PSYCHOSENTHERAPIE herausgegeben von Stavros Mentzos … · Neue Erkenntnis über die conditio...

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Günter Lempa/Elisabeth Troje (Hg.) Gesellschaft und Psychose VANDENHOECK & RUPRECHT FORUM DER PSYCHOANALYTISCHEN PSYCHOSENTHERAPIE herausgegeben von Stavros Mentzos Band 7

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Günter Lempa/Elisabeth Troje (Hg.)

Gesellschaft und Psychose

VANDENHOECK & RUPRECHT

FORUM DER PSYCHOANALYTISCHEN PSYCHOSENTHERAPIE

herausgegeben von Stavros Mentzos

Band 7

Günter Lempa / Elisabeth Troje (Hg.): Gesellschaft und Psychose

© 2002, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451083

FORUM DER PSYCHOANALYTISCHEN PSYCHOSENTHERAPIE

Schriftenreihe des Frankfurter Psychose-projekts e. V. (FPP)

Herausgegeben von Stavros MentzosMitherausgeber: Günter Lempa, Norbert Matejek, Thomas Müller, Alois Münch, Elisabeth Troje

Band 7: Günter Lempa /Elisabeth Troje (Hg.)Gesellschaft und Psychose

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Günter Lempa /Elisabeth Troje (Hg.)

Gesellschaft und Psychose

Mit einer Abbildung

Vandenhoeck & Ruprecht

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Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme

Gesellschaft und Psychose / Günter Lempa / Elisabeth Troje (Hg.). –

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2002(Forum der psychoanalytischen Psychosentherapie; Bd. 7)

ISBN 3-525-45108-3

© 2002 Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen. –http://www.vandenhoeck-ruprecht.de

Printed in Germany. – Alle Rechte vorbehalten. Das Werk ein-schließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede

Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts-gesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und straf-bar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in

elektronischen Systemen.Satz: Fotosatz 29b, Göttingen

Schrift: WalbaumDruck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen

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Editorial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

p THEORIE-FORUM

Gaetano BenedettiAufschlüsse über die conditio humana in der Begegnung mit dem psychotischen Patienten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

Georg Bruns Psychose als soziale Tatsache – Aspekte eines Wandels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31

Stavros Mentzos Die bemerkenswerte Korrespondenz zwischen der Selbst-Fragmentierung in der Psychose und der Dezentrierung und Inkonsistenz in der Postmoderne . . . . 50

Günter Lempa Ethische und gesellschaftspolitische Perspektiven der psychoanalytischen Psychosentheorie . . . . . . . . . . . . . 68

p KLINISCHES FORUM

Dieter Schwenk I-love-you-Viren in der therapeutischen Beziehung.Fallvignette . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85

Stavros Mentzos Kommentar zu der Fallvignette und den Reflexionen Dieter Schwenks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89

Inhalt

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p INFORMATIONEN

Rezension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93

Rezensionsvorschläge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97

Die letzte Seite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99

Die Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102

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Psychische Krankheiten, Neurosen wie auch Psychosen, Schi-zophrenien, manisch-depressive Zustände, endogene Depres-sionen, sind nicht selten und gehören wie körperliche Krank-heiten zum Leben der Menschen. Gerade die Idealisierungdes Menschen, seiner Gesundheit, Stärke, Arbeitsfähigkeit,»Reinheit«, war einer der Faktoren, die im Nationalsozialismusdie Ermordung, die »Ausmerze«, die »Euthanasie« aus »Mit-leid« mit den »geistig Toten« oder dem »lebensunwerten Le-ben« in Deutschland möglich machte. In diesem Band fehlt derBeitrag, um den wir Alice Ricciardi-von Platen gebeten hatten.Ihre Zusage mußte sie wegen Alter und Krankheit zurückzie-hen. Es ist dadurch eine Lücke entstanden, über die wir einpaar Worte sagen möchten: Alice Ricciardi, die 1946 als AlicePlaten-Hallermund Mitglied einer von Alexander Mitscherlichgeleiteten Kommission war und im Auftrag der Ärztekammerden sogenannten Ärzteprozeß vor dem Nürnberger Militärge-richt beobachtete, hat schon 1948 das Buch »Die Tötung Gei-steskranker in Deutschland« veröffentlicht. Da damals seineVerbreitung behindert wurde, erschien es mit einem Vorwortvon Klaus Dörner noch einmal 1993*. Sie beschreibt darinnicht nur die Vorbereitung und Durchführung der Euthanasie,sondern auch die Arbeit des »Reichsausschusses für erb- undanlagebedingte schwere Leiden«, der eigene Anstalten undStationen einrichtete, in die Kinder mit Behinderungen oderKrankheiten, auch schwererziehbare Kinder aus Heimen ein-gewiesen werden sollten. Sie schildert, wie Eltern zur schrift-

* Alice Platen-Hallermund (1948): Die Tötung Geisteskranker inDeutschland. Bonn, 1993.

Editorial

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lichen Einwilligung in diese »Behandlung« gebracht wurden,die ihnen als risikoreich, aber als einzige erfolgversprechenddargestellt wurde. Zweck der »Behandlung« war die Tötungder Kinder.

1948, in einer Zeit, in der der Schrecken über die Verbre-chen, die geschehen waren, der Tendenz zu Verleugnung undVerdrängung gegenüberstand, schrieb A. Ricciardi, es werdeeine Arbeit von Generationen sein, die Auffassung vom Gei-steskranken und vom Kranken überhaupt, wie sie im Natio-nalsozialismus propagiert und politisch umgesetzt wurde,durch eine andere zu ersetzen, »eine Aufgabe, die nur durcheine neue Sicht des Menschen zu lösen ist« (S. 17).

Neue Erkenntnis über die conditio humana aufgrund einertherapeutischen Arbeit, die zu einem wechselseitigen Ver-ständnis zwischen Arzt und dem Kranken führt, ist das Themabei Gaetano Benedetti. Georg Bruns betrachtet die »Verrückt-heit«, sich mit der Wortwahl von der Medizinersprache distan-zierend, als eine »soziale Tatsache« und beschreibt den Um-gang mit ihr in einem historischen Überblick über die deutschemedizinische Literatur und Praxis der letzten zweihundertJahre. Stavros Mentzos prüft, inwieweit Erkenntnisse aus derpsychoanalytischen Theorie und Behandlungserfahrung beiPsychosen und Borderline-Erkrankungen für die Interpretati-on von Phänomenen der Postmoderne verwendet werden kön-nen. Günter Lempa betont das Recht des psychotisch Krankenauf eine Kohärenz seiner persönlichen Lebensgeschichte undeiner Reflexion seiner Psychogenese, wobei er ihm die Mög-lichkeit der Symbolisierung und Verbalisierung seiner psy-chotischen Erfahrung zuspricht.

