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MATERIALDIENST Zeitschrift für Religions- und Weltanschauungsfragen 72. Jahrgang 11 / 09 ISSN 0721-2402 H 54226 Feuerbach, Marx, Nietzsche, Freud Radikale Religionskritik in der Moderne Einblicke ins Jenseits? Publikationen zur Todesnähe-Forschung Religiöse Themen in der Manga-Literatur Tödliche Therapiesitzung „Stichwort“: Geistheilung Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen

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ST Zeitschrift fürReligions- undWeltanschauungsfragen

72. Jahrgang 11/09IS

SN 0

721-

2402

H 5

4226

Feuerbach, Marx, Nietzsche, FreudRadikale Religionskritik in der Moderne

Einblicke ins Jenseits?Publikationen zur Todesnähe-Forschung

Religiöse Themen in der Manga-Literatur

Tödliche Therapiesitzung

„Stichwort“: Geistheilung

Evangelische Zentralstellefür Weltanschauungsfragen

EZW, Auguststraße 80, 10117 BerlinPVSt, DP AG, Entgelt bezahlt, H 54226

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Gunther WenzFeuerbach, Marx, Nietzsche und FreudVier Beispiele radikaler Religionskritik in der Moderne 403

Werner Thiede Einblicke ins Jenseits?Literatur-Rückblick zur Todesnähe-Forschung 410

Franz WinterMehr als nur große AugenReligiöse Themen in der Manga-Literatur 417

PsychoszeneTödliche Therapiesitzung 423

IslamWeitere Professur für islamische Religionspädagogik 424

Islamisches Gebet an der Schule 425

EsoterikDie Welt im Wandel 2012 426

„Spirit & Life“ – ein neues Esoterik-Magazin zum Niedrigpreis 429

Geistheilung 430

INHALT MATERIALDIENST 11/2009

INFORMATIONENBERICHTE

INFORMATIONENINFORMATIONEN

ZEITGESCHEHENIM BLICKPUNKT

INFORMATIONENSTICHWORT

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José Brunner, Shai Lavi (Hg.)Juden und Muslime in DeutschlandRecht, Religion, Identität 434

Marcus WegnerExorzismus heuteDer Teufel spricht deutsch 435

Sabine Doering-ManteuffelDas OkkulteEine Erfolgsgeschichte im Schatten der AufklärungVon Gutenberg bis zum World Wide Web 437

INFORMATIONENBÜCHER

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Über das Phänomen des neuen Atheismus ist an dieser Stelle ausführlich berichtet wor-den (MD 1/2008, 3f, 1/2009, 3-16). Dabei stellte sich auch die Frage, inwiefern der„neue“ Atheismus von Richard Dawkins („Der Gotteswahn“), Christopher Hitchens(„Der Herr ist kein Hirte“) und anderen an die atheistische Christentumskritik der Neu-zeit anknüpft. Der Münchner Systematiker Gunther Wenz skizziert die klassischen Ver-treter radikaler Religionskritik und bringt ihre Absichten und Interessen in Erinnerung.Für die Auseinandersetzung mit atheistischen Gegenwartsströmungen ist diese Erinne-rung nicht nur naheliegend, sondern unerlässlich, um die Überzeugungskraft atheis-tischer Argumentationen zu prüfen.

Gunther Wenz, München

Feuerbach, Marx, Nietzsche und FreudVier Beispiele radikaler Religionskritik in der Moderne1

IM BLICKPUNKT

Traditionelle und neuzeitspezifische Religionskritik

Das Geheimnis der Theologie ist die An-thropologie; aus Kandidaten des Himmelssollen daher Studenten der Erde werden:2Was Ludwig Feuerbach (1804-1872) amEnde des deutschen Revolutionsjahrs1848 in Heidelberg über „Das Wesen derReligion“ vortrug, wurde von vielen alsBefreiung und purgatorische Läuterungempfunden. „(K)larer, strenger, aber auchglühender und sinnlicher“ empfinde erseither alles, schrieb der Schweizer Dich-ter Gottfried Keller (1819-1890) an einenFreund.3 Ohne das Zwielicht überweltli-chen Scheins erstrahle die immanenteWelt unendlich viel schöner, und ein be-fristetes Leben, das von jeder Jenseitshoff-nung über die Todesgrenze hinaus Ab-schied genommen habe, werde ungleichintensiver und inniger erlebt als ein sol-ches, das auf Transzendenz schiele, stattden vergänglichen Tag auszukosten unddem reinen Augenblick zu frönen, dessenraumzeitliche Flüchtigkeit mehr verheiße

als alle Ewigkeiten zusammen. „Trinkt, oAugen, was die Wimper hält, / von demgoldnen Überfluß der Welt!“4

In seinem Roman „Der grüne Heinrich“hat Keller den Eindruck, den Feuerbachauf ihn machte, literarisch reflektiert.5 DerPhilosoph tritt mit Vollbart und grünemJagdkleid in der edlen Gestalt eines Gra-fen auf – hohe Stirn, freier Blick, natur-wüchsig und wild entschlossen, kurzum:das genaue Gegenteil stubenverhocktenZopfgelehrtentums. Genauso war der Hei-delberger Feuerbach dem Dichter erschie-nen, als ein – um mit dem Grünen Hein-rich zu reden – uriger Vogel, der „mit sei-nem monotonen, tiefen und klassischenGesang den Gott aus der Menschenbrustwegsingt“.6 Heinrich, sein literarischerSchöpfer und mit ihm viele Zeitgenossenund Spätgeborene wurden dadurch an derReligion irre. Feuerbach gilt bis heute alsder Religionskritiker schlechthin. Warum?Weil er die Religion nicht nur äußerlich,sondern von innen heraus kritisierte undsie durch Verständnis ihres Wesens zumVerschwinden bringen wollte.

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Lange bevor von Religionskritik explizitdie Rede war, lassen sich vielfältige For-men derselben identifizieren, und zwarauch und gerade im Kontext der Religion,zu der die Möglichkeit partiellen oderprinzipiellen Dissenses elementar hinzu-gehört. Je dezidierter die eigene religiösePosition bestimmt ist, desto deutlicher fal-len in der Regel die Abgrenzungen gegenHäretiker und Schismatiker aller Art aus.Insofern ist Religionskritik seit alters einreligionsinternes Phänomen. Sie wirdprimär im Interesse affirmativer Begrün-dung und Bestätigung wahrer Religiongeübt und vollzieht sich auf der ideellenBasis von Unterscheidungen wie etwaderjenigen zwischen Faktizität und Nor-mativität. Die mittelalterliche Religions-kritik gehört weithin in diesen Zusam-menhang, und auch für die antiken An-sätze, an die im Renaissance-Humanis-mus angeknüpft werden konnte, trifft zu,dass sie philosophische Kritik der Religionzumeist im Sinne von deren Reinigung z. B. von widervernünftigen Mythologe-men oder unstatthaften Anthropomorphis-men übten. Dieser Rahmen wird grund-sätzlich auch von der Religionskritik derStoa nicht gesprengt, wenn diese zwi-schen kontingent erworbenen religiösenVorstellungen einerseits und einem ver-nunftfundierten Wesen humaner Religio-sität andererseits differenziert.Im Unterschied zur religionsinternen bzw.auf das reine Wesen der Religion gerichte-ten Religionskritik von Antike und Mittel-alter stellt die neuzeitliche Religionskritikein Genus eigener Art dar, insofern sie inihren radikalen Gestalten konsequent dar-auf abzielt, Religion durch Aufweis ihrerGenese zu destruieren und restlos zumVerschwinden zu bringen. In ihrer radikal-genetischen Form ist Religionskritik einneuzeitspezifisches Phänomen und eineErscheinung, die erst in der Moderne of-fen zutage tritt.

Feuerbachs Projektionsthese

Die entscheidende Pointe der Feuerbach-schen Religionskritik besteht in der An-nahme, Religion beruhe auf einer Projek-tion, durch die sich das menschliche Be-wusstsein die Unendlichkeit seines eige-nen Wesens gegenständlich zur Anschau-ung bringe. Nicht Gott habe den Men-schen, sondern der Mensch habe Gottnach seinem eigenen Bilde erschaffen. Inder Schrift über „Das Wesen des Christen-tums“ von 1841 wird dies im Einzelnenentfaltet, wobei seit der zweiten Auflagevon 1843 u. a. Luther als Gewährsmannder Projektionsthese angeführt wird: Habeer doch ausdrücklich den Glauben zumSchöpfer der Gottheit erklärt. Obschonsich auch eine Reihe sonstiger religions-kritischer Argumente findet, wie etwa dasAnthropomorphismus-Argument bzw. dieüberkommene – im 19. Jahrhundert na-mentlich durch das sog. DreistadiengesetzAuguste Comtes revitalisierte – Annahme,die Religion sei dem Kindheitsstadium der Menschheitsgeschichte zuzurechnen,bleibt die Grundannahme FeuerbachscherReligionskritik stets die gleiche: In der Re-ligion wird dem menschlichen Bewusst-sein die eigene Unendlichkeit vorstellig,wobei als Subjekt unendlichen Bewusst-seins nicht der Einzelmensch, sondern dieMenschheitsgattung zu gelten hat. DerMensch, der sich nach Feuerbach im reli-giösen Verhältnis lediglich zu sich selbstverhält, verhält sich demnach im Bewusst-sein der Religion zu sich selbst nicht quaIndividuum, sondern qua Gattungswesen.Wo das menschliche Wesen der Gattungals Wahrheit der Religion erkannt wird,löst sich deren falscher Schein, das irdi-sche Menschenwesen als transzendenteGottheit zu betrachten, von selbst auf. Erfüllt sich der Sinn der Religion danachrecht eigentlich in ihrem Vergehen, so teiltsie darin die Bestimmung des Individu-

