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1 Einleitung Seit den liberalen Reformen in der Sowjetunion Ende der 80er Jahre sind etwa zwei Millionen Russlanddeutsche ins Land ihrer Vorfahren zurückgekehrt. Die meisten kamen aus Kasachstan und Russland, vor allem weil sie für sich und ihre Kinder kaum Zukunftsperspektiven sahen. Für alle bedeutete die Auswanderung einen tiefen Lebenseinschnitt: die Trennung von der Heimat, von Freunden und Verwand- ten. Wir ließen hinter uns das halbe Leben stehen, … die Seele wurde ausgetauscht, schrieb die Lyrikerin Lydia Rosin. Obwohl die Deutschen in Russland über 200 Jahre ihre eigene Kultur bewahrt haben, besonders den angestammten Glauben, den Dialekt und das Brauchtum, sind sie dennoch von zwei Kulturen geprägt. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurden viele Ehen mit einem nichtdeutschen Partner geschlossen. Jeder jüngere Deutsche aus Russland versteht das Russische wie eine Muttersprache. Schließlich musste seit 1941 außerhalb der Wohnung ausschließlich Russisch gesprochen werden. Die Ächtung der deutschen Sprache in der Sowjetunion über Jahrzehnte hinweg führte schließlich dazu, dass die meisten Kinder und Jugendlichen bei der Ausreise allenfalls den deutschen Dialekt ihrer Großeltern und Eltern kannten, nicht aber die deutsche Sprache und Schrift. Schmerzhaft war es für die Russlanddeutschen, wenn sie drüben als Nazis diffamiert wurden, und erst recht schmerzlich ist es, wenn sie bei uns wegen ihrer kompeten- ten Teilhabe an der russischen Kultur und Sprache als Rus- sen diskriminiert werden. Es ist ein Skandal, dass das Wort Russe in unserem Land noch oft in herabsetzender Weise verwendet wird. Ein Einblick in Geschichte, Kultur, Schicksale und Hintergründe der Auswanderung soll Verständnis wecken für die besondere Problematik der Russlanddeutschen, die gemäß des Grundgesetzes als Deutsche gelten. Da in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion noch immer über eine Million Deutsche leben und weiterhin mit vielen Zuwanderern von dort zu rechnen ist, wird das Thema der Spätaussiedler noch viele Jahre aktuell bleiben. Ausdrücklich sei darauf aufmerksam gemacht, dass mit dem Aufzeigen der oft sehr tragischen Schicksale in der Stalin-Ära keine antirussischen Emotionen entstehen dürfen; unter Stalin hatten auch Millio- nen von Sowjetbürgern nichtdeutscher Nationalität zu leiden, zum Beispiel in den berüchtigten Gulags. Der deutsche Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 und die da- raus resultierenden Folgen sind in den Ländern der ehe- maligen Sowjetunion bis heute in fast jeder Familie noch unmittelbar lebendig. Der Blutzoll war extrem hoch. Minister- präsident Putin erinnerte anlässlich des 60. Jahrestags des Einmarschs der deutschen Wehrmacht an die 27 Millionen Todesopfer der Sowjetunion zwischen 1941 und 1945. Auch das Leid der Russlanddeutschen in jener Zeit war uner- messlich groß. Sie wurden als Deutsche entrechtet und zur Zwangsarbeit verpflichtet, obwohl sie keine Schuld hatten an den Folgen des Hitlerschen Vernichtungskriegs. Aber es gab in den Zeiten der schlimmsten Not auch 1000fach erlebtes Verständnis und tätige Hilfsbereitschaft von Sowjetbürgern, insbesondere von Russen und Kasachen. In keinem anderen Bundesland leben so viele Russ- landdeutsche wie in Baden-Württemberg: über 750 000. Da sehr viele von ihnen einen schwäbischen Dialekt sprechen, möchten sie gern dort wohnen, wo man sich gegenseitig versteht. Eine Reihe von Kolonistendörfern trugen schwä- bische Namen. 1831 wurde im Kaukasus zum Beispiel Neu- Stuttgart gegründet. Baden-Württemberg ist sich der beson- deren Verantwortung für die Nachfahren der Auswanderer aus vielen 100 Orten unseres Landes bewusst und über- nahm verdienstvollerweise die Patenschaft für alle Russland- deutschen. Gerade sie, die in zwei Kulturen und Sprachen beheimatet sind, können als Mittler zwischen Russland und Deutschland einen wesentlichen Beitrag zur Verständigung der beiden Völker leisten. Das Auswanderungsgesuch von 1766 Als Reaktion auf das Manifest der Zarin Katharina II. von 1763 bat eine junge Waise aus Höhefeld die Verwaltung der Grafschaft Wertheim um Entlassung aus der Leibeigen- schaft. Als Grund gab die Waise an, dass sie aus äußerster Not ihr Glück außerhalb suchen möchte, in Russland. Das Gesuch wurde bewilligt. Voraussetzung war eine Aufstellung des Vermögens. Margaretha Alberths Schulden beliefen sich auf 66 Gulden. Das Vermögen der Waise, darunter vermut- lich ein kleines Haus, wurde an den Meistbietenden für 177 Gulden öffentlich verkauft. 5 1 /2 Gulden, etwa fünf Prozent des Vermögens, musste die Waise für die Entlassung aus der Leibeigenschaft zahlen. Da bei früheren Auswanderern (nach Amerika) in den Jahren zuvor bis über 20 Prozent abverlangt wurden, ist zu vermuten, dass die Auswanderung des Mädchens von der Verwaltung auf lange Sicht als ein Vorteil angesehen wurde; schließlich sagt die Waise selbst, dass sie kaum ein Stückchen Brot durch tägliche Arbeit erwerben könne. Sicherlich hatte sie keine Ahnung, welche Strapazen ihr bevorstanden, nämlich eine Entfernung von rund 4000 Kilometern, und dies in einer Zeit, da als Trans- portmittel nur kleinere Schiffe und Fuhrgespanne auf schlechten Wegen zur Verfügung standen. Herausgegeben von der Landesarchivdirektion Baden-Württemberg Nr. 23 November 2001 Quellenmaterial für den Unterricht Die Russlanddeutschen Von der Auswanderung im 18. und 19. Jahrhundert bis zur Rückkehr in das Land ihrer Vorväter am Ende des 20. Jahrhunderts Bearbeitet von Hugo Eckert

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Einleitung

Seit den liberalen Reformen in der Sowjetunion Endeder 80er Jahre sind etwa zwei Millionen Russlanddeutscheins Land ihrer Vorfahren zurückgekehrt. Die meisten kamenaus Kasachstan und Russland, vor allem weil sie für sichund ihre Kinder kaum Zukunftsperspektiven sahen. Für allebedeutete die Auswanderung einen tiefen Lebenseinschnitt:die Trennung von der Heimat, von Freunden und Verwand-ten. Wir ließen hinter uns das halbe Leben stehen, … dieSeele wurde ausgetauscht, schrieb die Lyrikerin Lydia Rosin.Obwohl die Deutschen in Russland über 200 Jahre ihre eigene Kultur bewahrt haben, besonders den angestammtenGlauben, den Dialekt und das Brauchtum, sind sie dennochvon zwei Kulturen geprägt. Erst nach dem Zweiten Weltkriegwurden viele Ehen mit einem nichtdeutschen Partnergeschlossen. Jeder jüngere Deutsche aus Russland verstehtdas Russische wie eine Muttersprache. Schließlich mussteseit 1941 außerhalb der Wohnung ausschließlich Russischgesprochen werden. Die Ächtung der deutschen Sprache inder Sowjetunion über Jahrzehnte hinweg führte schließlichdazu, dass die meisten Kinder und Jugendlichen bei derAusreise allenfalls den deutschen Dialekt ihrer Großelternund Eltern kannten, nicht aber die deutsche Sprache undSchrift. Schmerzhaft war es für die Russlanddeutschen,wenn sie drüben als Nazis diffamiert wurden, und erst rechtschmerzlich ist es, wenn sie bei uns wegen ihrer kompeten-ten Teilhabe an der russischen Kultur und Sprache als Rus-sen diskriminiert werden. Es ist ein Skandal, dass das WortRusse in unserem Land noch oft in herabsetzender Weiseverwendet wird.

