Quo Vadis Istanbul - Zeynep Aygen

21

Transcript of Quo Vadis Istanbul - Zeynep Aygen

Page 1: Quo Vadis Istanbul - Zeynep Aygen
Page 2: Quo Vadis Istanbul - Zeynep Aygen

Zeynep Aygen

QUO VADIS ISTANBUL?

Ein Rückblick in die Zukunft

In den letzten zehn Jahren wurden in den ehemaligen Industriegebieten Istanbuls nach und nach

Fabrikgebäude und Werkstätten geschlossen, verkauft und abgerissen, damit an ihrer Stelle neue

Geschäftszentren, Bankgebäude und Supermärkte gebaut werden konnten. Dabei verschwanden

auch die meisten der kleinen Läden, allerdings mit einer großen Ausnahme: Die winzigen

„Devisen- buffets", wie man die Exchange-Stellen bezeichnet, florieren wie nie zuvor. Diese

Erscheinung, von der viele Städte der Welt betroffen sind, hat in jedem Einzelfall spezifische

Auswirkungen. Sie führt zu Gewichtsverlagerungen, die die traditionellen Beziehungen

zwischen den einzelnen Stadtsektoren zerstören, die aber in jeder Stadt je nach Topographie,

Tradition und Kultur andere Folgen haben. Erst die Geschichte der jeweiligen Stadt gibt

Aufschlüsse über die Einwirkungen der Globalisierung auf sie. Das einheitliche

Erscheinungsbild kann nämlich zu Trugschlüssen führen: Der türkische Soziologieprofessor

Sencer Ayata weist darauf hin, daß es zum Beispiel nicht ausreichend ist, die Mc

Donald's-Ketten mit ihren „ready-made“-Konzepten als Prototypen der Globalisierung der

Urbanen Szene zu verallgemeinern1. Werden sie in Los Angeles, Peking und Istanbul auf

gleichwertigem Stadtareal gebaut, und geht es um den gleichen Sektor der Gesellschaft, der sie

frequentiert? Während zum Beispiel in LA Big Mac etwas Preiswertes ist, das schnell gegessen

wird, ist er in Istanbul im Vergleich zu den traditionellen Imbißmöglichkeiten ziemlich teuer.

Die Mc Donald's Läden sind hier Orte, wo sich junge Leute aus der mittleren und oberen

Mittelschicht treffen, um länger zusammen zu sitzen. Viele leere Erscheinungen, die als global

oder transnational bezeichnet werden, kriegen auf diese Weise lokale Inhalte und werden erst

durch sie definiert.

Um sich darüber klar zu werden, wie weit diese These zutrifft, muß man über die Lage der

Mc Donald's Läden in Istanbul einen Überblick gewinnen. Die meisten von ihnen liegen in den

neuen Shopping-Mails, die hauptsächlich von der oberen Mittelschicht frequentiert werden.

Andererseits wurde der erste Mc Donald's Laden in Istanbul am Taksim-Platz gebaut, und das

hat einen bestimmten Grund. Um ihn zu verstehen, muß man die besondere Stellung des

Taksim-Platzes innerhalb des Istanbuler Stadtbildes kennen, und dies wird erst dann möglich,

wenn man einen Einblick in die Geschichte der Stadt gewinnt.

Als Konstantin I. den Schwerpunkt seines Reiches nach Osten verlegte, wählte er eine

Lage, die den klassischen sieben Hügeln Roms entsprach. Die Hauptstraße begann am Milion,

dem neuen Meilenstein: Jetzt sollten alle Wege zum zweiten Rom führen. Nicht Rom selbst,

aber die Idee, die es repräsentierte, wurde weitergetragen, so daß die neue Hauptstadt des

1 Sencer Ayata, Toplumbilim Acisindan Küreselleşme. In: Isik Kansu (Hrsg.), Küreselleşme. imge Kitabevi,

Ankara 1997, S. 72-73.

Page 3: Quo Vadis Istanbul - Zeynep Aygen

römischen Reiches im Osten schon bei ihrer Gründung im Zentrum des

Globalisierungsdiskurses der römischen Welt stand. Denn Rom war in der Antike „die

Hauptstadt der Welt", einer Welt, die von Rom aus definiert wurde. Diese Welt war einer

Ordnung zugeordnet, die schon vor den Römern entstanden war und von den Kolonialisten aller

Zeiten immer wieder kopiert worden ist. Sie war geregelt, uniform und verbindlich. Es gab eine

einzige Ausnahme, die sich dieser Ordnung nicht anpaßte: Rom selbst. Die Hauptstadt der Welt

durfte und mußte es sich leisten, alle Einflüsse aus den reichen Traditionen und Kulturen seiner

Untertanen zu absorbieren. Dasselbe galt für Konstantinopel, das im Jahre 330 als kaiserliche

Residenz eingeweiht wurde. Es brauchte sich nicht dem einheitlichen, römischen Plan un-

terzuordnen. Die Hauptstraßen in Längsrichtung des dreieckförmigen Stadtareals ergaben sich

vielmehr aus der Topographie, die schon die vorrömische Stadt strukturiert hatte. Wie damals

Augustus Alt-Rom, teilte aber auch Konstantin Neu-Rom in 14 Bezirke auf und errichtete,

entsprechend dem Palatin in Rom, auf dem ersten Hügel seinen Kaiserspalast. Die Entstehung

neuer Wohnquartiere wurde durch den Verlauf der Erschließungsstraßen, deren

Querverbindungen sowie die Anlage neuer Foren, Ehrenmale und Kirchen gesteuert.

Die Hauptachse, die entlang dem ersten und zweiten Hügel die Spitze der Halbinsel in

Längsrichtung halbierte, erstreckte sich paralell zum Tal des Lykos-Baches, in dem er sich in

der Mitte der Stadt, beim Hallenplatz Forum Tauri, in zwei Stränge teilte. Der eine Strang lief

paralell zur Apostelkirche, um sich dann außerhalb der Stadtmauer mit der Straße nach

Adrianopolis zu treffen; der zweite Strang teilte sich am Stadtplatz Bus wieder, um mit dem

einen Arm das Arkadios-Forum am Osthang des siebten Hügels zu erreichen, während der an-

dere Arm zum Eleutherios-Hafen am Marmara-Meer lief und somit einen Teil der wichtigen

Querverbindung zwischen dem Meer und dem Goldenen Horn bildete.

Die neue Weltstadt, deren Einwohnerzahl über das Mittelalter hinaus um eine halbe

Million lag2 und somit an Größenordnung alle zeitgenössischen Städte übetraf, hat sich von der

Regierungszeit Theodosios II. (408-450) bis zum 19. Jahrhundert wenig verändert. Mit Iustinian

I. (527-565), dem ein Volksaufstand fast seinen Thron gekostet hätte, begann eine kontrollierte

Wachstumspolitik, die durch seine Nachfolger verschärft wurde, so daß die Bevölkerungszahl

bis zur türkischen Eroberung ziemlich konstant blieb. Zwar mußte Leon VI. (886- 912) neue

Gesetze zur Verhinderung der Grünlandbebauung erlassen3, aber alle städtischen Eingriffe

ereigneten sich dennoch innerhalb der theodosianischen Stadtmauer. Lewis Mumford

beschreibt dieses restriktive Gebilde als „eine Schale, in der der lebendige Anteil seines Wesens

Jahrhundert fürs Jahrhundert abnahm und seine Bewegungen immer mehr abgelenkt wurden"4.

Nach der Plünderung der Kreuzfahrer im Jahre 1204 wurde das Innere dieser Schale so

sehr zerstört, daß viele Monumente und sogar ganze Stadtviertel verschwanden. Ruy Gonzales

2 Marccel Restle, Istanbul. Reclam's Kunstführer, Stuttgart 1976, S. 19 hat diese Zahl nach den

Getreidelieferungen berechnet. Dagegen meint Ilber Ortayli, Osmanli Istanbul. In: Istanbul'un Dört Cagi, Yapi

Kredi Yayinlari, Istanbul 1996, S. 47, daß diese Zahl höchstens um 30C000 gelegen haben kann. Wenn man sich

allerdings das Bevölkerungswachstum Roms in der Antike vorstellt, ist denkbar, daß eine Weltstadt wie

Konstantinopel auch im Mittelalter eine halbe Million von Menschen beherbergen konnte und eine viel höhere

Einwohnerzahl als die zeitgenössischen, europäischen Städte hatte. 3 Marcel Restle, op. cit. S. 27. 4 Lewis Mumford, The City in History. Harvest/HBJ Books, U.S.A. 1961, S. 241.

Page 4: Quo Vadis Istanbul - Zeynep Aygen

de Clavijo, der am Anfang des 15. Jahrhundens die Stadt besuchte, schreibt, daß „die in ihrer

Jugend höchst gefeierte Stadt der Welt jetzt in Trümmern lag-5.