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ums, mit dessen egoistischem Unsterb-lichkeitsstreben Feuerbach den Ursprungder Religion unmittelbar in Verbindungbringt. Nicht wenn es sich religiös zu ver-himmeln und zu verewigen sucht, gelangtdas menschliche Individuum zur Vollen-dung. Es vollendet sich im Gegenteil nur,wenn es in seine Sterblichkeit einstimmtund seine Besonderheit verständig undwillig hingibt an die Allgemeinheit derMenschengattung, deren Begriff Feuer-bach gelegentlich durch den der Natur er-setzen kann. Religionskritik und Indivi-dualitätskritik gehören für ihn deshalb un-trennbar zusammen, ja eine naturphiloso-phisch fundierte Individualitätskritik er-weist sich bei genauerem Zusehen als daseigentliche Movens Feuerbach’scher Reli-gionskritik. Die tendenzielle Absage andas Einzelsubjekt und die Besonderheitdes Individuellen zugunsten der mensch-lichen Gattungsallgemeinheit kündigt sichbereits in Feuerbachs Frühschrift „De ra-tione, una, universali, infinita“7 an und istin den 1830 anonym publizierten „Ge-danken über Tod und Unsterblichkeit“8 of-fenkundig, die mit der gereimten Bitte andas Gelehrtenpublikum eingeleitet wird,„den Tod in die Akademie der Wissen-schaften zu rezipieren“: „Er ist“, so heißtes zur Begründung, „der beste Arzt auf Er-den, / Dem nie noch fehlschlug eine Kur; /Und mögt ihr noch so krank auch wer-den: / Es heilt vom Grund aus die Natur.“9

In Achtung vor diesem natürlichen All-heilmittel gelte es Abstand zu nehmenvon dem Wunsche nach individueller Un-sterblichkeit; damit erübrige sich die Reli-gion, als deren Wahrheit sich die mensch-liche Gattungsnatur zu erkennen gebe.

Religionskritik und Revolutionsprogrammbei Marx

Ist Religion das bewusstlose Selbstbe-wusstsein des Menschen zu nennen, in

welchem diesem sein eigenes Wesen le-diglich auf tendenziell befremdlicheWeise gegenständlich wird, insofern ernicht weiß, dass es das seinige ist, so wirdder Verblendungszusammenhang, dessenmangelnde Aufgeklärtheit die Bedingungder Möglichkeit der Existenz des Religiö-sen darstellt, augenblicklich dann erhellt,wenn das Wissen des Menschen von Gottals das Wissen des Menschen von sichselbst durchschaut wird. Mit dieser Ein-sicht beansprucht Feuerbach zugleich, diespekulative Vernunft Hegel’scher Prove-nienz auf den Boden der Tatsachen herab-geholt zu haben.Daran konnte die Religionskritik von KarlMarx (1818-1883) anschließen. Im erstenSatz der Einleitung seiner Schrift „Zur Kri-tik der Hegelschen Religionsphilosophie“von 1844 heißt es in diesem Sinne: „FürDeutschland ist die Kritik der Religion imWesentlichen beendigt, und die Kritik derReligion ist die Voraussetzung aller Kri-tik.“ Allerdings geht Marx darin über Feu-erbach hinaus, dass er dessen Bestim-mung menschlichen Wesens im Sinnenatürlicher Gattungsallgemeinheit anthro-pologisch in einen geschichtlich-soziokul-turellen Praxiszusammenhang aufhebt. Essei nicht genug – so Marx in seinen 1845geschriebenen, von Engels 1888 mit eini-gen redaktionellen Veränderungen erst-mals publizierten „Thesen über Feuer-bach“ –, das Faktum der religiösen Selbst-entfremdung und der Verdoppelung derWelt in eine vorgestellte und eine wirk-liche Welt dadurch beheben zu wollen,dass man das religiöse in das menschlicheWesen auflöst. „Die Tatsache nämlich,daß die weltliche Grundlage sich von sichselbst abhebt und sich, ein selbständigesReich, in den Wolken fixiert, ist eben nuraus der Selbstzerrissenheit und dem Sich-selbst-Widersprechen dieser weltlichenGrundlage zu erklären. Diese selbst mussalso erstens in ihrem Widerspruch ver-

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standen und sodann durch Beseitigungdes Widerspruchs praktisch revolutioniertwerden“ (These 4). Religionskritik als dieVoraussetzung aller Kritik muss dem-gemäß notwendig in revolutionäre Praxisumschlagen. Um mit der letzten Theseüber Feuerbach zu reden: „Die Philoso-phen haben die Welt nur verschieden in-terpretiert; es kommt aber darauf an, siezu verändern“ (These 11).10

Religionskritik und Revolutionsprogrammbilden bei Marx mithin nicht nur einenunauflöslichen Zusammenhang; es be-steht vielmehr ein eindeutiges Gefälle hinzum revolutionären Imperativ. In Abkehrvon der regressiven Bindung Feuerbachsan die Naturphilosophie und von der dar-aus resultierenden Reduktion des ge-schichtlich-gesellschaftlichen Wesens desMenschen auf eine immergleiche Gat-tungsallgemeinheit identifiziert Marx dasmenschliche Wesen in seiner Wirklichkeitals „das Ensemble der gesellschaftlichenVerhältnisse“ (These 6), um infolgedessendie menschliche Religion als gesellschaft-liches Produkt zu erfassen, nämlich alspraktische Konsequenz einer bestimmtenGesellschaftsform, von deren revolutionä-rer Umgestaltung er nicht nur das Endeder Religion, sondern zugleich die Behe-bung jener tatsächlichen Mängel erwartet,als deren indirekter Ausdruck die Religionnach seinem Urteil zu gelten hat. Worum es in Marx’ Religionskritik im Ent-scheidenden geht, ist demnach die Beant-wortung der Frage, wie die Unvernunftpolitisch-gesellschaftlich verfasst ist, umdas Entfremdungsprodukt der Religionhervorbringen zu können. Indem er mit-tels reduktionistischer Methodik nicht le-diglich die Beschaffenheit der Religion zuerklären, sondern deren Grund in der Be-schaffenheit faktischer Zustände zu erhe-ben versucht, formt er die von Feuerbachübernommene radikale Religionskritik zueiner radikalkritischen Gesellschaftstheo-

rie um. Religion ist – kurz gesagt – einEpiphänomen entfremdeter soziopoliti-scher Verhältnisse. Dabei geht die Ent-wicklungstendenz dahin, den Gedankenpraxismotivierenden Protests gegen dastatsächliche Elend, den Marx anfangsebenfalls mit der Religion verbindenkonnte, dergestalt zurückzunehmen, dassdie Religion zu einer ohnmächtigen Aus-drucksgestalt realexistierenden Elends, zueinem bloßen „Opium des Volkes“ erklärtwird, in welcher Funktion sie interessen-bestimmtem Missbrauch wehrlos ausge-setzt sei. In diesem Zusammenhang kann Marx dieReligion dann auch mit dem Begriff derIdeologie in Verbindung bringen, der vonAntoine Louis Claude Destutt de Tracy(1754-1836) eingeführt wurde, um dieBehauptung religiöser Gehalte mit demökonomischen Vorteilsstreben bestimmterGesellschaftsgruppen zu erklären. Geradein dieser Hinsicht zeigt sich in besondererWeise, was für den bestimmenden Begriffvon Marx’ Religionskritik generell gilt: Sieist Moment seines Programms der Revolu-tion, als deren bewegendes Subjekt dasProletariat fungiert. Dabei bleibt Marx beialler gegebenen Transformation der Religi-onskritik Feuerbachs insofern verbunden,als er die Überwindung des individuellenPrivategoismus, in welchem jener dasspezifische Movens zur Ausbildung derReligion entdeckt hatte, zum Ziel seinesgesellschaftspolitischen Revolutionspro-gramms erklärte. Das strukturelle Grund-problem dieses Programms bleibt freilichungelöst; es besteht darin, wie es zu einerÜberwindung jenes Egoismus kommensoll, als dessen verheerendste GestaltMarx die bürgerliche Kapitalwirtschaftgilt, wenn das Allgemeine ohne die be-sondere Rolle des Proletariats nicht her-beizuführen ist, dessen Freiheitsrealisie-rung ihrerseits nicht verständlich zu ma-chen ist ohne jene – aus der pervertierten

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gesellschaftlichen Situation nicht ableit-bare – Voraussetzungen, von denen wiedas Bewusstsein der Freiheit, so auch de-ren Verwirklichung lebt.

