und darf kein Bedenken tragen die phantastischsten Ver- sprechungen zu machen Vor Arbeitern kann man ihre Arbeitgeber nicht genug beleidigen und schmaumlhen Den gegnerischen Bewerber wiederum muszlig man zu vernichten suchen indem man durch Behauptung Wiederholung und Uumlbertragung zu beweisen sucht er sei der aumlrgste Schuft von dem jeder wisse daszlig er etliche Verbrechen begangen habe Selbstredend ist es unnoumltig etwas vorbringen zu wollen was einem Beweis aumlhnelt Ist der Gegner ein schlechter Kenner der Massenpsychologie so wird er sich durch Beweise zu rechtfertigen suchen anstatt auf verleum- derische Behauptungen einfach mit andern ebenso verleum- derischen zu antworten und wird dann keine Aussicht auf Sieg habenDas geschriebene Programm des Kandidaten darf nicht sehr entschieden sein weil seine Gegner es ihm spaumlter ent- gegenhalten koumlnnten aber sein muumlndliches Programm kann nicht uumlbertrieben genug sein Die auszligerordentlichsten Re-

129DIE WAumlHLERMASSEN

formen duumlrfen in Aussicht gestellt werden Fuumlr den Augen- blick erzielen diese Uumlbertreibungen groszlige Wirkung und fuumlr die Zukunft verpflichten sie zu nichts Der Waumlhler kuumlm- mert sich spaumlter tatsaumlchlich nie darum ob der Gewaumlhlte sein Glaubensbekenntnis dem man begeistert zustimmte und das angeblich die Voraussetzung fuumlr das Zustande- kommen der Wahl war auch wirklich befolgt hatWir erkennen hier alle Mittel der Uumlberredung wieder die oben beschrieben wurden Wir werden sie auch in der Wirkung der Worte und R e d e w e n d u n g e n wieder- finden auf deren maumlchtige Herrschaft wir bereits hinge- wiesen haben Der Redner der die Massen zu behandeln weiszlig fuumlhrt sie nach Belieben Ausdruumlcke wie der verderb- liche Kapitalismus die gemeinen Ausbeuter der bewun- dernswerte Arbeiter die Sozialisierung der Besitztuumlmer u a rufen stets die gleiche schon etwas verbrauchte Wir- kung hervor Der Bewerber aber der eine neue Rede- wendung entdeckt die jeder bestimmten Bedeutung er- mangelt und sich daher den verschiedensten Wuumlnschen an- zupassen vermag erzielt unfehlbar Erfolg Die blutige spanische Revolution von 873 kam durch eins jener magi- schen vieldeutigen Worte zustande das jeder nach seiner Weise deuten kann Ein zeitgenoumlssischer Autor hat uumlber ihre Entstehung in so denkwuumlrdiger Weise berichtet daszlig sie wiedergegeben zu werden verdient

bdquoDie Radikalen hatten entdeckt daszlig eine einheitliche Re- publik eine verkappte Monarchie sei und ihnen zu Ge- fallen hatten die Cortes einstimmig die verbuumlndete Repu- blik ausgerufen ohne daszlig auch nur einer der Abstimmen- den haumltte sagen koumlnnen woruumlber abgestimmt wurde Aber diese Redewendung bezauberte die Welt man war wie im Rausch im Delirium Die Herrschaft der Tugend und des Gluumlcks war auf Erden gegruumlndet worden Ein Repu- blikaner dem von seinem Feind die Bezeichnung eines Verbuumlndeten versagt wurde fuumlhlte sich durch einen toumld- lichen Schimpf beleidigt Auf den Straszligen ging man mit den Worten Salud y republica federallsquo aufeinander zu

130 DIE VERSCHIEDENEN ARTEN VON MASSEN

Dann stimmte man der heiligen Zuchtlosigkeit und Selbst- herrlichkeit der Soldaten Lobeshymnen an Was war die verbuumlndete Republiklsquo Die einen verstanden darunter die Gleichberechtigung der Provinzen Einrichtungen nach dem Muster der Vereinigten Staaten oder Aufhebung der ein- heitlichen Verwaltung andre wieder dachten an die Besei- tigung aller Obrigkeit den baldigen Beginn der groszligen sozialen Abrechnung Die Sozialisten in Barcelona und Andalusien predigten die unumschraumlnkte Selbstaumlndigkeit der Gemeinden und forderten die Bildung von zehntausend unabhaumlngigen Gemeinden in Spanien die sich selbst ihre Gesetze geben und gleichzeitig Polizei und Heer aufheben wuumlrden Bald sah man daszlig sich der Aufstand in den suumld- lichen Provinzen von Stadt zu Stadt von Dorf zu Dorf ausbreitete Sobald eine Gemeinde ihr pronunciamentolsquo er- lassen hatte war ihre erste Sorge Telegraphen und Eisen- bahnen zu zerstoumlren um alle Verbindungen mit der Um- gegend und mit Madrid abzuschneiden Der elendeste Flek- ken wollte in seiner eigenen Kuumlche kochen Der Foumlderalis- mus hatte einem rohen mordbrennerischen und moumlrderi- schen Kantonalismus Platz gemacht und uumlberall wurden blutige Saturnalien gefeiertldquoWas den Einfluszlig der logischen Beweisgruumlnde auf den Geist der Waumlhler anbelangt so duumlrfte man nie den Bericht uumlber eine Wahlversammlung gelesen haben um nicht daruumlber im klaren zu sein Man tauscht dort Behauptungen Be- schimpfungen manchmal auch Puumlffe aus doch niemals Gruumlnde Es wird nur dann einen Augenblick ruhig wenn ein wuumlrdiger Teilnehmer umstaumlndlich ankuumlndigt daszlig er an den Kandidaten eine jener verwickelten Fragen richten wolle die die Zuhoumlrer immer sehr belustigen Die Zu- friedenheit der Gegner dauert aber nicht lange denn die Stimme des Vorredners wird bald von dem Geheul seiner Widersacher uumlbertoumlnt Als Schilderung der Grundform oumlffentlicher Versammlungen sind folgende Berichte anzu- sehen die aus hunderten aumlhnlicher herausgegriffen den Tageszeitungen entnommen sind

DIE WAumlHLERMASSEN 131

bdquoNachdem ein Ordner die Anwesenden ersucht hat einen Vorsitzenden zu waumlhlen bricht der Sturm los Die An- archisten stuumlrzen auf den Schauplatz um sich des Redner- pultes im Sturm zu bemaumlchtigen Die Sozialisten vertei- digen ihn energisch man stoumlszligt einander schimpft sich gegenseitig Spion Bestochener und dergleichen hellip ein Buumlr- ger zieht sich mit einem blauen Auge zuruumlck Endlich ist mitten im Tumult so gut es geht der geschaumlfts- fuumlhrende Ausschuszlig eroumlffnet und die Rednerbuumlhne bleibt dem Genossen XDer Redner geht in scharfem Zug gegen die Sozialisten los die ihn unterbrechen und schreien Trottel Bandit Schurkelsquo usw Genosse X beantwortet diese Schimpfnamen durch Darlegung einer Theorie wonach die Sozialisten Idiotenlsquo oder Possenreiszligerlsquo sindldquobdquoDie Allemanistische Partei hatte gestern abend im Saale der Kaufmannschaft in der Rue Faubourg-du-Temple eine groszlige Versammlung fuumlr das Fest der Arbeiterschaft am Mai einberufen hellip Das Losungswort war Stille und RuheGenosse Ghellip bezeichnet die Sozialisten als Trottellsquo und SchwindlerlsquoDiese Worte veranlassen Redner und Zuhoumlrer zu schimp- fen sie geraten ins Handgemenge Stuumlhle Baumlnke Tische spielen ihre Rolle usw uswldquoMan glaube ja nicht diese Art der Auseinandersetzung sei nur einer bestimmten Art von Waumlhlern eigen und ab- haumlngig von ihrer gesellschaftlichen Stellung In jeder be- liebigen Versammlung und bestuumlnde sie auch nur aus aka- demisch Gebildeten nimmt die Auseinandersetzung leicht dieselben Formen an Ich habe gezeigt daszlig die Menschen als Glieder der Masse zur geistigen Angleichung neigen dafuumlr werden wir jederzeit den Beweis finden Als Beleg diene folgender Auszug aus einem Bericht uumlber eine Ver- sammlung die ausschlieszliglich aus Studenten bestand

bdquoJe weiter der Abend vorschritt um so heftiger wurde der Tumult Ich glaube nicht daszlig ein einziger Redner zwei