Ein Einblick in Geschichte, Kultur, Schicksale undHintergründe der Auswanderung soll Verständnis wecken für die besondere Problematik der Russlanddeutschen, diegemäß des Grundgesetzes als Deutsche gelten. Da in denNachfolgestaaten der Sowjetunion noch immer über eineMillion Deutsche leben und weiterhin mit vielen Zuwanderernvon dort zu rechnen ist, wird das Thema der Spätaussiedlernoch viele Jahre aktuell bleiben. Ausdrücklich sei darauf aufmerksam gemacht, dass mit dem Aufzeigen der oft sehrtragischen Schicksale in der Stalin-Ära keine antirussischenEmotionen entstehen dürfen; unter Stalin hatten auch Millio-nen von Sowjetbürgern nichtdeutscher Nationalität zu leiden,zum Beispiel in den berüchtigten Gulags. Der deutscheÜberfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 und die da-raus resultierenden Folgen sind in den Ländern der ehe-maligen Sowjetunion bis heute in fast jeder Familie nochunmittelbar lebendig. Der Blutzoll war extrem hoch. Minister-präsident Putin erinnerte anlässlich des 60. Jahrestags des

Einmarschs der deutschen Wehrmacht an die 27 MillionenTodesopfer der Sowjetunion zwischen 1941 und 1945. Auchdas Leid der Russlanddeutschen in jener Zeit war uner-messlich groß. Sie wurden als Deutsche entrechtet und zurZwangsarbeit verpflichtet, obwohl sie keine Schuld hattenan den Folgen des Hitlerschen Vernichtungskriegs. Aber es gab in den Zeiten der schlimmsten Not auch 1000facherlebtes Verständnis und tätige Hilfsbereitschaft von Sowjetbürgern, insbesondere von Russen und Kasachen.

In keinem anderen Bundesland leben so viele Russ-landdeutsche wie in Baden-Württemberg: über 750 000. Dasehr viele von ihnen einen schwäbischen Dialekt sprechen,möchten sie gern dort wohnen, wo man sich gegenseitigversteht. Eine Reihe von Kolonistendörfern trugen schwä-bische Namen. 1831 wurde im Kaukasus zum Beispiel Neu-Stuttgart gegründet. Baden-Württemberg ist sich der beson-deren Verantwortung für die Nachfahren der Auswandereraus vielen 100 Orten unseres Landes bewusst und über-nahm verdienstvollerweise die Patenschaft für alle Russland-deutschen. Gerade sie, die in zwei Kulturen und Sprachenbeheimatet sind, können als Mittler zwischen Russland undDeutschland einen wesentlichen Beitrag zur Verständigungder beiden Völker leisten.

Das Auswanderungsgesuch von 1766

Als Reaktion auf das Manifest der Zarin Katharina II.von 1763 bat eine junge Waise aus Höhefeld die Verwaltungder Grafschaft Wertheim um Entlassung aus der Leibeigen-schaft. Als Grund gab die Waise an, dass sie aus äußersterNot ihr Glück außerhalb suchen möchte, in Russland. DasGesuch wurde bewilligt. Voraussetzung war eine Aufstellungdes Vermögens. Margaretha Alberths Schulden beliefen sichauf 66 Gulden. Das Vermögen der Waise, darunter vermut-lich ein kleines Haus, wurde an den Meistbietenden für 177Gulden öffentlich verkauft. 51/2 Gulden, etwa fünf Prozentdes Vermögens, musste die Waise für die Entlassung ausder Leibeigenschaft zahlen. Da bei früheren Auswanderern(nach Amerika) in den Jahren zuvor bis über 20 Prozentabverlangt wurden, ist zu vermuten, dass die Auswanderungdes Mädchens von der Verwaltung auf lange Sicht als einVorteil angesehen wurde; schließlich sagt die Waise selbst,dass sie kaum ein Stückchen Brot durch tägliche Arbeiterwerben könne. Sicherlich hatte sie keine Ahnung, welcheStrapazen ihr bevorstanden, nämlich eine Entfernung vonrund 4000 Kilometern, und dies in einer Zeit, da als Trans-portmittel nur kleinere Schiffe und Fuhrgespanne aufschlechten Wegen zur Verfügung standen.

Herausgegeben von der Landesarchivdirektion Baden-Württemberg Nr. 23 November 2001

Quellenmaterialfür denUnterricht

Die RusslanddeutschenVon der Auswanderung im 18. und 19. Jahrhundert bis zur Rückkehr in das Landihrer Vorväter am Ende des 20. Jahrhunderts

Bearbeitet von Hugo Eckert

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Das Auswanderungsgesuch der Margaretha Alberthin aus Höhefeld

Originalvorlage: Staatsarchiv Wertheim D-Lit. Br. Nr. 387f.

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Transkription des Auswanderungsgesuchsder Margaretha Alberthin, Höhefeld

1 R 420 pr[aesentatum] d[en] 20. Mart[ii] 1766.1

2 L[ectum] d[en] 20 Mart[ii] 1766.2

3 Durchlauchtigster Reichs-Fürst4 Gnädigster Fürst und Herr!5 Ew[re] Hochfürstl[iche] Durchlaucht geruhen gnä-6 digst zu erlauben in aller tieffester Erniedrigung7 vortragen zu dürffen; was gestallten ich Marga-8 retha Alberthin zu Höhefeld willens bin, naher3

9 Rußland zu ziehen, um daselbst meine Nah-10 rung und mein Glück zu suchen, weilen4 ich11 allhier als ein arme Wayse fast von Jederman[n]12 verlassen bin, an Nahrungs Mittel nicht viel13 habe, und kaum ein Stück[chen] Brod durch tägl[iche]14 Arbeit zuwegen bringen kan[n], also mich die äußer-15 ste Noth darzu bewegt, mein Glück außer-16 halb zu suchen, weilen ich auch noch jung bin,17 und der Arbeit vorzustehen mich nicht fürchte,18 also hinweg zu ziehen. Als[o] habe [ich] mich19 dahero in aller tieffester Erniedrigung erküh-20 nen wollen[,] Ew[rer] Hochfürstl[ichen] Durchlaucht21 in aller tieffester Erniedrigung zu imploriren5

22 und anzuflehen, Hochdieselben möchten23 doch6

24 doch mir armen Waysen die Hohe Gnad25 angedeyhen, und die nöthige manumission7

26 zur Beförderung meines zeitl[ich]en Glücks27 und Nahrung gnädigst zu statten kom[m]en28 lassen.29 Gnädigster Erhörung dieses meines Sub-30 missesten8 Bittens mich zuversichtl[ich] ge-31 tröstend, verharre in profondester9 Ehr-32 furcht,33 Ew[rer] Hochfürstl[ichen] Durchlaucht34 unterthänigste35 Magd,36 Margaretha Alberthin,37 Philipp Alberths in Höhefeld38 hinterl[assene] Tochter.

Anmerkungen

1 Registraturvermerke: rechts Präsentatum/Eingangsvermerk

2 Registraturvermerk: gelesen3 nach4 weil5 bitten6 Reklamante/Kustos: Hinweis auf das erste Wort der

nächsten Seite in alten Büchern und Schriften zurKontrolle der richtigen Reihenfolge der Blätter

7 Entlassung aus der Leibeigenschaft8 untertänigsten9 tiefster

16 Wertheimer ziehen an die Wolga

Mit dem Manifest der Zarin, das zahlreiche Privilegienzusicherte, wurde 1766 auch in der Grafschaft Wertheimgeworben. Da zwischen 1752 und 1754 von hier 190 Unter-tanen aufgrund des Auswanderungsfiebers nach Nordameri-ka ausgewandert sind, warnte die fürstliche Verwaltung ein-dringlich vor dem Emigrations-Unwesen, verursacht durchMenschen-Käuferei. Man konnte nicht verstehen, dass die

Emigrationsbegierde trotz getreuer Abmahnungen nicht auf-hören wollte. 1764 wurde die Auswanderung in die franzö-sischen Kolonie in Nordamerika bei Strafe der Confiskationder Güter verboten. Die Auswanderer würden um ihre zeit-liche Wohlfahrt und das Heilige Römische Reich und diefürstliche Herrschaft um ihre Untertanen gebracht. Die See-lenverkäufer, wie die berufsmäßigen Werber abschätziggenannt wurden, sollten umgehend ins Gefängnis geworfenwerden. Für die Zeit zwischen 1755 und 1765 sind nur 15Auswanderer registriert. Als 1766 auch in der Grafschaft fürdie Einwanderung nach Russland geworben wurde, ordnetedie fürstliche Regierung am 3. April 1766 an, dass dem Com-mißario der Russisch Emigranten die Patente und Instruktio-nen abzunehmen seien. Bemerkenswert ist die Aussage,dass es jedem zu gönnen sei, wenn er sein Glück in fremdenLanden verbessern könne, zumal sich bisher nur von Armutund Not Betroffene entschlossen hätten, welche dem Lan-desherrn mehr zur Last als wie zum Dienst und Nuz gewesenseien. Dies zeigt die Hilflosigkeit gegenüber dem Problem,dass die überzählige Bevölkerung in der damaligen Agrarge-sellschaft weder Arbeit noch Verdienst noch eine wesent-liche soziale Hilfe hatte. Gleichzeitig aber befürchtete man,dass eine massenhafte Auswanderung der Grafschaftschaden könne.