Nietzsches „Wille zur Macht“ und Freuds Theorie der kollektivenZwangsneurose

Neben Feuerbach und Marx kommt in derGeschichte moderner Religionskritik nurnoch Friedrich Nietzsche (1844-1900)eine Spitzenstellung zu. Durch ihn wurdeder Tod Gottes sprichwörtlich, und Feuer-bachs Anthropologisierung der Theologievollendete sich in einer programmatischerklärten Vergöttlichung des Menschen. Esist das Prinzip radikaler Selbstbestimmungdes souveränen, absolut seiner selbstmächtigen Menschenwesens, das dieaphoristisch formulierte und mit Moralkri-tik aufs Engste verbundene ReligionskritikNietzsches bestimmt. Im Hintergrundsteht eine antiplatonische Metaphysik desWillens zur Macht, die die Basis für denAtheismus radikalautonomer menschli-cher Freiheit abgibt. Religion ist für Nietz-sche Selbstkorrumpierung, Selbstentzwei-ung, Selbstentfremdung des Menschen,insofern dieser in der Religion alles Ver-mögen Gott und die verbleibendeSchwäche sich selbst zurechnet, womit erseine Lebensmacht, statt sie zu steigern,auf ein verschwindendes Minimum redu-ziert. Das Unwesen, das die Religiontreibt, ist somit nihilistische Lebensvernei-nung, die durch den sich selbst wollendenund seiner selbst mächtigen Willen mittelsUmwertung aller religiösen Werte ein-schließlich des Gottesgedankens zu über-winden ist. Nietzsches Religionskritik erfüllt sich ent-sprechend in der menschlichen Selbstzu-schreibung der Allmachtsattribute des to-ten bzw. zu tötenden Gottes. Der imÜbermenschen sich realisierende Wille

zur Macht beansprucht nicht weniger alsgöttliche Aseität. Im Unterschied zu Feu-erbach und Marx wird der religionskriti-sche Gedanke unmittelbarer Selbstbestim-mung des Menschen nicht mehr auf indi-rekte Weise – sei es im Vermittlungszu-sammenhang von Individuum und Gat-tung oder Individuum und Gesellschaft –zur Geltung gebracht, sondern direkt undals solcher. Will der Mensch er selbst undals er selbst frei sein, ist für einen Gottaußer ihm kein Platz; denn die der Got-tesbeziehung implizite Abhängigkeit istmit dem freien Selbstsein des Menschenunvereinbar. In ihrer Radikalität, deren Breitenwirkungnicht unterschätzt werden darf, bliebNietzsches Religionskritik unübertroffen.Selbst Sigmund Freuds (1856-1939) Theo-rie der Religion als illusionärer Wunscher-füllung bzw. kollektiver Zwangsneurose,die religiöse Vorstellungen und Vollzügeals sekundäre Einkleidungen von primärunbewusst ablaufenden Prozessen deu-tete, um sie auf die Faktizität infantiler Ab-hängigkeitssituationen zu reduzieren, er-reichte nicht die Grundsätzlichkeit Nietz-sches. Als Beitrag zur Religionspsycholo-gie mit religionskritischem Gesamtergeb-nis hat sie gleichwohl großes Aufsehen er-regt und ein hohes Maß an öffentlichemEinfluss erlangt.Zentraler Gegenstand traditioneller religi-onspsychologischer Betrachtungen wardie Einzelperson in ihren Bewusstseins-vollzügen. Bevorzugt analysiert wurdedas individuelle religiöse Bewusstsein inseinen kognitiven, voluntativen und emo-tiven Bestimmtheiten, wie sie durch dasje-nige bewirkt sein sollten, was jeweils alsReligion qualifiziert wurde. Das Grund-problem einer bewusstseinspsychologischansetzenden Religionspsychologie be-stand in der präzisen Erfassung des Zu-sammenhangs von psychischer Strukturund religiösem Gehalt. Entweder wurde

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die religiöse Verfasstheit des Individuumsals konstante Größe und die religiösen In-halte als vergleichsweise variabel in An-schlag gebracht, womit sie der religiösenIndividualität tendenziell äußerlich blie-ben; oder die religiösen Inhalte wurdenals substantiell vorausgesetzt, während-dessen die psychischen Konstellationendes religiösen Individuums als eher akzi-dentell und ephemer gelten sollten. Un-gelöst blieb in beiden Fällen die struktu-relle Grundfrage jeder Religionspsycholo-gie, wie nämlich der objektive Gehalt vonReligion und die psychische Verfassungdes Einzelsubjekts im individuellen reli-giösen Bewusstsein vermittelbar sind. Freuds Religionskritik ist weit wenigergrundsätzlich gefasst als diejenige Nietz-sches. Diese bleibt an Radikalität unüber-troffen, weil sie auf einem Atheismus ausPrinzip basiert. Tod Gottes und Vergött-lichung des Menschen bedingen sichwechselseitig, sofern der menschlicheWille zur Macht die Negation göttlicherAllmacht zur impliziten Voraussetzungund expliziten Folge hat. Ich bin, der ichbin: Jenseits von Gut und Böse und unterAbsehung von Wahrheit und Wert, diedem Nihilismus preiszugeben sind, plä-diert Nietzsche für die Selbstvergöttli-chung des Herrenmenschen, der nachdem Tode Gottes entschlossen seines al-lein dem eigenen Geschick verpflichtetenmessianischen Amtes waltet. Mit denSchriften „Der Antichrist – Fluch auf dasChristentum“ (1888) und „Ecce homo –Wie man wird, was man ist“ (1889) endetNietzsches publizistisches Werk. Als Kom-pilation erscheint aus dem Nachlass 1901„Der Wille zur Macht“. „Diese Welt ist der Wille zur Macht – undnichts außerdem! Und auch ihr selberseid dieser Wille zur Macht – und nichtsaußerdem!“11 Was ist, gründet ursprüng-lich in vitalem Seinstrieb, in dem derWille sein genuines Wesen hat. Alles ist

Wille, dessen dranghaftes Wollen alleinauf Durchsetzung, Erhalt und Steigerungeigenen Seins und Vermögens ausgerich-tet ist. Der Trieb zur Macht als Inbegriffdes Eigenvermögens nimmt im Menschendie Form eines Urwillens unmittelbarerSelbstbestimmung an, dem alle kogni-tiven, emotiven und voluntativen Vollzügezu dienen haben mit dem Ziel, das her-kömmliche Sein des Humanen auf einübermenschliches Herrentum hin zutranszendieren. In der herrischen Trans-zendenzgestalt des Übermenschen voll-endet sich der Wille zur Macht, der aufnichts außer sich selbst basiert. In der Ver-göttlichung des Menschen nimmt der denGottesgedanken willentlich nihilierendeAtheismus manifest anthropotheistischeGestalt an, womit Feuerbach in die Konse-quenz getrieben, zugleich aber die Ein-sicht bestätigt wird, dass Religion nichtoder nur durch Religion ersetzt werdenkann.

Jean Pauls „Rede des toten Christus vomWeltgebäude herab, daß kein Gott sei“

Statt die in gedrängter Kürze vorgestelltenBeispiele radikaler Religionskritik in derModerne zu kommentieren sowie auf ihregeschichtlichen und soziokulturellen Kon-sequenzen hin zu untersuchen, die aufsGanze gesehen offenkundig verheerendwaren, bringe ich nur die grauenhafteSchreckensszene in Erinnerung, die derDichter Jean Paul (1763-1825) im„Erste(n) Blumenstück“ seines Romans„Siebenkäs“ wie folgt beschrieben hat.„Jetzo sank eine hohe edle Gestalt mit ei-nem unvergänglichen Schmerz aus derHöhe auf den Altar hernieder, und alle To-ten riefen: ‚Christus! ist kein Gott?’ Er ant-wortete: ‚Es ist keiner.’ Der ganze Schattenjedes Toten erbebte, nicht bloß die Brustallein, und einer um den andern wurdedurch das Zittern zertrennt. Christus fuhr

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fort: ‚Ich ging durch die Welten, ich stiegin die Sonnen und flog mit den Milch-straßen durch die Wüsten des Himmels;aber es ist kein Gott. Ich stieg herab, so-weit das Sein seine Schatten wirft, undschauete in den Abgrund und rief: ‚Vater,wo bist du?’ aber ich hörte nur den ewi-gen Sturm, den niemand regiert, und derschimmernde Regenbogen aus Wesenstand ohne eine Sonne, die ihn schuf,über dem Abgrunde und tropfte hinunter.Und als ich aufblickte zur unermeßlichenWelt nach dem göttlichen Auge, starrte siemich mit einer leeren bodenlosen Augen-höhle an; und die Ewigkeit lag auf demChaos und zernagte es und wiederkäuetesich. – Schreiet fort, Mißtöne, zerschreietdie Schatten; denn Er ist nicht!’ Die ent-färbten Schatten zerflatterten, wie weißerDunst, den der Frost gestaltet, im warmenHauche zerrinnt; und alles wurde leer. Dakamen, schrecklich für das Herz, die ge-storbenen Kinder, die im Gottesacker er-wacht waren, in den Tempel und warfensich vor die hohe Gestalt am Altare undsagten: ‚Jesus! haben wir keinen Vater?’ –

Und er antwortete mit strömenden Trä-nen: ‚Wir sind alle Waisen, ich und ihr,wir sind ohne Vater.’“12

„O Vater! o Vater! wo ist deine unendlicheBrust, daß ich an ihr ruhe? – Ach, wennjedes Ich sein eigner Vater und Schöpferist, warum kann es nicht auch sein eignerWürgengel sein?“13 Was Atheismus be-deutet, kommt in diesen Fragen treffenderund abgründiger zum Ausdruck als in denradikalsten Aussagen radikaler Religions-kritik. Jean Paul hat die „Rede des totenChristus vom Weltgebäude herab, daßkein Gott sei“ anfangs mit einer kurzenAnmerkung versehen. Sie lautet: „Wenneinmal mein Herz so unglücklich undausgestorben wäre, daß in ihm alle Ge-fühle, die das Dasein Gottes bejahen, zer-stört wären: so würd’ ich mich mit diesemmeinem Aufsatz erschüttern und – erwürde mich heilen und mir meine Ge-fühle wiedergeben.“ Möge diese Wirkungauch bei uns eintreten. Es ist dringend ander Zeit, aus atheistischen Albträumen zuerwachen – in Berlin, in Europa und aufder ganzen Welt.