132 DIE VERSCHIEDENEN ARTEN VON MASSEN

Saumltze ohne Unterbrechung vorbringen konnte Fortwaumlh- rend ertoumlnten Rufe von der einen oder anderen Seite oder von allen Seiten zugleich man klatschte Beifall man pfiff erregte Auseinandersetzungen entspannen sich zwischen ver- schiedenen Anwesenden Stoumlcke wurden drohend geschwun- gen man stampfte im Takt auf den Boden Wuumlstes Geschrei verfolgte die Stoumlrenfriede Hinaus Auf die TribuumlneHerr Chellip uumlberschuumlttet die Vereinigung mit niedertraumlch- tigen und gehaumlssigen Beiwoumlrtern wie ungeheuerlich ge- mein kaumluflich und rachsuumlchtig und erklaumlrt er wolle sie vernichten uswldquoMan konnte sich fragen wie sich unter solchen Bedingun- gen die Meinung eines Waumlhlers bilden kann Aber um eine derartige Frage zu stellen muumlszligte man sich einer erstaun- lichen Taumluschung uumlber den Grad von Freiheit hingeben dessen sich eine Gesamtheit erfreut Die Massen haben nur eingefloumlszligte nie vernuumlnftige Meinungen Diese Meinungen und Abstimmungen der Waumlhler liegen in den Haumlnden der Wahlausschuumlsse deren Fuumlhrer meistens einige Schankwirte sind die groszligen Einfluszlig auf die Arbeiter haben denen sie Kredit gewaumlhren bdquoWissen Sie was ein Wahlausschuszlig istldquoschreibt Scheacuterer einer der eifrigsten Verteidiger der Demo- kratie bdquoganz einfach der Schluumlssel zu unsren Einrichtungen das Hauptstuumlck der politischen Maschinerie Frankreich wird heute von den Ausschuumlssen regiert ldquoEs ist denn auch nicht allzu schwer die zu beeinflussen wenn der Bewerber nur einigermaszligen annehmbar ist und

Die Ausschuumlsse moumlgen sie nun Klubs Syndikate usw heiszligen bilden viel- leicht die furchtbarste Gefahr die uns durch die Macht der Massen droht Sie sind tatsaumlchlich die unpersoumlnlichste und daher druumlckendste Form der Gewalt- herrschaft Die Leiter der Ausschuumlsse die im Namen einer Gesamtheit zu sprechen und zu handeln scheinen sind aller Verantwortung enthoben und koumlnnen sich alles erlauben Der grausamste Tyrann haumltte niemals gewagt von den Verbannungen auch nur zu traumlumen die vom Revolutionsausschuszlig angeordnet wurden Sie hatten den Konvent verkleinert und regelrecht zuge- schnitten sagt Barras Solange er in ihrem Namen sprechen durfte war Ro- bespierre unumschraumlnkter Herr An dem Tage als sich der schreckliche Diktator selbstsuumlchtig von ihnen trennte schlug die Stunde seines Untergangs Herr- schaft der Massen heiszligt Herrschaft der Ausschuumlsse also der Fuumlhrer Einen haumlrteren Despotismus kann man sich nicht vorstellen

DIE WAumlHLERMASSEN 133

uumlber genuumlgende Mittel verfuumlgt Nach dem Eingestaumlndnis der Geldgeber genuumlgten drei Millionen um die vielfache Wahl des General Boulanger durchzusetzen Das ist die Psychologie der Waumlhlermassen Sie ist die gleiche wie die der andern Massen Weder besser noch schlechterIch will denn auch aus dem Vorstehenden keinen Schluszlig gegen das allgemeine Stimmrecht ziehen Haumltte ich uumlber sein Geschick zu entscheiden so wuumlrde ich es so beibe- halten wie es ist und zwar aus praktischen Gruumlnden die sich eben aus unsrer Untersuchung uumlber die Psychologie der Massen ergeben und die ich auseinandersetzen werde wenn ich erst an seine Nachteile erinnert habeDie Nachteile des allgemeinen Stimmrechts fallen ohne Zweifel zu sehr in die Augen als daszlig man sie verkennen koumlnnte Es ist nicht in Abrede zu stellen daszlig die Kulturen das Werk einer kleinen Minderheit uumlberlegener Geister ge- wesen sind diese bilden die Spitze einer Pyramide deren Stufen nach unten gemaumlszlig der Abnahme des geistigen Wer- tes breiter werden und die tieferen Schichten eines Volkes darstellen Die Groumlszlige einer Kultur darf gewiszlig nicht von dem Stimmrecht untergeordneter Elemente abhaumlngen die nichts als eine Zahl bedeuten Ohne Zweifel sind die Ab- stimmungen der Massen recht oft gefaumlhrlich Sie haben uns bereits mehrere Invasionen gekostet und mit dem Triumph des Sozialismus werden uns die Einfaumllle der Volksherr- schaft gewiszlig noch viel teuerer zu stehn kommen hellipAber diese Einwaumlnde die theoretisch tadellos sind buumlszligen fuumlr die Praxis jede Kraft ein wenn man sich der unuumlber- windlichen Macht der Ideen erinnert die in Glaubenssaumltze umgewandelt wurden Der Glaubenssatz von der Herr- schaft der Massen ist vom philosophischen Standpunkt ebensowenig zu verfechten wie die religioumlsen Glaubenssaumltze des Mittelalters aber er hat heute die unumschraumlnkte Macht Daher ist er ebenso unangreifbar wie einst unsere religioumlsen Ideen Man stelle sich einen modernen Freidenker vor der durch eine magische Gewalt ins tiefste Mittelalter versetzt wuumlrde Glaubt man etwa er wuumlrde wenn er die

134 DIE VERSCHIEDENEN ARTEN VON MASSEN

unumschraumlnkte Macht der religioumlsen Ideen die damals herrschten erkannt haumltte versucht haben sie zu bekaumlmp- fen Haumltte er daran gedacht die Existenz des Teufels und den Hexensabbath zu leugnen wenn er in die Haumlnde eines Richters gefallen waumlre der ihn unter der Anschuldigung einen Pakt mit dem Teufel geschlossen und den Hexen- sabbath besucht zu haben verbrennen lassen wollte Gegen die Uumlberzeugungen der Masse streitet man ebensowenig wie gegen Zyklone Der Glaubenssatz des allgemeinen Stimmrechts hat heute die Macht die einst die Lehren des Christentums besaszligen Redner und Schriftsteller sprechen daruumlber mit einer Achtung und mit Schmeicheleien die Ludwig XIV nicht kennengelernt hat Man muszlig ihm dieselbe Beachtung schenken wie allen religioumlsen Dogmen Die Zeit allein wirkt auf sieEs waumlre uumlbrigens um so zweckloser diese Lehre erschuumlttern zu wollen als sie offensichtliche Gruumlnde fuumlr sich hat bdquoIn Zeiten der Gleichheitldquo sagt Tocqueville treffend bdquotraut einer dem andern nicht weil alle einander aumlhnlich sind aber gerade diese Aumlhnlichkeit gibt ihnen ein fast unbe- grenztes Vertrauen in das Urteil der Allgemeinheit Denn es erscheint nicht wahrscheinlich daszlig da alle die gleiche Einsicht haben die Wahrheit nicht auf der Seite der groumlszlig- ten Zahl zu finden sein sollldquoDarf man nun annehmen die Abstimmungen der Massen wuumlrden durch die Beschraumlnkung des Stimmrechts auf die Faumlhigen ndash wenn man will ndash eine Besserung erfahren Ich kann es keinen Augenblick annehmen und zwar aus Gruumln- den die ich oben bereits angefuumlhrt habe und die in der geistigen Bedeutungslosigkeit aller Gesamtheiten liegen wie sie auch immer zusammengesetzt sein moumlgen Ich wieder- hole in der Masse gleichen sich die Menschen stets ein- ander an und die Abstimmung von vierzig Akademikern uumlber allgemeine Fragen gilt nicht mehr als die von vierzig Wassertraumlgern Ich bin ganz und gar uumlberzeugt daszlig keine der Abstimmungen die dem allgemeinen Stimmrecht so oft vorgehalten werden wie etwa die Erneuerung des Kaiser-

DIE WAumlHLERMASSEN 135

tums anders ausgefallen waumlre wenn man die Abstimmen- den ausschlieszliglich aus dem Kreise der Gelehrten und Ge- bildeten genommen haumltte Man erwirbt durch die Kenntnis des Griechischen oder der Mathematik dadurch daszlig man Architekt Tierarzt Arzt oder Advokat ist keine beson- dere Einsicht in Fragen des Gefuumlhls Alle unsere National- oumlkonomen sind gelehrte Leute in der Mehrzahl Profes- soren und Akademiker Gibt es nun eine einzige allgemeine Frage wie z B das Schutzzollsystem in der sie uumlberein- stimmten Vor den sozialen Fragen die voll sind von vielfachen Unbekannten und der Geheim- und Gefuumlhls- logik unterliegen gleichen sich alle Unwissenheiten ausWenn also auch nur von Gelehrsamkeit strotzende Waumlhler den Wahlkoumlrper bildeten so wuumlrden ihre Abstimmungen doch nicht besser sein als die von heute Sie wuumlrden sich vor allem durch ihre Gefuumlhle und ihren Parteigeist leiten lassen Wir haumltten nicht eine Schwierigkeit weniger als jetzt und obendrein die harte Tyrannei der KastenOb nun das Wahlrecht beschraumlnkt oder allgemein ist ob es in einem republikanischen oder in einem monarchischen Lande herrscht ob es in Frankreich Belgien Griechenland Portugal oder Spanien gilt uumlberall ist das Wahlrecht der Massen aumlhnlich und gibt oft die unbewuszligten Anspruumlche und Beduumlrfnisse der Rasse wieder Der Durchschnitt der Gewaumlhlten stellt fuumlr jedes Volk die Durchschnittsseele seiner Rasse dar die von einer Generation zu andern so ziemlich die gleiche bleibtUnd so kommen wir wiederum auf diesen Grundbegriff der Rasse zuruumlck dem wir schon so oft begegnet sind und auf den anderen daraus abzuleitenden Gedanken daszlig im Voumllkerleben die Einrichtungen und Regierungsformen nur eine sehr unwesentliche Rolle spielen Die Voumllker werden vor allem durch die Rassenseele geleitet d h durch die Ansammlung von Erbmasse deren Summe diese Seele bildet Die Rasse und das Getriebe der taumlglichen Beduumlrf- nisse das sind die geheimnisvollen Maumlchte die unsere Ge- schicke lenken

