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Inhalt Schwerpunktthema: Flucht und Migration – Krise der Humanität Editorial 5 Gelingt es, ohne Feindbilder zu leben? 9 Rolf Haubl Die Konstruktion des Eigenen und des Fremden – eine Grundfrage der transkulturellen therapeutischen Arbeit 17 Joachim Küchenhoff Der psychoanalytische Beitrag zu einer traumasensiblen Pädagogik 29 David Zimmermann Das Schibboleth der Bildung 41 Zur Inklusion von geflüchteten Minderjährigen ins deutsche Schulsystem Manfred Gerspach Eigene und fremde Männlichkeiten 57 Eine Fallrekonstruktion aus einem ehrenamtlichen Mentor_innenprojekt mit volljährigen geflüchteten Männern Marian Kratz Komplexe Beziehungen: Flucht und Frühe Hilfen 71 Marga Günther &Anke Kerschgens »Fremde sind wir uns selbst« 85 Die Flüchtlingskrise und die deutschen Verhältnisse Rolf-Peter W arsitz Von der »Unfähigkeit zu trauern« bis zur »Willkommenskultur« 101 Zur psychopolitischen Geschichte der Bundesrepublik Hans-Jürgen Wirth Heimat ist kein Ort 121 Anna Leszczynska-Koenen Freier Beitrag Kinder unter drei Jahren in Familie, Institutionen, Frühen Hilfen 137 Forschungsorientierte Betrachtung unter dem Aspekt migrationsgesellschaftlicher Heterogenität Ute Schaich psychosozial 40. Jg. (2017) Heft III (Nr. 149) 1

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Inhalt

Schwerpunktthema: Flucht undMigration – Krise der Humanität

Editorial 5

Gelingt es, ohne Feindbilder zu leben? 9Rolf Haubl

Die Konstruktion des Eigenen und desFremden – eine Grundfrage dertranskulturellen therapeutischen Arbeit 17Joachim Küchenhoff

Der psychoanalytische Beitrag zu einertraumasensiblen Pädagogik 29David Zimmermann

Das Schibboleth der Bildung 41Zur Inklusion von geflüchteten Minderjährigenins deutsche SchulsystemManfred Gerspach

Eigene und fremde Männlichkeiten 57Eine Fallrekonstruktion aus einemehrenamtlichen Mentor_innenprojekt mitvolljährigen geflüchteten MännernMarian Kratz

Komplexe Beziehungen:Flucht und Frühe Hilfen 71Marga Günther & Anke Kerschgens

»Fremde sind wir uns selbst« 85Die Flüchtlingskrise und die deutschenVerhältnisseRolf-Peter Warsitz

Von der »Unfähigkeit zu trauern«bis zur »Willkommenskultur« 101Zur psychopolitischen Geschichte derBundesrepublikHans-Jürgen Wirth

Heimat ist kein Ort 121Anna Leszczynska-Koenen

Freier Beitrag

Kinder unter drei Jahren in Familie,Institutionen, Frühen Hilfen 137Forschungsorientierte Betrachtung unter demAspekt migrationsgesellschaftlicherHeterogenitätUte Schaich