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Anmerkungen

1 Hierbei handelt es sich um die gekürzte Fassung ei-nes Vortrags, der im Rahmen des Curriculums Reli-gions- und Weltanschauungsfragen der EZW am15.9.2009 in Berlin gehalten wurde.

2 Vgl. Ludwig Feuerbach, Sämtliche Werke, hg. vonWilhelm Bolin / Friedrich Jodl, Bd. VI: Das Wesendes Christentums, Stuttgart 1960, 325.

3 Brief an Wilhelm Baumgartner vom Winter 1849,in: Gottfried Keller, Gesammelte Briefe. In vier Bän-den hg. von Carl Helbling, Bd. I, Bern 1950, 275.

4 „Abendlied“ (1879), in: Gottfried Keller, SämtlicheWerke in sieben Bänden, Bd. I: Gedichte, hg. vonKai Kauffmann, Frankfurt a. M. 1995, 407.

5 Vgl. Gunther Wenz, Der Himmel auf Erden. Gott-fried Keller als literarischer Adept FeuerbachscherReligionskritik, in: Jan Rohls / Gunther Wenz (Hg.),Protestantismus und deutsche Literatur, Göttingen2004, 197-214.

6 Gottfried Keller, Sämtliche Werke in sieben Bän-den, Bd. II: Der grüne Heinrich. Erste Fassung, hg.von Thomas Böning / Gerhard Kaiser, Frankfurta. M. 1985, 850.

7 Ludwig Feuerbach, Sämtliche Werke, a.a.O.,Bd. XI: Jugendschriften, Stuttgart 1962, 11ff.

8 Ludwig Feuerbach, Sämtliche Werke, a.a.O., Bd.XI, 69ff.

9 Ebd., 71.10 Vgl. Karl Marx, Thesen über Feuerbach, in: ders. /

Friedrich Engels, Die deutsche Ideologie, Berlin1953, 583-585.

11 Friedrich Nietzsche, Kritische GesamtausgabeWerke (KGW), hg. von Giorgio Colli / MazzinoMontinari, Berlin / New York 1967ff, Bd. VII/3, 339.

12 Jean Paul, Sämtliche Werke, Abt. I., Bd. II: Sie-benkäs. Flegeljahre, München 31971, 273.

13 Ebd., 274.

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Im Kontext der Spätmoderne hat sich eineregelrechte „Todesforschung“ etabliert.Das aus dem Griechischen stammendeFachwort dafür lautet „Thanatologie“ undwird – seit 1978 ein Lexikonbegriff – defi-niert als „interdisziplinäres Forschungsge-biet, das sich mit Fragen des Sterbens unddes Todes befasst“, unter anderem mit„Sterbeerlebnissen“ und dem Glauben„an ein Leben nach dem Tod“. SolcheThanatologie erstreckt sich auf medizini-sche, psychologische, soziologische, reli-gionswissenschaftliche und theologischeDisziplinen. Ihre Befassung mit Sterben-den, vor allem mit deren häufig nachweis-baren Grenzerfahrungen, hat Furore ge-macht, seit Medizinerinnen und Medizi-ner systematisch authentischen Berichtenvon Menschen nachgingen, die aus demklinischen Tod oder aus unmittelbarerTodesnähe heraus „reanimiert“, also wie-derbelebt werden konnten. Da solcheReanimationen dank des medizinischenFortschritts immer häufiger gelingen,konnten in den letzten Jahrzehnten inter-national viele Tausende solcher Erfah-rungsberichte verglichen und ausgewertetwerden. Erkenntnisse an diesem Punkt zugewinnen, an dem jede innerweltlicheHoffnung enden muss, ließen sich zuneh-mend als eine Frucht derselben Wissen-schaft betrachten, die bislang eher denGlauben an die reine Diesseitigkeit allerDinge gefördert hatte. Der 1991 verstorbene Altmeister der Pa-rapsychologie in Deutschland, Hans Ben-

der, sprach im Blick auf die begeisterteRezeption der Sterbeforschung in vielenLändern von einer regelrechten „thanato-logischen Welle“. Zu Recht nahm er dabeidie Bezüge zur neureligiösen und zur ok-kulten Welle wahr, mit denen sie einher-ging und deren gemeinsames Kennzei-chen in einem wachsenden Streben nachBewusstseinserweiterung bestand. Vondaher erklärte er die Attraktivität der Tha-natologie: Hinter diesem Bedürfnis nachBewußtseinserweiterung stehe offenbardie Frage nach dem Sinn der individuellenExistenz, die notwendig das Menschheits-problem ihrer physischen Begrenzungdurch den Tod einschließe; es handle sichum Probleme, auf die die Religionen eineAntwort böten und die nun auch im Hin-blick auf das wissenschaftliche Erkennengestellt würden. Das grundsätzliche Dilemma der Thanato-logie war damit beim Namen genannt,und es steckt ja auch schon in ihrem Na-men selbst: Als „Wissenschaft vom Tode“geht es ihr um das, was sich wissenschaft-lich über den Tod ausmachen und aussa-gen lässt. Der Tod hat aber verschiedeneAspekte, nämlich immanente, empirischzugängliche, und transzendente, geheim-nisvolle, die in den Bereich von Religionoder Metaphysik gehören. Thanatologieenthält insofern schon in ihrem Namendie Verlockung, empirische Wissen-schafts- und geistige Weltanschauungs-bereiche zu vermengen. Die zahlreich be-kannt gewordenen Grenzerfahrungen in

Werner Thiede, Regensburg

Einblicke ins Jenseits?Literatur-Rückblick zur Todesnähe-Forschung

BERICHTE

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Todesnähe legen in der Tat vom Gehalt ih-rer Aussagen her entsprechende Grenz-überschreitungen nahe. Man fragt sich, obdie zahlreichen subjektiven Behauptun-gen, jenseitige Erfahrungen gemacht zuhaben, zur Grundlage einer empirischenWissenschaft vom Tode in all seinenAspekten, eben auch den transzendent-jenseitigen, gemacht werden können.Wenn in dieser Richtung überlegt werdendarf, so liegt die mögliche Relevanz derThanatologie für die Beantwortung umfas-sender, letztlich religiöser Sinn- und Hoff-nungsfragen auf der Hand.

• Die eigentliche „thanatologische Wel-le“ hob gegen Ende der sechziger Jahre inden USA an, um sich von dort aus auf alleKontinente zu erstrecken. Sterbeforschungwar aufs Engste mit dem Namen der in-zwischen verstorbenen Nahtodesforsche-rin Elisabeth Kübler-Ross verbunden. Ihrerstes Buch „Interviews mit Sterbenden“(1968) machte sie als Leitfigur der moder-nen Sterbeforschung weltbekannt. Mitzahlreichen Ehrendoktoraten zollte manihr schließlich von akademischer Seite herinternational Hochachtung. Als sie imHerbst 1990 im ehemaligen Ost-Berlin ei-nen Vortrag mit dem bezeichnenden Titel„Leben – Sterben – Übergang“ hielt, wardie dortige Marienkirche mit 1300 Men-schen überfüllt. Auf die Frage eines Zuhö-rers, ob sie an ein Leben nach dem Todglaube, antwortete sie unter starkem Bei-fall: „Ich weiß, dass es ein Leben nachdem Tode gibt!“

• Während der ersten Jahre der thanato-logischen Bewegung hatte der MedinzinerRaymond Moody Material gesammelt und50 Personen bezüglich ihrer Todesnähe-Erfahrungen interviewt. Den Anstoß dazuhatte seine Beobachtung gegeben, dassdie Erfahrungsberichte über todesnaheBewusstseinszustände ganz verschiedener

und einander unbekannter Menschenfrappante Ähnlichkeiten aufwiesen. Vondaher kam er zu dem Plan, in einem Buchdie gemeinsamen Elemente einschlägigerErfahrungsberichte herauszustellen. Erfand etwa ein Dutzend solcher Elementeund verband sie in origeneller, freilichnicht unbedenklicher Weise zu einer ide-altypischen Todesnähe-Erfahrung, die inder Literatur und in den Massenmedienoft abgedruckt wurde. Stellvertretend fürviele Einzelberichte sei sie hier leichtgekürzt zitiert: „Ein Mensch liegt im Ster-ben. Während seine körperliche Be-drängnis sich ihrem Höhepunkt nähert,hört er, wie der Arzt ihn für tot erklärt. Miteinemmal nimmt er ein unangenehmesGeräusch wahr, ein durchdringendes Läu-ten oder Brummen, und zugleich hat erdas Gefühl, daß er sich sehr rasch durcheinen langen, dunklen Tunnel bewegt.Danach befindet er sich plötzlich außer-halb seines Körpers, jedoch in derselbenUmgebung wie zuvor ... Wie er entdeckt,besitzt er immer noch einen ‚Körper’, dersich jedoch sowohl seiner Beschaffenheitals auch seinen Fähigkeiten nach wesent-lich von dem physischen Körper, den erzurückgelassen hat, unterscheidet. Baldkommt es zu neuen Ereignissen. AndereWesen nähern sich dem Sterbenden, umihn zu begrüßen und ihm zu helfen. Er er-blickt die Geistwesen bereits verstorbenerVerwandter und Freunde, und ein Liebeund Wärme ausstrahlendes Wesen, wie eres noch nie gesehen hat, ein Lichtwesen,erscheint vor ihm. Dieses Wesen richtet –ohne Worte zu gebrauchen – eine Fragean ihn, die ihn dazu bewegen soll, seinLeben als Ganzes zu bewerten. Es hilftihm dabei, indem es das Panorama derwichtigsten Stationen seines Lebens in ei-ner blitzschnellen Rückschau an ihmvorüberziehen läßt. Einmal scheint esdem Sterbenden, als ob er sich einer ArtSchranke oder Grenze näherte, die offen-