136 DIE VERSCHIEDENEN ARTEN VON MASSEN

5 KAPITEL

Die Parlamentsversammlungen

Die Parlamentsversammlungen gehoumlren zu den ungleich- artigen nicht namenlosen Massen Obwohl ihre Zusam- mensetzung je nach Zeiten und Voumllkern wechselt gleichen sie einander durch ihre Charaktermerkmale doch sehr Der Rasseneinfluszlig macht sich hier wohl in einer Milderung oder Verstaumlrkung bemerkbar verhindert das Heraustreten dieser Charakterzuumlge jedoch nicht Die Parlamentsver- sammlungen der verschiedenen Laumlnder wie Griechenland Italien Portugal Spanien Frankreich und Amerika wei- sen groszlige Aumlhnlichkeit in ihren Verhandlungen und Ab- stimmungen auf und uumlberlassen die Regierungen dem Kampf mit den gleichen SchwierigkeitenDie parlamentarische Regierung faszligt uumlbrigens das Ideal aller modernen Kulturvoumllker in sich zusammen Es bringt den psychologisch falschen aber allgemein anerkannten Gedanken zum Ausdruck daszlig eine Vereinigung von vie- len Menschen im gegebenen Falle faumlhiger ist eine kluge und unabhaumlngige Entscheidung zu treffen als eine kleine AnzahlIn den Parlamentsversammlungen finden sich die Grund- merkmale der Massen wieder Einseitigkeit der Ideen Erregbarkeit Beeinf luszligbarkeit Uumlberschwenglichkeit der Gefuumlhle uumlberwiegender Einfluszlig der Fuumlhrer Aber infolge ihrer besonderen Zusammensetzung weisen die parlamen- tarischen Massen einige Unterschiede auf Wir werden sie sogleich feststellenDie Einseitigkeit der Anschauungen gehoumlrt zu den aus- gepraumlgtesten Merkmalen dieser Versammlungen Man trifft bei allen Parteien namentlich der lateinischen Voumllker die unveraumlnderliche Neigung die verwickeltsten sozialen Fra- gen durch die einfachsten begrifflichen Grundsaumltze und durch allgemeine Gesetze zu loumlsen die in jedem Falle an- gewandt werden koumlnnen

Natuumlrlich sind die Grundsaumltze bei jeder Partei verschie-den aber allein durch die Tatsache ihrer Vereinigung zu Massen haben die einzelnen stets die Neigung den Wert dieser Grundsaumltze zu uumlberschaumltzen und sie zu den aumluszliger- sten Folgerungen zu treiben Uumlbrigens vertreten die Parla- mente hauptsaumlchlich die aumluszligersten AnsichtenDer vollkommenste Typus der Einseitigkeit der Versamm- lungen wurde durch die Jakobiner der groszligen Franzoumlsi- schen Revolution verwirklicht Da sie alle Dogmatiker und Logiker waren die den Kopf voll verschwommener Ge- meinplaumltze hatten bemuumlhten sie sich unbekuumlmmert um die Tatsachen feste Grundsaumltze anzuwenden und man hat mit Recht behauptet sie haumltten die Revolution erlebt ohne sie zu sehen Sie bildeten sich ein mit einigen Glau- benssaumltzen eine Gesellschaft von Grund auf umgestalten und eine verfeinerte Kultur auf eine laumlngst uumlberschrittene Stufe der gesellschaftlichen Entwicklung zuruumlckbringen zu koumlnnen Die gleiche voumlllige Einseitigkeit praumlgt sich auch in den Mitteln aus die sie zur Verwirklichung ihres Trau- mes anwandten In Wirklichkeit beschraumlnkten sie sich auf die gewaltsame Zerstoumlrung dessen was sie stoumlrte Uumlbrigens beseelte alle Girondisten Bergpartei Thermidorianer usw derselbe GeistDie parlamentarischen Massen sind Einfluumlssen sehr zugaumlng- lich und die Suggestion geht hier wie bei den uumlbrigen Massen von Fuumlhrern aus die ein Nimbus umgibt Doch hat in den Parlamentsversammlungen die Beeinflussung sehr klare Grenzen die wir abstecken muumlssenUumlber alle Fragen lokalen Interesses hat jedes Mitglied einer Versammlung feste unverruumlckbare Ansichten die durch kein Beweismittel zu erschuumlttern sind Nicht einmal das Talent eines Demosthenes koumlnnte die Abstimmung eines Abgeordneten uumlber Fragen des Schutzzollsystems oder das Branntweinprivileg aumlndern ndash worin sich die Forde- rungen einfluszligreicher Waumlhler aumluszligern Die vorangegangene Beeinflussung durch die Waumlhler hat solches Uumlbergewicht

138 DIE VERSCHIEDENEN ARTEN VON MASSEN

daszlig alle andern Einfluumlsse aufgehoben sind und eine unbe- dingte Festigkeit der Meinung aufrechterhalten wird In allgemeinen Fragen aber dem Sturz eines Ministeriums der Auflage einer neuen Steuer usw bestehen keine fest- gelegten Meinungen und die Suggestionen koumlnnen sich auswirken wenn auch nicht ganz so stark wie in einer gewoumlhnlichen Masse Jede Partei hat ihre Fuumlhrer die bis- weilen gleichstarken Einf luszlig ausuumlben Der Abgeordnete befindet sich also zwischen entgegengesetzten Einfluumlssen und es kann nicht ausbleiben daszlig er unsicher wird Daher sieht man ihn zuweilen schon nach einer Viertelstunde in entgegengesetztem Sinne abstimmen und einem Gesetz einen Zusatz beifuumlgen der es aufhebt etwa den Industriellen das Recht der Auswahl und der Entlassung ihrer Arbeiter neh- men und dann diese Maszlignahmen durch einen Zusatz so ziemlich wieder fuumlr unguumlltig erklaumlrenDaher zeigt eine Kammer in jeder Legislaturperiode neben sehr festen Anschauungen andere ganz unbestimmte Da aber im Grunde die allgemeinen Fragen die meisten sind so herrscht Unentschiedenheit vor die durch die staumlndige Furcht vor dem Waumlhler genaumlhrt wird dessen verborgener Einfluszlig dem der Fuumlhrer stets das Gegengewicht zu halten weiszligUnd doch sind in den Auseinandersetzungen wenn die Teilnehmer nicht von vornherein festgelegte Meinungen haben die Fuumlhrer die eigentlichen HerrenFuumlhrer sind offenbar notwendig denn man findet sie als Parteihaumlupter in allen Laumlndern Sie sind die wahren Herren der Versammlungen Die Menschen die in den Massen vereinigt sind wuumlrden ohne Fuumlhrer nicht fertig werden und so zeigen die Abstimmungen im allgemeinen nur die Anschauungen einer kleinen MinderheitIch wiederhole die Fuumlhrer wirken nur sehr wenig durch Auf diese schon im voraus durch die Beduumlrfnisse der Waumlhler festgelegten Ansichten bezieht sich offenbar folgende Bemerkung eines alten englischen Parlamentariers bdquoIn den fuumlnfzig Jahren meiner Anwesenheit in Westminster habe ich Tausende von Reden gehoumlrt und nur wenige haben meine Ansichten veraumlndert aber nicht eine einzige hat auf meine Abstimmung Einfluszlig gehabtldquo

DIE PARLAMENTSVERSAMMLUNGEN 139

ihre Beweisgruumlnde sehr stark aber durch ihren Nimbus Wenn irgendein Umstand ihn aufhebt verlieren sie jeden EinfluszligDieser Fuumlhrernimbus ist persoumlnlich und hat nichts mit Namen und Beruumlhmtheit zu tun Jules Simon gibt uns recht eigenartige Beispiele dafuumlr wenn er uumlber die groszligen Maumlnner der Versammlung von 848 der er beiwohnte sagt

bdquoNoch zwei Monate vor seiner Allgewalt war Louis Na- poleon nichtsVictor Hugo bestieg die Rednertribuumlne Aber er hatte keinen Erfolg Man houmlrte ihn an wie man Felix Pyat anhoumlrte aber er hatte nicht den gleichen Beifall Ich liebe seine Ideen nichtlsquo sagte mir Vaulabelle uumlber Felix Pyat aber er ist einer der groumlszligten Schriftsteller und der groumlszligte Redner Frankreichslsquo Der seltene und maumlchtige Geist eines Edgar Quinet galt nichts Er hatte seinen volkstuumlmlichen Augenblick vor Eroumlffnung der Versammlung gehabt in der Versammlung kam er nicht aufDie politischen Versammlungen sind die Staumltten der Welt wo der Glanz des Genies am wenigsten zur Geltung kommt Man rechnet hier nur mit einer Beredsamkeit die der Zeit und dem Ort angepaszligt ist und mit Diensten die man den Parteien erwiesen hat nicht dem Vaterland Damit Lamartine 848 und Thiers 87 zur Anerkennung gelangten bedurfte es der dringenden unabweisbaren Wichtigkeit als treibender Kraft Als die Gefahr voruumlber war verschwand mit der Furcht auch die DankbarkeitldquoIch habe die Stelle nur der Tatsachen wegen wiedergege- ben die sie enthaumllt nicht wegen der versuchten Erklaumlrun- gen sie zeigen nur eine mittelmaumlszligige Psychologie Eine Masse wuumlrde ihren Charakter als Masse ja sogleich ver- lieren wenn sie den Fuumlhrern ihre Dienste moumlgen sie nun dem Vaterland oder der Partei geleistet worden sein in Anrechnung braumlchte Die Masse unterliegt dem Nimbus des Fuumlhrers ohne daszlig ein Gefuumlhl des Vorteils oder der Dankbarkeit dabei mitspielt