Sechs Einzelpersonen und zwei Familien mit zusammensechs Kindern bekamen 1766 die Erlaubnis, nach Russlandauszuwandern. Einmal heißt es konkreter: … sich in derNähe des Wolga-Stromes niederzulassen. Bis auf eine Aus-nahme handelte es sich um Menschen in existenzieller Not.Charakterisiert wurden sie zum Beispiel so: … weil er sichnicht mehr ernähren kann; oder: … da sie ganz arm ist, darfsie ungelöst ziehen, das heißt ohne jegliche Abzugssteuer.

Auswanderung im 18. und 19. Jahrhundert –Gründe, Wege, Ziele, Zahlen

Die Redewendung von der guten alten Zeit traf im 18.und 19. Jahrhundert für die unterständische Bevölkerung,wie Tagelöhner, Kleinbauern, Kleinhandwerker, nicht zu. Krie-ge, Missernten und Hungersnöte führten häufig zu großerNot. Viele litten auch unter der Unfreiheit, unter Kriegs- undharten Frondiensten. Während des Siebenjährigen Kriegswurden zum Beispiel Soldaten aus Hessen nach Nordameri-ka verkauft. Viele Tausende von Soldaten aus Württemberg,Baden, Bayern und so weiter nahmen 1812 an dem verlust-reichen Russlandfeldzug Napoleons teil; nur wenige vonihnen kehrten zurück. In manchen Regionen konnten sichreligiöse Gruppierungen nicht entfalten, wie die Pietisten inWürttemberg oder die Mennoniten im Danziger Gebiet. Alsum die Mitte des 18. Jahrhunderts englische, französischeund russische Werber durch die Lande zogen, stießen sievor allem in den stärker von vielfacher Not bedrücktenGebieten auf größeren Widerhall. Ins Wolgagebiet machtensich 1763–1766 etwa 30 000 Menschen auf den Weg, vorallem aus Hessen, aus den Rheinlanden und Württemberg:Jüngere und Ältere, Alleinstehende und Familien mit Kin-dern. In einer zweiten Einwanderungswelle zogen Mennoni-ten aus Danzig und Westpreußen in die Steppen nördlichdes Schwarzen Meers. Eine dritte Welle kam aus Württem-berg. Sie begann 1804 und führte Zehntausende donau-abwärts (oder auf dem Landweg über Podolien) in die Um-gebung von Odessa am Schwarzen Meer, auf die Krim, in den Südkaukasus und vor allem nach Bessarabien. Einestarke Gruppe überwiegend katholischer Auswanderer ausder Pfalz, dem Elsass und Nordbaden brach seit 1809 eben-falls in Richtung Schwarzmeergebiet auf. Sie gründeten zum

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Beispiel bei Odessa große Dörfer, denen sie vertrauteNamen gaben, wie Karlsruhe, Straßburg, Mannheim, Basel,Darmstadt. Weitere Siedler aus dem Gebiet der Weichselsowie Auswanderer aus Polen und Schwaben ließen sich inWolhynien nieder.

An der Wolga wurden 104 deutsche Kolonien, das heißtDörfer, gegründet, sowohl auf der Bergseite (westlich derWolga) wie auch auf der Wiesenseite (östlich der Wolga). Da die Kolonien schon bald aufgrund gediegener landwirt-schaftlicher Kenntnisse, durch Fleiß und Sparsamkeit auf-blühten und die Bevölkerung sich vermehrte, gründeten sehraktive junge Leute Tochterkolonien, oft in weit entferntenGebieten, zum Beispiel im Nordkaukasus, am Ural, aberauch in Sibirien, Zentralasien und Kasachstan. 1940 zählteman in der Sowjetunion 304 Mutterkolonien und 3232 Toch-terkolonien, zusammen rund 3500 Dörfer. 1939 betrug dieZahl der Deutschen in der Sowjetunion 1,6 Millionen.

Deutsche in Russland 1763–2001 – einÜberblick

Die Geschichte der Russlanddeutschen ist eng verwo-ben sowohl mit der russischen Innenpolitik wie auch mit derrussisch-deutschen Außenpolitik. Die Beziehungen zwischenRussland und dem Deutschen Reich bis 1917 einerseits unddas Verhältnis der Sowjetunion zur Weimarer Republik, demDritten Reich und der Bundesrepublik andererseits wirktensich, zum Teil sehr nachhaltig, auch auf die Russlanddeut-schen aus. Sprichwörtlich bedeutete die Auswanderung fürdie erste Generation den Tod, für die zweite die Not und erstfür die dritte das Brot. Die Gesamtzahl der deutschen Ein-wanderer in Russland im 18. und 19. Jahrhundert wird auf100 000 geschätzt. Bis 1914 hatte sich die Zahl der Einwoh-ner in den deutschen Kolonistendörfern bis auf 1,7 MillionenMenschen vermehrt. Der starke wirtschaftliche Aufschwunggründete nicht nur auf den Privilegien, sondern auch aufsoliden Tugenden, wie Disziplin, Arbeitsethos, Sparsamkeit,Lernbereitschaft und konsequente Vorsorge für die nächsteGeneration. Evangelische, katholische und mennonitischeChristen fühlten sich nicht nur Gott, sondern auch derObrigkeit und dem Nächsten gegenüber in der Verantwor-tung. Durch viele verwandtschaftliche Beziehungen deut-scher Herrscherhäuser (zum Beispiel Preußen, Württemberg,Baden, Hessen) mit der Zarenfamilie konnten sich die Kolo-nisten sicher fühlen. Als durch die Reichsgründung von 1871in der Mitte Europas eine Großmacht entstand, sahen dieseinflussreiche national gesinnte Russen als eine Bedrohung.Durch den immer stärker ausgeprägten Nationalismus aufbeiden Seiten und den mächtiger werdenden Panslawismuskam es zu ernsthaften Spannungen, die im Wechselspiel derPolitik der Großmächte zum Ersten Weltkrieg führten. Rund300 000 Russlanddeutsche trugen jetzt die Uniform desZaren, und sehr viele standen als Gegner den deutschenBrüdern an der Ostfront gegenüber.

Während der Zwischenkriegszeit erlebten die Russland-deutschen die Verstaatlichung von Grund und Boden,schwere Hungersnöte, die Deportation der Kulaken und diegroße Säuberung durch Stalin. Die ganz große Tragik aberbegann mit dem Angriff Hitlers auf die Sowjetunion 1941.Mehrere 100 000 Deutsche in der Sowjetunion wurden alsangebliche Spione vor allem nach Sibirien und Kasachstandeportiert. Alle standen unter strenger militärischer undgeheimdienstlicher Aufsicht. Über 100 000 von ihnen, Män-ner und Frauen, wurden in die Trudarmee eingezogen undmussten viele Jahre unter härtesten Bedingungen leben. Erstnach dem Besuch des Bundeskanzlers Adenauer in Moskau1955 konnten die Russlanddeutschen wieder einigermaßen

normal leben, aber sie waren noch immer in vielen Berei-chen, zum Beispiel im Bildungs- und Berufswesen, diskrimi-niert. Erleichterungen für die Familienzusammenführungbrachte der deutsch-sowjetische (Moskauer) Vertrag von1970. Die neue Politik der Perestroika hatte eine Ausreise-welle zur Folge. Von den vielfältigen Ausreisegründen sei vorallem die Furcht vor dem aufflammenden Nationalismus,zum Beispiel in Kasachstan, genannt, der die Deutschenerneut als Faschisten abstempelte. So arm, wie die Kolonis-ten einst ausgewandert sind, so arm kehren die Nachfahrennach sechs, sieben, acht Generationen zurück. Sie bauensich mit dem gleichen Elan wie vor 200 Jahren mit den nochimmer gegenwärtigen Tugenden des Pioniergeistes eineneue Existenz auf.

Viele 100 000 Deutsche leben noch immer in den Nach-folgestaaten der ehemaligen Sowjetunion. Sie kennen die fürSpätaussiedler ungünstigen Bedingungen bei der Einwande-rung: die hohe Arbeitslosigkeit, die Zuweisung in bestimmteBundesländer, mögliche Probleme der Kinder und Jugend-lichen in Schule und Beraufsausbildung et cetera. Durch diemassenhafte Rückwanderung wurden viele der noch immereng miteinander verbundenen Großfamilien auseinanderge-rissen. Viele bleiben drüben aus Furcht, sich nicht mehr inder Fremde eingewöhnen zu können. Wer einen russischenEhepartner hat, nimmt in der Regel Rücksicht auf dessenWunsch, in der alten Heimat zu bleiben. Fast jede russland-deutsche Familie hat noch Verwandte und Freunde inKasachstan, Sibirien und anderswo.