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bar die Scheidelinie zwischen dem irdi-schen und dem folgenden Leben darstellt.Doch ihm wird klar, daß er zur Erdezurückkehren muß ... Trotz seines innerenWiderstandes – und ohne zu wissen, wie– vereinigt er sich dennoch wieder mitseinem physischen Körper und lebt wei-ter.“Zu jedem der hier miteinander verbunde-nen Visions- und Auditions-Elemente lie-ferte Moodys Buch Einzelbeispiele ausden Interviews. Schnell wurde das Werkgleichsam selbst zum „Totenbuch“ füreine säkulare Welt. Es entwickelte sichnicht nur in den USA zum Bestseller, woes mehr als drei Millionen Mal verkauftwurde, sondern wurde auch in 26 Spra-chen übersetzt. Als Moodys „Leben nachdem Tod“ im Sommer 1977 auf den bun-desdeutschen Markt kam, wurde das Buchhierzulande ebenso zum Best- und Long-seller. Bereits während der ersten achtWochen wurden 80 000 Exemplare ver-kauft, nach zwei Jahren waren es 250 000.Von diesem Sensationserfolg überrascht,schrieb Moody 1977 einen Folgeband mitdem Titel „Reflections on Life after Life“(deutsch 1978: „Nachgedanken über dasLeben nach dem Tod“). Über ein Jahr-zehnt später erarbeitete er noch einendritten Band zum Thema unter dem Titel„Das Licht von drüben“ (1989). Obwohler hier die mittlerweile enorm verbreiterteThanatologie in ihren wichtigsten Resulta-ten andiskutierte, blieb er bei seinergrundsätzlichen Überzeugung: „Todes-nähe-Erlebnisse faszinieren uns, weil sieden greifbarsten Beweis für eine spiri-tuelle Existenz erbringen, den es über-haupt gibt. Sie sind buchstäblich das Lichtam Ende des Tunnels.“ Doch der Hoff-nung auf schlüssige wissenschaftliche Be-weise für ein Leben nach dem Tod erteilteer am Ende eine klare Absage. Für ihnblieb es nach allen Analysen ein Urteildes Herzens, dass Rückkehrer aus Todes-

nähe „mit einer ganz anderen Wirklich-keit in Berührung gekommen sind“. In-zwischen hat Moody seine akademischenÄmter aufgegeben. Sein Buch „Blick hin-ter den Spiegel“ (1994) zeugte von seinemAbstieg in mehr oder weniger spiritis-tische Gefilde.

• Seit Beginn der achtziger Jahre gibt esdie „International Association for Near-Death Studies“ (IANDS). Erster Präsidentdieser Gesellschaft wurde Kenneth Ring,ein an der Universität von Connecticuttätiger Psychologieprofessor. Er hatte1980 mit seinem Buch „Life at Death“nach seiner eigenen Einschätzung die erste wirklich wissenschaftlich fundierteUntersuchung von Todesnähe-Erfah-rungen veröffentlicht. Sein zweites Bucherschien 1984, deutsch 1985 unter demTitel „Den Tod erfahren – das Lebengewinnen. Erkenntnisse und Erfahrungenvon Menschen, die an der Schwelle zumTod gestanden und überlebt haben“. Wieder Untertitel besagt, reflektiert Ring hierdie Frage der Interpretation von Todes-nähe-Erfahrungen, wobei er zum Teil ge-wagte Spekulationen entfaltet. Merkwür-dig undifferenziert wertet er die Grenzer-lebnisse in Todesnähe als Erfahrungsgutvon der Innenseite des Todes. Nun könneman begreifen, was „Tod“ wirklich heiße,und den Prozess des Sterbens in einer„ganzheitlichen Weise“ sehen. Rings of-fenkundig esoterische Sichtweise ist auchin einem langen Interview nachzulesen,das in dem Buch der „Erfahrungen an derSchwelle des Todes“ (1995) der Schwei-zerin Evelyn Elsaesser Valarino zu findenist.

• Der amerikanische Arzt Michael Sa-bom hat sich in „Erinnerungen an denTod“ (21986) besonders mit dem Phäno-men befasst, dass Menschen auf demOperationstisch mitunter genaue Be-

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schreibungen der Vorgänge während ihrerNarkose geben können – aus einem Blick-winkel, als ob sie über dem behandeln-den Ärzteteam schweben würden. Mittler-weile ist Sabom ein frommer Christ undbefreundet mit dem Kardiologen MauriceRawlings, dessen Buch „Behind Death’sDoor“ bereits 1978 Aufsehen erregt hatte.Rawlings’ Überzeugung ist auf Deutschnachzulesen in dem Buch „Zur Hölle undzurück“ (1996). Einer seiner Patientenhatte während Wiederbelebungsversu-chen unmittelbar von regelrechten Höl-lenvisionen gesprochen, konnte sich aberTage später nur noch an ein wunderschö-nes Transzendenz-Erlebnis in Analogie zuden bekannten Sterbeerfahrungen erin-nern. Diese Beobachtungen wurden fürRawlings zum Schlüsselerlebnis. Er vertrittdie These, dass bei etwa der Hälfte allerTodesnähe-Erfahrungen auch negative,höllenartige Visionen im Spiel seien, dieaber vom Patienten im Gegensatz zu denhäufig ebenso erlebten positiven Visionenverdrängt würden. Er kritisiert die nur„schönen“ Berichte bei Kübler-Ross undMoody methodisch und inhaltlich. Vor al-lem aber sieht er sein Material und seineThese in Einklang mit jenen Bibelstellen,die von einem doppelten Ausgang amJüngsten Tag sprechen. Im Übrigen weister darauf hin, dass dem Apostel Paulus zu-folge Satan als Engel des Lichts erscheinenkönne; doch gern berichtet er auch vonJesus-Visionen in Todesnähe.

• Der Arzt Melvin Morse hat sich vor al-lem mit den Todesnähe-Erlebnissen vonKindern befasst und vertritt in seinemBuch „Zum Licht“ (41993) die Auffassung,der spirituelle Wert solcher Erfahrungenwerde durch medizinische Erklärungs-ansätze in keiner Weise beeinträchtigt. Erglaubt also nicht, dass dieser neue, anato-mische Blickwinkel „Gottes Botschaft inirgendeiner Weise beeinflußt“. Wie aber

bestimmt sich der von Morse aufgerufene„spirituelle Wert“ von Todesnähe-Erfah-rungen näherhin? Spricht sich in ihnen al-len wirklich eine klare „Botschaft Gottes“aus? Darüber, dass dies nicht der Fall ist,kann auch David Lorimers Buch „DieEthik der Nah-Todeserfahrungen“ (1993)nicht hinwegtäuschen.

• Auf dem Gebiet der Religionswissen-schaft hat die amerikanische Religions-wissenschaftlerin Carol Zaleski das Buch„Nah-Todeserlebnisse und Jenseitsvisio-nen“ (1993) vorgelegt. Zwar sind ihreKenntnisse des historischen und aktuellenMaterials ebenso beeindruckend wie dasNiveau ihrer vergleichenden Interpre-tation. Umso mehr enttäuscht aber derUmstand, dass auch sie dem neuerenTrend der Wahrnehmung eines nur „schö-nen“ Sterbens insofern erliegt, als sie wie-derholt behauptet, die modernen Todes-nähe-Visionen würden sich im Unter-schied zu den mittelalterlichen „nur demtröstenden Aspekt des ‚guten’ Todes zu-wenden“. Das ist jedoch eine grobe Pau-schalisierung, die einer differenziertenAnalyse der heute vorliegenden Mate-rialsammlungen keineswegs gerecht wird.

• Religionswissenschaftlich argumentiertin Deutschland auch der GymnasiallehrerStefan Högl in seinem Buch „Leben nachdem Tod? Menschen berichten von ihrenNahtoderfahrungen“ (1998). Über 20 Jah-re vorher war hierzulande Moodys Bucherschienen, und noch zuvor das Buch desevangelischen Theologen Johann Chris-toph Hampe „Sterben ist doch ganz an-ders. Erfahrungen mit dem eigenen Tod“(1975). Dieses Buch erlebte zahlreicheAuflagen und wurde auch für amerikani-sche Leser übersetzt.

• Einige Jahre später publizierte WillemCornelis van Dam mit seinem evangelikal

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geprägten Buch „Tote sterben nicht“(71988) eine kleine Fachstudie, die zu derAnsicht kommt: „Zu unserer Überra-schung stimmen aber die untersuchtenErfahrungen immer wieder mit der bibli-schen Botschaft überein.“ Die biblischeBotschaft kenne freilich noch eine vielgrößere Perspektive auf eine noch rei-chere Zukunft hin, als sie sich in diesenErfahrungen ankündige. Freilich nimmtvan Dam keine wirklich gründlich zu nen-nende Untersuchung vor und ignoriertwichtige medizinische Erklärungsmög-lichkeiten der betreffenden Grenzerfah-rungen.