Als Sultan Fatih Mehmed im Jahre 1453 die Stadt in diesem Zustand eroberte, nahm er

sich gleich vor, sie zu rekonstruieren. Das vorhandene System mit den sich nicht einem

geometrischen Gesamtplan einordnenden, sondern sich nach den topographischen

Begebenheiten ausrichtenden Stadtvierteln war sehr vorteilhaft für den Übergang zum

osmanischem Konzept, das hauptsächlich auf der semi-autonomen Quartierstruktur der

islamischen Tradition beruhte. Während der Wiederbevölkerung wurde darauf geachtet, daß

ihre ethnische Vielfalt erhalten blieb. Der Sultan lud alle Kommunitäten ein, die während der

türkischen Belagerung die Stadt verlassen hatten, zurückzukommen und versprach, daß sie hier

gemäß ihrer eigenen Religion und Tradition weiterleben könnten6. So entstanden an den Ufern

des Marmara-Meeres armenisch-gregorianische und griechisch-orthodoxe Stadtviertel, ein Teil

der Griechen und die meisten Juden ließen sich am Goldenen Horn nieder, und die Muslime

lebten hauptsächlich im Inneren der historischen Halbinsel. Der achte Hügel Galata auf der

gegenüberliegenden Seite des Goldenen Horns war ab dem 13. Jahrhundert der Sitz einer

genuesischen Handelskolonie und wurde somit zum Wohnquartier der römisch- katholischen

Gemeinde. Die Quartiere waren also nach der religiösen Zugehörigkeit eingeteilt, um die freie

Ausübung der jeweiligen Religion innerhalb des Quartiers zu ermöglichen, was im Hinblick auf

die ganze Stadt zu einer architektonischen Vielfalt führte, die von der Zentralverwaltung nicht

vorausbestimmt werden konnte. Obwohl die osmanische Verwaltungseinstellung zentrali-

stischer war als die der anderen islamischen Staaten, war der Konsens zwischen den einzelnen

Kommunitäten und dem Staat ausschlaggebend für die Struktur der Stadt.

Den Treffpunkt aller städtischen Gruppen bildeten die großen Handelsbauten und Märkte.

Istanbul besaß in der osmanischen Zeit zwei große Handelszentren: Eines war das genuesiche

Stadtviertel Galata, dessen italienische Händler nach der Eroberung vom Sultan mit

Sonderrechten versehen wurden, damit die Handelstätigkeit ohne Verzögerung fortgesetzt

werden konnte. Als zweites Handelszentrum entwickelte sich auf der gegenüberliegenden Seite

des Goldenen Horns der traditionelle Bazar. Mit seinem Bau wurde schon in der Zeit des Sultans

Fatih Mehmed begonnen. Das Hauptmarktviertel wuchs nach und nach um einen Kern aus der

Fatih-Zeit zu einem großen, mit überwölbten und offenen Ladenstraßen versehenen Areal

zwischen der Hauptachse der Halbinsel und dem Goldenen Horn. Nach und nach wurde es mit

mehreren „Han" genannten Handelsbauten samt Innenhöfen und Werkstätten versehen. Solche

Bazare, die meisten von ihnen durch Osmanen erbaut, waren von Persien bis Nordafrika in der

ganzen islamischen Welt verbreitet. Es gibt viele Autoren, die heute die Shopping Malis als

verbaulichte Globalisierung interpretieren7. Bildeten dann die Bazare, die im Hinblick auf die

baulichen Eigenschaften wie das Wareangebot durchaus mit ihnen verglichen werden können,

5 Ruy Gonzales de Clavijo, To the Court of Timur at Samarcand A.D. 1403-6. C. R. Markham (Hrsg.), R R.

S. G., Burt Franklin, New York, S. 46. 6 Vgl. dazu Zeynep Aygen, Moscheen, Kirchen und Synagogen in der Türkei - Eine kleine

Architekturgeschichte des Glaubens. In: Das Altertum, Band 45, 1993, Harwood Academic Publishers, GB 1999,

S. 179-238. 7 Ein Beispiel aus Berlin: Jody K. Biehl, „Kampf um Tante Emma - Angriff der Shopping Mails". In: Zitty

22/1999, S. 14-19.

Page 5: Quo Vadis Istanbul - Zeynep Aygen

nicht auch eine Form der Globalisierung ? Wenn das stimmen sollte, wäre die Globalisierung

nicht erst ein Produkt des zwanzigten oder neunzehnten Jahrhunderts, sondern lediglich eine

industrialisierte und den zeitgenössischen Medien angepaßte Form. Umgekehrt: Wenn das nicht

stimmen sollte, weil die städtische Definition der Globalisierung nicht von dieser Erscheinung

allein abhängt, dann wären auch die Shopping Mails nicht unbedingt ein Markenzeichen der

Globalisierung.

Die Lage der erwähnten beiden großen Handelszentren wurde durch ihre Beziehungen zu

den Hauptarterien und zu den Häfen bestimmt und hat sich deshalb lange Zeit nicht geändert.

Die Häfen gehörten seit jeher zu den wichtigsten Bestandteilen der Stadt. Die beiden

ältesten, Prosphorianus und Neorion, befanden sich im Gebiet zwischen dem heutigen

Sirkeci-Bahnhof und der Moschee Yeni Cami, während der größte Hafen am Marmara-Meer,

der schon erwähnte Eleutherios, an der Mündung des Lykos-Baches lag, hauptsächlich zur

Getreidelieferung diente und infolgedessen mit zwei großen Getreidespeichern versehen

war8.Ab dem 13. Jahrhundert wurden hier die Gerber angesiedelt, die bis 1453 blieben. Der

Hafen wurde in der osmanischen Zeit zugeschüttet und unter dem Namen „Langa Bostanlari"

als Gemüsegärten benutzt, allerdings entstand dabei unweit von diesem Gelände wieder eine

Gerbersiedlung, aus der ab dem 19. Jahrhundert die Industrieachse an der Uferzone hervorgehen

sollte. Die byzantinische Werft am auch als Iulianos- oder Sophienhafen bekannten

Kontoskalion, wo sich heute das Stadtviertel Kadırga (Galeree) befindet, funktionierte bis zum

16. Jahrhundert als Schiffsbaustelle weiter, wie ihr Name noch heute andeutet. Die eigentlich

osmanische Werft wurde aus Gallipolli erst im dritten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts nach

Istanbul verlegt und ließ sich in Kasimpascha am Goldenen Horn nieder, wo sie heute trotz der

Diskussion über ihre Privatisierung mit halber Kapazität immer noch als staatliche Institution

arbeitet.

Das Verwaltungszentrum befand sich bis zum 19. Jahrhundert unweit von Konstantias

Palastareal an der Spitze der historischen Peninsula. Auf den ehemaligen Foren entstanden die

großen Baukomplexe der islamischen Stiftungen: Auf dem Forum Konstantias wurde die Nur-u

Osmaniye Moschee, auf dem Theodosios-Forum der Beyazid-Komplex, am Philadelphion

Schehzade sowie um das Arkadios-Forum die Komplexe von Haseki und Cerrahpascha gebaut.

Sowohl die Foren als auch die Moscheekomplexe dienten als öffentliche Versammlungsplätze,

aber die Konzepte stimmten nicht überein. Dogan Kuban meint, daß „während das Forum in der

byzantinischen Stadt ein extrovertiertes Stadtleben repräsentiert, repräsentiert der

Moscheekomplex in der türkischislamischen Stadt ein introvertieres Stadtleben“9. Trotz dieses

Unterschiedes deutet die Benutzung der Foren sowie die Plazierung mancher wichtiger Bau-

komplexe an den repräsentativen Punkten der byzantinischen Stadt, wie im Falle des

Fatih-Ensembles an der Stelle der ehemaligen Apostelkirche, auf die Suche nach einer

Symbolik, die sich mit der Vergangenheit der Weltstadt identifiziert. Besonders das

8 Semavi Eyice, Tarih Icinde Istanbul ve Sehrin Gelismesi. In: Atatürk Konferamslari, Türk Tarih Kurumu

Basimevi, Ankara 1975, S. 97 ff. Auch Wolfgang Müller-Wiener, Bildlexikon zur Topographie Istanbul's. Emst

Wasmuth Verlag, Tübingen 1977, S. 57-63.

9 Dogan Kuban, istanbul'un Tarihi Yapisinin Genel Özellikleri. In: Şehircilik Enstitüsü Dergisi 1/1971.,

İTÜ, istanbul 1971, S. 21.

Page 6: Quo Vadis Istanbul - Zeynep Aygen

multi-kulturelle und multi-ethnische, nach Europa hin orientierte Konzept von Mehmed Fatih,

das in seinen verschiedenen politischen Tätigkeiten zum Ausdruck kommt, machte sich auch in

der Gestaltung seiner Hauptstadt bemerkbar und beeinflußte sogar die Politik seiner Nachfolger,

ja generell des osmanischen Reiches.

Die Schale, in der die Stadt durch die byzantinische Periode hindurch gefangen war,

zersplitterte zwar in der osmanischen Zeit, wurde aber bis zum 19. Jahrhundert nicht ganz

zerstört. Die Einwohnerzahl im 16. Jahrhundert lag analog zu den Einschätzungen für die

byzantinische Periode zwischen 300 000 und 700 00010. Die Vororte oder Sattelitenstädte

Galata, Üsküdar (Skutari) und Kadiköy (Chalkedon) bewahrten lange ihren unabhängigen

Charakter. Zum Beispiel bezeichnet Evliya Celebi im 17. Jahrhundert Üsküdar und Galata als

„Städte“, also für selbstständig gegenüber Istanbul11. Eine in der osmanischen Zeit entstandene

Sattelitenstadt war Eyüp: Nach der Eroberung Istanbuls wurde dem

Scheich Akschemseddin im Traum die Stelle des Grabes des Prophetengefährten Abu Eyub

al-Ansari offenbart, an dieser Stelle außerhalb der Stadtmauer wurden im Jahre 1458 ein

Mausoleum und eine Moschee errichtet, die bald von Häusern umringt wurden. Die

Erschließung aller Sattelitenstädte geschah hauptsächlich durch den Wasserweg, wo die Küste

für Landestellen ungünstig war, gab es lange Zeit keine städtische Entwicklung oder, wie im

Falle des Bosporus dienten solche Gebiete lediglich der Sommerfrische.