Die Privilegien der Zarin und deren Aufhebung

Im Unterschied zu den Auswanderern nach Amerikagewährte das Manifest von 1763 den Kolonisten in Russlandmehrere sehr attraktive Privilegien: freie Reise und Kostgeldwährend der langen Anreise; Steuerfreiheit für 30 Jahre; diefreie Ausübung der Religions-Uebung, den Bau von Kirchenund Glockentürmen sowie das Recht, Pfarrer zu unterhalten;die kulturelle Freiheit, weitgehende kommunale Selbstver-waltung und vor allem die Befreiung vom Militärdienst. ZarPaul I. garantierte den Mennoniten, die den Umgang mitWaffen ablehnten, die Befreiung vom Militärdienst für alleZeiten. Alexander I. verlangte von den Einwanderern seit1804 alle nötigen Kenntnisse über eine rationelle Landwirt-schaft. Gefragt waren professionelle Landwirte, Weinbauern,Vieh- und Schafzüchter.

Frauen aus Kukkus an der Wolga in ihrer Tracht beim Ver-lassen des Bet- und Schulhauses nach dem Gottesdienst, im Hintergrund der Glockentrum, 1927. Vorlage: Scherl, SV-Bilderdienst München

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Beeinflusst vom Panslawismus, forderten die russi-schen Nationalisten, dass die Privilegien der Russlanddeut-schen aufgehoben werden müssten. Nach der deutschenReichsgründung von 1871 mussten nun auch alle wehrfähi-gen Deutschen den Wehrdienst ableisten. Besonders betrof-fen waren hiervon die Mennoniten; in der Folgezeit wander-ten Hunderttausende von ihnen nach Amerika aus, wo siegemäß ihrer Religion unbedrängt leben konnten.

Zu Beginn des Ersten Weltkriegs 1914 gehörten 300 000Russlanddeutsche der Zarenarmee an. Während der kom-munistischen Zeit mussten die Deutschen in Russland dieUniform der Roten Armee tragen. Angesichts der Kriegsge-fahr wurden 1941 viele Russlanddeutsche aus der RotenArmee ausgesondert, aus Furcht, Spione in der Armee zuhaben. Dennoch gab es Russlanddeutsche, die in der RotenArmee kämpften, auch gegen die deutsche Wehrmacht. Alsdie Deutschen im Sommer 1941 die Schwarzmeergebieteeroberten, wurden die wehrfähigen Jahrgänge in die Wehr-macht eingegliedert, die meisten in die SS (nur scheinbarfreiwillig). Beim Einsatz der Roten Armee gegen die Tschet-schenen und in Afghanistan mussten auch Russlanddeut-sche mitkämpfen.

Annähernd 200 Jahre galt es als selbstverständlich, diedeutsche Kultur und Sprache zu bewahren, sowohl den heimischen Dialekt wie auch die Sprache der Luther-Bibel,der Gebet- und Liederbücher der Mennoniten und derkatholischen Gesangbücher. Die Sprache wurde in deut-schen Schulen vermittelt und war auch an deutschen Hoch-schulen in Russland selbstverständlich. Erst einige Jahre vor Beginn des Zweiten Weltkriegs musste an bis dahin deutschen Schulen in russischer oder ukrainischer Spracheunterrichtet werden. Während des Kriegs (und auch nochlange Zeit danach) war das Deutsche als Sprache des exis-tenzbedrohenden Feindes verpönt. Die Zahl derer, die diedeutsche Sprache als Muttersprache betrachteten, ging ab1941 drastisch zurück. Die enorme Verstädterung der Russ-landdeutschen von 4,4 Prozent im Jahr 1914 auf 52 Prozentim Jahr 1989 zeigt deutlich die Landflucht vor allem der jün-geren Generation. Die Geschlossenheit von rein deutschenSiedlungen ging nicht nur durch die Deportationen zu Be-ginn des Zweiten Weltkriegs verloren, sondern auch durchden Wegzug der Jüngeren in die Städte.

Die gemeindliche Selbstverwaltung führte zu einemausgeprägten Selbstbewusstsein der Russlanddeutschen.Im Gegensatz zu den russischen Landsleuten waren siekeine Leibeigenen mehr. (Die Leibeigenschaft in Russlandwurde erst 1861 aufgehoben).

Die Einrichtung der Autonomen Sozialistischen Sowjet-republik der Wolgadeutschen 1924 brachte eine (allerdingsnur kurze) Blüte für die Wolgadeutschen, freilich unter kom-munistischen Vorzeichen. Nicht nur wirtschaftlich, sondernauch kulturell blühte die Republik auf und wurde zu einemZentrum der deutschen Kultur in der ganzen Sowjetunion.Hier wurde in über 400 Schulen in deutscher Sprache unter-richtet, desgleichen in zahlreichen Technikschulen undHochschulen. Ein deutsches National- und Kindertheatertradierte kulturelle Werte. Mehr als 20 regionale und fünfüberregionale deutschsprachige Zeitungen gaben Zeugnisvon einer konsequenten Nationalitätenpolitik. Mit demZwang, die russische Sprache kurz vor Beginn des ZweitenWeltkriegs nicht nur im Unterricht, sondern auch in der Ver-waltung und bei Gericht zu verwenden, wurde die deutscheSprache auf Dauer nachhaltig zurückgedrängt.

Zwischen 1929 und 1931 schlossen die Kommunistendie Kirchen und Bethäuser, in denen die Einwanderer über100 Jahre lang ihre religiöse Identität ungestört bewahrenkonnten. Die Glocken wurden zerstört und die Kirchen ent-

weiht und zu profanen Zwecken benutzt, zum Beispiel alsKulturhaus oder Viehstall. Gottesdienste waren nun unter-sagt, und zahlreiche Pfarrer und Kirchendiener wurden ver-haftet und eingesperrt.

Mit dem Beginn des deutsch-sowjetischen Kriegswaren die Russlanddeutschen nicht nur aller Vorrechte, son-dern auch aller Menschenrechte beraubt. Schon im Juli1941 verschleppte man die 45 000 Krimdeutschen nachZentralasien und ab August auch die 350 000 Wolgadeut-schen nach Kasachstan und Sibirien. Als 1943/44 auch dieSchwarzmeerdeutschen ihre Heimat verlassen mussten undin riesigen Trecks nach dem Westen in den Warthegauzogen, waren die großen geschlossenen, von Russlanddeut-schen bewohnten Gebiete entvölkert, und bis heute durftennur wenige von den über eine Million Deportierten in ihre alteHeimat zurückkehren. Seit vielen Jahrzehnten wohnen dortin den ehemals deutschen Dörfern Russen und Ukrainer, diesich gegen eine Rückkehr der Deutschen wehren.

Auswirkungen des Panslawismus und desErsten Weltkriegs auf die Russlanddeutschen

Die Russlanddeutschen begrüßten 1917 den Sturz desZaren, der, obwohl mit einer deutschen Fürstentochter ver-heiratet, nicht (mehr) als Freund der (Russland)Deutschenangesehen wurde. Die kommunistische Oktoberrevolutionjedoch betrachteten sie eher mit Argwohn, vor allem wegender Verstaatlichung von Grund und Boden. Der Bürgerkriegzog besonders die Wolgadeutschen in Mitleidenschaft,deren Siedlungsgebiet zwischen der Front der Roten undder zaristischen Weißen lag. Armeeeinheiten beider Parteiendes Bürgerkriegs rekrutierten mit Zwang junge Soldatenunter den Russlanddeutschen. In der Wolga-Kolonie be-schlagnahmten nicht nur die Roten und Weißen, sondernauch marodierende Banden alle Lebensmittel. Den deutschenBewohnern der südlichen Ukraine ging es nicht besser. Meh-rere Aufstände der Bauern gegen die brutale Zwangseintrei-bung von Lebensmitteln wurden blutig niedergeschlagen. Dendeutschen Widerstand versuchte die Rote Armee nicht nurdurch Requisitionen und Enteignungen zu brechen, sondernauch durch Einzel- und Massenerschießungen.

Relativ wenige Deutsche gehörten in den Jahrzehntenzwischen 1917 bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs derkommunistischen Partei des Sowjetstaats an. In der Wolga-republik war zwischen 1922 (154 Mitglieder) und 1927 (371)nur ein geringer Anstieg zu verzeichnen. 1932 zählte man4538 Mitglieder, aber nur knapp die Hälfte von ihnen warendeutschrussischer Herkunft. Die Russlanddeutschen galtenals unpolitisch und hielten an ihrer angestammten Religionfest.