• Der Architekt Stefan von Jankovich hatsein eigenes Todesnähe-Erlebnis 1984 ineinem theosophischen Verlag unter demTitel „Ich war klinisch tot. Der Tod: meinschönstes Erlebnis“ publiziert, nachdemer es mit missionarischem Eifer in zahlrei-chen Zeitschriften und Illustrierten hattedarstellen lassen. Heute zählt er längst zuden führenden Popular-Esoterikern inDeutschland. In seinem 1993 erschiene-nen Buch „Reinkarnation als Realität“ be-hauptet er, während seiner Lebensrück-schau im Todesnähe-Erlebnis auch gleichmehrere frühere Leben visionär durchlau-fen zu haben. Hingegen fand man in sei-nem ersten Buch, das dieses Todesnähe-Erlebnis detailliert schildert, keine Silbedavon!

• Seit den neunziger Jahren machte inDeutschland besonders der Arzt und Psy-chiater Michael Schröter-Kunhardt vonsich reden. Er vertritt die These, dass dieSterbeerlebnisse die Grundlage dermenschlichen Religionen bilden. Religiö-ses Erleben beruhe auf einer biologischangelegten Matrix, die noch viel tiefer imUnbewussten liege, als die Zugänge derPsychoanalyse reichen. Diese innere Reli-giosität sei viel heilsamer als jede Psycho-

analyse, und Religionskritik sei daher Ver-kürzung der Wirklichkeit. Diese interes-santen Thesen ignorieren freilich den reli-gionswissenschaftlichen Umstand, dassdie Religionen der Menschheit nach Ur-sprung und Gestalt äußerst vielfältig sindund sich daher unmöglich auf eine biolo-gisch festzumachende Matrix reduzierenlassen. Der heute forcierte Dialog der Re-ligionen stünde nicht vor so vielenSchwierigkeiten, wenn es sich mit derQuelle der Religionen so einfach ver-hielte, wie dies der Psychiater Schröter-Kunhardt meint.

• Erst 1999 erschien auf dem deutschenBüchermarkt ein wirklich wissenschaft-liches Buch zur Nahtodesforschung, undzwar unter dem Titel „Todesnähe. Interdis-ziplinäre Zugänge zu einem außerge-wöhnlichen Phänomen“, herausgegebenvon den Soziologen Hubert Knoblauchund Hans-Georg Soeffner. Ein von ihnengeleitetes Forscherteam der UniversitätKonstanz hat sich aufgrund sozialwissen-schaftlicher Materialerhebungen und Re-flexionen gegen die verbreiteten Versuchegestemmt, Todesnähe-Erfahrungen uni-versalisierend zu deuten. Die gleiche Ten-denz hat das von Hubert Knoblauch pa-rallel dazu verfasste Buch „Berichte ausdem Jenseits. Mythos und Realität derNahtod-Erfahrung“ (1999). Ausdrücklichkritisiert der Soziologe die – wie er sienennt – „theologische“ Thanatologie jenerTodesnähe-Forscher, die aus dem erhobe-nen Material einen mehr oder weniger ge-nerell zutreffenden, quasi-dogmatisch fi-xierten „Mythos“ schustern zu könnenmeinen. Demgegenüber bringt er das„Prae“ soziologischer Forschung in diethanatologische Diskussion ein, indem erdie kontextuelle Bedingtheit von Nahtod-Erlebnissen herausarbeitet, um sie als „er-lebte Symbolwelten“ zu deuten. BeideBücher beziehen sich auf eine erste bun-

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desdeutsche repräsentative Erhebung, diedeutliche Unterschiede im Erleben undDeuten vor allem zwischen West- undOstdeutschen belegt. Das gilt etwa hin-sichtlich der „himmlischen Welt“, diedeutlich mehr von „Wessis“ genossenwurde, und schrecklichen Visionen, unterdenen eher die „Ossis“ zu leiden hatten,aber auch hinsichtlich von Gotteserfah-rungen, die bei „Wessis“ häufiger und ineher christlicher Weise gemacht wurden.Im Ergebnis steht fest: „Die Divergenzender inhaltlichen Ausgestaltung sowie derDeutung der Todesnähe-Erfahrung verwei-sen auf kulturelle Einflüsse, die nicht nurdie Interpretation der Erfahrung, sondernauch die Erfahrungsinhalte selbst berüh-ren.“

• Gleichzeitig erschien 1999 in Deutsch-land ein Buch aus der Feder des Mathe-matik-Professors und Physikers GünterEwald mit dem Titel: „‚Ich war tot’. EinNaturwissenschaftler untersucht Nahtod-Erfahrungen“ (vgl. MD 1/2000, 23f).Ewald übernimmt hier GrundannahmenSchröter-Kunhardts, indem er die „biologi-sche Komponente“ bei der Entstehungvon Religion überhaupt betont und diegewagte These verficht, dass dabei immerTodesnähe-Erfahrungen im Spiel gewesenseien. Hierdurch ergeben sich notgedrun-gen religionswissenschaftliche Oberfläch-lichkeiten – und namentlich im Zuge sei-ner Ausführungen zum Christentum theo-logisch problematische Ansichten. Zwarmag es statthaft sein, etwa die Vision desStephanus während seiner Steinigung un-ter die geschichtlich bezeugten Todesnä-he-Erfahrungen zu rechnen. Exegetischund religionswissenschaftlich gewaltsammutet aber das Vorgehen an, die Verklä-rung Jesu oder gar das Gesehen-Werdendes Auferstandenen als „Nahtod-Visionender Jünger“ zu deuten: Dieser willkürlicheInterpretationsversuch ist thanatologisch

gesehen schon im Ansatz verfehlt, weildie Jünger sich damals weder psycho-logisch noch körperlich in „Todesnähe“befunden haben. Analoges gilt für das Da-maskus-Erlebnis des Paulus, das Ewaldebenfalls als Beleg für seine These heran-ziehen zu können meint. Inzwischen hat Ewald ein Taschenbuchpubliziert, das den Titel trägt: „Nahtoder-fahrungen. Hinweise auf ein Leben nachdem Tod?“ (2006, vgl. MD 1/2007, 38f).Es stellt die gekürzte und aktualisierteÜberarbeitung seines Buches „An derSchwelle zum Jenseits“ (2001) dar. In derjetzigen Form ist es seine reifste Veröffent-lichung zum Thema, begleitet von seinemBuch „Gehirn, Seele und Computer“(2006). Der Mathematiker verwahrt sichgegen die Position, Todesnähe-Erfahrun-gen seien rein naturwissenschaftlich er-klärbar. Ebenso wehrt er sich gegen derenesoterische Vereinnahmung. Insbesonderemacht er deutlich, dass Verknüpfungensolch spontaner Erfahrungen mit der Per-spektive der Seelenwanderung, wie sieetwa Kenneth Ring versucht hatte, abwe-gig sind. Nicht nur, dass das Thema „Rein-karnation“ in Todesnähe-Visionen kaumvorkommt – die Visionen selbst sind es,die es gewissermaßen ausschließen, in-dem immer wieder Verwandte undFreunde geschildert werden, die die„Seele“ begrüßen und sich eben im „Jen-seits“ befinden, statt längst wieder in ei-nen neuen Leib auf der alten Erde ge-schlüpft zu sein. Ewald betrachtet die Re-inkarnationslehre als eine Anschauung,die weder durch Erfahrungen stichhaltigbegründet wird noch mit einem Men-schenbild übereinstimmt, das von der Ein-heit des im irdischen Leben gewachsenenIch ausgeht. Insgesamt dokumentiert er 30selbst gesammelte Nahtod-Erfahrungen.Einleitend kritisiert er die Theologie, diesich mit den entsprechenden Forschungenimmer noch viel zu wenig befasst habe,

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und fragt: „Haben Theologen vielleichtvoreilig die unsterbliche Seele abgeschafftund müssen sich nun von denen korrigie-ren lassen, denen sie damit besonders ent-gegenkommen wollten?“ Er tritt für dieÜberzeugung ein, dass es sich bei diesenErfahrungen zwar nicht um Beweise, wohlaber um Hinweise auf ein Leben nachdem Tod handelt; ferner, dass diese Über-zeugung sich „mit dem heutigen Standmedizinischer und physikalischer For-schung verträgt“, und schließlich, dass siein keinerlei Widerspruch zum christlichenGlauben steht. Vielleicht hätte in diesemZusammenhang noch deutlicher gesagtwerden sollen, dass der indirekte oder di-rekte Anspruch vieler solcher Visionenhinterfragt werden muss, einen unmit-telbaren, „offenbarenden“ Blick ins Jen-seits zu liefern.