In einem kürzeren klinischen Teil nimmt Dieter Schwenkals Arzt, der selbst Erfahrungen als Patient gemacht hat, kri-tisch zu einem Lehrbuchbeispiel Stellung, was Mentzos kom-mentiert.

Es folgt eine Rezension von Elisabeth Troje über das vonBernd Rachel herausgegebene Buch über Benedetti anläßlichseines 80. Geburtstags. Alois Münch macht weitere Rezen-sionsvorschläge. Die letzte Seite von Norbert Matejek fehltnicht.

Elisabeth Troje /Günter Lempa

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Seit vielen Jahren übe ich den Beruf des Psychiaters aus; meine Entdeckung dabei ist die Würde und Größe, die bisweilen mit der Geisteskrankheit einhergeht. Ich bin bereits soweit zu glauben, daß die Geistes-krankheit die Spiritualität des Menschen ganz umfassen, ja sogar ihr Ausdruck ge-ben kann.Silvano Arieti, Il Parnas

Wenn ich mich mit der Psychopathologie der Schizophrenievon innen heraus beschäftige, heißt das, es geht mir um unse-re Identifikation mit dem Leiden des Kranken.

Diese Sichtweise verlangt von mir auch, die nosologischenAbgrenzungen zu überschreiten, die wir zum Verständnis derSchizophrenie festgelegt haben – Abgrenzungen, die, nahezudas ganze vergangene Jahrhundert hindurch diskutiert undnur vorläufig im Rahmen einer internationalen Klassifikationdefiniert wurden, die einzig den praktischen Zweck hatte, ei-ne gemeinsame psychiatrische Terminologie zu etablieren.Ein Blick von innen heraus ist weniger nosologisch als viel-mehr wesentlich eine humanistische Sicht; sie umspannt dasganze riesige Gebiet des psychotischen Leidens.

Zur Einführung in meinen Bericht möchte ich für einenAugenblick die geschichtliche Dimension des Themas be-leuchten. Wiewohl die tatsächlichen heutigen Probleme in ih-rer aktuellen Konstellation von den gesellschaftlichen undkulturellen Vorgaben unserer Zeit bestimmt sind, haben siedoch eine historische Wurzel; sie stellen uralte Probleme derMenschheit dar. Vergegenwärtigen wir uns vor allem, daß es

p THEORIE-FORUM

Gaetano Benedetti

Aufschlüsse über die conditio humana in der Begegnung mit dem psychotischen Patienten

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den Terminus »Schizophrenie« vor Beginn des 20. Jahrhun-derts, vor dem genialen Einfall Bleulers im Jahr 1911,schlichtweg nicht gab. Es war nicht die Schizophrenie, son-dern die »Melancholie«, welche die »anthropologische Kon-stante« der Psychiatrie aller Zeiten darstellte, wie es Schmidt-Degenhard 1983 festhielt.

Tatsächlich gibt es kein einziges so klar definiertes psycho-pathologisches Syndrom mit solch symptomatischer Kohä-renz, das das menschliche Nachdenken über das psychischeLeiden wie ein roter Faden im Lauf der Jahrhunderte durch-ziehen konnte. Insbesondere im 19. Jahrhundert hat der Be-griff der Melancholie allen Versuchen großer Psychiaterstandgehalten, andere nosologische Akzente zu setzen: Esqui-rol hatte 1827 den Begriff »Lypemanie« vorgeschlagen (griech.lypeo – ich werde traurig), Flemming wollte 1844 »Disthymiaatra« einführen, Kahlbaum 1863 den Terminus »Melanè«, um»den gebräuchlichsten Begriff aus dem Verzeichnis der psy-chischen Erkrankungen zu streichen«. Die Melancholie hatsich indes behauptet, bis in die Psychoanalyse hinein, wie derbekannte Titel von Freuds Schrift 1917 zeigt: »Trauer und Me-lancholie«.

Die Psychopathologie der Melancholie erscheint äußerst mo-noton. Sie kennt keine Widersprüche, Paradoxien, auch nichtjene schöpferischen Züge, die wir an schizophrenen Patientenbeobachten oder entdecken können. Aber auch der Melancho-liker hat seine dramatische innere Welt. Ideler (1835), der gro-ße humanistische Psychiater des 19. Jahrhunderts, stellte fest:»Die Melancholie ist das letzte Glied einer Kette, die meist un-vermeidliche Folge aller vorhergehenden Stadien, aller Bezie-hungen des Individuums mit seiner Umwelt.«

Die düstere Kreativität der psychotischen Welt der Melan-cholie ist schon den Beobachtern in der Antike nicht entgan-gen. »Warum«, fragt sich Theophrastos, ein Schüler von Ari-stoteles, »sind so viele schöpferische Männer (perittoi), Phi-losophen, Politiker Melancholiker?« Das Hauptgewicht derGedanken Theophrastos’ liegt auf der Erkenntnis, daß mit derMelancholie nicht nur eine Krankheit an sich zu beschreibenwäre (im Sinn der hippokratischen Medizin, die als Ursacheein Überwiegen der »schwarzen Galle« in den Säften es Kör-pers annahm), sondern auch ein spezifischer Persönlichkeits-

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typ als Ursprung des Phänomens anzunehmen wäre. Das Alt-griechische hat ein und dasselbe Adjektiv für die beiden Er-scheinungen, die nosologische wie die charaktertypologische:melancholikos.

Nach Theophrastos neigen Melancholiker aufgrund ihrernatürlichen Anlage zur Kreativität, gleichzeitig sind sie aberprädisponiert zur Melancholie, und zwar durch den Verlustdessen, was er »meson« nennt, des inneren Maßes.