Durch die Wirren des Bürgerkriegs brach 1921/22 eineHungersnot aus, die Tausende von Russlanddeutschen da-hinraffte. Viele wanderten in ihrer Verzweiflung nach Sibirien,dem Kaukasus und in andere Gebiete aus. Die Hungersnothatte sich während der Zeit des Kriegskommunismus wegender inneren Instabilität und des schroffen Vorgehens derBolschewiki in ganz Russland ausgebreitet. Die Zahl derHungertoten wird auf fünf Millionen geschätzt. Viele Russ-landdeutsche wurden durch Hilfslieferungen von Landsleu-ten in Amerika gerettet, die Jahrzehnte zuvor ausgewandertwaren. Ernst Reuter, der spätere Regierende Bürgermeistervon Berlin (1950–1953), hatte 1918 als deutscher Kriegsge-fangener mit guten russischen Sprachkenntnissen von Lenindie Aufgabe übertragen bekommen, als Leiter des Wolga-deutschen Kommissariats eine autonome Verwaltung ein-zurichten. Gegründet wurde zunächst eine Arbeitskommune,freilich auf der Grundlage der Diktatur des Proletariats. Die

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Russlanddeutschen standen dem neuen Gebilde sehr reser-viert gegenüber. Dies hatte zur Folge, dass sie in den Ver-waltungsorganen der Wolgarepublik deutlich unterrepräsen-tiert waren, desgleichen in der 1924 errichteten deutschenWolgarepublik.

Verbesserungen durch die NeueÖkonomische Politik (NEP)

Der Kriegskommunismus mit den rücksichtslosen Be-schlagnahmungen hatte zur Folge, dass die Bauern totalverarmten. In der gesamten Sowjetunion wurde anfangs der20er Jahre nur noch etwa die Hälfte der landwirtschaftlichenFlächen bebaut. Die von Lenin daraufhin eingeführte NeueÖkonomische Politik (1921–1928) brachte auch dendeutschstämmigen Bauern wesentliche Erleichterungen. Der Staat verzichtete nun auf jegliche Beschlagnahmen vonLebensmitteln und förderte die Privatinitiative. Grund undBoden konnten wieder gepachtet und Arbeitskräfte einge-stellt werden. Die neuen Vergünstigungen führten zu einerlandwirtschaftlichen Blüte, ohne dass freilich der Vorkriegs-standard ganz erreicht wurde.

Die Vernichtung der Kulaken (Großbauern)

Ende Dezember 1929 verkündete Stalin die Liquidie-rung der Kulaken als Klasse. In den von Deutschen besiedel-ten Gebieten trieben die Kommunisten die Zwangskollekti-vierung in mehreren Schüben mit Macht so voran, dass zumBeispiel in der Wolgarepublik Mitte 1931 bereits 97 Prozentaller landwirtschaftlichen Betriebe enteignet und kollektiviertwaren, während der Prozentsatz in der gesamten Sowjet-union erst 25 Prozent betrug. Als Hauptgrund hierfür führtenFunktionäre ins Feld, dass die Deutschen alle Kulaken … bis ins Mark seien. Wer als Kulak eingestuft war (das heißt in den Augen der Kommunisten als wohlhabend), wurde alsKlassenfeind inhaftiert und zu einer langen Gefängnisstrafeoder Verbannung verurteilt. Die meisten wurden nach Mittel-asien deportiert. Insgesamt waren in der Sowjetunion vonder Deportation in jenen Jahren 1,8 Millionen Kulaken betrof-fen, darunter überproportional viele Deutsche, zum Beispielallein 60 000 Wolgadeutsche.

Die Vernichtung der Kulaken hatte eine zweite Hungers-not innerhalb von zehn Jahren mit schätzungsweise sechsMillionen Opfern zur Folge. Das waren mehr als 1921/22.Man schätzt die Zahl der Verhungerten in der Wolgarepublikzwischen 1929 und 1933 auf 54 000 Menschen. Etwa100 000 Menschen flohen aus der Republik, um dem Hun-gertod zu entgehen. Die Krise hielt im Grunde an bis zueiner Rekordernte 1937.

Der Große Terror gegen die Deutschen seit1933

Seit der Machtübernahme Hitlers kamen die Russland-deutschen erneut in den Verdacht, politisch unzuverlässig zusein und mit dem Feind zu paktieren. Mit großem Misstrauenverfolgten die Kommunisten die Bemühungen karitativerInstitutionen in Deutschland seit Januar 1933, die hungern-den und notleidenden Deutschen in der Sowjetunion zuunterstützen. Das Zentralkomitee in Moskau forderte die ört-lichen Parteiorganisationen auf, dafür zu sorgen, dass diekonterrevolutionären und antisowjetischen Kontaktezwischen den Russlanddeutschen und den Faschisten in

Deutschland aufhörten. In der Wolgarepublik wurden 200angeblich faschistische Elemente verhaftet und zum Teilerschossen. 1934 ordnete das Zentralkomitee der Kom-munistischen Partei an, Personallisten von der deutschenBevölkerung zu erstellen, die bei der Deportation 1941 nocheine wichtige Rolle spielten.

1936 folgte eine weitere Verhaftungswelle in der Wolga-republik, verbunden mit zahlreichen Ausschlüssen aus derPartei. Der Geheimdienst glaubte an eine nationalistisch-faschistische Untergrundorganisation, die Pläne schmiede,um die Faschisten im Fall eines Kriegs gegen die Sowjet-union zu unterstützten. Die Geheimpolizei verdächtigte auchdie deutschen Funktionäre in Fabriken und Kolchosen unddie Schriftsteller der Wolgarepublik, die inhaftiert und zumTeil erschossen wurden. Da deutsche Fachleute von Russenund Ukrainern ersetzt wurden, trat die deutsche Sprache inden Hintergrund.

Folgen des Hitler-Stalin-Pakts und desZweiten Weltkriegs

Durch Abmachungen des Hitler-Stalin-Pakts vomAugust 1939 wurden 65 000 Deutsche aus Wolhynien und93 000 aus Bessarabien ins Deutsche Reich und in besetztepolnische Gebiete umgesiedelt. Auch die anderen Sowjet-deutschen hofften darauf, bald in den Westen ausreisen zukönnen.

Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs spielten Russland-deutsche in der Roten Armee kaum eine Rolle. Die deutschenMänner in der Ukraine wurden nicht an der Front eingesetzt,sondern im Hinterland beschäftigt, zum Beispiel damit, Viehund Landwirtschaftsgeräte in den sicheren Osten zu verfrach-ten. Es war vorgesehen, die gesamte deutsche Bevölkerungin der Südukraine und in Südrussland zu deportieren, dochdurch den raschen Vormarsch der deutschen Truppen konnteder Befehl nur sehr unvollständig umgesetzt werden. Diemehrere 100 000 zählenden Schwarzmeerdeutschen begrüß-ten zwar die deutschen Truppen, in der Hoffnung, dass dieLeiden jetzt ein Ende hätten. Sie zeigten sich auch dankbar,dass sie ohne große Kontrolle leben und arbeiten durften unddass die Kirchen nun wieder geöffnet waren. Aber irritiert undabgestoßen waren sie von den massenhaften Judenmorden,die zum Teil vor ihren Augen stattfanden.

Die Russlanddeutschen wurden zunächst nicht alsgleichberechtigte deutsche Bürger anerkannt. Die Ukraine-deutschen erhielten beispielsweise lediglich einen Volks-tumsausweis. Die deutsche Staatsangehörigkeit bekamensie in der Regel erst dann, wenn sie zum Beispiel im Warthe-gau gesiedelt hatten. Nach Berichten von Augenzeugen ginges den Volksdeutschen wirtschaftlich für einige Jahre gut,bis mit der näher rückenden Front das große Leiden begann.Es war ein Befehl, der uns alle zum Trecken zwang, sagteFrau Herner, eine Schwarzmeerdeutsche in einem Interview(Wertheim, November 2000), wer nicht mittrecken wollte,sollte erschossen werden – von deutschen Soldaten! erklärtesie kopfschüttelnd. Mehrere 100 000 begaben sich 1943/44auf den monatelangen Treck, oft genug den Tod vor Augen,bei Schlamm auf den Straßen, Eiseskälte, Hunger und feh-lender medizinischer Versorgung. Besonders viele Kinderund Alte starben unterwegs. Die meisten wurden von derRoten Armee überrollt und als Sowjetbürger nach Sibirienoder Kasachstan repatriiert, das heißt in ihr Vaterland inGüterwägen zwangsverschickt. Rund 75 000 Russland-deutsche, die nach Kriegsende in den vier Besatzungszonenuntergetaucht waren, konnten den Suchkommandos derSowjets entkommen.