Die neue Macht Verteilung in Europa machte sich ab dem 18. Jahrhundert auch in der

Hauptstadt des osmanischen Reiches bemerkbar. Celebi Mehmed Efendi, der osmanische

Botschafter im Paris des Jahres 1720, brachte bei seiner Rückkehr die Zeichnungen der Paläste

und Gärten von Versailles und Fontaineblau mit. Die Kioske und die Wasserspiele, die er so

lebhaft darstellte, wurden in Kagithane, ausserhalb der Stadtmauer, in der Nähe des Goldenen

Horns nachgebaut. Das Gespräch zwischen dem osmanischen Großwesir Ibrahim Pascha und

dem französischen Botschafter Marquise de Villeneuve im Jahre 1728, in dem der Großwesir

den Botschafter stolz auf die Ähnlichkeit seiner Kagithane-Gärten mit den Versailles-Gärten

aufmerksam machte12, deutet darauf hin, daß im Gegensatz zu ihren Vorgängern die neue Elite

der sogenannten „Tulpenperiode" Europa langsam als Vorbild zu sehen begann. Nach Maurice

M. Cerasi wurden die neuen, aus Europa importierten Barock- und Rokokoformen von den

zeitgenössischen osmanischen Intelektuellen als Zeichen der Modernisierung, aber auch als

Verwahrlosung der traditionellen Kultur des Islams interpretiert 13 . Dabei muß freilich

hinzugefügt werden, daß es hier sich um zwei verschiedene Gruppen handelte: Während die

Traditionalisten, die Gelehrten aus den klassischen Me- drese-Hochschulkreisen, die

Europäisierung verpönten, standen zuerst einige aus dem Militäradel und später im 19.

Jahrhundert die neuen Intelektuellen, die in Europa Studien hatten, auf der Seite der

Europäisierung, die sie mit der Modernisierung assoziierten. Die ersten Ansätze, Europa

offiziell als fortschrittlich zu interpretieren und daraus Nutzen zu ziehen, gehen auf die Zeit des

10 Suraiya Faroqhi, Osmanili' da Kentler ve Kentliler. Tarih Vakfi. istanbul, 1994, S. 56. 11 Mehmed Zilli Oğlu Evliya Celebi, Seyahatname, Vol. II. Zuhuri Danisman Yayinevi, istanbul 1969, S. 169

und S. 171. 12 Mustafa Cezar, Sanatta Batiya Acilis ve Osman Hamdi. Türkiye Is Bankasi Kültür Yayinlari, Istanbul

1971, S. 4. 13 Maurice M. Cerasi, Osmanlilar.In: Cogito 19/99, Istanbul 1999, S. 208-209.

Page 7: Quo Vadis Istanbul - Zeynep Aygen

Sultans Mahmud I. (1730-1754) zurück, der den französischen Offizier Comte de Bonneval für

die Modernisierung der osmanischen Armee einsetzte. Die traditionalistischen Gruppen der

Janitscharen reagierten darauf mit städtischen Aufständen, so daß sich Istanbul vom Jahre 1720

bis zur Abschaffung der Janitscharen im Jahre 1826 zwischen dem für die neuen Intellektuellen

den Fortschritt repräsentierenden Okzident und dem für die religiösen Gelehrten die Tradition

repräsentierenden Orient eine neue Identität suchte. Dabei kann hinzugefügt werden, daß eine

ähnliche Tendenz und eine ähnliche gesellschaftliche Konstellation auch in der heutigen Stadt

zu konstatieren sind.

1826 markiert den Beginn einer neuen Ära für das osmanische Reich, deren reformerische

Ansätze vor allem auch das Gesicht seiner Hauptstadt veränder- ten. Im Gegensatz zu den

Interpretationen, die den Anfang des »längsten Jahrhunderts des Reiches", wie es von Ilber

Ortayli vortrefflicherweise bezeichnet wird14, im türkisch-englischen Handelsvertrag von 1838

oder im Jahre des Reformerlasses „Tanzimat" sehen, liegt meineserachtens der Ausgangspunkt

der „Europäisierung" von Istanbul in den Militärreformen, die 1826 in Gang kamen. Es ist

sicher kein Zufall, daß der Verfasser des ersten Flächennutzungsplanes von 1839 der zukünftige

preußische Generalfeldmarschall Helmuth von Moltke war, der im Jahre 1835 von Friedrich

Wilhelm III. als Militärexperte nach Istanbul entsandt wurde, um dann neben seiner Tätigkeit

als Armeeinstrukteur mit topographischen Aufnahmen und der Reorganisation der Stadt

beauftragt zu werden. Es kam nicht nur in Istanbul vor, daß Militärtechniker oder auch

Polizisten für die Stadtplanung zuständig wurden. Am Anfang des 19. Jahrhunderts war der

Polizeipräsident an den Planungen für die bauliche Entwicklung Berlins zu unterschiedlichen

Zeiten im unterschiedlichen Umfang beteiligt, wie H. Piz u. a. es im Detail beschreiben15. Schon

die Polizeiberichte im Frankreich des 18. Jahrhundens beschäftigen sich in beträchtlichem

Umfang mit Städtebau und Architektur'16. Im Vergleich mit der Polizei erscheint das Militär auf

der städtebaulichen Szene Europas seltener, dennoch wurden die Entwürfe für den Wiederauf-

bau mancher Städte, wie Ratzeburg in Deutschland, von Militärtechnikern verwirklicht17.

Zu dieser Zeit gab es in der osmanischen Verwaltungsstruktur kein Äquivalent für die

Polizei in Europa. Für die städtebaulichen Belange, die in anderen islamischen Ländern zur

Kompetenz des „Muhtesib"s gehörten, dessen Aufgaben mit denen der zeitgenössischen Polizei

in Europa vergleichbar waren, war in osmanischen Städten zuerst der Richter (Kadi) zuständig,

der in den muslimischen Stadtvierteln durch den Imam und in den nicht-muslimischen

Stadtvierteln durch die Priester und Rabbis vertreten wurde; später wurde zusätzlich das Amt

des „Stadtarchitekten" eingeführt. Dazu muß angemerkt werden, daß sowohl die Muhtesibs in

den anderen islamischen Ländern, als auch die Stadtarchitekten im osmanischen Reich, die

dessen Oberarchitekten unterstellt waren, wie auch die Kadis nur für die Bauqualität und für die

Kontrolle der Zunft der Bauleute verantwortlich waren18. Die autonome Struktur der einzelnen

14 Ilber Ortayli, imparatorluğun En Uzun Yüzyili. Hil Yayin, Istanbul 1983. 15 Helge Pitz, Wolfgang Hofmann, Jürgen Tomisch, Berlin W. - Geschichte und Schiksal einer Stadtmitte,

Band I. Siedler Verlag, Berlin 1984, S. 57ff. 16 Paul Rabinow, Interview mit Michel Foucault. Skyline, März 1986. 17 Planstädie der Neuzeit, Ausstellungskatalog. Badisches Landesmuseum, Karlsruhe 1990, S. 356. 18 Cengiz Orhonlu, Osmanli imparatorluğunda Şehircilik ve Ulasim Üzerine Arastirmalar. Ege Üniversitesi

Edebiyat Fakültesi, izmir 1984.

Page 8: Quo Vadis Istanbul - Zeynep Aygen

Quartiere erlaubte keine Gesamtplanung oder Eingriffe in die selbstständigen Stadtviertel, und

als der Sultan nach seinem Sieg über die Aufständischen seine Hauptstadt neu gestalten wollte,

suchte er seinen Ansprechspartner sicher nicht in seinem in dieser Hinsicht unerfahrenen

Oberarchitekten, sondern in einem europäischen Offizier, der sich mit einem strategischen

Eingriff in die Stadt auskannte. Einerseits ist die Neuplanung der traditionellen Stadtviertel in

Istanbul als ein Vorreiter der späteren Eingriffe in die städtebauliche Struktur der europäischen

Städte anzusehen. Andererseits muß man im Falle von Istanbul in Betracht ziehen, daß die so-

ziale Konstellation hier sowohl die in Europa dominierende Privatinitiative als auch die

städtischen Revolutionäre entbehrte. Die aufständischen Gruppen in Istanbul bestanden

hauptsächlich aus den Angehörigen der Janitscharen-Truppen und einem Teil der

traditionalistischen Gelehrten, die sich von den modernistischen Entwicklungen bedroht fühlten

und ihre Position verteidigen wollten. Die selbstständigen Stadtviertel mit ihren engen

Sackgassen konnten ihnen gute Zu- fluchtsmöglichkeien bieten, so daß von Moltke die

Sackgassen in seinem Plan total abschaffte. Wie er sich in seinen Briefen selbst dazu äußert,

dachte er dabei zwar auch an die fehlende Infrastruktur, hygenische Verhältnisse und ständige

Brandgefahr, aber die eigentliche, nämlich strategische Motivation der Haussmanisierung, die

ab 1850 die Struktur der europäischen Städte verändern würde, wurde zwanzig Jahre vor

Hausman schon von von Moltke eingestanden:

„Die äußeren Glieder des einst so mächtigen Staatskörpers sind abgestorben, das ganze

Leben hat sich auf das Herz zurückgezogen, und ein Aufruhr in den Straßen der Hauptstadt kann

das Leichengefolge der osmanischen Monarchie werden. Die Zukunft wird zeigen, ob ein Staat

mitten in seinem Sturz einhalten und sich organisch erneuern kann oder ob dem

mohammedanisch- osmanischen Reiche wie dem christlich-byzantinischen das Schiksal

bestimmt ist, an seiner fiskalischen Verwaltung zu Grunde zu gehen.“19

Diese Einschätzung fand auch bei den osmanischen Behörden Anklang, so daß in einem