• Einen Sammelband zur Nahtodesfor-schung haben hierzulande die Klinikseel-sorger Andreas Bieneck, Hans-Bernd Ha-gedorn und Walter Koll herausgegeben.Er heißt: „‚Ich habe ins Jenseits geblickt’.Nahtoderfahrungen Betroffener undWege, sie zu verstehen“ (2006). Ein wis-senschaftliches Buch im engeren Sinn desWortes ist bei den hier zusammengestell-ten Beiträgen zwar nicht herausgekom-men, aber doch ein interessanter Band,dessen Reiz gerade darin besteht, ganzunterschiedliche Deutungsperspektivendarzubieten. Die vier Hauptbeiträge reihen sich umrund 50 eigens gesammelte Erfahrungenin unmittelbarer Todesnähe. Der erstestammt von dem erwähnten ArchitektenStefan von Jankovich – und enttäuscht in-sofern am meisten, als es sich um einschon öfter abgedrucktes Vortragsmanus-kript aus dem Jahre 1978 handelt. Als obdie Forschung inzwischen nicht weiterge-gangen wäre – und als ob nicht von Jan-kovich selbst seine eigene Todesnähe-Er-

fahrung inzwischen, wie bereits ange-merkt, mit anderen Inhalten darbietenwürde, als er es 1978 noch getan hatte! Den zweiten Hauptbeitrag des Buches hatder katholische Theologe und PsychologeChristian Hoppe verfasst. Er vertritt eineäußerst kritische, rein naturwissenschaft-lich argumentierende Position, um amEnde doch deutlich zu machen, dass erdamit einer bestimmten spirituellen Deu-tung frönt: Religiöse Deutungen der To-desnähe-Erfahrungen lehnt er ab, weil erbetont wissen will, dass „jeder Mensch injedem Moment seines Hierseins ohne Vor-aussetzungen in Gott ist – nicht nur inaußeralltäglichen Erlebnissen oder gar erstim Tod“.Der dritte Aufsatz stammt von StefanHögl: Er deutet Todesnähe-Erfahrungen als„tatsächliches Verbindungsstück zu trans-zendenten Wirklichkeiten“ – und damitals eine „Grundlage, die dann alle reli-giösen Anschauungen für sich beanspru-chen“ könnten. In letzter Konsequenz be-deute dies aber auch einen Verzicht aufeinen absoluten Wahrheitsanspruch. Mitdieser Aussage widersetzt sich der Autorden impliziten oder expliziten An-sprüchen vieler solcher Visionen. Der theologisch qualifizierteste Beitragdes Bandes ist der aus der Feder des Bon-ner Pfarrers und Theologieprofessors Ul-rich Eibach: Er macht in profunder Kennt-nis des Forschungsmaterials und der theo-logischen Diskussion deutlich, dassTodesnähe-Erfahrungen den christlichenGlauben stärken oder wecken, ihn aberletztlich nicht begründen können.

• Inzwischen liegen von dem Heidelber-ger Physikprofessor Markolf H. Niemzdrei einschlägige Bücher vor. Das ersteheißt: „Lucy mit c. Mit Lichtgeschwindig-keit ins Jenseits. Leben nach dem Tod:Neue wissenschaftliche Indizien“ (32006),das zweite „Lucy im Licht. Dem Jenseits

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auf der Spur“ (München 2007), das dritte„Lucys Vermächtnis. Der Schlüssel zurEwigkeit“ (22009). Die ersten beiden wur-den bereits an dieser Stelle kritisch rezen-siert (MD 4/2007, 158f, und 5/2008,196f). Der wissenschaftlichen Diskussionhelfen sie nicht wirklich weiter. Niemzlegt, wie bereits Ewald, Theologie und Kir-che nahe, Todesnähe-Erfahrungen undReligiosität mehr zusammenzubringen. Tatsächlich stellt die jahrzehntelangeNahtodesforschung vor allem dort, wo siemehr oder weniger ernsthaft betrieben,

aber auch da, wo sie eher „leicht-sinnig“in Gebrauch genommen wird, eine nochkaum erkannte, geschweige denn eine an-genommene Herausforderung für Theolo-gie und Kirche dar. Was etwa auf katholi-scher Seite Hans Küng („Ewiges Leben?“,1982) oder auf evangelischer Seite HansSchwarz („Wir werden weiterleben“,1984), Jürgen Moltmann („Das KommenGottes“, 1995) und ich selbst („Die mitdem Tod spielen“, 1994) zum Themageäußert haben, waren bestenfalls Ein-leitungen.

Franz Winter, Wien

Mehr als nur große AugenReligiöse Themen in der Manga-Literatur

Der Ausdruck „Manga“ (wörtlich „abson-derliche Bilder“) ist die gängige Bezeich-nung für ursprünglich in Japan produ-zierte Comics, die sich in einem immergrößeren Ausmaß auch auf dem west-lichen Markt behaupten. Dabei ist nebendem englischen, französischen, italieni-schem und spanischen Markt, wo diesesGenre schon länger große Beachtung ge-funden hat, mit einer gewissen Verspätungauch der deutschsprachige Raum relevantgeworden. Zwar gab es erste deutscheManga bereits in den 80er Jahren, jedochist von einer wirklich größeren Verbrei-tung erst seit den 90er Jahren auszugehen,was sich auch in gesteigerten Verkaufs-zahlen spiegelt.1 So berichtet beispiels-weise der für den deutschen Sprachraumwichtige Verlag „Carlsen Comics“ im Jahr1995 von einem Verkaufsertrag für Mangavon knapp 400 000 Euro, der sich im Jahr2000 bereits auf über 4 Millionen Euro,

2002 auf über 16 Millionen Euro stei-gerte.2 Zurzeit erscheinen allein bei dengrößeren deutschen Manga-Verlagen3

jährlich mehr als 800 Manga-Bände; für2005 wurde ein Bruttoumsatz von 70 Mil-lionen Euro angegeben, was den Manga-sektor zum am stärksten wachsenden Be-reich des deutschen Buchmarktes mach-te.4 Das ist zwar immer noch nichts imVergleich zum japanischen Raum, worund ein Drittel aller Druckerzeugnisse(Bücher und Zeitschriften zusammenge-nommen) auf Manga entfallen5, jedochzeugt es von der wachsenden Beliebtheitdieses Genres auch in unseren Breiten.Dazu kommen die Filmversionen derManga, „Anime“ genannt, die von ver-schiedenen deutschsprachigen Sendern(z. B. RTL 2) ausgestrahlt werden und denBoom unterstützen.6 Hinzuzuzählen istauch das weite Feld der Videospiele, dieoft entweder direkt mit diversen Manga-

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serien im Zusammenhang stehen oder da-von inspiriert sind.In diesem Zusammenhang wird immerwieder auf die offenkundige Präsenz vonThemen hingewiesen, die im weitestenSinne religiöse und weltanschauliche Fra-gen berühren. Es soll im Folgenden auf ei-nige Aspekte eingegangen werden, ohnenatürlich dem Gesamtkomplex gerechtwerden zu können.7 Dabei ergibt sicheine Beschränkung auf Produkte, die fürden deutschsprachigen Raum relevantsind. Die meisten der ins Deutsche über-setzten Manga sind dem Bereich der sogenannten shojo- und shonen-Manga zu-zurechnen, d. h. ihr bevorzugtes Ziel-publikum sind Mädchen und Jungen(etwa zwischen 8 und 18 Jahren). Damitbleibt ein sehr großer Teil der japanischenMangakultur hier unbekannt.8

Verschiedene Themenbereiche

Da das Medium Manga sich in vielfältigerWeise präsentiert, ist es nicht möglich,von einem generell zu konstatierenden„Weltbild“ der Mangakultur zu sprechen.Es finden sich jedoch in vielen und geradeden äußerst populären Mangaserien mitihren komplexen Handlungsabläufen ge-wisse Muster, die eine zusammenfassendeDarstellung erlauben. Hervorstechendes Merkmal ist der Ge-danke einer von verschiedenartigen Geist-wesen oder „Energien“ beherrschten irdi-schen Wirklichkeit, die Teil eines multi-dimensionalen Universums mit vielenWelten und Ebenen ist. Die Protagonistensind meist als durchschnittliche Jugend-liche mit ihren vielen Alltagsproblemenporträtiert, die im Zuge einer wie auchimmer gezeichneten Begegnung mit ei-nem Vermittlerwesen oder durch ein un-gewöhnliches Ereignis mit der Tatsachekonfrontiert werden, dass sich hinter die-ser Realität eine andere auftut. Diese

übergeordnete Wirklichkeit ist von einemAntagonismus zwischen Gut und Bösebeherrscht, d. h. es wird das Bild einesKampfes gezeichnet, der meist schon seitewigen Zeiten andauert und das Schicksalder gesamten Menschheit, wenn nicht desUniversums, entscheidet. Die Hauptfigu-ren werden zu Kämpfern gegen die böseMacht, sie sind dazu durch eine überge-ordnete kosmische (gute) Instanz be-stimmt bzw. „erwählt“. Zentral ist meistauch der Gedanke einer Erlöserfigur, umderen Rettung oder Hervorrufung sichviele der Kämpfe entwickeln.Wichtiges Element der Handlung sind die„übernatürlichen“ Kräfte, mit denen dieProtagonisten ausgestattet sind und diemeist durch bestimmte Gerätschaften oderGegenstände hervorgerufen werden. DieHauptfiguren werden durch diese Kräfteüber die anderen erhoben, sie laufen aberauch Gefahr, die Kräfte falsch zu gebrau-chen oder gar zu missbrauchen. WichtigerTeil des Handlungsverlaufs ist es meistens,den Umgang damit in Form eines regel-rechten Trainings zu erlernen. Die Hand-lung selbst spielt sich auf mehreren Ebe-nen ab, beispielsweise auch in einer„Geistwelt“ oder auf anderen Planeten,die Teile eines umfassenden kosmischenOrdnungssystems sind. In Bezug auf dieAusgestaltung des Szenarios sind derKreativität und Phantasie der Mangaka(Manga-Zeichner) keine Grenzen gesetzt.Auffällig ist die oft bunte Mischung vonElementen aus unterschiedlichen religiö-sen oder mythologischen Traditionen.Man bedient sich aus dem reichen Fundusder asiatischen Religions- und Literaturge-schichte, aber man greift auch zwanglosauf Bezeichnungen oder ikonographischeElemente der außerasiatischen religiösenTraditionen zurück. Ein im deutschspra-chigen Raum sehr populäres Beispieldafür stellt die Mangaserie „Yu-Gi-Oh“(„König der Spiele“) dar, die sowohl als