140 DIE VERSCHIEDENEN ARTEN VON MASSEN

Der Fuumlhrer der uumlber genuumlgend Nimbus verfuumlgt besitzt denn auch eine fast unumschraumlnkte Macht Man kennt die ungeheure Wirkung die ein beruumlhmter Abgeordneter dank seines Nimbus den er dann infolge gewisser finanzieller Vorkommnisse augenblicklich einbuumlszligte jahrelang ausgeuumlbt hat Auf ein bloszliges Zeichen von ihm wurden Minister ge- stuumlrzt Ein Schriftsteller hat in folgenden Zeilen die Trag- weite seines Wirkens klar gezeichnet

bdquoHerrn Chellip besonders verdanken wir es daszlig wir Ton- king dreimal so teuer erkaufen muszligten als es haumltte sein duumlrfen daszlig wir auf Madagaskar nur eine unsichere Stel- lung gewonnen haben daszlig wir uns ein ganzes Reich am unteren Niger rauben lieszligen daszlig wir in Aumlgypten unsere Vorherrschaft eingebuumlszligt haben ndash Die Theorien von Herrn Chellip haben uns mehr Gebiet gekostet als die Nie- derlagen Napoleons IldquoWir duumlrfen dem Fuumlhrer deswegen nicht zu sehr zuumlrnen Gewiszlig ist es uns teuer zu stehen gekommen aber ein gro- szliger Teil seines Einflusses hing mit seiner Anschmiegung an die oumlffentliche Meinung zusammen die in kolonialen Fra- gen keineswegs die von heute war Selten schreitet ein Fuumlhrer der oumlffentlichen Meinung voran fast immer be- gnuumlgt er sich damit ihre Irrtuumlmer anzunehmenDie Uuml b e r r e du n g s m i t t e l der Fuumlhrer sind abgesehen von ihrem Nimbus die Faktoren die wir schon wieder- holt aufgezaumlhlt haben Um sie geschickt zu handhaben muszlig der Fuumlhrer wenigstens unbewuszligt die Psychologie der Massen erfaszligt haben und wissen wie man zu ihnen zu sprechen hat Vor allem muszlig er den bezaubernden Ein- fluszlig der Worte Redewendungen und Bilder kennen Er muszlig eine besondere Beredsamkeit besitzen die aus ener- gischen Behauptungen die nicht zu beweisen sind und eindrucksvollen von ganz allgemeinen Urteilen umrahm- ten Bildern zusammengesetzt ist Diese Art Beredsamkeit findet man in allen Versammlungen das englische Parla- ment das ausgeglichenste von allen inbegriffen

bdquoWir koumlnnen bestaumlndig die Verhandlungen im Unterhause

DIE PARLAMENTSVERSAMMLUNGEN 141

verfolgenldquo bemerkt der englische Philosoph Maine bdquowo alle Verhandlungen im Austausch recht schwacher Gemein- plaumltze und grober Anzuumlglichkeiten bestehn Auf die Ein- bildungskraft einer reinen Demokratie uumlbt diese Art allge- meiner Redensarten eine erstaunliche Wirkung aus Es wird immer leicht zu erreichen sein daszlig eine Masse allge- meinen Versicherungen zustimmt die mit packenden Wor- ten vorgebracht werden obwohl sie sich nie bewahrheitet haben und ihre Verwirklichung vielleicht gar nicht moumlg- lich istldquoWie die angefuumlhrte Stelle zeigt kann die Bedeutung der bdquoSchlagworteldquo gar nicht uumlberschaumltzt werden Schon oumlfter haben wir die besondere Macht der Worte und Redewen- dungen betont die so gewaumlhlt wurden daszlig sie nur recht lebhafte Bilder hervorrufen Folgender Satz aus der Rede eines Fuumlhrers in Versammlungen gibt uns eine ausreichende Probe davon

bdquoAn dem Tage da einmal dasselbe Schiff den unlauteren Politiker und den moumlrderischen Anarchisten nach den Fiebergebieten der Verbannung bringt werden sie sich mit- einander unterhalten koumlnnen und werden sich gegenseitig als die beiden komplementaumlren Seiten derselben Gesell- schaftsordnung erscheinenldquoDas so hervorgerufene Bild ist klar und treffend und alle Gegner des Redners fuumlhlen sich dadurch getroffen Sie sehen mit einemmal die Fiebergebiete das Fahrzeug das sie hinfuumlhren koumlnnte denn gehoumlren sie nicht vielleicht zu der recht unbestimmt abgegrenzten Klasse der bedrohten Politiker Es befaumlllt sie also die gleiche dumpfe Furcht wie sie die Konventsmitglieder empfunden haben muumlssen die durch die unbestimmten Reden Robespierres mehr oder weniger mit der Guillotine bedroht wurden und ihm unter dem Druck dieser Furcht stets nachgabenDie Fuumlhrer neigen alle dazu in die unwahrscheinlichsten Uumlbertreibungen zu verfallen Der Redner von dem ich soeben einen Satz anfuumlhrte konnte ohne groszligen Protest hervorzurufen behaupten daszlig die Bankiers und Priester

142 DIE VERSCHIEDENEN ARTEN VON MASSEN

Bombenwerfer bezahlten und die Verwaltungsraumlte der groszligen Finanzgesellschaften die gleiche Strafe verdienten wie die Anarchisten Auf die Massen wirken solche Mittel immer Die Behauptung ist nie zu stark der Ton nie zu drohend Nichts schuumlchtert die Zuhoumlrer mehr ein Durch Widerspruch fuumlrchten sie fuumlr Verraumlter oder Mitschuldige zu geltenDiese besondere Beredsamkeit hat wie gesagt stets alle Versammlungen beherrscht in kritischen Zeiten ist sie nur ausgepraumlgter In dieser Hinsicht ist es interessant die Re- den der groszligen Revolutionsredner zu lesen Sie fuumlhlten sich verpflichtet sich alle Augenblicke zu unterbrechen um das Verbrechen zu verdammen und die Tugend zu preisen dann brachen sie in Verwuumlnschungen gegen die Tyrannen aus und schwuren frei leben oder sterben zu wollen Die Anwesenden erhoben sich klatschten stuumlrmisch Beifall und lieszligen sich dann beruhigt wieder niederZuweilen gibt es einen intelligenten und gebildeten Fuumlh- rer doch das schadet ihm in der Regel mehr als es ihm nuumltzt Die Intelligenz die die Verbundenheit aller Dinge erkennt die Verstehen und Erklaumlren ermoumlglicht macht nachgiebig und vermindert die Kraft und Gewalt der Uumlberzeugungen erheblich die die Apostel noumltig haben Die groszligen Fuumlhrer aller Zeiten die der Revolution hauptsaumlch- lich waren sehr beschraumlnkt und haben deshalb den groumlszlig- ten Einfluszlig ausgeuumlbtDie Reden des beruumlhmtesten unter ihnen Robespierre ver- bluumlffen oft durch ihre Zusammenhanglosigkeit Wenn man sie liest findet man keine annehmbare Erklaumlrung fuumlr die ungeheure Rolle des maumlchtigen Diktators

bdquoGemeinplaumltze und Weitschweifigkeiten paumldagogischer Be- redsamkeit und lateinischer Bildung im Dienste einer eher kindlichen als platten Seele die sich beim Angriff wie bei der Verteidigung auf das komm doch ranlsquo von Schuumllern zu beschraumlnken scheint Nicht ein Gedanke keine Wen- dung kein Einfall ndash es ist die Langeweile in houmlchster Stei- gerung Man houmlrt verdrieszliglich auf zu lesen und hat Lust

DIE PARLAMENTSVERSAMMLUNGEN 143

mit dem liebenswuumlrdigen Camille Desmoulins achlsquo zu seufzenldquoMan erschrickt wenn man bedenkt welche Macht ein Mann der sich mit einem Nimbus zu umgeben weiszlig durch die Verbindung von starker Uumlberzeugung mit auszligerge- woumlhnlicher Beschraumlnktheit des Geistes erlangt Das sind jedoch die notwendigen Vorbedingungen um die Hinder- nisse zu uumlbersehen und um wollen zu koumlnnen Instinktiv erkennen die Massen in diesen kraftvoll Uumlberzeugten die Gebieter die sie brauchenDer Erfolg einer Rede in einer Parlamentsversammlung haumlngt fast ausschlieszliglich vom Nimbus des Redners ab keineswegs von den Gruumlnden die er vorbringtDer unbekannte Redner dessen Rede gute Beweisgruumlnde aber nur Beweisgruumlnde enthaumllt hat keine Aussicht auch nur angehoumlrt zu werden Ein ehemaliger Abgeordneter Herr Descubes hat das Bild des einfluszliglosen Abgeordneten in folgenden Zeilen entworfen

bdquoSobald er die Rednerbuumlhne bestiegen hat nimmt er aus seiner Mappe einen Aktenstoszlig den er planmaumlszligig vor sich ausbreitet und beginnt voll ZuversichtEr schmeichelt sich die Uumlberzeugung die ihn beseelt auf die Gemuumlter der Houmlrer uumlbertragen zu koumlnnen Er hat seine Beweisgruumlnde erwogen steckt uumlbervoll von Zahlen und Beweisen und ist uumlberzeugt recht zu haben Jeder Widerstand wird vor der Klarheit seiner Darlegungen schwinden Er beginnt im Vertrauen auf sein gutes Recht und die Aufmerksamkeit seiner Kollegen die gewiszlig nichts mehr wuumlnschen als sich vor der Wahrheit beugen zu duumlrfenEr spricht ndash und sofort wundert er sich uumlber die Bewe- gung im Saale und den Laumlrm der so entsteht er ist uumlber- rascht und etwas aufgeregtWarum wird es nicht ruhig Weshalb diese allgemeine Un- aufmerksamkeit Was denken denn die die sich miteinan- der unterhalten Welch dringender Grund veranlaszligt einen andern seinen Platz zu verlassen