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Zwangsarbeit in der Trudarmee (Arbeitsarmee)

Wegen der Feindschaft zwischen Stalin und Hitler sindfür die mit Misstrauen beargwöhnten Russlanddeutschenseit Mitte der 30er Jahre Aufnahmebeschränkungen bei derRoten Armee eingeführt worden. Dennoch wird vermutet,dass zur Zeit des Kriegsbeginns am 22. Juni 1941 noch vieleRusslanddeutsche der Roten Armee angehörten, trotz derverordneten Entlassungswelle. Die demobilisierten Deut-schen wurden vom sowjetischen Geheimdienst zwischenJuli und Oktober 1941 in Sondereinheiten zusammengefasst.Damit war der Kern der Arbeitsarmee geschaffen, in der dieDeutschen zur Zwangsarbeit beim Bau von Eisenbahnen,Wegen und Kanälen, in Fabriken sowie in Kohle- und Erz-bergwerken herangezogen wurden. Nur der Form nach han-delte es sich um einen Teil der Roten Armee, in Wirklichkeitwar sie dem Geheimdienst unterstellt. Bei der Arbeitsarmeehandelte es sich um ein ganzes Netz von Zwangsarbeits-lagern. Es war eine Mischung zwischen Armee einerseitsund Arbeits- und Konzentrationslager andererseits. OhneUnterscheidung der militärischen Ränge wurden die Trudar-misten in Arbeitsbrigaden eingeteilt. Vom äußeren Erschei-nungsbild her machten die von Geheimdienstoffizieren(NKVD) geführten Brigaden eher den Eindruck von Gefange-nenkolonnen als den einer Arbeitsarmee. Die Bedingungenund Normen der Zwangsarbeiter waren extrem hart. Sie hat-ten einen 12- bis 14-stündigen Arbeitstag bei kargen Essen-rationen, zum Beispiel bei 300 Gramm Brot und einer dün-nen Suppe täglich. Häufige Krankheitsfälle, bedingt durchHungerrationen, extreme Kälte, unzureichende Unterkünfteund nicht ausreichende medizinische Betreuung, hattenzahlreiche Todesfälle zur Folge. Nur in den Anfangsmonatenwurden die ersten Einheiten der Arbeitsarmee als Hilfsbatail-lone hinter der Front eingesetzt. Seit Herbst 1941 wurdenalle Männer zwischen 18 und 50 Jahren eingezogen, dannauch Jugendliche im Alter von 15 und 16 Jahren. In einerdritten Etappe kamen seit dem Frühjahr 1942 die Frauen von18 bis 40 Jahren hinzu.

Die Zahl der Trudarmisten wird auf 100 000 geschätzt.Erst in den Jahren 1946 und 1947 wurden die Deutschenaus der Arbeitsarmee entlassen. Wenn sie sich mit ihrenAngehörigen in der Deportation vereinigten, unterstanden siejetzt ebenfalls der Sonderkommandantur bis 1955.

Die Deportation der Wolgadeutschen 1941

Der 28. August 1941 gilt vielen Russlanddeutschen alsder schwärzeste Tag ihrer Geschichte. Ein Erlass des Präsidi-ums des Obersten Sowjets dekretierte die Übersiedlung derDeutschen, die in den Wolgarayons wohnen. Die deutscheWehrmacht hatte in schnellen Vormärschen riesige Gebieteder Sowjetunion erobert. Die Sowjets behaupteten (Beweisehierfür sind nicht bekannt), dass es im Wolgarayon Zehntau-sende von Spionen gebe, die nach einem Signal derFaschisten Sprengstoffanschläge verüben sollten. Mit denkollektiven Schuldzuweisungen (die auch später nicht zubeweisen waren) wurden die Russlanddeutschen aus bishe-rigen Mitbürgern zu Verfemten, Ausgestoßenen und Recht-losen. Auch die deutschstämmigen Mitglieder der Kom-munistischen Partei und deutsche Führungskader wurdendeportiert. Ein weiterer Erlass verfügte die Aufhebung derAutonomie der Wolgarepublik; die einzelnen Gebiete wurdenanderen Rayons zugeteilt. Das war das Ende der wolgadeut-schen Geschichte.

Zu den insgesamt 800 000 von der Deportation be-troffenen Deutschen in der Sowjetunion zählten über350 000 Wolgadeutsche. Nach Kriegsende wurden auchrund 250 000 Schwarzmeerdeutsche, die 1943/44 unter derLeitung von deutschen Soldaten wegen des Vormarschs derRoten Armee in den Westen getreckt waren, repatriiert, abernicht in ihre alte Heimat, wie ihnen vorgegaukelt wurde, son-dern nach Kasachstan und Sibirien.

Seit dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion richte-te sich der Zorn der Sowjets auch auf die Russlanddeut-schen als vermeintliche Sympathisanten mit der deutschenWehrmacht und dem deutschen Faschismus. Die innerenFeinde zwängte man in Viehwaggons. Sie litten unterHunger und Durst bei katastrophalen hygienischen Verhält-nissen. Viele Tausende starben auf der langen Reise, be-sonders Alte und Kinder. Die Ziele waren der Raum Novosi-birsk (100 000 Wolgadeutsche), Omsk (85 000), Kasachstan(100 000) und die Altei-Region (95 000). Am Bestimmungs-ort teilte man sie auf einheimische Familien auf, bei Sibirien-deutschen, bei Russen und Kasachen. Andere mussten sichmit Notunterkünften zufrieden geben, wieder andere wurdenin der kasachischen Steppe unter primitiven Bedingungenangesiedelt. In aller Eile mussten Erdhütten gegraben wer-den.

Von der Deportation im Verlauf des Kriegs waren wei-tere 1,3 Millionen Personen betroffen, denen die Sowjetsmisstrauten. Auch die Tschetschenen, Krimtataren, Inguschen und Kalmücken sind nach der Deportation unterSonderkommandantur gestellt worden.

Das Schicksal der Deutschen in derSowjetunion (GUS und Nachfolgestaaten)1945–2000

Nach der bedingungslosen Kapitulation der deutschenWehrmacht am 8. Mai 1945 konnten die Deutschen in derSowjetunion auf lange Zeit keine Besserung ihres Schicksalsals Zwangsarbeiter in der Trudarmee oder unter der Kom-mandantur erwarten. Deutsche Truppen hatten den mörderi-schen Krieg tief ins sowjetische Hinterland hineingetragen.Tausende von Dörfern und Hunderte von Städten warenzerstört, und über 20 Millionen sowjetische Soldaten undZivilisten getötet, erschlagen und ermordet. Nach Kriegsendemussten auch Millionen von Sowjetbürgern mit Hunger-rationen und hohen Arbeitsnormen leben, freilich mit demwesentlichen Unterschied gegenüber den Russlanddeut-

Eine verschleppte russlanddeutsche Familie vor ihrem stroh-gedeckten kleinen Haus in Mittelasien, um 1958.Vorlage: Landsmannschaft der Deutschen aus Russland e.V.,Stuttgart

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schen: nicht hinter Stacheldraht oder unter der Komman-dantur. Die Russlanddeutschen trugen immer noch das Stig-ma, Verräter gewesen zu sein. Hunderttausende von Zivilis-ten, zumeist Ukrainer und Russen, waren noch in Deutsch-land als Zwangsarbeiter verschleppt. Die völlig verarmtesowjetische Bevölkerung hatte in der Nachkriegszeit nochlange unter hohen Arbeitsnormen beim Wiederaufbau undunter Hungerrationen zu leiden.

Die Öffentlichkeit in der Sowjetunion erfuhr über dieRusslanddeutschen schon seit der Kriegszeit nichts mehr,weder in Zeitungen, noch im Radio. Das Verbot, brieflich mitden Verwandten im Westen zu verkehren, bestand auchnach der Kapitulation weiter. Ein Dekret des Obersten Sow-jets vom 26. November 1946 legte lapidar fest, dass dieDeutschen, Kalmyken, Tschetschenen, Inguschen, Balkaren,Finnen, Letten und andere in die [für sie] bestimmten Rayonsauf ewige Zeiten umgesiedelt wurden. Mit 20 Jahren Ge-fängnis hatte zu rechnen, wer den Aufenthaltsort ohne aus-drückliche Genehmigung verließ.

Bundeskanzler Adenauer konnte 1955, zwei Jahre nachStalins Tod, in zähen Verhandlungen erreichen, dass die letz-ten 10 000 deutschen Kriegsgefangenen freigelassen wur-den. Außerdem wurde ihm, wenn auch nur mündlich undnicht verbindlich, zugesichert, dass rund 130 000 Zivilperso-nen ausreisen dürften. Es handelte sich um Volksdeutscheaus der Südukraine, die zwischen 1941 und 1944 die deut-sche Staatsbürgerschaft erworben hatten. Außerdem entließman die Russlanddeutschen aus der Zugehörigkeit zurSondersiedlung, das heißt die Kommandantur wurde abge-schafft. Der Erlass des Obersten Sowjets vom 13. Dezember1955 brachte außerdem klar zum Ausdruck, dass kein Deut-scher mit der Rückgabe des 1941 konfiszierten Vermögensrechnen könne. Die Deutschen mussten schriftlich erklären,dass sie weder in ihre frühere Heimat zurückkehrten nochdass sie Ansprüche auf ihr eingezogenes Vermögen geltendmachten. Die relative Freiheit führte seit 1955 dazu, dasseine Art Völkerwanderung von Deutschen in der Sowjetunionvom kalten Norden in die wärmeren südlicheren Gebiete

stattfand, nach Westsibirien, Kasachstan und Mittelasien.Viele hofften, ihre seit über zehn Jahren vermissten Angehö-rigen aufzufinden. 1955/56 wurde in Barnaul, der Hauptstadtdes Alteigebiets, zum erstenmal wieder eine deutsche Zei-tung herausgegeben.