Tellenbach (1974) nähert sich dieser Sicht an, wenn er diepsychiatrische Beobachtung der Zyklothymie unter einem an-thropologischen Gesichtspunkt aufgreift und von einer »athy-misch-ekstatischen Antinomie« spricht.

Hier zeichnet sich ein charakteristisches Dilemma ab, fürdas antike Denken wie auch für die heutige Psychiatrie, dasnicht nur für die Melancholie, sondern auch für die Schizo-phrenie gilt: Ist das psychotische Individuum lediglich einKranker oder aber ein menschliches Wesen am Rand des exi-stentiellen Erfahrens, das gerade durch diese tragischeGrenzsituation die Fähigkeit zu psychischen Prozessen er-langt hat, zu denen das gewöhnliche Individuum nicht fähigist?

Alternative Standpunkte haben sich im Verlauf der Ge-schichte um dieses Problem herum entwickelt. Die typologi-sche Sicht auf die Melancholie, die auch eine positive Wert-schätzung der melancholischen Lebensform zuläßt, hat keineBerücksichtigung bei den Ärzten der Spätantike gefunden,zum Beispiel bei Galen (Flashar 1966); hier war der nosologi-sche Aspekt der Krankheit vorherrschend. Ein Ausschlag indie andere Richtung bis hin zu einer »Adelung« des depressi-ven Temperaments ist anderen Epochen wie der Renaissanceund dem elisabethanischen Zeitalter in England zu eigen. Ei-ne Rückkehr zum viel strengeren medizinischen Standpunktund die Ablehnung des Konzepts von Melancholie als Da-seinsform findet sich wiederum während der Aufklärung des18. Jahrhunderts (Lepenies 1969; Schings 1977).

Die Psychiatrie des 19. Jahrhundert besann sich wieder da-rauf, Licht in die verborgene Welt des Melancholikers zu brin-gen. Für Ideler ist der melancholische Wahn »nicht das be-trübliche Bild von einem Geist, der sich selbst zerstört: weilder Geist aus der schmerzhaften Erfahrung der Begrenztheit

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und der Niederlage dieses schöpferische Potential hervor-bringt, das sich durch nichts zerstören läßt«.

Schüle (1880) fügte hinzu: »Der oberste Grundsatz der The-rapie ist der Individualismus … man muß nicht die krankenHirne heilen, sondern kranke Personen … wir haben keineMelancholien zu heilen, sondern Melancholiker.«

Und Griesinger (1861) fügte zu jener Zeit hinzu: »Niemalsund auf keinem anderen Gebiet ist die Einzigartigkeit der An-näherung so groß wie in der Therapie des psychotisch Kran-ken … nirgendwo anders ist es so wichtig, sich bewußt zu ma-chen, daß nicht die Krankheit, sondern der einzelne Krankeder Gegenstand unserer Behandlung ist.«

Ich möchte in diese Reihe auch moderne Autoren wieWyrsch (1960) oder Tellenbach einordnen, die zwischen Psy-chosen mit somatischen Ursachen und endogenen Psychosenunterscheiden, weil das Endon, auch wenn es durchaus nicht,wie bei den psychoreaktiven Störungen, mit der Umweltgleichgesetzt werden kann, die ganze Persönlichkeit meint,die innere Welt des Patienten, folglich ist es ein Substrat, dasweder mittels einer physischen Kausalität noch allein durchein Verständnis der psychogenetischen »Mechanismen« ana-lysierbar ist. So finden wir uns hier mit einer Sorge konfron-tiert, anhaltend und bis heute immer prekärer, die nur von ei-ner Psychiatrie als »vorwissenschaftlich« bezeichnet werdenkonnte, die selbst nicht ausreichend wissenschaftlich war.

In diesem Licht will ich mich der Psychopathologie einerbesonderen, aber auch wirklich zentralen Form der Psychosezuwenden, der Schizophrenie.

Das, was ich über den Melancholiker gesagt habe, dienteeinzig dazu, in die Geschichte des psychiatrischen Bemühensum die innere Welt des psychotischen Patienten einzuführen.Allein im vergangenen Jahrhundert wurde durch ein glückli-ches Zusammentreffen von psychodynamischen, phänomeno-logischen, anthropologischen und schließlich linguistischenund philosophischen Studien erreicht, diese inneren Weltenzu erforschen. Dabei hat man die beiden Leitlinien der For-schung eingehalten: einerseits den verläßlichen Respekt fürdie Einzigartigkeit des Kranken (auch wenn die Zuordnung zueinem System, einer Kategorie, einer Diagnose möglich blei-ben mußte); auf der anderen Seite bemühen wir uns aber

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auch, das Gemeinsame zu sehen, das den Patienten zu eigenist, für die die psychiatrische Diagnose gilt. Je mehr wir uns andie erste Leitlinie halten und den Fall gewissenhaft über Mo-nate oder Jahre in seiner Einzigartigkeit begleiten odergleichzeitig im Schmelztiegel der Dualität mit gegenseitigenIntrojektionen und Projektionen zwischen Patient und Thera-peut, um so mehr nähern wir uns dem Erleben des einzelnenKranken an und bleiben dabei eingeschlossen in die Bezie-hung zu ihm. Je mehr wir hingegen die Erfahrungen mit denverschiedenen Patienten sozusagen aus der Vogelperspektivesammeln und versuchen, sie miteinander zu verknüpfen, de-sto mehr entgleitet uns ein Modell von der Psychodynamik derSchizophrenie, das interessant ist, auch faszinierend, aberniemals überprüfbar oder falsifizierbar wie eine Hypothese;denn in diesem Modell ist auch die ganze Subjektivität dessenenthalten, der sich mit seinem Patienten identifiziert – ein Bildentsteht auch durch das Auge, das es betrachtet.

Das Modell ist heuristisch, operational und dient dazu, un-sere Erfahrungen so zu organisieren, daß sie für uns und un-sere Mitarbeiter annehmbarer, einsichtiger sind und somitvon größerem Nutzen für andere Patienten.