psychosozial 40. Jg. (2017) Heft III (Nr. 149) 1

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Impressumpsychosozial40. Jg. (2017) Heft III (Nr. 149)ISSN 0171-3434HerausgeberInnen: Michael B. Buchholz, Pradeep Chakkarath, Oliver Decker, Jörg Frommer, Benigna Gerisch,Rolf Haubl, Marie-Luise Hermann, Vera King, Carlos Kölbl, Joachim Küchenhoff, Jan Lohl, Katja Sabisch, JürgenStraub und Hans-Jürgen WirthEhemalige HerausgeberInnen: Hellmut Becker, Dieter Beckmann, Iring Fetscher, Hannes Friedrich, Hartmutvon Hentig, Albrecht Köhl, Annegret Overbeck, Horst-Eberhard Richter, Hans Strotzka, Ambros Uchtenhagen,Eberhard Ulich, Jürg Willi, Hans-Jürgen Wirth, Gisela Zenz und Jürgen ZimmerMit Heft I/2014 fusionierte die Zeitschrift Psychotherapie & Sozialwissenschaft mit der Zeitschrift psychosozial.Ehemalige HerausgeberInnen der Zeitschrift Psychotherapie & Sozialwissenschaft: Jörg Bergmann, BrigitteBoothe, Michael B. Buchholz, Oliver Decker, Jörg Frommer, Bernhard Grimmer, Martin Hartung, Marie-LuiseHermann, Tom Levold, Kathrin Mörtl, Annegret Overbeck, Jürgen Straub, Ulrich Streeck und Stephan WolffGeschäftsführende HerausgeberInnen: Dr. Marie-Luise Hermann, Rychenbergstr. 26, CH-8400 Winterthur,E-Mail: [email protected]; Prof. Dr. Carlos Kölbl, Universität Bayreuth, KulturwissenschaftlicheFakultät, Lehrstuhl für Psychologie, 95440 Bayreuth, E-Mail: [email protected]:Dr.Marie-LuiseHermann,Rychenbergstr.26,CH-8400Winterthur,E-Mail:[email protected]: Telefon 06 41 - 96 99 78 18, E-Mail: [email protected]: Psychosozial-Verlag, Walltorstraße 10, D-35390 GießenE-Mail: [email protected], www.psychosozial-verlag.deUmschlaggestaltung: nach Entwürfen des Ateliers Warminski, BüdingenUmschlagabbildung: Andreas Bilger, Flüchtlinge nach Europa, 5. September 2015Satz: metiTec-Software, me-ti GmbH, Berlin, www.me-ti.deBezugsgebühren (ab 2018): Für das Jahresabonnement EUR 59,90 (inkl. MwSt.) zuzüglich Versandkosten.Studentenabonnement 25% Rabatt (inkl. MwSt.) zuzüglich Versandkosten. Lieferungen ins Ausland zuzüglichMehrporto. Das Abonnement verlängert sich jeweils um ein Jahr, sofern nicht eine Abbestellung bis zum 15. No‐vember erfolgt. Preis des Einzelheftes: EUR 19,90.Bestellungen richten Sie bitte direkt an den Psychosozial-Verlag oder wenden Sie sich an Ihre Buchhandlung.Anzeigen: Anfragen bitte an: [email protected]: © 2017 Psychosozial-Verlag, GießenErscheinungsweise: Viermal im JahrDie in der Zeitschrift veröffentlichten Beiträge sind urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte, insbesondere das derÜbersetzung in fremde Sprachen, bleiben vorbehalten. Kein Teil dieser Zeitschrift darf ohne schriftliche Genehmi‐gung des Verlages in irgendeiner Form – durch Fotokopie, Mikrofilm oder andere Verfahren – reproduziert oderunter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.Manuskripte: Die Redaktion lädt zur Einsendung von Manuskripten ein. Mit der Annahme des Manuskripteserwirbt der Verlag das ausschließliche Verlagsrecht auch für etwaige spätere Veröffentlichungen.Datenbanken: Die Zeitschrift psychosozial wird regelmäßig in der Internationalen Bibliographie der geistes-und sozialwissenschaftlichen Zeitschriftenliteratur (IBZ – De Gruyter Saur) und in der PublikationsdatenbankPSYNDEX des Leibniz-Zentrums für Psychologische Information und Dokumentation (ZPID) erfasst.CIP-Einheitsaufnahme der Deutschen Bibliothek: Psychosozial. – Gießen: Psychosozial-Verl. Erscheint jährlichviermal – Früher im Rowohlt-Taschenbuch Verl., Reinbek bei Hamburg, danach in der Psychologie Verl. Union,Beltz Weinheim. – Erhielt früher Einzelbd.-Aufnahme. – Aufnahme nach 53. Jg. 16, H. 1 (1993).

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Schwerpunktthema:

Flucht und Migration –Krise der Humanität

Herausgegeben von Rolf Haublund Hans-Jürgen Wirth

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Editorial

psychosozial 40. Jg. (2017) Heft III (Nr. 149) 5–8www.psychosozial-verlag.de/ps

Spätestens seit der spektakulären Entscheidungder Bundesregierung unter Angela Merkel vom4. September 2015, die Grenzen für TausendeFlüchtlinge, die sich auf der Balkanroute an‐sammelten, zu öffnen, steht Deutschland – ja,steht Europa – im Zeichen der Flüchtlingskri‐se. Bundeskanzlerin Merkel deklarierte diesenSchritt als zeitlich befristete Ausnahme, um ei‐ner humanitären Notlage Herr zu werden. DieReaktionen in der deutschen Bevölkerung, aberauch die der europäischen Nachbarländer wa‐ren geteilt. Auf der einen Seite entstand in derdeutschen Bevölkerung spontan eine Hilfs- undAufnahmebereitschaft, die den Namen »Will‐kommenskultur« erhielt. Auf der anderen Sei‐te bekamen rechtspopulistische Gruppierungenwie die AfD und Pegida neuen Zulauf. Auchim europäischen Ausland bescherte die wach‐sende Zahl der Migranten und Kriegsflüchtlin‐ge rechtspopulistischen Bewegungen Auftrieb,wobei das Beispiel Deutschlands überwiegendabschreckend wirkte.