Die Periode des Tauwetters unter Chruschtschow ließbei den Russlanddeutschen Hoffnungen aufkeimen, dassihnen endlich gleiche Bürgerrechte eingeräumt würden.Nach 23 endlos scheinenden Jahren wurden sie wenigstenszum Teil rehabilitiert. Am 29. August 1964 dekretierte derOberste Sowjet unter Bezugnahme auf den Erlass vomAugust 1941, das Leben habe gezeigt, dass die pauschalenBeschuldigungen, alle Deutschen seien Diversanten undSpione, unbegründet und ein Akt der Willkür gewesen seien.

1965–1967 legten russlanddeutsche Delegationen beimObersten Sowjet in Moskau mehrmals Forderungen vor. Siewollten nicht nur das Recht, in die alten Siedlungsgebiete andie Wolga zurückzukehren, sondern auch die Zusage, diedeutsche Sprache und Kultur weiterentwickeln zu dürfen. ImGrunde wehrten sie sich gegen die seit Jahrzehnten von denBehörden mit Nachdruck verfolgte Russifizierung. Der Vor-sitzende des Präsidiums des Obersten Sowjets in Moskau,Anastas Mikojan, erklärte, man könne nicht alles wieder gut-machen, was in der Geschichte geschehen sei; die Wieder-einrichtung der autonomen Wolgarepublik scheitere an demriesigen wirtschaftlichen Aufwand. Doch werde man denRusslanddeutschen größere kulturelle Freiheiten gewähren.Dies wurde jedoch in der Realität nicht umgesetzt. Die deut-sche Sprache, seit 1941 in der Öffentlichkeit verpönt undvon den Lehrplänen in den Schulen gestrichen, war mittler-weile in der Gefahr, unterzugehen. Die mittlere Generationund die Kinder und Jugendlichen bedienten sich schonEnde der 80er Jahre der russischen Sprache, die offiziellzweite Muttersprache genannt wurde. In Wirklichkeit war siefür die meisten schon längere Zeit tatsächlich zur erstenMuttersprache geworden. Viele jüngere Deutsche zogen vonden Dörfern in die Stadt und heirateten oftmals russischePartner. Während es Mitte der 20er Jahre bei den Russland-

Der ungemein qualvolle Große Treck von mehr als 300 000 Ukrainedeutschen auf der Flucht vor der anrückenden Roten Armee imWinter 1944.Vorlage: Scherl, SV-Bilderdienst München

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deutschen 15 Prozent gemischtnationale Ehen gab, lag derAnteil 1945 bei rund 25 Prozent. Nach langen Jahren desmultinationalen Zusammenlebens und der zunehmendenAssimilierung stieg die Zahl zu Beginn der 90er Jahre gar bisauf rund 75 Prozent. In russisch-deutschen Ehen dominiertin der Regel das Russische. Obwohl man den Deutschenseit 1965 gleiche Bildungschancen zugestanden hatte,jedenfalls theoretisch, zeigt die geringe Zahl von deutschenHochschülern, lediglich drei Prozent, dass bei der Vergabevon Studienplätzen die Deutschen eindeutig benachteiligtwurden. Herbert Wiens stellte fest, sie seien zu einem Arbei-ter- und Bauernvolk degradiert worden. Als 1979 in Jermen-tau bei Zelinograd (später in Akmola, dann in Astana umbe-nannt) den Russlanddeutschen eine Autonomie zugebilligtwurde, scheiterte der Versuch an heftigen antideutschenDemonstrationen kasachischer Studenten, die mit Parolenagierten wie: Alle Deutschen nach Sibirien! und Kasachstanden Kasachen! oder Sonderkommandantur wiederherstellen!.

1980 wagten sich russlanddeutsche Demonstranten inMoskau auf dem Roten Platz mit selbstgeschriebenen Pla-katen an die Öffentlichkeit, auf denen die freie Ausreise ausder Sowjetunion verlangt wurde. In Minutenfrist hatte derGeheimdienst die Plakate weggenommen. Erst mit demGesetz über Aus- und Einreise von 1987 nahm die Zahl derAussiedler im Rahmen der Familienzusammenführung imZeichen der liberaleren Politik der Perestroika sprunghaft zu.Während zwischen 1950 und 1960 nur knapp 14 000 Deut-sche ausreisen durften, von 1960 bis 1969 rund 8000, in den 70er Jahren aufgrund des deutsch-russischen Vertragsvon 1970 etwa 56 000 und in den Jahren 1980–1986 rund16 000, schnellten die Zahlen seit 1987 in die Höhe, vonrund 14 000 im Jahr 1987 bis über 200 000 im Jahr 1993. Dieextreme Zunahme von Spätaussiedlern führte in den darauffolgenden Jahren dazu, dass wegen Mangels an Wohnun-gen und Arbeitsplätzen gewisse Grenzen der Aufnahme-kapazitäten in der Bundesrepublik erreicht worden waren.

Die Eingliederung der Russlanddeutschen ist im Großenund Ganzen gelungen, nicht zuletzt durch den Arbeitswillenund den sprichwörtlichen Fleiß. Für das russlanddeutscheSprichwort Arbeit, komm’, ich fress’ dich auf! gibt es1000fache Belege. Die Zahl der Sozialhilfeempfänger unterden rund 3000 Russlanddeutschen in der Großen KreisstadtWertheim ist angesichts der großen Probleme, mit denensich viele Familien herumplagen müssen, extrem niedrig. Esist bekannt, dass die Russlanddeutschen, Männer wie Frau-en, ohne zu zögern eine Arbeit annehmen, um auf eigenenFüßen stehen zu können. Wenn die Integration besondersbei vielen Jugendlichen noch nicht im wünschenswertenMaß gelungen ist, sollte man Verständnis aufbringen, weilsie mit der deutschen Sprache längst nicht so vertrautumgehen können wie mit der russischen. Viele Familienwaren oder sind in einer Zerreißprobe. In der Regel leben diemeisten Mitglieder einer Großfamilie in der Bundesrepublik.

Die Landsmannschaft der Deutschen aus Russlandsteht allen Spätaussiedlern bei Fragen und Problemen derEingliederung mit Rat und Tat zur Seite. Bei der Feier 50Jahre Landsmannschaft im Oktober 2000 im Neuen Schlossin Stuttgart wurde dankbar vermerkt, dass Baden-Württem-berg bereits vor 20 Jahren die Patenschaft für die Russland-deutschen übernommen hat. Minister Dr. Schäuble ver-sprach in seiner Festrede, dass die Geschichte der Volks-gruppe in Zukunft stärkere Berücksichtigung in den Schulenfinden werde. Er verwies nicht nur auf die enge Kooperationzwischen der Landesregierung und der Landsmannschaft,

sondern auch auf die Hilfen unseres Landes für die Deut-schen in St. Petersburg und die an den Universitäten in Frei-burg im Breisgau und Heidelberg vom Land eingerichtetenForschungsstellen über die Deutschen in Russland.

In Wertheim konnte der örtliche Verein mit einer groß-zügigen privaten Spende, der tatkräftigen Unterstützung derStadt und viel Eigenleistungen von Russlanddeutschen einHaus der Begegnung einrichten. Die Räumlichkeiten werdendankbar für Veranstaltungen unterschiedlicher Art angenom-men, sowohl von Jugendlichen wie von Erwachsenen. DieDeutschen aus Russland besitzen hier ein gut funktionieren-des Kommunikationszentrum, das zunehmend auch von ein-heimischen Bürgern besucht wird.

Literatur in Auswahl

Aussiedler. Hg. von der Bundeszentrale für politische Bil-dung. Hefte 222 und 267. Bonn 1989 und 2000.

Ein langer Weg im Kreis. Hg. von der Gustav-Walle-SchuleWürzburg. Würzburg 1998. (Geschichte, Schicksal undKultur eines russlanddeutschen Dorfs von 1910 bis um1995).

Johann und Hans Kampen: Heimatbuch der Deutschen ausRussland. 2 Teile. Hg. von der Landsmannschaft derDeutschen aus Russland e.V. Stuttgart 1999/2000.(Empfehlenswert sind auch weitere 24 zuvor erschie-nene Heimatbücher).

Bernd G. Längin: Die Russlanddeutschen unter Doppeladlerund Sowjetstern. Städte, Landschaften und Menschenauf alten Fotos. Augsburg 1992.

Otto Langguth: Auswanderer aus der Grafschaft Wertheim.Sonderdruck aus Familiengeschichtliche Blätter 30/3(1932) S.4 ff.