Eine zweite Beobachtung, die wir in einem solchen For-schungsprozeß machen, ist die, daß wir, je deutlicher wir dasAntlitz der Krankheit kennenlernen, auch einen Blick auf dieconditio humana erhalten. Im Unterschied zur sogenanntenDeskriptiven Psychopathologie (jener der großen Schulen derPsychiatrie, vornehmlich der deutschen in der ersten Hälftedes 20. Jahrhunderts), die dazu neigt, mit größtmöglichemScharfsinn Syndrome gegeneinander und gegenüber demNormalen abzugrenzen, versucht die psychotherapeutischePsychopathologie herauszuarbeiten, was für den Patientenhilfreich ist, um dann seine Pathologie zu psychologisieren,seine inneren Erfahrungen, die ihn isolieren und gegen die ersich wehrt, nicht der Abnormität, sondern der Gesamtheit derpsychischen Eigenschaften aller Menschen zuzuordnen. »Schi-zophrenia as a Human Process« ist der Titel eines Buchs vonSullivan (1962); und im Deutschen gibt es den Begriff »sicheinfühlen«; die Einfühlung des Therapeuten in den Krankenkann in bestimmten Momenten der Psychotherapie so weitgehen, daß er die Psychopathologie nicht mehr hinlänglich

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überblickt – er sieht zum Beispiel nicht mehr so deutlich denWahn, sondern vielmehr das, was er in dem Wahn sagen will.Der Patient erscheint uns nun wie ein Träger von Konflikten,die auch in uns sind, aber in einer extremen Einsamkeit, wel-che verhindert, daß seine Erfahrungen sagbar werden. Ausseiner Position am Rand scheint der Patient so das Zentrumder Existenz zu beleuchten, so wie wir mit unserem Verständ-nis versuchen, sein Erfahren zu erhellen.

Seine »Kreativität« hängt mit dieser Situation von Dualitätzusammen, sie kann nicht von außen betrachtet und verstan-den werden.

Ich möchte mich hier auch mit einem Aspekt beschäftigen,der mir für die Psychopathologie der Schizophrenie funda-mental zu sein scheint und der uns von innen heraus das psy-chotische Leiden zeigt: die Existenz in den verschiedenenAusformungen der Paradoxie.

Hier knüpft das Grundthema meines Beitrags an, die Unter-suchung der schizophrenen Produktivität, die sich in der the-rapeutischen Beantwortung als eigentliche Kreativität ent-wickelt, zunächst aber als tragische Dimension der conditiohumana erkannt und gedeutet werden soll, bevor daraus eine»progressive Psychopathologie« entsteht.

Ich beginne hier mit der Beschreibung von drei grundle-genden Situationen, welche die schizophrene Psychose struk-turieren und also in ihren Symptomen vorhanden sind.– Der Rückzug aus der sozialen Welt– Die autistische Suche nach dem eigenen Selbst– Die Spaltung des Selbst

Der Rückzug aus der sozialen Welt

Die Libido, sagt Fairbairn (1962), ist, noch vor der Sexualität,»Hunger nach Objekten«. Die Schizophrenie, meine ich, ist,noch vor der Krankheit, Angst vor den Objekten.

Noch bevor wir uns fragen, was die Gründe einer solchenAngst sind, müssen wir sie als tatsächlich erlebt erachten, umsie tiefer zu begreifen als nur durch eine Hypothesenbildungüber ihre Ursachen. Bereits Monate oder Jahre vor der klini-schen Manifestation neigt der Patient dazu, sich von seiner so-

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zialen Umwelt zurückzuziehen; er meidet die früheren Freun-de, die sozialen Kontakte, alle Zusammenstöße, er verstecktsich im Haus, grübelt über alles nach, über sich, über Gott unddie Welt und bringt von seinen täglichen Verrichtungen im-mer weniger zustande.

Es ist eine Tragödie, die er meist vor sich selbst verleugnet,weil er sozusagen ihre Unausweichlichkeit erkennt. Es ist zu-erst die Familie, die das alarmiert bemerkt. – Diese selbe Fa-milie, in der wir (zu Recht oder nicht) die seelischen Ursachenfür die Psychose suchen. Die Familie, die das erste große Op-fer der Psychose ist, wenn sie ihre eigene Zerstörung im Zu-sammenbruch des Patienten erlebt.

Wir hören vom Patienten nach dem Ausbruch der Psychosezum Beispiel, daß die Objekte ihn »auflösen«. Der Patient »ver-liert sich in den Dingen«, in Begegnungen mit Menschen, indenen er nicht gespiegelt, sondern durcheinandergebrachtwird.

Ich kenne Patienten, die vor der Psychose auf diese WeiseJahre in angstvoller Unruhe verbracht haben. – Und eine sol-che Angst ist von einer anderen Kategorie als neurotischeÄngste, auch wenn sie sich manchmal inhaltlich diesen annä-hert. Die präpsychotische Angst entspricht einer Vorahnungvom Verlust des Ich. Ganze emotionale Schichten vertrocknen,der Patient versteht sich selbst nicht mehr; andere Gefühle in-tervenieren heftig, aber ohne daß er sie als zugehörig zu sichselbst erlebt; andere wiederum erscheinen dem Patienten imSpiegel der Projektion.

Der Rückzug aus der sozialen Welt ist nach meiner Erfah-rung nicht nur durch ein extrem starkes Gefühl der Un-zulänglichkeit in den verschiedensten Bereichen alltäglicherVerrichtungen bedingt, wie es schon so oft vorgetragen wur-de, sondern auch durch eine fortschreitende Unfähigkeit, sichvon allen Objekten abzugrenzen. Diese sind einerseits not-wendig für die psychische Zufuhr des Selbst, sie müssen aberauch, wie das normalerweise der Fall ist, »metabolisiert« wer-den. Sie müssen assimiliert, transformiert und in das »un-veränderliche Selbst« integriert werden, und zwar von einemstabilen Teil des Selbst, das dem Patienten zu fehlen scheint.Wie oft habe ich in der Psychotherapie Fragen gehört wie:»Wer bin ich? Was soll ich über mich denken?«

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Wenn der Therapeut nun etwas über den Patienten denkt –gewiß etwas Positives –, läuft er Gefahr, in ihn einzudringen,ihm jenen isolierten Bezirk zu nehmen, den er sucht, umwirklich er selbst zu sein. Aber wenn der Therapeut sich jetztweigert, etwas zu denken, empfindet ihn der Patient als weitentfernt, passiv, ohne irgendeine Beziehung zu ihm, der sichgerade in seiner Leere verliert.