Wie kaum ein anderes Thema hat die Kon‐frontation mit dem Fremden das Potenzial zurradikalen Polarisierung. Die einen erleben dieFremden, speziell wenn sie scheinbar unkon‐trolliert und massenhaft ins eigene Land strö‐men, als Bedrohung der eigenen Identität, dereigenen Kultur, des eigenen Wohlstandes. Dieanderen bekennen sich zur humanitären Verant‐wortung einer freien demokratischen und auchwohlhabenden Gesellschaft, verfolgten und mitFolter und Tod bedrohten Menschen Schutz zugewähren. Manche sehen in den Fremden undim Umgang mit ihnen sogar die Chance zu ei‐ner Bereicherung der eigenen Kultur.

Die Zeitschrift psychosozial hat sich be‐

reits seit ihren Anfängen Ende der 1970er Jah‐re immer wieder mit den Themen Migration,Transkulturalität, Flucht, Vertreibung, Folterund Feindbilder beschäftigt. Ein kurzer Rück‐blick auf einschlägige psychosozial-Schwer‐punktthemen der vergangenen 40 Jahre mageinen Eindruck vermitteln, wie sich sowohl dieProblematik selbst als auch der wissenschaftli‐che Blick darauf verändert haben – aber auch,welche alten Probleme unverändert fortbeste‐hen.

Das erste Mal näherte sich psychosozial1982 der Thematik unter dem Titel In deut‐scher Fremde. Zur Lage unserer Gastarbeiter(herausgegeben von Hannes Friedrich). Die un‐gewöhnliche Formulierung des Haupttitels regtdazu an, sich mentalisierend vorzustellen, wiefremd sich diejenigen fühlen mögen, die manaus der eigenen Sicht als die Fremden emp‐findet. Diese Perspektive einzunehmen, kannauch heute noch produktiv sein. Aus heuti‐ger Sicht mutet der Untertitel hingegen veraltetund etwas gönnerhaft an. Wie das Editorialdes Herausgebers und die Beiträge zeigen, istdie Formulierung »unsere Gastarbeiter« jedochironisch gemeint. Das Heft thematisiert, dasssich die offizielle Vorstellung, die Gastarbeiterseien nur temporär zu Gast und gingen dannwieder zurück in ihre Heimatländer, bereits seitBeginn der 1970er Jahre als Illusion erwiesenhatte. Deutschland war zu dieser Zeit längst einEinwanderungsland geworden, eine Tatsache,die die staatliche Politik bis heute leugnet. Soschreibt der Herausgeber in seinem Editorial:»Es geht um die Frage, wie weit man bereit ist,die eigene Gesellschaft als einen Schmelztie‐gel zu verstehen, in dem neue Gruppen, die aus

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anderen Kulturen kommen, integriert werden,ohne daß man sie unter den Zwang der Assi‐milation stellt.« Diese Frage ist nach wie vorhöchst aktuell und höchst umstritten, aber im‐mer noch ungelöst.

Das zweite Heft zu dieser Thematik istvon 1984 und trägt den Titel Der Spiegel desFremden. Ethnopsychoanalytische Betrachtun‐gen (herausgegeben von Hans-Jürgen Wirth).Es war ganz geprägt von der Faszination, diedas Fremde ausüben kann, und von der Berei‐cherung, die es für das Eigene bedeuten kann.Das Fremde wurde aber ausdrücklich nicht nurin exotischer Ferne, sondern auch in den frem‐den Bereichen der eigenen Kultur aufgesucht.