144 DIE VERSCHIEDENEN ARTEN VON MASSEN

Auf seinem Gesicht zeigt sich Unruhe er runzelt die Stirn haumllt inne Durch den Vorsitzenden ermutigt faumlhrt er mit erhobener Stimme fort Dieselbe Unaufmerksamkeit Er uumlberanstrengt seine Stimme wird unruhig der Laumlrm um ihn herum steigert sich Er houmlrt sich selbst nicht mehr haumllt wieder inne dann spricht er so gut es geht weiter aus Furcht sein Stillschweigen koumlnne den peinlichen Ruf Schluszliglsquo heraufbeschwoumlren Der Laumlrm wird unertraumlglichldquo

In einem gewissen Grade der Erregung gleichen die Parla- mentsversammlungen voumlllig den gewoumlhnlichen ungleich- artigen Massen und ihre Gefuumlhle weisen folglich die Eigentuumlmlichkeit auf stets uumlberschwenglicher Art zu sein Sie lassen sich dann zu den groumlszligten Heldentaten oder zu den aumlrgsten Ausschreitungen hinreiszligen Der einzelne houmlrt auf er selbst zu sein und wird fuumlr Maszlignahmen stimmen die seinen persoumlnlichen Vorteilen ganz entgegengesetzt sindDie Geschichte der Revolution zeigt in welchem Maszlige die Versammlungen unbewuszligt werden und Beeinflussungen unterworfen sein koumlnnen die ihren Vorteilen ganz wider- sprechen Es war fuumlr den Adel ein ungeheures Opfer auf seine Vorrechte zu verzichten und doch geschah es in jener beruumlhmten Nacht der Konstituante Der Verzicht auf ihre Unverletzlichkeit bedeutete fuumlr die Konventsmitglieder eine staumlndige Todesdrohung und doch leisteten sie ihn und fuumlrchteten nicht einander gegenseitig zu dezimieren ob- wohl sie genau wuszligten daszlig das Schafott dem heute ihre Kollegen zugefuumlhrt wurden morgen ihnen selbst bevor- stand Aber da sie jenen Grad von Automatismus erreicht hatten den ich geschildert habe konnte kein Bedenken sie hindern sich den Einfluumlssen hinzugeben die sie be- zwangen Folgende Stelle aus den Erinnerungen Billaud- Varennes der zu ihnen gehoumlrt ist in dieser Hinsicht durch- aus allgemeinguumlltig bdquoDie Entscheidungen die man uns so sehr vorwirft wollten wir noch zwei ja einen Tag vorher meistens selbst nicht die Krise allein rief sie hervorldquo Nichts ist zutreffender

DIE PARLAMENTSVERSAMMLUNGEN 145

Dieselben Erscheinungen des Unbewuszligten traten waumlhrend aller stuumlrmischen Sitzungen des Konvents auf

bdquoSie billigen und beschlieszligen was sie verabscheuenldquo sagt Taine bdquonicht allein Dummheiten und Torheiten auch Ver- brechen Ermordung Unschuldiger Freundesmord Ein- muumltig und unter dem lebhaftesten Beifall schicken die Linke und die Rechte vereint Danton ihr natuumlrliches Oberhaupt den groumlszligten Foumlrderer und Fuumlhrer der Revo- lution aufs Schafott Einmuumltig und unter groumlszligtem Beifall stimmt die Rechte mit der Linken vereint fuumlr die aumlrgsten Beschluumlsse der revolutionaumlren Regierung Einmuumltig und unter Rufen der Bewunderung und Begeisterung unter leidenschaftlichen Zustimmungskundgebungen fuumlr Collot drsquoHerbois Couthon Robespierre haumllt der Konvent durch unvorbereitete vielfache Wiederwahl die moumlrderische Re- gierung aufrecht obwohl die Zentrumspartei sie wegen ihrer Mordtaten haszligt und die Bergpartei sie verabscheut weil ihre Reihen durch sie gelichtet werden Zentrum und Berg Mehr- und Minderheit enden damit ihren eignen Selbstmord zu foumlrdern Am 22 Prairial hat sich der ganze Konvent ergeben am 8 Thermidor waumlhrend der ersten Viertelstunde nach der Rede Robespierres abermalsldquoDas Bild mag duumlster erscheinen dennoch ist es wahrheits- getreu Die genuumlgend erregten und beeinf luszligten Parla- mentsversammlungen weisen dieselben Kennzeichen auf Sie werden zur beweglichen Herde die jedem Antrieb ge- horcht Folgende Schilderung der Versammlung von 848 die wir dem Parlamentarier Spuller verdanken dessen demokratische Gesinnung nicht angezweifelt werden kann ist ganz allgemeinguumlltig ich entnehme sie der bdquoRevue liteacuteraireldquo Man findet darin all die uumlberschwenglichen Ge- fuumlhle der Massen die ich beschrieben habe und die auszliger- ordentliche Beweglichkeit die imstande ist von einem Augenblick zum andern die Stufenleiter verschiedenster Gefuumlhle zu durchlaufen

bdquoZwietracht Eifersucht und Argwohn im Wechsel mit blindem Vertrauen und schrankenlosen Hoffnungen haben

146 DIE VERSCHIEDENEN ARTEN VON MASSEN

die Republikanische Partei ins Verderben gefuumlhrt Ihre Ahnungslosigkeit kann nur mit ihrem Miszligtrauen gegen alles verglichen werden Kein Sinn fuumlr Gesetzlichkeit kein Geist der Ordnung nur Furcht und Illusionen ohne Maszlig Bauer und Kind sind darin gleich Ihre Ruhe wetteifert mit ihrer Ungeduld Ihre Wildheit ist ebenso groszlig wie ihre Folgsamkeit Das ist die Eigentuumlmlichkeit eines un- reifen Temperaments und des Mangels an Erziehung Nichts setzt sie in Erstaunen alles verwirrt sie Zitternd feige und zugleich unverzagt und heldenhaft werden sie sich in die Flammen werfen und doch vor einem Schatten zuruumlckweichenWirkungen und Beziehungen der Dinge sind ihnen unbe- kannt Ebenso schnell entmutigt wie erregt sind sie allen Schrecken ausgesetzt entweder himmelhoch jauchzend oder zu Tode betruumlbt und haben nie den noumltigen Grad und das passende Maszlig Beweglicher als das Wasser spiegeln sie alle Farben wider und nehmen alle Formen an Auf wel- cher Grundlage muumlszligte sich eine Regierung aufbauen von der man hoffen koumlnnte daszlig sie bei ihnen festen Fuszlig fas- sen wuumlrdeldquoZum Gluumlck aumluszligern sich die Eigenschaften die wir schilder- ten nicht staumlndig in den Parlamentsversammlungen Diese sind nur in gewissen Augenblicken Massen In vielen Faumlllen bewahren die einzelnen die ihnen angehoumlren ihre Eigen- art und daher kann auch eine Versammlung vorzuumlgliche sachgemaumlszlige Gesetze ausarbeiten Allerdings sind diese Ge- setze von einem Fachmann im stillen Arbeitszimmer ent- worfen und das angenommene Gesetz ist in Wahrheit das Werk eines einzelnen Nur die Fachleute bewahren die Versammlungen vor allzu sinnlosen unerprobten Maszlig- nahmen Sie werden dann voruumlbergehend Fuumlhrer die Ver- sammlung wirkt nicht auf sie sondern sie wirken auf die VersammlungTrotz aller Schwierigkeiten ihrer Arbeitsweise bilden die Parlamentsversammlungen die beste Regierungsform die die Voumllker bisher gefunden haben um sich vor allem moumlg-