Der Rückzug aus der sozialen Welt scheint nicht alleindurch das Fehlen eines stabilen, unveränderbaren Selbst ver-ursacht, sondern auch durch zwei andere Umstände, die wo-möglich zunächst in ihrem tiefen Ursprung eins sind. Ich mei-ne vor allem das Erlebnis, keinen Platz in den anderen zuhaben, und jenes, daß die anderen keinen Platz im eigenenErleben haben.

Das Erleben, keinen Platz bei den anderen zu haben, offen-bart sich in den Worten jener Patienten, die fürchten, schondurch das Anmelden ihrer kleinsten emotionalen Bedürfnisseeinen übermäßig großen Raum beim anderen zu reklamieren,ihm das Dasein zu »rauben«, ihn zu »überfluten«. Searles(1965) hat auf ergreifende Weise die Angst vor der Abhängig-keit des schizophrenen Patienten beschrieben; das kann ichnur unterstreichen. Aber es gibt nicht nur diese Angst, da istauch eine »Schuld«, wenn er sich dem andern gegenüberdurchsetzt – für manche Patienten ist es sogar unmöglich, ei-ne Kleinigkeit, eine Zigarette oder etwas anderes zu verlan-gen.

Gleichzeitig ist die Angst wirksam, dem anderen keinenRaum einräumen zu können: Weil der Patient keine Persön-lichkeit ist, seine eigenen Gefühle nicht kennt und meint,überhaupt nichts geben zu können, kann er nicht zulassen,daß ein anderer bei ihm bleibt. Die Angst vor der gegenseiti-gen Enttäuschung, die sich in solchen Zuständen einstellt, istsicherlich bedeutend, sie scheint aber lediglich die Folge die-ses »Mangels an Platz« in jeder Beziehung zu sein.

Der dritte Faktor, der am Rückzug aus der sozialen Welt be-teiligt ist, ist das Erleben von Blöße und seelischer Wertlosig-keit aufgrund der Unfähigkeit zur Symbolisierung. Was demPatienten widerfährt, zerstört ihn, weil es nicht auf einer sym-bolischen Ebene erlebt werden kann. Von der ersten Beobach-tung Freuds an der Patientin, welcher der untreue Verlobte

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buchstäblich »die Augen verdreht« hatte, über das Konzept des»Konkretismus« von Arieti (1955) bis zu Lang (1982) oderHolm-Hadulla (1982) liegt eine ganze Reihe gleichlautenderErkenntnisse vor, an deren Wahrheitsgehalt nicht zu zweifelnist.

Der Verlust des unveränderbaren Selbst, der Verlust desPlatzes in jeder Beziehung, der Verlust der Fähigkeit zur Sym-bolisierung scheinen alle aus einer tiefen emotionalen undkognitiven Störung herzurühren, die möglicherweise auchnach anderen Konzepten zu beschreiben wäre, vielleicht er-klärbar aus dem frühkindlichen Erleben, im Hinblick auf dieBeziehung zur Mutter, zur Brust, zu einem schlechten Selbst,aber als psychopathologische Realität muß sie viel ernster ge-nommen werden als irgendeine Theorie.

Die autistische Suche nach dem eigenen Selbst

Es ist eine alte Frage, ob der Autismus ein primäres Symptomder Schizophrenie ist oder nicht. Für Minkowski war er es, fürBleuler war er es nicht, er sah die Spaltung als vorhergehendan. Das ist nur ein Problem für den, der allein das Symptomund den Verlauf betrachtet und nicht die Einheit der schizo-phrenen Welt. Wenn es einerseits stimmt, daß der Autismusim psychodynamischen Verständnis als Abwehr gegen die auf-lösenden Begegnungen mit allen Dingen erscheint, so giltdoch auch, daß die Erschaffung einer autistischen Welt erstdie Grundlage der anhaltenden Spaltungen ist, weil Individua-tion nur in der Beziehung zu einem anderen möglich ist, inder Dualität, während es in der autistischen Welt nur unter-einander widersprüchliche Zustände gibt, je nach Überwie-gen von diesem oder einem anderen Gefühl. Im hermetischenEingeschlossensein des Autismus ist eine Kohäsion des Selbstunmöglich. Der Patient versucht verzweifelt, sich durch stän-dige Selbstdefinitionen des eigenen Zustands, der immerwahnhafter und konfuser wird, ein Gesicht zu geben. DemEntwurf von einem Selbst fehlen jene unverzichtbaren Mittei-lungen, die vom Austausch mit anderen Menschen stammenund die den Menschen durch die Art, wie sich ihm der anderezuwendet, das eigene Selbst wahrnehmen lassen. Je mehr der

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Patient sich allein erforscht, um so weniger findet er über sei-ne eigenen Gedanken heraus. Einer Therapeutin, die ver-suchte, ihre Patientin davon zu überzeugen, daß die halluzi-nierten »Stimmen« ihre eigenen Gedanken seien, könnte diePatientin mit psychiatrischer Klarheit antworten: »Sie sindnicht erkennbare Teile von mir, die ich deshalb nur außerhalbwahrnehmen kann.«

Die Spaltung des Selbst

Ich habe vorhin festgestellt, daß die Spaltung mit dem Autis-mus einhergeht. Dementsprechend sieht Manfred Bleuler(1972) im Autismus und in der Spaltung die zwei essentiellenprimären Symptome der Schizophrenie.