Bericht des nach 1855 gegründeten Stadtrats die folgende Kritik geäußert wurde: „In Istanbul

den Polizeidienst verwirklichen zu wollen ist ähnlich dem Vorhaben, über einen großen Wald

die Kontrolle zu gewinnen.“20

Von Moltke's Hauptarterien, die mit dem Verlauf der Hauptschlagadern der

byzantinischen Stadt übereinstimmten, sollten eine Breite von 15,2 m betragen, alle anderen

Straßen sollten entweder 11,5 m oder 9,2 m breit sein21'. Die traditionelle Mindestbreite im

Islam, für die zwei beladenen Tiere maßgebend waren, betrug ungefähr 5,3 m22, aber in

Wirklichkeit wurden sie mit der Zeit in den meisten islamischen Städten, wie auch in Istanbul,

verbaut, und dadurch waren sie noch enger geworden. Solange einer der Bezirksbewohner

keinen Einwand erhob, gab es keinen Grund für den Kadi oder seinen Vertreter, den Imam, sich

einzumischen. So betrug sogar die Breite der Hauptachse Divanyolu zur Zeit der Planung der

städtischen Maßnahmen nach dem neuen Konzept höchstens 6 m, während die Verordnung von

19 Helmuth von Moltke, Unter dem Halbmond - Erlebnisse in der alten Türkei 1835- 1839. Edition Erdmann,

2. Auflage, Tübingen 1981, S. 96. Belediyesi, Istanbul 1995, S. 202 beträgt diese Breite nach dem traditionellen

Maßsystem 7 arsin, was ungefähr 5,3 m ausmacht. 20 Zeynep Celik, Degisen Istanbul. Tarih Vakfi, Istanbul 1996, S. 47. 21 ibd S. 85. 22 Nach Osman Nun Ergin, Mecelle-i Umur-i Belediyye, Band I, Istanbul Büyüksehir

Page 9: Quo Vadis Istanbul - Zeynep Aygen

1848 als Mindestbreite für Gassen 7,6 m vorsah23. Eine umfangreiche Reorganisation der

Straßenstruktur, wie sie von Moltke vorschlug, fand bald Echo in der neuen Gesetzgebung, die

ab 1840 eine Reihe von Verwaltungmaßnahmen für städtebauliche Angelegenheiten nach

europäischen Prinzipien schuf, zu denen auch die oben genannte Verordnung von 1848 gehört.

Allerdings entstanden dadurch kulturell bedingte Konfliktsituationen mit der überwiegend

muslimischen Bevölkerung der Stadt, die sich besonders mit den vorgesehenen Enteignungen

nicht abfinden konnte, weil Enteignungen ohne die Zustimmung der Betroffenen nach der

islamischen Sharia verboten waren. Die Ausnahme bildeten nur die öffentlichen

Versammlungsplätze, selbst da war es aber gar nicht einfach zu enteignen. Obwohl die

osmanische Gesetzgebung im Vergleich zu den arabischen Verwaltungskonzepten

zentralistischer war und es bei repräsentativen Zentren wie der Blauen Moschee zu

Zwangsenteignungen kommen konnte, mischte sie sich in den Privatbereich der Wohnquartiere

möglichst nicht ein. So wurden die städtebaulichen Reformen der Tanzimat-Periode von den

Anhängern der islamischen Traditionalisten über das ganze 19. Jahrhundert hinweg stark

kritisiert, und ihre Kritik war an der Schwelle des 20. Jahrhundert immer noch nicht verstummt,

so daß z. B. der Architekt Mazhar bey meinte: „Die von Paris insprierte Neuplanung des

Stadtviertels Aksaray mit geradlinigen Arterien ist eine Folge der heuchlerischen,

vaterlandslosen Tanzimat- Seele...«.24

Das Jahr 1839, in dem von Moltke seinen Flächennutzungsplan präsentierte, war zugleich

das Jahr des Erlasses „Gülhane Hatti Hümayunu", in dem Sultan Abdülmecit die Reformen

seines Vorgängers Mahmud II. mit Hilfe des Reformers Mustafa Reschid Pascha in Kraft setzte.

Die ersten offiziellen Reformen sind unter dem Namen „Tanzimat" bekannt geworden, die

Redewendung kommt von „Tanzim-Organisation" und gab dieser Periode in der türkischen

Geschichte, die der oben erwähnte Mazhar Bey ein halbes Jahrhundert später noch kritisierte,

ihren Namen. Diese Reformen umfaßten ganze Bereiche von Wirtschaft, Ackerbau,

Militärwesen und Politik. Auf ihrem Gebiet kam es u. a. zur Veränderung der

Verwaltungsstrukturen in den Städten, was sich zuerst in der Hauptstadt Istanbul bemerkbar

machte. So wurde zunächst im Jahre 1855 analog zur französichen „Prifecture de la Ville" die

Stadtbehörde „Schehremaneti" gegründet, wodurch das dezentralisierte System unter der

Verantwortung der religiösen Gemeindeführer in den einzelnen Stadtvierteln zentralisiert und

der Obhut der Schehremaneti anvertraut wurde. Kurz danach wurde eine Kommision mit der

Sanierung der Stadt beauftragt, die aus den in Istanbul lebenden Europäern und aus den »mit der

europäischen Lebensweise vertrauten Osmanen“ zusammengestellt wurde. Ein Jahr davor hatte

ein Brand das Stadtviertel Aksaray zerstört, was der neuen Stadtbehörde die Konflikte wegen

einer eventuellen Enteignung ersparte, so daß der italienische Ingenieur Luigi Storiari mit der

geradlinigen Neuplanung von Aksaray beauftragt wurde. In Istanbul, in der die Wohngebiete

überwiegend aus Holzhäuser bestanden, fehlte es nicht an Bränden, so daß nach ihnen, wie es

zum Beispiel bei dem großen Brand von 1865 der Fall war, die neuen Bebauungspläne für die

23 Stefan Yerasimos, Tanzimat'in Kent Reformlari Üzerine. Paul Dumont, Francois Georgeon (Hrsg.),

Modernleşme Sürecinde Osmanli Kentleri, Tarih Vakfi, Istanbul 1996, S. 1. 24 Zeynep Çelik, op.cit., S. 46. 1997, S. 34.

Page 10: Quo Vadis Istanbul - Zeynep Aygen

betroffenen Wohnquartiere enstanden. Dabei waren die wichstigten Kriterien die Benutzung

eines geradlinigen Rastersystems sowie die Einführung der Zigelbauweise anstelle der

traditionellen Holzhäuser, um neue Brände zu verhindern. Es war gar nicht einfach, die

Betroffenen, die jahrhundertelang über die Struktur ihrer Stadtviertel selbst bestimmt hatten,

von den von einer zentralistischen Stadtverwaltung diktierten Parzellen zu überzeugen. Der

Staat mußte sich rechtfertigen und begründete die neuen Maßnahmen durch eine Neudefinition

der Aufgaben des Staates aufgrund einiger uminterpretierter islamischer Prinzipien25.

Die Reformen bewirkten auch die Auflösung der staatlichen Stiftungsgüter aus der

islamischen Tradition. Durch ihren Verkauf an Privatpersonen enstanden am Stadtrand große

Bauernhöfe, die im nächsten Jahrhundert das freie Gelände für die zukünftigen Wohnsiedlungen

anbieten sollten. Hiermit gingen auch die sozialen Dienstleistungen wie der Bau der

Krankenhäuser, Armenküchen, Schulen und Studentenherbergen, die bisher von den religiösen

Stiftungen der Gemeinden in den einzelnen Quartieren betrieben wurden, nach und nach an die

staatlichen Behörden der Stadt über. Die ersten städtischen Krankenhäuser entstanden im

Viertel Pera-Galata, das schon im Jahre 1857 zum Pilotviertel erklärt worden war. In diesem

Jahr wurde Istanbul in 14 Verwaltungseinheiten aufgeteilt, allerdings existierten sie mit der

Ausnahme von Pera-Galata lediglich auf dem Papier, weil ihnen sowohl die

Eigenfinanzierungsmöglichkeiten als auch die Erfahrung fehlte. Erst nach der Einführung der

Steuereinnahmen für kommunale Behörden und der Gründung der städtischen Infrastruktur

durch öffentliche Mittel begannen die Verwaltungseinheiten effektiver zu arbeiten. Parallel zu

Paris wurde ihre Zahl im Jahr 1877 von 14 auf 20 erhöht. Bis zu diesem Jahr bewahrte Per seine

Sonderstellung als Musterquartier.

Per war die nördliche Erweiterung des ehemaligen genuesischen Handelsviertels Galata.

Nach der Einfuhr ausländischen Kapitals ins osmanische Reich wuchs das mit europäischen

Sprachen und Sitten vertraute Galata zum Finanz- und Handelszentrum Istanbuls, voll mit

Banken, internationalen Firmenvertretungen und Versicherungsgesellschaften. Die neuen

Bankiers und Vertreter der europäischen Firmen, die dieses Kapital mitkontrollierten, bauten

nördlich von Galata ihre Villen und Etagenwohnungen nach europäischem, besonders

französichern Vorbild. Bald öffnete das Kaufhaus Bon-Marché an der Hauptachse dieses neu

entstandenen Nobelviertels Pera seine Türen für die ersten Konsumenten, und es dauerte nicht

lange, bis der Hügel von Pera durch eine Seilbahn mit dem Hafen Karaköy verbunden wurde.