DIE PARLAMENTSVERSAMMLUNGEN 147

lichst aus dem Joch persoumlnlicher Tyrannei zu befreien Sie sind jedenfalls das Ideal einer Regierung wenigstens fuumlr Philosophen Denker Schriftsteller Kuumlnstler und Gelehrte kurz fuumlr alle die den Gipfel einer Kultur bildenSie bergen eigentlich nur zwei ernstliche Gefahren in sich die uumlbermaumlszligige Verschwendung der Finanzen und die zu- nehmende Beschraumlnkung der persoumlnlichen Freiheit Die erste Gefahr ist die notwendige Folge der Anspruumlche und der Kurzsichtigkeit der Waumlhlermassen Wenn ein Parla- mentsmitglied einen Antrag stellt der offensichtlich demo- kratischen Anschauungen entspricht z B auf Altersver- sorgung aller Arbeiter oder Gehaltszulage fuumlr Bahnwaumlrter Lehrer usw so wagen die andern Abgeordneten aus Furcht vor den Waumlhlern nicht sich den Anschein zu geben als ob sie deren Vorteile durch Ablehnung der vorgeschlagenen Maszlignahme geringschaumltzten Sie wissen wohl daszlig dadurch der Staatshaushalt stark belastet und die Auflegung neuer Steuern noumltig werden wird Doch bei der Abstimmung gibt es kein Zoumlgern Waumlhrend die Folgen der Ausgaben- vermehrung in weiter Ferne liegen und fuumlr sie keine unan- genehmen Wirkungen haben koumlnnten sich die Folgen einer ablehnenden Abstimmung schon am naumlchsten Tage wenn sie vor die Waumlhler treten muumlssen bemerkbar machenAn diese erste Ursache fuumlr die Uumlberspannung der Aus- gaben reiht sich eine andre nicht weniger gebieterische die Verpflichtung alle Ausgaben fuumlr rein oumlrtliche Beduumlrf- nisse zu bewilligen Kein Abgeordneter kann sich ihnen widersetzen weil sie ebenfalls Forderungen der Waumlhler darstellen und weil jeder Abgeordnete nur dann das Nouml- tige fuumlr seinen Wahlkreis erlangen kann wenn er den ent- sprechenden Forderungen seiner Kollegen zustimmt Die Die Zeitschrift bdquoLrsquoEconomisteldquo gab in ihrer Nummer vom 6 April 895 einen seltsamen Uumlberblick uumlber die Jahresunkosten die die Interessen der Waumlhler verursachen besonders die Eisenbahnen Um Langayes (Stadt von 3 000 Einwohnern) die auf einem Berge liegt mit Puy zu verbinden be- willigte man eine Bahn die 5 Millionen kostete Um Beaumont (3 500 Ein- wohner) mit Castel-Sarrazin zu verbinden bewilligte man 7 Millionen Die Verbindung des Dorfes Oust (523 Einwohner) mit dem Dorfe Seix ( 200 Ein- wohner) kostete 7 Millionen Um Prades mit dem Marktflecken Olette (747

DIE VERSCHIEDENEN ARTEN VON MASSEN148

zweite der oben erwaumlhnten Gefahren die unvermeidliche Beschraumlnkung der Freiheit durch die Parlamente ist zwar weniger sichtbar aber doch Tatsache Sie ist eine Folge der zahllosen stets einschraumlnkenden Gesetze deren Auswir- kungen die kurzsichtigen Parlamente nicht bemerken und fuumlr die zu stimmen sie sich verpflichtet fuumlhlenDiese Gefahr muszlig wohl unvermeidlich sein denn selbst England wo sich gewiszlig die vollkommenste Art der parla- mentarischen Regierung zeigt und der Abgeordnete am unabhaumlngigsten vom Waumlhler ist vermochte ihr nicht zu entgehen Herbert Spencer hatte in einer fruumlheren Arbeit gezeigt daszlig die Zunahme der scheinbaren die Abnahme der wirklichen Freiheit zur Folge haben muumlsse In einer spaumlteren Schrift bdquoDer Einzelne gegen den Staatldquo nimmt er diese Behauptung wieder auf und sagt uumlber das eng- lische Parlament folgendes

bdquoSeit dieser Zeit hat die Gesetzgebung den Lauf genom- men den ich voraussagte Diktatorische Maszlignahmen die sich rasch vervielfachten haben das staumlndige Bestreben die persoumlnliche Freiheit zu beschraumlnken und zwar in zwei- facher Weise jedes Jahr wird eine immer groumlszligere Anzahl gesetzlicher Forderungen erlassen die der fruumlheren Hand- lungsfreiheit des Buumlrgers Beschraumlnkung auferlegen und ihn zu Handlungen zwingen die er fruumlher nach Belieben be-

Einwohner) zu verbinden gab man 6 Millionen usw Allein das Jahr 895 verbrauchte 90 Millionen fuumlr Eisenbahnschienen fuumlr die nicht das geringste allgemeine Interesse vorhanden ist Andere Ausgaben die ebenfalls Waumlhler- beduumlrfnissen entspringen sind nicht weniger schwerwiegend Das Gesetz uumlber die Altersversorgung der Arbeiter wird nach Aussage des Finanzministers im Jahre die Mindestsumme von 65 Millionen nach Leroy-Beaulieu von der Akademie 800 Millionen kosten Das ununterbrochene Anwachsen solcher Aus- gaben muszlig notwendigerweise zum Bankrott fuumlhren Viele Staaten Europas Portugal Griechenland Spanien die Tuumlrkei sind dabei angelangt andere werden bald soweit sein Aber man braucht sich nicht viel darum zu kuumlm- mern da das Publikum ohne groszligen Widerspruch nach und nach die Kuumlrzung von vier Fuumlnfteln aller Zinszahlungen der verschiedenen Laumlnder angenommen hat Derartige sinnreiche Bankrotte machen es also moumlglich die gefaumlhrdeten Haushaltplaumlne wieder ins Gleichgewicht zu bringen Die Kriege der Sozialis- mus die wirtschaftlichen Kaumlmpfe werden uns uumlbrigens noch genug andre Katastrophen bringen und in einer Zeit allgemeinen Zerfalls muszlig man sich damit begnuumlgen in den Tag hineinzuleben ohne allzusehr an das Morgen zu denken das sich unsrer Macht entzieht

DIE PARLAMENTSVERSAMMLUNGEN 149

gehen oder unterlassen konnte Gleichzeitig haben immer druumlckendere Lasten besonders oumlrtliche Abgaben von vorn- herein die Freiheit beschraumlnkt indem sie den Teil seines Einkommens den er nach Belieben ausgeben konnte ver- minderten und den Teil vergroumlszligerten der ihm weggenom- men wurde um je nach dem guten Willen der Beamten ausgegeben zu werdenldquoDiese immer mehr zunehmende Freiheitsbeschraumlnkung zeigt sich in allen Laumlndern in einer besonderen Weise auf die Spencer nicht hingewiesen hat Die Schaffung jener un- zaumlhligen gesetzlichen Maszlignahmen allgemeinbeschraumlnkender Art fuumlhrt notwendig zur Erhoumlhung der Zahl der Macht und des Einflusses der Beamten die mit ihrer Durchfuumlh- rung beauftragt werden Sie haben also alle Aussicht die wahren Gebieter der Kulturlaumlnder zu werden Ihre Macht ist um so groumlszliger als nur die Beamtenkaste als einzige die unverantwortlich unpersoumlnlich und auf Lebenszeit ange- stellt ist dem unaufhoumlrlichen Machtwechsel entgeht Nun gibt es aber keine Gewaltherrschaft die haumlrter ist als diese die in dieser dreifachen Gestalt auftrittDie fortwaumlhrende Schaffung von Gesetzen und Beschraumln- kungsmaszlignahmen die die unbedeutendsten Lebensaumluszlige- rungen mit byzantinischen Foumlrmlichkeiten umgeben hat das verhaumlngnisvolle Ergebnis den Bereich in dem sich der Buumlrger frei bewegen kann immer mehr einzuengen Als Opfer des Irrtums daszlig durch Vermehrung der Gesetze Freiheit und Gleichheit besser gesichert wuumlrden nehmen die Voumllker nur druumlckendere Fesseln auf sichSie nehmen sie nicht ungestraft auf sich Gewohnt jedes Joch zu tragen kommen sie schlieszliglich dahin es aufzu- suchen und buumlszligen zuletzt alle Urspruumlnglichkeit und Kraft ein Sie sind nur noch wesenlose Schatten Automaten willenlos ohne Widerstand und KraftWenn der Mensch in sich selbst die Spannkraft nicht mehr findet muszlig er sie anderswo suchen Mit der zunehmenden Gleichguumlltigkeit und Ohnmacht der Buumlrger muszlig die Be- deutung der Regierungen nur noch mehr wachsen Sie

GESCHICHTSPHILOSOPHISCHES ERGEBNIS150

muumlssen notgedrungen den Geist der Initiative der Unter- nehmung und Fuumlhrung besitzen den der Buumlrger verloren hat Sie haben alles zu unternehmen zu leiten zu schuumlt- zen So wird der Staat zu einem allmaumlchtigen Gott Die Erfahrung lehrt aber daszlig die Macht solcher Gottheiten weder von Dauer noch sehr stark warDie fortschreitende Einschraumlnkung aller Freiheiten bei ge- wissen Voumllkern trotz einer Ungebundenheit die ihnen Frei- heit vortaumluscht scheint eine Folge ihres Alters und ebenso- sehr der Regierung zu sein Sie ist ein Vorzeichen fuumlr die Entartung der bisher noch keine Kultur entgehen konnteWenn man aus den Lehren der Vergangenheit Schluumlsse zieht und nach den Anzeichen urteilt die uumlberall in Er- scheinung treten so sind mehrere unserer modernen Kul- turen auf dieser Stufe des houmlchsten Greisenalters das der Entartung vorangeht angelangt Bestimmte Entwicklungs- formen scheinen fuumlr alle Voumllker unabwendbar zu sein da sich dieser Verlauf in der Geschichte so oft wiederholt Es ist leicht die Stufen dieser Entwicklung ganz allgemein zu kennzeichnen und mit dieser Zusammenfassung soll unsre Arbeit abgeschlossen werden