Im manchen Fällen wird die Spaltung vom Patienten als einVerlust der Kohäsion des Selbst wahrgenommen, als Anwe-senheit unterschiedlicher selbständiger psychischer Instan-zen innerhalb des Selbst. Zumeist aber entflieht der Patientdiesem unerträglichen Zustand der Widersprüchlichkeit, dersonst in die Verwirrung und Katatonie führte, durch die Pro-jektion eines Teils seines Selbst auf die Welt. Das führt in eineunerhörte Bedeutungsfülle der eigenen Welt (in der jedes ba-nale Detail, vom Baum im Garten bis zum Liedchen im Radio,das dem Patienten etwas Privates mitteilt, sich ganz speziellauf ihn bezieht – im für die Schizophrenie so charakteristi-schen Bezugswahn). Das trägt auch zur ständig wachsendenSchwierigkeit bei, das eigene Selbst vom Nicht-Selbst zu un-terscheiden und, zusätzlich, zum Erleben, verfolgt zu werden.Die Objekte, die nicht nur unterdrückte Gefühle personifizie-ren, sondern Teile des abgespaltenen Selbst sind, lassen sichnicht mehr »in Parenthesen« fassen – denn ohne sie wäre derPatient nichts mehr als ein unbedeutender Teil seiner selbst.Es gibt Kranke, die offen sagen, daß sie Verfolger brauchen,daß sie deren Verschwinden nicht weniger fürchten als ihrAuftreten. Vielleicht werden bestimmte depressive Zustände,die auf eine rasche Dämpfung der Psychose durch Psycho-pharmaka folgen, durch die unbewußte Wahrnehmung einessolchen »Verlusts« hervorgerufen. Die innerpsychischen Ver-bindungen mit den wahnhaften Einbildungen erreichen eine

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außergewöhnliche Intensität, eben weil solche PhantasmenTeile des Selbst wiederherstellen, sie sind nicht bloß »Objek-te«. Und diese Intensität macht gerade die Halluzination aus,das durchaus sinnliche Empfinden für das, was für die ande-ren überhaupt nicht existiert!

In diesem Zusammenhang zeichnet sich das ab, was ich»Paradoxien« des schizophrenen »Erlebens« nenne, das Zu-sammenexistieren der Gegensätze, die sich eigentlich, logischbetrachtet, widersprechen, sich gegenseitig ausschließen,aber zugleich beide wichtig sind, weil sie wie zwei Gesichterein und dasselbe Phänomen ausdrücken. Gleichzeitig bringensie in ihrer Absurdität die autistische Welt hervor und spaltendabei, durch ihre Widersprüchlichkeit, das Selbst des Patien-ten.

Es gibt viele solcher Paradoxien; ich will indes versuchen,sie in drei wesentliche zusammenzuführen:– Die Übersymbolisierung und der Verlust des Symbols– Die Symbiose mit der Welt, bis hin zur Verschmelzung, und

die radikale Entfernung von ihr– Die Ohnmacht und die Allmacht, die Nicht-Existenz und die

Super-Existenz

Die Übersymbolisierung und der Verlust des Symbols

Mit dieser Paradoxie will ich mich im Detail beschäftigen,weil sie mir von zentraler Bedeutung erscheint.

Im schizophrenen Erleben hat alles den Anschein einesSymbols, weil jedes Ding seine Bedeutung verliert und eineandere annimmt: Die Handbewegung des Priesters auf derKanzel ist eine Anklage, die schwarze Kleidung des Passantenbedeutet eine eigene Schuld, die Morgenzeitung enthält An-spielungen auf den Patienten, und so fort. Wenn wir über die-ses Erleben gründlich nachdenken, sind die wahren Symboleverschwunden: Wenn hinter allen Bildern der Patient stecktund wenn das Selbstbild des Patienten – genauer gesagt, seineWahrnehmung vom eigenen Selbst – nicht existiert, außer indem, was ihm aus der Welt zurückgesendet wird, haben wirnur das Spiegelbild eines Selbst vor uns, das bis in jeden Win-kel und in jeden Bruchteil der eigenen Welt verfolgt wird. Die

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Vielstimmigkeit von Bedeutungen ist verschwunden, die Ab-bildungen der Welt, die sich immer nur auf den Patienten be-ziehen, haben jeden Gehalt verloren. Außerdem sieht der Pa-tient nie das wahre Selbst in den Bildern, die er von sichbekommt, sondern immer nur ein Stereotyp. Und schließlichist gar das Bild selbst konkret; es läßt nicht mehr, wie daswirkliche Symbol, die Möglichkeit zur Interpretation. Das Bildbedeutet nur noch das, was es im Wortsinn materiell ist.

Daher rührt die Zurückweisung der psychoanalytischenDeutung, die etwas entdecken will, das nicht der einfachenBehauptung der Halluzination entspricht.

Eine schizophrene Ordensschwester halluziniert Christusam Kreuz, umgeben von Kindern, die sich um ihn versam-meln, um ihn sexuell zu befriedigen. In der Wahnvorstellungbedeutet das die Wiederholung der Ursünde – von der Patien-tin gar ausgedehnt auf die ganze Menschheit –, das Ende derGeschichte, das auf ihren verhängnisvollen Ursprung zurück-weist. Für uns ist Christus am Kreuz ein Symbol für das ge-quälte Selbst der Patientin, und die Kinder, die ihn masturbie-ren, sind Symbole der sexuellen Impulse, welche die jungeOrdensfrau tatsächlich seit einiger Zeit durcheinanderbrach-ten. Für sie waren diese Figuren äußerste, absolute Wirklich-keit, hinter der sich nichts anderes mehr verbarg.

Wäre die Patientin keine Schizophrene, sondern lediglicheine Neurotikerin gewesen, hätte sie anstelle der Halluzinati-on einen Traum dieser Art haben können; und hätte sie sich inPsychoanalyse befunden, hätte sie mit Hilfe des Analytikers diepsychische Bedeutung des Traumsymbols verstehen können.

Aber hier prallte die Deutung gegen die Überzeugung derPatientin, daß die Realität der Vision ganz in ihr selbst enthal-ten sei und verwies nicht, wie eben das Symbol, auf eine psy-chische Bedeutung. Eine solche Patientin kommt nicht zu demSchluß, daß Christus am Kreuz ein Symbol für das eigene Lei-den ist. Wenn überhaupt, wird ein männlicher Patient behaup-ten, Christus zu sein, oder eine Patientin selbst bezeichnet sichals Madonna. Das Selbst existiert nicht als Wahrnehmung dereigenen Qual, als inneres Bild, das das äußere symbolisch dar-stellt. Das Selbst existiert nur in der Projektion, in der einzigengreifbaren Realität, die genau das halluzinierte Selbst ist. Dashalluzinierte Bild ist dabei nicht so sehr eine Widerspiegelung,

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sondern viel mehr ein Ersatz und deshalb von lebenswichtigerBedeutung für den Patienten. Es kann nicht auf etwas Rationa-les zurückgeführt werden. Wenn wir der Patientin erklären,daß Christus am Kreuz das Symbol der eigenen Kreuzigung ist– und das haben wir getan, weil in bestimmten Fällen dieFunktion der Symbolisierung noch nicht ganz erloschen ist –,entziehen wir ihr das einzige Bild, in dem das Selbst noch le-ben kann. Daher der entsetzliche Widerstand des schizophre-nen Patienten gegen jedwede reduzierende Deutung, die ihm,könnte er denn davon überzeugt werden, sein einziges, näm-lich das wahnhafte Selbst rauben würde, ohne daß ihm bereitsein anderes gegeben werden könnte. Dieses müßte sich vor al-lem auf den affektiven Austausch und die duale Begegnungmit dem Therapeuten begründen.