1989 beschäftigt sich eine Ausgabe mitFeindbildern (herausgegeben von Iring Fet‐scher). »Feindbilder«, schreibt Iring Fetscher,»sind irreführende Karikaturen der Wirklich‐keit, die gerade keine zuverlässige Aufklärungüber die Lage vermitteln. Wenn sie dennochso krampfhaft festgehalten werden, so muß dasauf innerseelische Funktionen des Feindbildeszurückgehen oder auch auf dessen politischeNützlichkeit für gewisse leitende Eliten.«

1996 geben Georg Sieven und Elmar Bräh‐ler ein Heft zum Thema Migration und Gesund‐heit heraus. Die Beiträgerinnen und Beiträgerbeschäftigen sich mit der Fragestellung, welchebesonderen psychischen und körperlichen Be‐lastungen mit der Migration verbunden sind undwelche speziellen Hilfsangebote für diese Be‐völkerungsgruppe entwickelt werden sollten.

Das fünfte Heft zur Thematik erscheint 2003unter dem Titel Migration und Psyche. Aufbrü‐che und Erschütterungen (herausgegeben vonSigrid Scheifele). In den Artikeln taucht eineneue Terminologie auf: Man beschäftigt sichmit »interkulturellen« und »transkulturellen«Phänomenen und denkt über »Gender-Diffe‐renzen innerhalb der Zweiten Generation« vonMigrantenfamilien nach.

Bereits zwei Jahre später, 2005, erscheinteine Ausgabe zum Thema Folter und Humani‐tät (herausgegeben von Horst-Eberhard Richterund Frank Uhe). Das Heft reagiert auf Guanta‐namo. Der Terroranschlag vom 11. September2001 zieht Gewalt und Krieg im großen Maß‐stab nach sich. George W. Bush erklärt den

»Krieg gegen den Terror« und Guantanamowird zum Symbol dafür, dass auch demokrati‐sche Staaten nicht vor Folter zurückschrecken.Die Zahl der Flüchtlinge, die als FolteropferAsyl und traumatherapeutische Hilfe suchen,nimmt dramatisch zu.

Noch im gleichen Jahr erscheint eine Ausga‐be mit dem Schwerpunktthema Flüchtlingskin‐der und ihre Familien in Beratung und Thera‐pie (herausgegeben von Hubertus Adam, BirgitMöller und Torsten Lucas). Autorinnen undAutoren berichten darin von den Erfahrungen,die inzwischen in der psychotherapeutischenArbeit mit schwer traumatisierten Flüchtlingenin den verschiedenen Trauma- und Flüchtlings‐ambulanzen gesammelt wurden.

2012 gibt die Arbeitsgruppe »ArbeitshefteGruppenanalyse« ein Heft zum Thema Trans‐kulturalität heraus. Es behandelt aus einer an‐thropologischen Perspektive die Begegnung mitdem Fremden als eines der elementaren Pro‐bleme menschlicher Kultur.

2016 sind gleich zwei Hefte zum ThemaIndigenität erschienen: Indigene und indianis‐tische Diskurse und Praktiken in Bolivien (her‐ausgegeben von Carlos Kölbl) und Indigenität– Eine Herausforderung für die Sozialwissen‐schaften (herausgegeben von Pradeep Chakka‐rath).

Mit der hier vorliegenden Ausgabe reagie‐ren die Herausgeber der psychosozial auf dieaktuelle Flüchtlingskrise. Die Beiträgerinnenund Beiträger nähern sich der Thematik un‐ter zwei Gesichtspunkten. Zum einen geht esum die praktische Arbeit mit Flüchtlingen undum die Probleme, die dabei auftauchen: Waskönnen Psychotherapeuten, Sozialarbeiter undandere Helfer für die Flüchtlinge tun? WelcheProbleme stellen sich? Welche Rolle spielt dasEngagement der ehrenamtlichen Helfer? Wiekönnen komplexe Versorgungskonzepte ausse‐hen?

Der zweite Schwerpunkt dreht sich um Fra‐gen nach den kulturellen, gesellschaftlichen undpolitischen Dimensionen der Flüchtlingskrise:Welche Prozesse werden in der deutschen Ge‐sellschaft ausgelöst oder verstärkt? Wie reagie‐ren Politik, Bevölkerung, Medien und einzelnegesellschaftliche Gruppierungen? Welche la‐

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tent vorhandenen Ressentiments und antidemo‐kratischen Einstellungen werden verstärkt oderfinden einen Kristallisationspunkt? Wie ist die»Willkommenskultur« in Deutschland zu ver‐stehen? Wie reagieren andere Gesellschaften inEuropa und wie sind die Unterschiede zu erklä‐ren?