Die Seilbahn wurde in Privatinitiative überwiegend durch englisches Kapital finanziert, die

Firma hieß „The Metropolitan Railway of Constantinople from Galata to Pera". Nach der

englischsprachigen Istanbuler Zeitung „The Levant Herald" spielte die Kapelle bei der Eröff-

nunszeremonie im Januar des Jahres 1875 sowohl die türkische Nationalhymnee als auch „God

save the Queen", und der Firmenvertreter hob sein Glas zur Ehre aller europäsicher Monarchen,

25 Stefan Yerasimos zitiert nach Ergin die Feuerbekampfungsverordnung vom 14 September 1826: „Obwohl

es klar und deutlich heißt, daß das von dem Allermächtigsten Bestimmte ohne jegliche Verzögerung stattfindet, ist

es eine menschliche Gewohnheit, in dieser Welt der Notwendigkeiten nach manchen lindernden Lösungen zu

suchen..."; op. eil. S. 16.

Page 11: Quo Vadis Istanbul - Zeynep Aygen

„die sich im Namen der Zivilisation und des Fortschrittes für die Verwirklichung dieses Projekts

eingesetzt hatten"26.

Die Große Straße (Cadde-i Kebir) von Pera endete am Taksim-Platz. Dadurch wurde

dieses Gelände zu einem strategischen Schwerpunkt der Stadt. Die Kaserne der neuen Armee,

die Wasserverteilungsstation als eine der ersten infrastrukturellen Leistungen der Stadt, die auch

dem Platz ihren Namen gab, und der erste öffentliche Park, der hier entstand, verliehen Taksim

seinen Charakter als ein neues städtisches Zentrum. Bis in die 1860er Jahre befanden sich hier

die christlichen Friedhöfe, die mit dem Bau des Boulevards nach Pangalti in den Bezirk

Schischli verlegt wurden. Pangalti entwickelte sich zum wichtigen Erschließungsgebiet, weil

der Umzug des Palastes von der historischen Halbinsel nach Dolmabahce in der Nähe des

kosmopolitischen Stadtviertels Pera zur Folge hatte, daß der Adel, der in der Nähe des Sultans

sein wollte, sich an den Hängen hinter dem Palast niederließ. Es enstand dadurch ein

prominentes Dreieck zwischen dem Taksim-Platz, dem Dolmabahce-Palast und

Pangalti-Harbiye, das zum Inbegriff des Traums der Moderne wurde, wie ihn der Autor Peyami

Safa in seinem Roman „Fatih-Harbiye" darstellt. „Fatih-Harbiye" ist die Straßenbahnlinie

zwischen dem traditionellen Stadtviertel Fatih auf der historischen Halbinsel mit seinen

verwahrlosten Holzhäusern und den Kasernen in Harbiye und Machka, umringt von den

Luxusvillen von Nisantaschi: Die Straßenbahn pendelt zwischen zwei Welten.27

Die Kasernen und Ingenieurschulen, die die neue, moderne Armee verkörperten, waren

die Symbole der Europäisierung. Sie symbolisierten das Ende einer Ära, die wegen der

städtischen Unruhen, aufständischen Janitscharen und dem ihnen folgenden Pöbel für den Staat

wie das Kapital ständige Drohung und Unruhe bedeutet hatte.

So wurden die Luxushäuser des neuen Dreiecks gerne von den Militärbauten umringt. Die

modernisierte Armee bedeutete ihnen nicht nur Sicherheit, sondern stellte ihren Bezug zum

Westen, zum fortschrittlichen Europa her. Das europäisierte Militär repräsentierte den Import

westlichen Wissens: Im osmanischen Reich, das einmal so renommierte Kartographen wie Piri

Reis besessen hatte, wurde das erste Buch über die Grundlagen der Geographie nach einer Pause

von zweihundert Jahren in der Druckerei der Militärschule für Ingenieurwesen gedruckt28. In

allen Bereichen der Wissenschaft wie Medizin, Maschinenbau und Naturwissenschaften

wurden die jungen Experten durch ausländische, hauptsächlich französische Offiziere in den

Militärschulen ausgebildet. Zu den Unterrichtsbereichen gehörten auch Städtebau und

Architektur. Traditionell wurden die staatlichen Bauafträge innerhalb des osmanischen Reiches,

einschließlich der für das Militärwesen nötigen Brücken und Straßen, von den königlichen

„hassa" Architekten durchgeführt. Zu den ersten Modernisierungsversuchen ab der Mitte des

18. Jahrhunderts gehörte auch die Reorganisierung dieser Institution, so daß die Ausbildung der

Architekten mit einem Erlaß von 1801 der im Jahre 1795 für die Ausbildung der

Militärtechniker gegründeten Ingenieurschule anvertraut wurde. Das ganze 19. Jahrhunden

hindurch gab es an dieser Hochschule zwar Vorlesungen über Architektur, aber nie eine eigene

Abteilung; es wurden eigentlich Bauingenieure ausgebildet. Die erste Architekturschule im

26 The Levant Herald, 18 Januar 1875, nach Oberling, The Istanbul Tünel, Archivum Ottomanicum 4, 1972,

S. 217-63, op. cit. Z. Celik. 27 Peyami Safa, Fatih-Harbiye. Ötüken Yayinevi, Istanbul 1968. 28 Roderick H. Davison, Osmanli Imparatorlugu'nda Reform, Band I. Papirüs, Istanbul

Page 12: Quo Vadis Istanbul - Zeynep Aygen

westlichen Sinne entstand erst mit der Gründung der Akademie der Schönen Künste „Sanayi-i

Nefise Mektebi" im Jahre 188329.

In der Architektur herrschte eine pluralistische Sprache: Unter den neuen Intellektuellen

entwickelte sich eine ästhetische Diskussion über die Frage, aufgrund welcher Stilelemente die

osmanische Architektur definiert werden sollte. Während die Mitglieder der armenischen

Hofarchitektenfamilie Balyan die Lösung in einer Mischung von neoklassischen und

klassischen Elementen sahen, fanden manche Intellektuelle in der gleichfalls aus Europa

importierten „orientalistischen" Architektur den Ausdruck des Osmanismus. Bald füllte sich

Istanbul mit Bauten, die diese Richtungen und manchmal beide zusammen vertraten. Zu ihnen

gesellte sich am Ende des Jahrhunderts der Jugendstil, der besonders in den neuen

Sommerresidenzen am Bosporus und auf der asiatischen Seite sehr populär wurde.

Der Begriff der Sommerfrische existierte in Istanbul zwar ab dem 16. Jahrhundert, aber

mit den durch die Einfuhr des ausländischen Kapitals entstandenen neuen sozialen Klassen

veränderte sich sein Konzept. Während in der traditionellen, vom Islam bestimmten Einteilung

Arm und Reich im selben Stadtviertel zusammenlebten, entstand im Verlauf des 19.

Jahrhundens eine Hierarchie zwischen den einzelnen Quartieren. Die Elite zwischen

Nischantaschi und Pera baute jetzt Sommerhäuser auf den Prinzeninseln, auf den Hügeln der

asiatischen Seite wie Camlica und Kisikli und an bestimmten Knotenpunkten der historischen

Chausee nach Bagdad sowie in Yesilköy am Marmara-Meer. Die reichen Gelehrten der

islamischen Elite zogen einer nach dem anderen zum Bosporus um und bauten dort große

Häuser, die sie über das ganze Jahr zu benutzen begannen. Bald gesellten sich zu ihnen auch die

reichen christlichen Händler, die sich vor allem in den griechischen Dörfern an der europäischen

Seite des Wasserpasses niederließen. Der Bosporus verwandelte sich von der Sommerfrische

zum permanenten Wohnsitz derer, die die Vorteile der frischen Luft und des Grüns genießen

wollten, im Gegensatz zu denen, die in der überfüllten Stadt lebten. Die Kriterien des Umzugs

waren vergleichbar mit den Werbeslogans vom Leben im Grünen am Ende des 20. Jahrhunderts.

Die Entwicklung der neuen Wohngegenden wurde durch die neuen Verkehr-

serschließungen unterstützt. Schon die ab 1860 eingeführte Straßenbahn machte viel aus, aber

mit den Eisenbahnverbindungen ab 1874-1875 florierten zuerst am Marmara-Meer Yeschilköy

und Makriköy und später auf der asiatischen Seite Göztepe, Erenköy und Bostanci. Die

Eisenbahngesellschaft war im Privatbesitz von Baron Hirsch, und es gab nicht nur

innenstädtische Verbindungen, sondern man konnte mit der Eisenbahn von Istanbul bis nach

Sofia reisen. Mit der Idee des Orient-Expresses wurde auch ein größeres, repräsentatives

Bahnhofsgebäude nötig, das von dem deutschen Architekten Jachmund im Jahre 1889 vollendet

wurde. Der Stil war „orientalistisch", überwiegend aus marokkanischen Elementen bestehend,

und paßte im Kopf Jachmunds sicher gut als Endstation des Orient-Expresses.

Bald folgte auch ein repräsentatives Bahnhofsgebäude auf der asiatisischen Seite; nach

dem Abriß des alten Bahnhofs in Haydarpascha bauten hier Otto Richter und Helmuth Cuno ein

preußisches Bahnhofsgebäude, sehr ähnlich dem Eisenbahnsdirektionsgebäude in Berlin. Die

29 Mustafa Cezar, op. cit. S. 25-66.

Page 13: Quo Vadis Istanbul - Zeynep Aygen

Bagdad-Bahn war im Gespräch, und das deutsche Kapital trat in Istanbul nicht nur hinter

geschlossenen Türen auf, sondern auch öffentlich.