Wie kann man dem Patienten ein anderes Selbst geben, oh-ne den Wahn zu unterstützen, der ihm die Möglichkeit gibt,sich im Inneren »zu berühren« und sich eine eigene Identitätaufzubauen, und ihm doch nur eine Art »verdammte Identität«anbietet?

Angesichts der psychotischen Paradoxie müssen wir eineArt Gegenübertragungsparadoxie annehmen, nicht im Sinnvon Mara Selvinis »Paradoxon und Gegenparadoxon« (1975),wo sie mehr die Begegnung mit der nicht-geisteskranken Fa-milie in den Vordergrund rückt, sondern vielmehr in demSinn, daß wir dem Patienten ein Urteil über seine Existenz ver-mitteln – nicht über seine Realität. Wir müssen den Patientenannehmen mit dem, was in ihm nur durch seine Halluzinatio-nen leben kann. Wir müssen, wenn wir es schaffen, daraufantworten wie auf ein »Protosymbol«, das fähig ist zu einer po-sitiven Umwandlung, zu einer dualisierenden Progression, je-doch noch nicht zur Rationalisierung. Transforming imaginghabe ich das manchmal genannt. Mit dem Begriff »Protosym-bol« möchte ich eine Wahnvorstellung bezeichnen, eine Hal-luzination, die für den Patienten noch kein Symbol sein kann,jedoch in der therapeutischen Umgestaltung den Keim legenkann für ein Symbol.

Wenn es uns gelingt, unterstützt durch unser Unbewußtesoder vielleicht mit Hilfe des Unbewußten des Patienten, das»Protosymbol« im Gespräch (in Worten oder Bildern) mit demPatienten dergestalt zu modifizieren, daß die neue Version

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keine reduzierende Erklärung, sondern eine neue gegenüberder ersten erweiterte Vorstellung wäre, die vielleicht auch füruns Raum neben dem Patienten ließe, dann hätten wir einen»therapeutischen Vorschlag« gemacht.

Im Fall der Ordensschwester erinnerte sich die Therapeu-tin – hier sieht man die Wichtigkeit der schöpferischen Asso-ziation des Therapeuten – an die Vision des Heiligen Bern-hard, der, vor dem Kruzifix im Gebet versunken, Christus vomKreuz herabsteigen und ihn umarmen sieht. Die Therapeutinsagte der Patientin, daß sie über ihre Vision meditiert habeund daß sie, die Therapeutin, wie im Traum (sie verdeutlichtihre nicht-wahnhafte Position) gesehen habe, wie Christusvom Kreuz herabstieg, diese Kinder umarmte und sie so vonseinem Genital ablenkte.

»Ist das wahr? Aber dann gibt es vielleicht eine Hoffnung …«Das war in der Psychotherapie eine Voraussetzung dafür,

daß die Patientin eine emotionale Beziehung (vom prägenita-len Typus) zu ihrer Therapeutin begründen konnte.

Eine solche Deutung sagt nicht: »Schau, du hast eine Wahn-vorstellung, deren Bedeutung ich dir nun erkläre.« Und um soweniger spricht sie von sexuellen Impulsen, die im Augen-blick nicht sagbar waren, die die Patientin von sich abtrennte,die in der wahnhaften Projektion offenbar wurden und die nurspäter, im Spiegel der Übertragung zur geliebten Therapeu-tin, integriert werden konnten.

Der Christus, der in der Halluzination das »Protosymbol«psychotischen Leidens war, wird nun, durch die therapeuti-sche Reaktion, zum »Protosymbol« einer Therapeutin, die sichder Patientin entgegenneigt – ein Übergangssubjekt, das bei-den gehört. Hier erleben wir die Entstehung des dualen Sym-bols aus dem psychotischen Mangel an Symbolisierungsfähig-keit.

Die Symbiose mit der Welt, bis hin zur Verschmel-zung, und die radikale Entfernung von ihr

Hierzu möchte ich zunächst an die Erfahrungen des Psychia-ters und Psychotherapeuten Pao aus seiner fünfzehnjährigenTätigkeit in der amerikanischen Chestnut-Lodge-Klinik erin-

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nern. Nichts hatte seine Aufmerksamkeit in seinen mehrjähri-gen Begegnungen mit Schizophrenen so sehr beeindruckt wiedie Paradoxie ihres Verhaltens in der Widersprüchlichkeitzwischen einem Hunger nach Objekten, wie es Fairbairn nann-te, und einer unermüdlichen Abwehr gegen sie. In der Un-möglichkeit, zwischen selbst und nicht-selbst zu unterschei-den, ist der Objekthunger furchtbar gefährlich. Am Ursprungdieser Gefahr steht manchmal die zerstörerische Erfahrungeiner pathologischen frühkindlichen Symbiose. In der Thera-pie imponiert die Unmöglichkeit, sich der Abhängigkeit in ei-ner Übertragung anzuvertrauen. Aber die Störung verbleibtnicht nur auf emotionaler Ebene, wie in der Neurose, sie wirdkognitiv, dergestalt, daß der Patient Teile von sich in der Weltversenkt hat, wie es die Psychiater beschreiben, wenn sie voneinem psychotischen »Transitivismus« sprechen. Und gleich-zeitig dringen Teile der anderen in das Selbst ein, wie es derpsychiatrische Terminus der »Depersonalisierung« anzeigt.