Zu den BeiträgenIn seinem einleitenden Essay geht Rolf Haublder Frage nach, ob es grundsätzlich möglichist und gelingen kann, ohne Feindbilder zuleben. Er erläutert Schritt für Schritt die ein‐zelnen psychischen Prozesse, die zum Aufbauvon Feindbildern führen. Schließlich benennter Eingriffsmöglichkeiten, um die weitere Aus‐breitung von Feindbildern zu unterbrechen unddie dadurch ausgelöste Verunsicherung in pro‐duktivere Bahnen zu lenken.

Joachim Küchenhoff behandelt die gesell‐schaftliche und psychische Konstruktion desEigenen und des Fremden auf einer elementa‐ren Ebene. Es geht ihm nicht um Feindbilder,sondern um den Prozess, in dem das Subjektdas Fremde braucht, um das Eigene entwickelnzu können, indem sich das Eigene vom Frem‐den abgrenzt, aber auch im Fremden spiegeltund das Fremde zur Selbstkonstruktion des Ei‐genen benötigt und nutzt.

In den beiden Beiträgen von David Zim‐mermann und Manfred Gerspach geht es umFragen der Pädagogik.

David Zimmermann geht der Frage nach,wie sich die Pädagogik auf die spezifischenKonfliktlagen von geflüchteten Jugendlicheneinstellen kann, um deren Problemen gerechtzu werden. Dazu untersucht er speziell, welcheKonzepte die psychoanalytische Pädagogik unddie Traumapädagogik dafür entwickelt habenund auf welche Erfahrungen sie schon zurück‐blicken können.

Manfred Gerspach untersucht die Probleme,die sich bei der Inklusion von geflüchteten Min‐derjährigen ins deutsche Schulsystem ergeben.Er plädiert dafür, dass sich die Pädagogik nichtnur auf die Aneignung formaler sprachlich ver‐mittelter Wissensbestände beschränkt, sondern

auch ein psychodynamisches Grundverständnisfür die besondere Vulnerabilität dieser häu‐fig schwer traumatisierten Jugendlichen entwi‐ckelt. Andernfalls bestehe die Gefahr, dass diePädagogen zumindest implizit zu einer Retrau‐matisierung und damit zu einem Scheitern derpädagogischen Maßnahmen beitragen.

Marian Kratz beschäftigt sich mit den (kon‐struierten) Bildern des Flüchtlings, die denöffentlichen Diskurs über die Flüchtlinge prä‐gen und auch die Einstellungen von haupt-und ehrenamtlichen Helfern zu ihren »Klien‐ten« beeinflussen. Er macht zwei dominieren‐de Konstruktionen des typischen Flüchtlingsaus: zum einen den unbegleiteten minderjäh‐rigen Flüchtling, der einer vulnerablen undschutzbedürftigen Risikogruppe angehört undentsprechende Helferimpulse auslöst; sein Bildbestimmt den Integrations- und Versorgungs‐diskurs. Ihm steht die Figur des heterosexuel‐len, muslimischen Mannes gegenüber, der zusexuellen Übergriffen und kriminellem Verhal‐ten neigt und ein Risiko für die Aufnahme‐gesellschaft darstellt. Sein Bild dominiert denAbschottungsdiskurs. Kratz demonstriert an ei‐ner exemplarischen Fallrekonstruktion, wie sichdiese Diskurse in der Praxis auswirken.

Marga Günther und Anke Kerschgens be‐richten in ihrem Beitrag von dem relativ neuenAnsatz der »Frühen Hilfen«, der in der sozialenArbeit mit Flüchtlingsfamilien besonders ange‐zeigt ist. Zum einen ist es aus dem Blickwin‐kel der Prävention besonders wichtig, bereitsin der vulnerablen Entwicklungsphase der frü‐hen Kindheit anzusetzen, zum anderen findensich bei Flüchtlingsfamilien gehäuft ausgepräg‐te Risikofaktoren wie Armut, soziale Isolation,familiäre Konflikte, traumatische Belastungenusw. Anhand von Fallbeispielen wird die fami‐lienbezogene Arbeit in einer Erstaufnahmeein‐richtung geschildert. Eindringlich machen dieAutorinnen klar, dass die Rahmenbedingungenin solchen Einrichtungen einer gelingenden El‐ternschaft und einer gesunden Entwicklung derKinder abträglich sind, und fordern, dass auchbei der Verbesserung der Wohn- und Lebens‐verhältnisse angesetzt werden muss.