Die Eisenbahnlinie am Marmara-Meer brachte die Erholungsorte näher an die Stadt heran,

schuf aber auch eine Transportmöglichkeit für die neuen Industriviertel außerhalb der

Stadtmauer. Die ersten Fabrikgebäuden entstanden in dem traditionellen Gcrberviertel, zum

Westen hin wurden der Reihe nach eine Maschinenfabrik, eine Tuchmanufaktur und weiter

westlich zum Makriköy hin eine Pulvermühle gebaut. Harald Standl schreibt in seinem Werk

„Der Industrieraum Istanbul", daß diese Uferzone, obwohl damals recht unbedeutend, eine

wichtige Keimzelle für jenen industrieräumlichen Verdichtungsprozeß darstellt, der nach dem

zweiten Weltkrieg einsetzte 30 . Bereits überzogen mit industriellen Anlagen waren die

Uferzonen des Goldnenen Horns. An seiner Mündung zum Marmara-Meer hin steht noch heute

die Werft Camialti, die hier seit fast 500 Jahren ihren Platz verteidigt. Weiter erstreckten sich

zum Nordwesten hin Mühlen und Gießereien, zu denen sich nach einer Weile das Schlachthaus

in Sütlüce gesellte. Auf der gegenüberliegenden Küste, am heiligen Zentrum Eyüp hatten sich

die Töpfer niedergelassen. Gegen Ende des Jahrhunderts wurde im benachbarten Defterdar eine

Fez-31 und Garnfabrik gegründet. Kurz danach wurde in Cibali, gegenüber der Werft eine

Zigarettenfabrik gebaut. Beiderseits war die Meerenge auch mit neuen Kasernen und mit einer

Ingenieurschule versehen, aber es waren nicht sie, die zum Prestigeverlust beigetragen haben,

wie manche Autoren meinen. Wenn das der Fall wäre, hätte sich das

Taksim-Harbiye-Nischantaschi- Dreieck nicht zum neuen Luxusviertel entwickelt. Der

Prestigeverlust der Gegend am Goldenen Horn hatte andere Gründe: Die erste Ursache ist der

Umzug der reichen Bewohner der traditionellen, christlichen und jüdischen Wohnviertel, wie

Fener oder Balat, die infolge der neu entstandenen Dualität in der Stadtstruktur in die

Prestigegebiete umsiedelten. Hinzu kam die Verdichtung der Industrie, so daß die verwahrlosten

Herrschaftsbauten in diesen Vierteln sich über die Zeit in Mietshäuser für Arbeiter

verwandelten. Diese Periode in der Geschichte des osmanischen Reiches wird nicht nur durch

Reformen und Europäisierung, sondern auch durch große Territorialverluste und

außenpolitische Probleme gekennzeichnet. Im letzten Quartal des 19. Jahrhunderts kamen nach

Istanbul fast jeden Tag Hunderte von Immigranten aus den Balkanländern, und Anatolien litt

unter einer der größten Hungersnöte in seiner Geschichte. Im Jahre 1875 hatte sich die

osmanische Staatskasse, die ihre Schulden an Europa nicht mehr zurückzahlen konnte, offiziell

bankrott erklärt. Diese Entwicklung endete mit der Gründung der „Duyun-u Umumiye", einer

Vollstreckungsinstitution, um europäische Investitionen zu retten, so daß alle staatlichen

Einnahmen des osmanischen Reiches ihrer Kontrolle oblagen. In Anbetracht dieser Umstände

ist es nicht schwer, sich die Armut in den neuen Armenvierteln am Goldenen Horn wie Balat

und Hasköy vorzustellen. Mit dem Balkankrieg und dem Ersten Weltkrieg verschlimmerte sich

die Lage zusätzlich, und der Verfall erstreckte sich bis zu den traditonellen Wohngebieten der

historischen Halbinsel sowie zu den neuen Wohnvierteln der Mittelklasse wie zum Beispiel

30 Harald Standl, Der Industrieraum Istanbul. Bamberger Geographische Schriften, Fach Geographie an der

Universität Bamberg im Selbstverlag, Bamberg 1994, S. 12. 31 Eine traditionelle Kopfbedeckung des späten 19. bis frühen 20. Jahrhunderts.

Page 14: Quo Vadis Istanbul - Zeynep Aygen

Kurtulusch in der Nähe des prominenten Dreiecks. Diese städtische Armut in den 1920'er Jahren

wird in der Studie einer amerikanischen Forschungsruppe unter der Leitung von C. R. Johnson

ausführlich beschrieben32.

In dieser Zeit wuchs die Stadt weiter zum Norden hin. Die Erweiterung der

Taksim-Pangalti-Achse schuf Schischli. Am Hang westlich von ihr entstand im Umkreis der im

Jahre 1891 gegründeten Bierbrauerei Bomonti der Keim einer der wichtigsten Industriezonen

der 50er Jahre. Da Muslime in einer Fabrik, die ein alkoholisches Getränk erzeugte, nicht

arbeiten wollten, waren die Arbeiter alle Christen, vor allem Armenier, die infolge des Ersten

Weltkrieges und der darauffolgenden Revolution in Rußland nach Istanbul flüchteten. Sie ließen

sich in der Nähe der Fabrik nieder, wodurch Kurtulusch sich entwickelte und das Quartier

Feriköy entstand, das heute noch mit seinen vielen Kirchen und Gemeindeschulen an die

traditionelle, nach religiösen Gesichtspunkten unterteilte Stadt erinnert.

Zwischen den Jahren 1920-1950 ist in der Stadt Istanbul kein beträchtliches Wachstum

erkennbar. Die Verlegung des Regierungssitzes nach Ankara seit der Gründung der Republik

und die Förderung der Industrie in Anatolien hatten zur Folge, daß in Istanbul keine staatlichen

Investitionen mehr vorgenommen wurden; der Stadt fehlten verwalterische wie industrielle

Funktionen. Sowohl aus diesem Grund als auch wegen des Fehlens der Erschließungsstraßen

zum Umland kam Istanbuls Entwicklung zum Stillstand, der noch von der Stagnation infolge

des Zweiten Weltkrieges unterstützt wurde. Außer den Fabrikanlagen des späten 19.

Jahrhunderts waren die Innenstadt auf der historischen Halbinsel und die beiden Ufer des

Goldnenen Horns dicht besiedelt mit kleinen und mittleren Werkstätten, die noch mit

traditionellen Methoden, zum Teil aber auch mit modernen Maschinen Konsumartikel wie

Kleidung oder Haushaltsartikel herstellten. Die traditionellen Wohngebiete um sie waren noch

dicht besiedelt. Am Goldenen Horn konzentrierte sich die Industrie an der Uferzone, und es gab

auch größere Betriebe wie Möbel- oder Chemikalienhersteller. Um ein Beispiel von 1950 zu

geben, kann man folgende Betriebe am Ufer von Balat nennen: Textil- und Garnfabriken;

zwischen der Ziegelwerkstatt und der Fabrik für die Herstellung von Holzspanplatten lag noch

eine Militärschule, weiter der Chemikalienhersteller Kosta Zofranos, die Textilfabrik von

Chikvachvili; auf sie folgten Margarine-, Reifen-, Möbel- und Ölfarbenhersteller33. Die Arbeiter

wohnten in den benachbarten Wohnvierteln wie dem inneren Teil von Balat oder Eyüp. So war

die Situation auf der europäischen Seite in dieser Periode. Was die asiatische Seite angeht, wies

sie bis zu den 1950er Jahren eine sehr lose Struktur mit ein paar Konzentrationspunkten auf. Das

Bosporus-Ufer hatte mit den verwahrlosten Herrschaftshäusern der Vorkriegszeit und mit den

einzelnen Dörfern zwischen ihnen einen ziemlich ländlichen Charakter bewahrt, mit der

Ausnahme der beiden Fabrikzonen am Beykoz und Paschabahche zum Schwarzen Meer hin,

Üsküdar war ein Wohnviertel der Mittelklasse, und an der Küste entlang dem Marmara-Meer

entstanden als Erweiterung der Sommerfrische der Jahrhundertwende Sommervillen im

amerikanischen Stil der 40er Jahre.

32 C. R.Johnson, Istanbul 1920. Tarih Vakfi, Istanbul 1995.

33 Ilber Ortayli, Eyüp-Dün Bugün. Tarih Vakfi, Istanbul 1994, S. 128-129.

Page 15: Quo Vadis Istanbul - Zeynep Aygen

Ab 1930 wurden verschiedene europäische Planer wie der Franzose Henri Prost oder

später der Deutsche Hans Högg und der Italiener Luigi Piccinato beauftragt, Entwürfe für

Istanbul vorzulegen. Der erste Bebauungsplan wurde von Prost im Jahre 1938 entwickelt, in

dem die schon bestehende Industrie am Goldenen Horn gefördert wurde, sie sollte sich zum

Norden, zum oberen Teil hin entwickeln. Als zweite Industriezone wurde der Gürtel außerhalb

der Landmauer vorgesehen Als die Planung in den späten 40er Jahren so weit war, daß sie in

Kraft gesetzt werden konnte, war sie schon seit langem überholt. Die Entwicklung am Goldenen

Horn blieb nicht am oberen Ende stehen, sondern hatte sich zu den einstigen, nach

französischem Vorbild gebauten Kagithane-Gärten ausgedehnt, wo sich hauptsächlich die

Chemie-Industrie an den beiden, zum Goldenen Horn fließenden Bächen Kagithane und

Alibeyköy niederließ. Das Land zwischen dieser neuen Industriezone und Schischli wies bereits

Arbeiterwohngebiete mit illegal gebauten Häusern auf. Die Gürtelzone außerhalb der Mauer

wurde schon besiedelt und zwar nicht mit dem von Prost vorgesehenen Mindestabstand von 500

m vom historischen Denkmal, sondern dicht daran. Trotz der Verbote entwickelte sich die

Industrie und der illegale Wohnbau am Marmara-Meer, ausgehend von dem Gerberviertel. Die

Behörden versuchten, mit Bebauungsplänen und vor allem mit dem Flächennutzungsplan von

195534 diese rapide Entwicklung zu kontrollieren, aber unter diesen Umständen konnten sie

unmöglich Erfolg haben: In den 50er Jahren fand eine politische Umstrukturierung statt, die

Industrie wurde von Anatolien in die Großstädte, vor allem nach Istanbul verlagert, die Stadt

wurde zum Hauptziel der Innenimmigration, die vor allem ein außerordentlich räumliches

Wachstum verursachte. Die Industrialisierung förderte die Entwicklung der Mittelschicht aus

der Jahrhundertwende, was die räumlich-soziale Differenzierung verstärkte. Dabei muß

beachtet werden, daß die allgemeine These für die zweite Phase der Verstädterung, daß die

Zuwanderer sich am Stadtrand niederlassen, während die sozial höher gestellte, altstädtische

Bevölkerung in der Innenstadt verbleibt, für Istanbul nicht gültig ist. Die Ursache dafür ist die

Veränderung der sozialen Stadtstruktur aufgrund der Europäisierung, was die Oberklassen

schon in der ersten Phase zu den Neubaugebieten am Stadtrand trieb. Infolgedessen wurde die

halbleere Innenstadt schon am Anfang der Industrialisierung, aber zunehmend ab den 50er

Jahren von den Zuwanderern besiedelt. Auch am Stadtrand, wie in der Nähe der in der Stadt

gebliebenen Industriegebiete, gab es Zuwandererkonzentrationen, so daß die Immigranten zu

dieser Zeit eine eher punktuelle Verteilung im Gesamtstadtbild aufwiesen.