Wenn wir in groszligen Zuumlgen die Entstehung der Groumlszlige und des Niedergangs der Kulturen der Vergangenheit be- trachten so sehen wir folgendesBeim Erwachen dieser Kulturen einen zusammengewehten Haufen von Menschen verschiedenster Abstammung zu- faumlllig vereinigt durch Wanderungen Uumlberfaumllle und Er- oberungen Von verschiedenem Blut verschiedener Sprache und ebenso verschiedenen Anschauungen haumllt diese Men- schen kein andres Band zusammen als das halb anerkannte Gesetz eines Haumluptlings In ihrem verworrenen Haufen finden sich die psychologischen Merkmale der Massen im houmlchsten Maszlige Sie zeigen den Zusammenhang fuumlr den Augenblick den Heldenmut die Schwaumlchen die Trieb- handlungen und die Gewalttaumltigkeiten Nichts ist bei ihnen von Dauer Sie sind Barbaren

GESCHICHTSPHILOSOPHISCHES ERGEBNIS 151

Dann vollendet die Zeit ihr Werk Gleichheit der Umgebung wiederholte Kreuzungen das Beduumlrfnis eines Gemeinschafts- lebens fangen langsam an zu wirken Die verschiedenen Bestandteile des Haufens beginnen zu verschmelzen und eine Rasse zu bilden d h ein Aggregat mit gemeinsamen Eigen- schaften und Gefuumlhlen die sich durch Vererbung immer mehr befestigen Die Masse ist ein Volk geworden und dies Volk kann sich aus der Barbarei erhebenEs wird sie aber erst dann voumlllig hinter sich haben wenn es sich nach langen Anstrengungen unaufhoumlrlich wieder- holten Kaumlmpfen und unzaumlhligen Ansaumltzen ein Ideal er- rungen hat Die Beschaffenheit dieses Ideals ist nicht wich- tig Ob es der Kultus Roms die Macht Athens oder der Triumph Allahs ist es wird imstande sein allen einzelnen der Rasse die sich bilden will vollkommene Einheit des Fuumlhlens und Denkens zu verleihenNun kann eine neue Kultur mit ihren Einrichtungen Glaubensformen und Kuumlnsten entstehen Von ihrem Wunschtraum fortgerissen wird die Rasse nach und nach alles gewinnen was Glanz Kraft Groumlszlige verleiht Zu- weilen wird sie zweifellos Masse sein aber hinter den be- weglichen und wechselnden Eigenschaften der Masse wird das feste Gefuumlge die Rassenseele stehen welche die Schwin- gungsweite eines Volkes genau bestimmt und den Zufall regeltNach Vollendung ihrer schoumlpferischen Wirkung aber be- ginnt die Zeit jenes Zerstoumlrungswerk dem weder Goumltter noch Menschen entgehen Ist die Kultur auf einer gewissen Houmlhe der Macht und Mannigfaltigkeit angelangt so houmlrt sie auf zu wachsen und sobald sie zu wachsen aufhoumlrt ist sie zu raschem Niedergang bestimmt Bald schlaumlgt die Stunde des AltersDiese unentrinnbare Stunde ist stets durch das Verblassen des Ideals gekennzeichnet das die Rassenseele erhob In dem Maszlige als dieses Ideal abstirbt beginnen alle von ihm geschaffenen religioumlsen politischen und gesellschaftlichen Gebilde zu wanken

152 DIE VERSCHIEDENEN ARTEN VON MASSEN

Mit dem fortschreitenden Schwinden ihres Ideals verliert die Rasse mehr und mehr alles was ihren Zusammenhalt ihre Einheit und Staumlrke bildete Der einzelne kann an Persoumlnlichkeit und Verstand wachsen gleichzeitig tritt aber an die Stelle des Gemeinschaftsegoismus der Rasse die uumlbermaumlszligige Entfaltung des Einzelegoismus die von einer Schwaumlchung des Charakters und einer Verringerung der Tatkraft begleitet wird Was ein Volk eine Einheit einen Block bildete wird zuletzt ein Haufen zusammen- hangloser einzelner die nur noch kuumlnstlich durch Uumlber- lieferungen und Einrichtungen zusammengehalten werden Dann geschieht es daszlig die Menschen die durch ihre Nei- gungen und Anspruumlche voneinander getrennt sind sich nicht mehr regieren koumlnnen und danach verlangen in den unbedeutendsten Handlungen gefuumlhrt zu werden und daszlig der Staat seinen verzehrenden Einfluszlig ausuumlbtMit dem endguumlltigen Verlust des fruumlheren Ideals verliert die Rasse zuletzt auch ihre Seele sie ist dann nur noch eine Menge alleinstehender einzelner und wird wieder was sie am Ausgangspunkt war eine Masse Sie zeigt all ihre fluumlchtigen unbestaumlndigen und zukunftslosen Eigen- schaften Die Kultur ist ohne jede Festigkeit und allen Zufaumlllen preisgegeben Der Poumlbel herrscht und die Bar- baren dringen vor Noch kann die Kultur glaumlnzend schei- nen weil sie das aumluszligere Ansehen bewahrt das von einer langen Vergangenheit geschaffen wurde tatsaumlchlich aber ist sie ein morscher Bau der keine Stuumltze mehr hat und beim ersten Sturm zusammenbrechen wirdAus der Barbarei von einem Wunschtraum zur Kultur gefuumlhrt dann sobald dieser Traum seine Kraft eingebuumlszligt hat Niedergang und Tod ndash in diesem Kreislauf bewegt sich das Leben eines Volkes

153GESCHICHTSPHILOSOPHISCHES ERGEBNIS

ERLAumlUTERUNGEN

Zu S XXV GOBLET DrsquoALVIELLA Graf Eugegravene belgischer Religionshisto- riker und liberaler Politiker 846ndash925S 7 TARDE Gabriel franzoumlsischer Psychologe und Soziologe urspruumlnglich Kriminalist 843ndash904 n seinen Hauptwerken bdquoDie Gesetze der Nachahmung (89) bdquoDie soziale Logikldquo (894) und bdquoDie sozialen Gesetzeldquo (898) werden Nachahmung Gegensaumltzlichkeit und Anpassung als die entscheidenden Fak- toren des Soziallebens bezeichnetS 7 SIGHELE Scipio italienischer Kriminalist Soziologe und Psychologe 868ndash93 Hauptwerk bdquoDie verbrecherische Masseldquo (892)S 3 SPENCER Herbert englischer Philosoph 820ndash903 vertrat die Auf- fassung daszlig der Weltprozeszlig auf einem dauernden Wechsel zwischen einem zusammenhanglosen und einem zusammenhaumlngenden Zustand beruhe dem so- ziologisch der Wechsel zwischen der Betonung der Individualitaumlt und der Hin- neigung zur Gleichfoumlrmigkeit in der Masse entspreche Hauptwerk bdquoSystem der synthetischen Philosophieldquo (862ndash93 0 Bde)S 20 GENERAL Georges Boulanger (837ndash9) 886 frz Kriegsminister dann Korpskommandeur hatte 887 anlaumlszliglich einer deutsch-franzoumlsischen Spannung versucht Frankreich in einen neuen Krieg mit Deutschland zu treiben 888 dienstentlassen erstrebte er mit Hilfe der von ihm entfachten Volksbewegung (Boulangismus) eine Staatsumwaumllzung und die Errichtung einer Diktatur in Frankreich muszligte jedoch ins Ausland fliehen und endete in Bruumlssel durch Selbstmord nachdem er in Abwesenheit wegen Veruntreuung von Staats- geldern verurteilt worden warS 2 L a n g s on Grenzort in Tongking (Franz Indochina) in dessen Naumlhe die Chinesen nachdem sie uumlberall uumlber die Grenze zuruumlckgeworfen waren 884 in einem Gefecht mit franzoumlsischen Truppen die Oberhand behielten K h a r t u m die Hauptstadt des englisch-aumlgyptischen Sudan wurde 885 von den aufstaumlndischen Madhisten erobert wobei der Kommandeur der eingeschlossenen englischen Expeditionsarmce ermordet wurde Vom t a r p e j i s c he n Fe l s e n am Suumldabhang des kapitolinischen Huumlgels wurden im alten Rom die zum Tode verurteilten Aufruumlhrer und Vaterlandsverraumlter hinabgestuumlrztS 28 WOLSELEY Garnet Joseph engl Feldmarschall 833ndash93 Verfasser mehrerer kriegsgeschichtlicher AbhandlungenS 28 DrsquoHARCOURT Georges 808ndash83 873 frz Botschafter in Wien spaumlter in London urspruumlnglich Offizier hatte an der Schlacht bei dem oberitalieni- schen Dorf Solferino teilgenommen die mit dem Sieg der verbuumlndeten Franzosen und Italiener uumlber die Oumlsterreicher endete (24 6 859)S 37 TAINE Hippolyte bedeutender frz Historiker Philosoph und Kritiker 828ndash93 Seine beruumlhmte bdquoGeschichte Frankreichsldquo (876ndash93 6 Bde unvoll- endet) schrieb er um nachzuweisen daszlig die unter Napoleon durchgefuumlhrte