Die Texte von Rolf-Peter Warsitz und Hans-Jürgen Wirth unternehmen beide – wenn auch

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aus ganz unterschiedlicher Perspektive – denVersuch einer Kulturpsychoanalyse der deut‐schen Verhältnisse im Zeichen der Flüchtlings‐krise.

Rolf-Peter Warsitz stellt den aktuellen Ras‐sismus und Rechtsradikalismus in den Fokusseiner Überlegungen und führt diese Phänome‐ne auf eine Sozialpathologie der Deutschen zu‐rück. Diese sieht er begründet in einer fragilenkulturellen Identität der Deutschen, ungelöstenSozialisationsprozessen und religiösen Identi‐fizierungen während der Adoleszenz.

Hans-Jürgen Wirth vertritt hingegen dieThese, dass im Vergleich zu den europäischenNachbarländern Rassismus und Rechtsextre‐mismus in Deutschland eher unterdurchschnitt‐lich ausgeprägt sind, also keiner spezifischenErklärung bedürfen, dass sich aber das Phäno‐men der »Willkommenskultur« in keinem an‐deren Land so stark gezeigt hat wie in Deutsch‐land. Er stellt dieses Phänomen in eine his‐torische Entwicklungslinie mit der besondersauffälligen Bereitschaft der Deutschen, sich mitexistenziellen Gefahren auseinanderzusetzen,wie sich das beispielsweise bei den heftigenReaktionen auf die Reaktorkatastrophen vonTschernobyl und Fukushima gezeigt hat. Die‐se besondere deutsche Sensibilität führt Wirthauf die jahrzehntelange konflikthafte, aber auchproduktive Aufarbeitung der nationalsozialisti‐schen Vergangenheit zurück.

Anna Leszczynska-Koenen macht daraufaufmerksam, dass das Thema Heimatlosigkeit,Vertreibung und Exil zentral für die Geschichteder Psychoanalyse ist. Als »jüdische Wissen‐schaft« war sie in besonderer Weise von derVerfolgung und Ermordung der Juden in Eu‐ropa betroffen. Das Trauma der Vertreibungund das Schicksal der psychoanalytischen Be‐wegung im amerikanischen und im LondonerAsyl haben die Weiterentwicklung der Psycho‐analyse als Wissenschaft tief geprägt. Leszc‐zynska-Koenen, die in Polen geboren wurdeund in Warschau und Wien aufgewachsen ist,macht in der Auseinandersetzung mit ihrer ei‐

genen Biografie deutlich, welche komplexenpsychischen Integrationsprozesse notwendigsind, wenn die Verbundenheit mit der altenHeimat bewahrt wird und zugleich eine An‐eignung der neuen kulturellen Erfahrungenstattfindet.

Rolf Haubl & Hans-Jürgen Wirth

Die HerausgeberRolf Haubl hat Sprachwissenschaften und Psycho‐logie studiert. Er ist Gruppenlehranalytiker (D3G)und Lehrsupervisor (DGSv). Bis vor Kurzem warer Professor für Soziologie und psychoanalytischeSozialpsychologie an der Johann Wolfgang Goe‐the Universität in Frankfurt am Main sowie einerder Direktoren des Sigmund-Freud-Instituts. Zahl‐reiche Veröffentlichungen unter anderem zu Emotio‐nen in Gruppen, Organisationen und Gesellschaften,weiterhin zu psychischen Belastungen in der spät‐modernen Arbeitsgesellschaft sowie zu Konsum alsLebensstil.

Hans-Jürgen Wirth, ist Psychologischer Psychothe‐rapeut und arbeitet als Psychoanalytiker und psycho‐analytischer Paar- und Familientherapeut in eigenerPraxis in Gießen. Er ist außerplanmäßiger Professorfür Soziologie und Psychoanalytische Sozialpsycho‐logie an der Universität Frankfurt am Main undleitet den Psychosozial-Verlag. Er ist Mitherausgeberder Zeitschriften psychosozial und Psychoanalyti‐sche Familientherapie. Wichtigste Buchpublikation:Narzissmus und Macht. Zur Psychoanalyse seeli‐scher Störungen in der Politik.

KontaktProf. Dr. Dr. Rolf HaublSigmund-Freud-InstitutMyliusstraße 20D-60323 Frankfurt am MainE-Mail: [email protected]

Prof. Dr. Hans-Jürgen WirthE-Mail: [email protected]

Schwerpunktthema: Flucht und Migration – Krise der Humanität

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