Ab den 50er Jahren ist eine rapide Zunahme der Industriebetriebe zu beobachten. Während

zwischen 1941-1950 in Istanbul 88 neue Betriebe eröffnet wurden, stieg diese Zahl zwischen

1951-1960 auf 279, und zwischen 1961-1968 kamen 163 weitere Betriebe hinzu35 . Der

Industrieflächenplan von 1966 versuchte dieses Wachstum zu kontrollieren und hatte vor, die

Innenstadt und das Goldene Horn mit Ausnahme des Werftareals von der Industrie zu befreien

und in Wohngebiete umzuwandeln. Dieses unrealistische Vorhaben wurde nie realisiert, die

genannten Gebiete waren zu diesem Zeitpunkt bereits zu dicht industrialisiert; im Jahre 1969

betrug die Anzahl der Betriebe am Goldenen Horn, die mindestens zehn Arbeitskräfte

34 Sanayi Bölgeleri Nazim Plani 1:10 000. Istanbul Belediyesi. Istanbul 1955.

35 Erol Tümertekin, Istanbul-insan ve Mekan. Tarih Vakfi, istanbul 1997, S. 41.

Page 16: Quo Vadis Istanbul - Zeynep Aygen

beschäftigten, 130 36 . Der Plan sah weiter vor, daß die Anzahl der Betriebe in

Kagithane-Alibeyköy konstant gehalten werden sollte, was gleichfalls unmöglich war. Diese

beiden Täler, die den Status autonomer Gemeinden am Stadtrand besaßen, kombinierten die

Vorteile des preiswerten Baugeländes mit der Nähe zur Stadt. Die Autonomie gewährte ihnen

Schutz vor den Massnahmen der Stadtbehörde Istanbuls. Nach einer Umfrage bei 171 Betrieben

in Kagithane wurden 39 von ihnen vor 1950 gegründet, zwischen 1961- 1969 kamen 61 weitere

Betriebe hinzu37. Auch das Areal um die Bierbrauerei Bomonti sowie die Gebiete außerhalb der

Landmauer waren zu diesem Zeitpunkt stark industrialisiert. Ähnlich günstige Bedingungen

galten für die neuen Industriegebiete in Güngören, Kücükcekmece und Halkali. In der Nähe der

Industrieanlagen wurden ab den 50er Jahren ungenehmigte Wohnungsbauten errichtet, ein

Hauptgebiet solch informeller Stadtentwicklung war das Viertel Zeytin- burnu-Osmaniye, das

von der Pferderennbahn am ehemaligen Makriköy - jetzt Bakirköy - zur Stadtmauer hin wuchs

und im Süden durch die neue Autostraße, im Norden von der Maltepe-Kaserne und im Osten

durch die Landmauer begrenzt wurde. Das Hauptkriterium des städtischen Wachstums zu dieser

Zeit war die Erschließungsmöglichkeit. Durch die staatliche Förderung der Automobilindustrie

und durch den Import ausländischen Kapitals in diesen Sektor gingen die Investitionen vom

Eisenbahnnetz auf den Bau von Autostraßen über, die den traditionellenWasserweg in Istanbul

ersetzten. So begannen sich auch auf der asiatischen Seite bei dem Stadtviertel Kartal, südlich

der neuen Straße nach der Hauptstadt Ankara, die ersten Ansätze der späteren industriellen

Verdichtung zu bilden. Auf der europäischen Seite wuchs die Taksim-Schischli-Achse zum

Norden hin, und in Levent und Etiler entstanden die ersten Villen, die wiederum von

informellen Siedlungen wie Kuschtepe und Gültepe umringt wurden, die an die neuen

Industrieanlagen angrenzten. Zu dieser Zeit entstand gleichfalls nach dem Entwurf Piccinato's

die Wohnsiedlung Ataköy am Marmara-Meer, konzipiert für die Mittelklasse, die ihre

Wohnungen durch die Subventionen der staatlichen Bausparkasse finanzieren sollte.

Harald Standl weist darauf hin, daß die Raumkategorien in den Karten des

Industrieflächenplans und des Bebauungsplans sich nicht decken. Das Problem der

insbesondere in den Außenbereichen sehr unterschiedlichen Abgrenzung von Stadtdistrikten

und Provinzbezirken rührt nach Standl daher, daß sich die Stadt - aufgrund ihres permanenten

Wachstums - innerhalb von festgelegten Provinz- bzw. Distriktgrenzen ausgeweitet hat38.

Istanbul ist heute noch mit dem Problem konfrontiert, daß die Bebauungspläne lediglich dazu

dienen, die schon vorhandenen Strukturen zu legalisieren. Dabei muß beachtet werden, daß es in

den 50er und 60er Jahren nicht nur um das schnelle Wachstum ging, sondern auch eine Rolle

spielte, daß die Gemeinden nach einer autonomen Tradition von 500 Jahren an eine

zentralistische Verwaltung sich immer noch nicht richtig gewöhnen konnten.

In den 70er Jahren intensivierte sich die Entwicklung der 60er Jahre. Die Industriebetriebe

dehnten sich mehr und mehr an die Peripherie aus. Es entstanden neue Kerne in den ehemaligen

Dörfern wie Mahmutbey auf der europäischen Seite oder Dudullu auf der asiatischen Seite.

Beim Dorf Cerkezköy ungefähr 80 km westlich von Istanbul wurde ein „organisiertes

Industriegebiet" erschlossen. Dieses Konzept wird noch heute von vielen, türkischen Städten

36 ibd S. 175. 37 ibd S. 161. 38 Harald Standl, op. cit., S. 23.

Page 17: Quo Vadis Istanbul - Zeynep Aygen

benutzt. Auch die schon von Piccinato vorgeschlagene Umsiedlung der Industrie auf der asiati-

schen Seite in östlicher Richtung zu den Städten Izmit, Gemlik, Adapazari hin wurde erst in

dieser Zeit realisiert, wobei die Schnellstraße nach Ankara als positiver Wachstumfaktor galt39.

Die Idee einer Deregulierung und Privatisierung der staatlichen Betriebe wurde der Türkei

am Ende der 70er Jahre besonders durch Experten implantiert, die ihr Studium im

anglo-amerikanischen Raum abgeschlossen hatten. Mit dem Regierungswechsel im Jahre 1983

wurde diese Idee nach und nach in die Tat umgesetzt. Parallel dazu begann in Istanbul ein

internationales, allerdings im Vergleich zu den Metropolen in Europa, Amerika oder Asien eher

auf den Bedarf der Region eingestelltes Finanzzentrum zu entstehen. Nach Reinhard Stewig gab

es vor 1980 nur vier ausländische Banken in der Türkei, während danach im Zuge der

neo-liberalen Wirtschaftspolitik eine ganze Reihe von ausländischen Banken in der Türkei sich

niderließ. Was die räumliche Verteilung der Banken in der Türkei anging, so lag der

Schwerpunkt in Istanbul 40 . Während die meisten ausländischen Banken sich auf der

Pera-Taksim-Nischantaschi-Achse der Jahrhundertwende konzentrierten, wo einmal ihre

Vorfahren wie Banco Commerciale Italiano standen, wählten die türkischen Banken für ihre

Zentralverwaltungseinheiten die neuere Achse Schischli-Levent-Maslak. Dazu muß allerdings

gesagt werden, daß diese Niederlassungen nicht den Charakter der Offshore-Bank-zentren ha-

ben, sondern lediglich als Vertretungen der internationalen Großbanken fungieren.

Gleichzeitig mit der oben beschriebenen Entwicklung des ausländischen Banksektors

wurden nach den Wahlen von der neuen Stadtbehörde für bisherige Naturschutzgebiete und

Parkanlagen Baugenehmigungen erteilt, so daß auf solchen, bisher nicht bebauten, wertvollen

Grundstücken in der Innenstadt internationale Hotels aufgerichtet worden sind. Eine andere

Entwicklung in dieser Periode waren die größeren Flächensanierungsprojekte am Pera, am

Goldenen Horn und am traditionellen Gerberviertel Kazlicesme. Während die Sanierung in Pera

die Öffnung einer Schneise erzielte, welche den Taksim-Platz zum Goldenen Horn verband, war

das Ziel der beiden anderen Maßnahmen die Verlagerung der innerstädtischen Gewerbeviertel

an die Peripherie. Zu diesem Zweck wurde das amerikanische Konzept des „industrial estates"

eingeführt41. Dabei entstanden Konfliktsituationen zwischen der Stadtverwaltung und den

Kleingewerbebesitzern, deren Grundstücke zwangsweise enteignet wurden. Die Betroffenen

brachten vor, daß ihre Kundschaft, die diese Geschäfte wegen der räumlichen Nähe bevorzugte,

an der Peripherie verlorengehen würde und außerdem den so genannten „organisierten

Kleinindustriezonen" noch die Infrastruktur fehlte. Am Anfang der 90er Jahre bekamen sie

weitere Probleme, weil sich am Stadtrand internationale Großladenketten wie Mr. Bricolage,

Bauhaus oder Macro niederließen, wodurch sie einen weiteren Teil ihrer Kundschaft verloren.