Zentralisierung der Staatsgewalt und die dadurch bewirkte Ausschaltung derInitiative des einzelnen Staatsbuumlrgers an der Niederlage Frankreichs von 870 7 schuld seiS 48 FUSTEL DE COULANGES Numa Denis frz Historiker 830ndash89 Haupt- werk bdquoDas roumlmische Gallien die germanische Invasion und das fraumlnkische Koumlnigreichldquo (888ndash9 4 Bde)S 49 BOULANGISMUS s d Erlaumluterungen zu 20S 59 LAVISSE Ernest frz Historiker 842ndash922 Herausgeber und Mitver- fasser d groszligen Geschichtspublikation bdquoHistoire geacuteneacuteraleldquo (893ndash90 2 Bde)S 60 MACAULAY Thomas engl Historiker und liberaler Politiker 800ndash59 Verfasser der heute noch viel gelesenen bdquoGeschichte Englands (848ndash59 4 Bde)S 64 CHLOTAR (I) fraumlnkischer Koumlnig aus dem Geschlecht der Merowinger Nach seinem Tode (56) zerfiel das Frankenreich in die Teile N e u s t r i e n von der Scheidemuumlndung bis zur Loire) Au s t r a s i e n (Mosel- und Maas- gebiet) und BurgundS 75 TOCQUEVILLE Alexis de frz Diplomat und Historiker 805ndash59 Sein Hauptwerk bdquoDas Ancien reacutegime und die Franzoumlsische Revolutionldquo (856 2 Bde) enthaumllt viele kritische Bemerkungen uumlber MassenpsychologieS 79 THIERS Adolphe einer der bedeutendsten frz Staatsmaumlnner 797 bis 877 seit 836 mehrmals Ministerpraumlsident 87ndash73 Praumlsident der Republik Politisch liberal aber ohne tieferes Verstaumlndnis fuumlr soziale Probleme verherr- lichte in seinen z T mehrbaumlndigen Geschichtswerken die Ideale der Franz Revolution ebenso wie den NationalismusS 87 Mit dem b e r uuml h mt e n I n g e n i e u r ist Ferdinand Lesseps (805 bis 94) gemeint der aber nicht selbst Ingenieur sondern frz Diplomat gewesen ist Ihm ist der 869 vollendete aber nicht von ihm entworfene Bau des Suez- kanals zu danken Auch an der Gruumlndung der Panama-Gesellschaft war er maszliggebend beteiligt Als dieses Unternehmen 888 zusammenbrach wobei viele Aktionaumlre ruiniert wurden kam es zu einem groszligen Skandalprozeszlig in dem Lesseps 893 wegen Betrugs verurteilt wurde (Vgl auch S 6 f)S 9 RENAN Ernest frz Orientalist und Religionshistoriker 823ndash92 Eines seiner Hauptwerke ist die bdquoGeschichte der Anfaumlnge des Christentumsldquo (866 bis 83 7 Bde) sein bekanntestes bdquoDas Leben Jesuldquo (863)S 33 SCHERER Edmond frz Publizist 85ndash89 Fuumlhrer des liberalen Prote- stantismus in FrankreichS 40 SIMON Jules frz Philosoph und Politiker 84ndash96 848 Mitglied der verfassunggebenden Nationalversammlung 876 77 Ministerpraumlsident Schrieb u a bdquoDie Regierung Thiersldquo (878 2 Bde) ndash PYAT Feacutelix frz linksradikaler Journalist 80ndash89 war 848 Oberst der Pariser Nationalgarde 87 Mitglied der Pariser Kummune ndash VAULABELLE Achille de frz Historiker u Politiker 799ndash864 war 848 Unterrichtsminister ndash VICTOR HUGO der bekannte frz Dichter 802ndash85 war 848 Abgeordneter der Nationalversammlung muszligte nach dem Staatsstreich Louis Napoleons (85) fliehen und schrieb seine be- ruumlhmten sozialen Romane als Emigrant auf den englischen Kanalinseln ndash QUINET Edgar frz Dichter und Publizist 803ndash75 war 848ndash50 Mitglied der Nationalversammlung wurde 852 verbannt und 87 in der Nationalver- sammlung von Bordeaux und Versailles einer der Fuumlhrer der aumluszligersten Linken

ndash LAMARTINE Alphonse de frz Dichter 790ndash869 war unter Karl X und Louis Philippe im diplomatischen Dienst bekannte sich aber offen zur Repu-

ERLAumlUTERUNGEN 157

blikanischen Partei und wurde 848 als Mitglied der vorlaumlufigen RegierungAuszligenministerS 42 MAINE Henry James Summer engl Jurist und Rechtsphilosoph 822 bis 88 hat zahlreiche Werke uumlber Rechtsgeschichte und ihre Beziehung zur all- gemeinen Sozialgeschichte verfaszligtS 45 BILLAUD-VARENNES Jean Nicolas 756ndash89 Advokat Vorsitzender des Jakobinerclubs und Mitglied des Konvents erst Anhaumlnger Robespierres dann an dessen Sturz beteiligt Seine Memoiren erschienen 893S 46 COLLOT DrsquoHERBOIS Jean Marie Schauspieler und Buumlhnenschriftsteller 75ndash96 Als erfolgreicher Volksredner wurde er Mitglied des Konvents dann des Wohlfahrtsausschusses und war insbesondere fuumlr die Massenhinrichtungen in Lyon (793) verantwortlich ndash COUTHON Georges Advokat 755ndash94 Mitglied der Nationalversammlung dann des Konvents mitbeteiligt an der Niederwerfung des Lyoner Aufstandes Als Anhaumlnger Robespierres wurde er nach dessen Tod hingerichtet ndash SPULLER Eugegravene frz Politiker u Journalist 835ndash96 war 870ndash7 Sekretaumlr Gambettas 887 und 893ndash94 Unterrichts- minister 889ndash90 Auszligenminister Schrieb u a eine bdquoParlamentsgeschichte der Zweiten Republikldquo (89)S 49 LEROY-BEAULIEU Pierre Paul frz Nationaloumlkonom 843ndash96 gruumln- dete 873 das Wochenblatt bdquoLrsquoEconomiste franccedilaisraquo

156 ERLAumlUTERUNGEN

ISBN 3-520-09915-2

Das beruumlhmte in alle Weltsprachen uumlbersetzte Buch des franzoumlsischen Arztes und Soziologen uumlber die Seele der Massen und die Gesetze ihrer Beeinflussung und Fuumlhrung hat sich ndash trotz oder auch wegen mancher provozierender These ndash uumlber Jahrzehnte hinweg und bis in die Gegenwart hinein als eine der staumlrksten Anregungen fuumlr Psychologie und Soziologie erwiesen

  • Psychologie der Massen
    • Inhaltsverzeichnis
    • Einfuumlhrung
    • Literatur
    • Vorwort zur ersten Auflage
    • Einleitung Das Zeitalter der Massen
    • Erstes Buch Die Massenseele
      • 1 Kapitel Allgemeine Kennzeichen der Massen Das psychologische Gesetz von ihrer seelischen Einheit
      • 2 Kapitel Gefuumlhle und Sittlichkeit der Massen
        • sect 1 Triebhaftigkeit Beweglichkeit und Erregbarkeit der Massen
        • sect 2 Beeinfluszligbarkeit und Leichtglaumlubigkeit der Massen
        • sect 3 Uumlberschwang (exageacuteration) und Einseitigkeit (simplisme) der Massengefuumlhle
        • sect 4 Unduldsamkeit Herrschsucht (autoritarisme) und Konservatismus der Massen
          • 3 Kapitel Ideen Urteile und Einbildungskraft der Massen
            • sect 1 Die Ideen der Massen
            • sect 2 Die Urteile der Massen
            • sect 3 Die Einbildungskraft der Massen
              • 4 Kapitel Die religioumlsen Formen die alle Uumlberzeugungen der Masse annehmen
                • Zweites Buch Die Meinungen und Glaubenslehren der Massen
                  • 1 Kapitel Entfernte Triebkraumlfte der Glaubenslehren und Meinungen der Massen
                    • sect 1 Die Rasse
                    • sect 2 Die Uumlberlieferungen
                    • sect 3 Die Zeit
                    • sect 4 Die politischen und sozialen Einrichtungen
                    • sect 5 Unterricht und Erziehung
                      • 2 Kapitel Unmittelbare Triebkraumlfte der Anschauungen der Massen
                        • sect 1 Bilder Worte und Redewendungen
                        • sect 2 Die Taumluschungen (illusions)
                        • sect 3 Die Erfahrung
                        • sect 4 Die Vernunft
                          • 3 Kapitel Die Fuumlhrer der Massen und ihre Uumlberzeugungsmittel
                            • sect 1 Die Fuumlhrer der Massen
                            • sect 2 Die Wirkungsmittel der Fuumlhrer Behauptung Wiederholung Uumlbertragung
                            • sect 3 Der Nimbus (Le prestige)
                              • 4 Kapitel Grenzen der Veraumlnderlichkeit der Grundanschauungen und Meinungen der Massen
                                • sect 1 Die unveraumlnderlichen Grundanschauungen (croyances fixes)
                                • sect 2 Die veraumlnderlichen Meinungen (opinions mobiles) der Massen
                                    • Drittes Buch Einteilung und Beschreibung der verschiedenen Arten von Massen
                                      • 1 Kapitel Einteilung der Massen
                                        • sect 1 Ungleichartige Massen
                                        • sect 2 Gleichartige Massen
                                          • 2 Kapitel Die sogenannten verbrecherischen Massen
                                          • 3 Kapitel Die Geschworenen bei den Schwurgerichten
                                          • 4 Kapitel Die Waumlhlermassen
                                          • 5 Kapitel Die Parlamentsversammlungen
                                            • Erlaumluterungen
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