Gegen die symbiotische Nähe wehrt sich der Patient durchProjektion und mit Hilfe des Autismus. Die Gefühle, die in ihmdurch die Begegnung mit den anderen entstehen, projizierteer bei ihrem ersten Auftauchen auf eben diese anderen: Uner-trägliche Objekte innerhalb der Psyche werden auf diese Wei-se ausgestoßen, wie es Melanie Klein postuliert hat. Aber die-ses Ausstoßen nützt nicht viel, da der Patient keine andereWahl hat, als sich mit diesen Objekten, die Teile von ihm auf-genommen haben, zu identifizieren – das ist die projektiveIdentifikation (Rosenfeld 1959). Im Autismus werden dieseIdentifikationsobjekte, die furchtbar gefährlich sind, weil esnicht gelingt, sie so vollständig auszustoßen, daß sie nur nocheinfache Objekte wären, vom Patienten durch die Schaffungeines Wahns manipuliert. Trotzdem ist das schizophrene Sub-jekt in keiner seiner Phantasien frei, da es von den nicht assi-milierbaren Einbildungen »verdinglicht« wird. Es hat nichtdas Erleben eines freien Willens, der für uns, mehr noch alsdas cogito ergo sum von Descartes, die Grundlage des Gefühlsist, überhaupt zu existieren. Der Patient ist eine »Sache« unddamit tatsächlich allen Einflüssen der Welt unterworfen, de-nen die materiellen Objekte unterworfen sind: magnetische,elektrische, telepathische Einwirkungen. Die Introjekte sindin der Psychose entweder abgespaltene Teile aus dem Selbst,

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jedoch Träger der eigenen Eigenschaften und deshalb, durchihren Charakter der Entfremdung und Zugehörigkeit zu-gleich, ausschließlich Verfolger; oder sie sind vollkommen mitdem Selbst verschmolzen und infizieren auf schreckliche Wei-se die Identität dessen, der sich vergeblich anstrengt, sich vonder Welt zu unterscheiden.

Das charakteristische Gegenübertragungserleben bestehtdarin, die beiden Pole in sich zu akzeptieren, zwischen denensich das Erleben des Patienten artikuliert. Das Erleben vonGetrenntheit – in der Psychiatrie weist bisweilen nur »Spür-sinn« darauf hin, mit einem Schizophrenen konfrontiert zusein, wie Ruemke (1970) schreibt – wird in der Psychotherapiezur »erlittenen« Getrenntheit, wie bei Racamier (1967), der inseiner Gegenübertragung den Eindruck hatte, niemand zusein; oder wie bei C. G. Jung (1907), der es nicht wagte, sichseiner Patientin zu nähern, sondern sie von der Türschwelledes Zimmers aus ansprach; oder wie bei mir, als ich von denparanoiden Augen meines Patienten träumte, sie riesengroßund außerirdisch sah – während der Patient hingegen Angsthatte, von meinen Augen hypnotisiert zu werden.

Der andere Pol in der Gegenübertragung, jener der Symbio-se, ist ebenso symmetrisch zu dem Erleben des Patienten. Icherinnere mich hier an meinen Mitarbeiter Peciccia. Als er einekatatone und halluzinierende Patientin vor sich hatte, die vonAngst gepackt und unfähig war, ein Wort hervorzubringen,stand er auf und trat an jene Stelle des Zimmers, an der für dieKranke anscheinend die Geister erschienen, mit denen siesymbiotisch verbunden war. In dem Moment, in dem er den»Platz« der Patientin eingenommen hatte, spürte er in sich dasGefühl der Angst.

Das alles ist eine Voraussetzug dafür, daß die negativen Er-lebnisse der Symbiose und der Getrenntheit sich im Patientenin erträgliche und sogar positive Erlebnisse verwandeln. Einpositives, wenn auch wahnhaftes Erlebnis ist das jenes Patien-ten, der glaubt, in seinem Bauch ein Musikinstrument zu ha-ben, das ihm der Therapeut geschenkt hat. Ein positives Erle-ben von Getrenntheit ist das des Patienten, der bemerkt, daßder Therapeut eine von ihm verschiedene Person ist, «zu sehrgetrennt« freilich, so daß ihm die Therapiestunden wie rareWassertropfen in der Hölle vorkommen.

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Die Bedeutung der menschlichen Beziehung, die für uns et-was Natürliches, Alltägliches ist und die im Gegenteil im Spie-gel des Erlebens des Patienten als etwas Außergewöhnlicheserscheint, wenn sie entsteht – als etwas, das der Tod war undanfängt, das Leben zu sein –, gibt uns womöglich den Auf-schluß über die conditio humana, den uns gerade das mensch-liche Wesen geben kann, das in der Psychose entmenschlichtist.

Die Ohnmacht und die Allmacht, die Nicht-Existenz und die Super-Existenz

Widloecher (1969) hat darauf hingewiesen, daß der paranoideAllmachtswahn das Erleben von jemandem ist, der in seinemfrühen postnatalen Leben niemals das physische Erlebnis vonAllmacht in der guten körperlichen Symbiose mit der Muttererfahren konnte, nach Freud dem primären Narzißmus zuge-hörig.

Das sind gewiß interessante Gedanken, die aber doch Zwei-fel aufwerfen. Vor allem wissen wir nicht, ob es dieses norma-le Erleben kindlicher Allmacht wirklich gibt. Kein Kind konn-te je mitteilen, was es vor dem Erwerb der Sprache erlebte.(Seit D. Stern, 1985, wird die frühkindliche Symbiose in Fragegestellt.) Daß darüber hinaus ihr Fehlen in der Kindheit späterim Erwachsenenalter durch Allmachtswahn kompensiert wird,ist eine Hypothese. Und schließlich sind solche Postulate, de-ren Wahrheit immer nur operational ist, das heißt von ihrerpsychotherapeutischen Brauchbarkeit abhängt, für die schizo-phrenen Patienten kaum nützlich, die wegen ihrer Psychosezu dieser Zeit kaum zur introspektiven Beschäftigung mit denersten Lebensjahren in der Lage sind.

Dazu kommt noch, daß die emotionale Tatsache der Ohn-macht und ihrer Umkehr in die Allmacht in der Psychose aucheine kognitive Tatsache geworden ist: Es gibt nicht nur dasNicht-Können, sondern auch die negative Existenz, das Nicht-Sein. Es gibt nicht nur die Allmacht (wie im grandiosenSelbst), sondern eben auch die Super-Existenz wie in der pa-ranoiden Vorstellung, Gott zu sein oder irgendeine große Per-sönlichkeit in der Geschichte.

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