Die 90er Jahre stellen auch den Zeitraum dar, in der das Konzept der „Shopping-Mails- in die

Türkei eingeführt wurde, die sich besonders im Norden um Levent konzentrieren, allerdings

werden die meisten Villen von Levent längst nicht mehr als Wohnungen benutzt, in ihnen haben

39 Nach diesem Kriterium wurde zum Beispiel das organisierte Industriegebiet in Gebze eingerichtet,

zwischen Istanbul und Izmit der nächsten Stadt nach Osten hin. 40 Vgl. dazu Reinhard Stewig, Entstehung der Industriegesellschaft in der Türkei, Teil 2 Entwicklung

1950-1980. Kieler Geographische Schriften, im Selbstverlag des geographischen Instituts der Universität Kiel, Kiel

1999, S. 141. 41 Wolf-Dieter Hütteroth, Türkei. Wissenschaftliche Länderkunden, Band 21. Darmstadt 1982, S. 476 f.

Page 18: Quo Vadis Istanbul - Zeynep Aygen

sich Werbeagenturen und Wohnungsmakler sowie Restaurants und Cafes niedergelassen,

umringt von hohen Bürogebäuden. Eine ähnliche Entwicklung vollzog sich auf der asiatischen

Seite im Gebiet der ehemaligen Sommerfrische um die Bagdat-Straße.

Die erste Shopping Mall in diesem Sinne wurde schon in den 80er Jahren in Ataköy

gebaut. Das von Piccinato als Mittelstandsviertel geplante Wohnquartier war in der

Zwischenzeit zum Luxuswohnviertel der oberen Einkommensklassen mutiert. Je mehr man in

die Gegenwart rückt, desto höher werden die Blöcke im Vergleich zu Piccinatos's vierstöckigen

Bauten, wobei die Qualität zur Gegenwart hin gleichzeitig abnimmt, weil den Blöcken die

nötigen Grünflächen und Parkplätze fehlen. Die Bank, die den kommerziellen Erfolg solcher

Neubauprojekte erkannte, baute weitere, staatlich subventionierte Wohnungen in der Peripherie

Istanbul's. Sie waren nach wie vor für die verschiedenen Schichten der Mittelklasse geplant,

allerdings verlor diese infolge der Finanzkrise, die in der ganzen Welt zu spüren war, Ende der

80er Jahre ihre Kaufkraft. Was Saskia Sassen in ihrer Studie „Metropolen des Weltmarkts" für

Amerika beschrieb, daß man seit den achtziger Jahren beobachten kann, daß „bestimmte Teile

der Mittelschicht immer reicher werden, während andere in Armut versinken"42, trifft auch auf

die Situation in der Türkei zu. Durch die Krise wurden am stärksten die Gruppen mit festem

Einkommen getroffen, die Bausparverträge auf Dollarbasis unterschrieben hatten. Als die

türkische Währung gegenüber dem Dollar ständig an Wert verlor, konnten in vielen Fällen

halbbezahlter Wohnungen keine Weiterzahlungen mehr erfolgen. Durch diese wirtschaftliche

Veränderung enstand auch eine Umschichtung in der Gesellschaft, was sich am meisten in

Istanbul bemerkbar machte: Während bis zu den 80er Jahren Beamte und Mitarbeiter der Indu-

strie über ein hohes soziales Ansehen verfügten, wurden danach die meistbegehrten

Arbeitsstellen in Istanbul die des Dienstleistungssektors. Die Dienstleistungszentren

segmentierten sich zunehmend seit dem Beginn der 90er Jahre, und die Viertel, wo sie sich

niederließen, rückten in den meisten Fällen zu städtischen Statussymbolen auf. Die asiatische

Seite der Stadt beherbergt heute eher die großen Einkaufszentren und nicht die

Hauptverwaltungsgebäude der Banken, die sich auf der europäischen Seite konzentrieren.

Neben den klassischen Zentren wie Taksim-Nischantaschi oder Levent-Etiler wandeln sich die

Fabrikgebäude der ehemaligen Industriegebiete wie Topkapi an der historischen Stadtmauer zu

post-modernen Bürohäusern. Manche Fabriken machen zu, manche verlagern sich zu den neuen

regionalen Industriezentren wie Cerkezköy im Westen oder den Städten Izmit-Adapazari im

Osten, die vor kurzem von einem Erdbeben betroffen worden sind.

Es ist auch eine Verlagerung bestimmter Wohnzentren zu beobachten. Es entstehen

umzäunte, von großen Gartengeländen umrahmte Luxussiedlungen außerhalb der Stadt, deren

Verkaufpreise auf US-Dollar-Basis inseriert werden. Dies gilt allerdings auch für eine Wohnung

am Bosporus oder eine Hochhausetage mit Meeresblick auf der asiatischen Seite. Freilich muß

hinzugefügt werden, daß es bei den umzäunten Siedlungen in Istanbul nicht um eine „Ökologie

der Angst" im Sinne des amerikanischen Stadtsoziologen Mike Davis geht, wie er sie für Los

Angeles beschreibt43. Begriffe wie „Ökologie der Angst" oder „Architektur der Angst"44 sind

42 Saskia Sassen, Metropolen des Weltmarkts. Campus Verlag GmbH, 1996 Frankfurt/ Main, 2. Auflage, S.

159. 43 Mike Davis, Ökologie der Angst. Verlag Antje Kunstmann, München 1999.

Page 19: Quo Vadis Istanbul - Zeynep Aygen

besonders im nordamerikanischen Raum inzwischen sehr populär geworden. Im Gegensatz zu

vielen anderen Metropolen der Welt ist Istanbul mit der städtischen Gewalt (noch?) nicht

konfrontiert, die Zäune sind eher gegen Einzelverbrecher gerichtet und sind nicht aus

Stacheldraht. Die Istanbuler Segmente leben in einer Symbiose. Während die alteingesessenen

informellen Siedlungen in der Nähe der innerstädtischen Dienstleistungzentren für diese

arbeiten - denn „Dienstleitungen müssen produziert und die Gebäude, in denen die

Beschäftigten tätig sind, müssen gebaut und gereinigt werden", um wieder Sassen zu zitieren45,

arbeiten die Bewohner der nahegelegenen Dörfer für die umzäunten Siedlungen außerhalb der

Stadt. In vielen Fällen profitieren sie von diesen Siedlungen zusätzlich, indem sie von ihnen eine

neue Schule oder eine ambulante Krankenstation geschenkt bekommen. In Istanbul gibt es aus

historisch-traditionellen Gründen keine Flächenscgmentierung, sondern in gewissem Sinne

schreibt die Stadt ihre zellenartige Struktur der osmanischen Zeit aus; informell liegt dicht

neben formell, wartet auf die Legalisierung bei den nächsten Wahlen und hofft, daß dadurch die

Grundstückspreise sofort ansteigen.

So ist es auch verständlich, warum der erste Mc Donald's am Taksim-Platz entstanden ist:

„Taksim-Verteilung". Nicht mehr geht es um die Verteilung des Wassers, sondern der

Menschenmengen in der riesigen Stadt. Hier konzentrieren sich die Busse, die aus allen

möglichen Stadtvierteln der europäischen und asiatischen Seite kommen, hier sind die

Kulturinstutionen, die Banken von Nischanta- schi, Macka und Gümüssuyu, die Hotels, aber

auch die dunklen Hinterstraßen von Pera mit ihren billigen Kneipen oder das Quartier

Talimhane, das die Branche der Autoersatzteile beherbergt; von hier aus kann man

Verbindungen zu allen Segmenten kriegen. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts verbindet

Taksim Alt mit Neu, Arm mit Reich, Modern mit Klassisch. Jeder darf sich hier ein Bic Mac mit

Cola leisten, zumindest einmal: zum Ausprobieren; so warb Mc Donald's am Anfang: „Lernen

Sie einen neuen Geschmack kennen". Der Geschmack ist heute nicht mehr unbekannt, und in

vielen Stadtvierteln gibt es zahlreiche Mc Donald's, die Frage ist, in welchen Stadtvierteln? Eine

vergleichende Studie darüber würde wohl nicht nur ein Licht darauf werfen, wie weit die

Globalisierungsthese mit den lokalen Gegebenheiten übereinstimmt, sondern auch darauf, ob

Globalisierung tatsächlich vereinheitlicht oder eher polarisiert, im Sinne einer neuen

Machtverteilung zwischen Nord und Süd, so wie sie von Zygmunt Bauman46 definiert wird.

Quo vadis Istanbul?

44 Architecture of Fear, Nan Elin (Hrsg.). Princeton Architectural Press, New York 1997. 45 Saskia Sassen, op. cic., S. 22. 46 Zygmunt Bauman, Küresellesme, Ayrinti Yayinlari, Istanbul 1999, S. 26-27.

Page 20: Quo Vadis Istanbul - Zeynep Aygen
Page 21: Quo Vadis Istanbul - Zeynep Aygen