Benjamin Pinkus und Ingeborg Fleischhauer: Die Deutschenin der Sowjetunion. Geschichte einer nationalenMinderheit im 20. Jahrhundert. Bearb. und hg. von Karl-Heinz Ruffmann. Baden-Baden 1987.

Russland. Hg. von Gerd Stricker (Deutsche Geschichte imOsten Europas). Berlin 1997. (Standardwerk).

Karl Stumpp: Die Auswanderung der Deutschen nach Russ-land in den Jahren 1763 bis 1862. Tübingen 1974. (Über1000 Seiten; enthält detaillierte Landkarten mit Auswan-derungsorten sowie umfangreiche Namenslisten).

Volk auf dem Weg. Deutsche in Russland und in der Sowjet-union 1763–1986. Eine kurze Übersicht. Hg. vom Kul-turrat der Deutschen aus Russland e.V. und der Lands-mannschaft der Deutschen aus Russland e.V. 31986.(Siehe auch weitere, ergänzte Auflagen, zum Beispiel51997).

Volk auf dem Weg. Hg. von der Landsmannschaft der Deut-schen aus Russland e.V. Monatszeitschrift Jg. 2000/2001.

Ergänzung zur Literatur

Viele Detail-Informationen stammen von Augenzeugen, vonInterviews mit Russlanddeutschen (2000/2001), die in Wert-heim wohnen:

Susanne und Alexander Eirich, Martha Herner, Anna undJohann Jezlaw, Katharina und Erhard Lämmle, Maria Meisin-ger, Katharina und Philipp Müller, Lili und Jakob Müller,Susanne Stang, Elvira und Alois Zerr.

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Aufnahme: Hauptstaatsarchiv Stuttgart

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Internetrecherchen und die Einspeisung von Arbeitsergeb-nissen ins Netz auf einer Homepage gehören heutzutagefast schon zu den gängigen Darstellungsformen. Das Thea-terspielen stößt in dieser Altersgruppe ebenfalls auf großeResonanz. Denkbar wäre das Verfassen eines Stücks odereiner szenischen Darstellung und seine/ihre Aufführung alsfächerübergreifendes und -verbindendes Vorhaben. Es bötesich eine Zeitreise durch die verschiedenen Generationeneiner Familie in einem deutschen Siedlungsgebiet und dieRückkehr in die Ursprungsgegend an. Der dargestellte Kreis-lauf der Aus- und Rückwanderung könnte die Grundlageeiner derartigen Familiensaga sein. Eher lebensweltlichorientiert wäre die Organisation und Durchführung einerSportveranstaltung als Weg der Begegnung und des Ken-nenlernens.

In der Oberstufe können Ansätze weiterentwickelt wer-den, die bereits in der Mittelstufe rudimentär Anwendunggefunden haben. So sind in dieser Altersgruppe umfangrei-chere Projekte zur Lokal- und Regionalgeschichte möglich,die auch in Form von Ausstellungen oder durch die NeuenMedien der Öffentlichkeit präsentiert werden könnten. Denk-bar wäre auch eine themenbezogene Exkursion oder Stu-dienfahrt. Die Einbettung des Themas in die Kommunalpoli-tik könnte in Form einer Podiumsveranstaltung unter demMotto Schüler fragen, Politiker antworten stattfinden und ineine Diskussion zu aktuellen Problemen von jungen Aussied-lern und Aussiedlerinnen (Drogenkonsum, Arbeitslosigkeit etcetera) münden. Dabei wäre es auch denkbar, den Kontaktzu internationalen Organisationen herzustellen, um derartigeMigrationsbewegungen in einen breiteren Kontext einzubet-ten und zu vergleichen. Ein weites Lernfeld bietet jungenErwachsenen vor Ort die Vorbereitung und Durchführungvon Veranstaltungen zur besseren Verständigung auf denGebieten des Sports (Sportveranstaltung, -fest) und derKultur (Konzert et cetera).

Derartige Vorhaben setzen einen großzügigen Zeitrah-men voraus. Informationen aus Interviews von Zeitzeugenbieten jedoch auch die Möglichkeit einer punktuellenBehandlung des Themas. Hier reicht das Spektrum voneiner textnahen Beschäftigung mit den abgedruckten Urkun-den (Transkription, Erschließen von Wortbedeutungen undSprachduktus) bis zur Erstellung von Rätseln, die mit Hilfevon Textauszügen und Karten gelöst werden können.Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass die MaterialienEinblick in Geschichte ermöglichen und einen Bezug zurGegenwart erlauben. Die Auswertung aktueller Informations-quellen (Tagespresse, Radio-/Fernsehsendungen, Jugend-zeitschriften et cetera) sowie die Thematisierung persön-licher Begegnungen und Erfahrungen (Gespräche, Berichte,Collagen) können die Schülerinnen und Schüler für einenBereich sensibilisieren, von dem aus sich vergleichsweiseleicht Brücken zu Themen wie Toleranz, Empathie und Kon-fliktbewältigung schlagen lassen.

Vervielfältigung mit Quellenangabe gestattet

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Das Thema eignet sich wegen seiner Vielschichtigkeitzur Behandlung in verschiedenen Altersstufen und Schular-ten. Dafür bieten sich insbesondere der fächerverbindendeUnterricht und die Projektmethode an. Erfahrungsgemäßerhöht die Handlungsorientierung im Unterricht die Motiva-tion der Schülerinnen und Schüler erheblich. Als roter Fadenkönnten folgende Leitfragen dienen: Warum wanderten Men-schen nach Osteuropa aus? Wie reagierte ihre Umwelt aufdieses Vorhaben? Welche Schwierigkeiten waren mit diesemUnterfangen verbunden? Wie sah das Leben der Neuan-kömmlinge in der fremden Heimat aus? Mit welchen Proble-men waren sie konfrontiert? Was bewog ihre Nachkommen,nach Deutschland auszusiedeln? Welche Hindernisse stellensich ihnen heute in den Weg und wie könnte man dieseüberwinden? – Wie der Text und die Dokumente verdeut-lichen, stellt die derzeitige Situation von Aussiedlern denvorläufigen Schlusspunkt in einer Jahrhunderte dauerndenEntwicklung dar. Neben dem Aktualitätsbezug bietet es sichbei der Behandlung des Themas im Unterricht an, diesenUmstand als zentrales Lernziel zu berücksichtigen.

In den unteren und mittleren Klassenstufen erscheint esbesonders wichtig, Aspekte des Fremden und des Umgangsmit Neuem ausführlich und altersgerecht in den Mittelpunktzu stellen. Die Lebens- und Gefühlswelt der Auswandererund ihrer Kinder kann dabei von besonderem Interesse sein.Der Text und die Dokumente bieten an verschiedenen Stel-len Schreibanlässe. So könnte das Kind einer Auswanderer-familie Freunden in der alten Heimat über seine Erfahrungenin einem Brief berichten und seine Erfolge oder Schwierig-keiten bei dem Versuch schildern, neue Freunde zu finden.Eine andere Art der Umsetzung sind Tagebucheinträge unddas szenische Gestalten auf der Grundlage zuvor erarbeite-ter Dialoge (Gruppenarbeit). Kennenlernspiele können darüber hinaus eine Brücke zur Alltagserfahrung der Kinderund Jugendlichen schlagen. Je nach Zusammensetzung derGruppe bietet es sich an, die Spiele an den einzelnen Her-kunftsländern der Schülerinnen und Schüler (Lieder, Spra-che, Bräuche, Sehenswürdigkeiten, Religion) auszurichten.Vorstellbar wäre auch die Vorbereitung eines Festes odereines gemeinsamen Essens, in das entsprechende RezepteEingang finden. Das Quellenmaterial kann hierbei in Aus-zügen als Hintergrundinformation herangezogen werden. Alsfruchtbar erweist sich auch die Einbindung von Zeitzeugen,die weniger historische Umstände als vielmehr ihre eigeneLebenserfahrung in den Vordergrund stellen.

Auch in der Mittelstufe eignet sich das Thema als Bei-trag zur Aufarbeitung von Lokalgeschichte in Form einesProjekts. Das Oberthema könnte lauten: Auf den Spurendeutscher Aussiedler in unserer Stadt. Sinnvoll wärenZeitzeugeninterviews und Archivarbeiten. Die Auswertungvon Material, das über den Fall Wertheim hinausgeht, kannden Wahrnehmungshorizont erweitern und die Umständevor Ort in größere Zusammenhänge einordnen. InteressanteErgebnisse könnte ein Vergleich der eigenen Resultate mitdem Befund zum Taubertal liefern. Zur Dokumentation ent-sprechender Aktivitäten bieten sich Tonbandaufnahmen,Videos oder Foto- und Plakatwände (zum Beispiel zur Veran-schaulichung von Aus- und Rückwanderungsprozessen) an.

Verwendung im Unterricht

Bearbeitet von Georg Weinmann