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animierte Filmserie (und abendfüllenderKinofilm) als auch mit einer großen Zahlvon Vermarktungsprodukten großen Erfolghatte. Die Handlung ist geradezu ideal-typisch für das Genre: Der japanischeSchüler Yugi Muto erhält ein dreidimen-sionales altes ägyptisches Puzzle, das bis-lang niemand zusammensetzen konnte.Beim Versuch, das Problem zu lösen, wirdsein ganzes Leben verändert: Als er näm-lich das „Millenniumspuzzle“ zusammen-setzt, weckt er den Geist eines alten Pha-rao, dessen Gedächtnis gelöscht wurdeund mit dem er nun einen Körper teilt. MitHilfe des Kartenspiels „Duel Monsters“versuchen Yugi und Yami (der Name, mitdem der Zwei-Personen-Pharao angespro-chen werden möchte) das verlorene Ge-dächtnis des Pharao wiederherzustellen.Das Millenniumspuzzle ist jedoch nur ei-ner von insgesamt sieben so genannten„Millenniumsgegenständen“, die dieMacht besitzen, die Welt zu zerstören.Deshalb sind einige böse Mächte hinterdiesem Spiel und seiner Macht her. Dochgemeinsam mit seinen Freunden JoeyWheeler, Téa Gardner und Tristan Taylorstellt der Protagonist sich ihnen entgegen,wobei die Konfrontation in erster Linie inForm verschiedener Wettkämpfe vollzo-gen wird, in denen das angesprocheneSpiel im Zentrum steht. Die in vielen Produkten des Genres anzu-treffende Stilisierung eines Kampfes zwi-schen Gut und Böse kann in vielen Fällenapokalyptische Dimensionen annehmen.Das gilt insbesondere für viele japanischeManga der 80er Jahre, in denen oft in tra-vestierter Form eine Verarbeitung ver-schiedener traumatischer Ereignisse derjüngeren japanischen Geschichte zu er-kennen ist, beispielsweise der Atombom-benabwurf und die Niederlage Japans imZweiten Weltkrieg. Ein gutes Beispiel isthier die Mangaserie, die als erste Anfangder 90er Jahre vollständig ins Deutsche

übertragen wurde und die zu den bekann-testen Serien weltweit zählt: Die Hand-lung von „Akira“ spielt in einem Neo-To-kio des Jahres 20309 nach dem DrittenWeltkrieg. Die namengebende FigurAkira, ein nach außen unscheinbarerJunge mit immensen übernatürlichenKräften, tritt als der eigentliche Auslöserdes weltweiten Zerstörungskrieges, aberauch als Erlöserfigur entgegen. Er liegt ineinem unterirdischen Forschungslabor imKälteschlaf und wird von mehreren rivali-sierenden Gruppierungen umkämpft, zu-mal sein Erwachen einerseits das Ende derWelt, aber auch einen möglichen Neuan-fang einläutet. Der jugendliche Protago-nist, der als gesellschaftlicher Rebell ge-zeichnet ist, wird mehr oder minder zufäl-lig in dieses Geschehen hineingezogen,bewährt sich aber in den vielen Gefah-rensituationen der Handlung. Wie schon angeführt, spielt der Bezug aufmythologische und religiöse Überlieferun-gen bzw. Erzähltraditionen eine großeRolle. Dabei wurde durchaus auch auf ex-plizite Beispiele aus dem asiatischenRaum zurückgegriffen. So hat die Manga-serie „Dragonball“, die den endgültigenDurchbruch des Manga für den deutsch-sprachigen Raum Ende 1996 markiert,ihre Inspiration aus dem Roman „DieReise nach Westen“ (chin. Xi you ji) ausdem 16. Jahrhundert, der zu den vier klas-sischen Romanen der chinesischen Tradi-tion zählt. Das Grundgerüst des Mangasentwickelt sich um den jugendlichen Pro-tagonisten Son Goku und seine Freunde,die sich auf die Suche nach den siebendragonballs begeben. Sind nämlich alledragonballs versammelt, wird der heiligeDrache Shenlong gerufen, der jedenWunsch erfüllt. Dabei müssen allerleiHindernisse überwunden und es muss mitallen möglichen dämonischen und/oderaußerirdischen Widersachern gekämpftwerden.

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Von großer Bedeutung in vielen Manga istauch der Gedanke der Ausstattung mitübernatürlichen Kräften, die den meist ju-gendlichen Protagonisten auszeichnen. Sospielt beispielsweise in der weltweit po-pulären Mangaserie „Naruto“, die seit2002 in Deutschland in Taschenbuchformerscheint und seit 2006 in mittlerweileüber 200 Folgen auf RTL 2 läuft, der Be-zug auf eine chakra-Energie eine großeRolle. Deren Beherrschung ist wesentli-cher Teil der in vielen Details geschilder-ten Ausbildung Narutos, die schließlichzu seinem Aufstieg zum obersten Ninjaseines Dorfes in einer aus Feudalstaatenbestehenden fiktiven Welt führt.Ein weiteres Beispiel für die besondereBedeutung übernatürlicher Kräfte sindauch die Manga des so genannten Magi-cal-Girl-Genres, von denen viele imdeutschsprachigen Raum Verbreitung ge-funden haben.10 Dabei handelt es sich ei-gentlich um ein Subgenre der shojo-Manga, die sich an ein weibliches Publi-kum (etwa zwischen 8 und 18 Jahren)richten. Im Zentrum der Magical-Girl-Manga steht meist ein jugendlicher weib-licher Charakter, der durch einen speziel-len Gegenstand übernatürliche Kräfte er-langt und dessen Schicksal es ist, gegendunkle Mächte zu kämpfen. Daneben hatdie Figur häufig kleine Fehler wie Tollpat-schigkeit und alltägliche Probleme, mitdenen sie auch noch zu kämpfen hat. Ty-pisch für Magical-Girl-Manga sind sichwiederholende Verwandlungssequenzensowie das Spiel mit den sich daraus erge-benden multiplen Identitäten. WichtigesKennzeichen ist auch die betonte kosmi-sche Dimension des jeweiligen Bewäh-rungskampfes: Der Einzelne ist Teil einesvon widerstrebenden Mächten beherrsch-ten Universums, das durch Vieldimensio-nalität gekennzeichnet ist.Das im deutschsprachigen Raum wichtig-ste Produkt dieses Genres ist die Serie

„Sailor Moon“ von Naoko Takeuchi, die1996/1997 als Anime auf RTL 2 großenErfolg hatte. Im Zentrum der Handlungsteht das Mädchen Usagi Tsukino, ge-nannt Bunny, die eines Tages die spre-chende Katze Luna trifft. Diese offenbartdem Mädchen ihr Schicksal als „SailorMoon“, d. h. als Kriegerin für Liebe undGerechtigkeit, die wiederum Teil einesgrößeren Teams von „Sailor-Kriegerinnen“gegen das Böse ist. Bunny muss die„Mondprinzessin“ finden, da es eine ge-heimnisvolle Macht gibt, die die Erde undden Mond bedroht. Wie sich im Laufe derHandlung herausstellt, ist sie selbst ebendie Mondprinzessin. Wichtig sind in die-sem Fall auch die Requisiten des Kampfes,die von Gegner zu Gegner variieren undverfeinert werden: Anfänglich werden Ver-wandlungsstäbe und -füllfedern, späterBroschen und schließlich spezielle Zau-bersteine (besonders ein „Silberkristall“)verwendet, die jeweils die Verwandlungder verschiedenen Protagonisten in ihreungleich mächtigeren Alter-Egos ermög-lichen. In vielen Einzelelementen tritt dabei diefür das Manga-Genre typische fröhlicheMischung verschiedener religiöser undmythologischer Traditionen entgegen, diein das Gesamtkonstrukt eingewoben wer-den. Einmal beispielsweise läuft SailorMoon Gefahr, auf einer Art Kreuz geopfertzu werden, ein anderes Mal gibt es eineSzene, in der Sailor Moon mit einer alsBaby wiedergeborenen anderen Protago-nistin ähnlich einer Madonna mit Kind inErscheinung tritt. Zudem finden sich vieleElemente aus der japanischen religiösenTradition, einerseits in Bezug auf dieHandlung, andererseits auch in Bezug aufviele Details der Ausgestaltung. So führtdie Protagonistin immer wieder rituelleHandlungen aus, die in der japanischenshintoistischen Tradition wurzeln, oder sieverwendet an wichtiger Stelle drei „Talis-

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mane“, die nach dem Modell der klassi-schen drei Throninsignien Japans(Schwert, Spiegel, Juwel) stilisiert sind.Zudem spielt der Gedanke der Wiederge-burt eine große Rolle.Die in den Manga sehr präsente Ausein-andersetzung mit allen möglichen „Mäch-ten“ und „Geistern“ kann zuweilen auchden Übergang zum Horrorgenre markie-ren. Allerdings scheinen einschlägigeManga dieses Genres, für das es in Japanzahlreiche Beispiele gibt, bislang nicht ingroßer Zahl ins Deutsche übertragen wor-den zu sein. Es finden sich aber wichtigeNiederschläge bei einigen besonders beiJugendlichen beliebten Horrorfilmen derletzten Jahrzehnte, die entweder aufManga zurückgingen oder für die es eineMangafassung (nach dem Film) gibt. Da-bei machten US-amerikanische Remakesjapanischer Horrorfilme, z. B. die Filme„The Grudge“ (2004; japanisches Origi-nal: „Ju-on“ 2003) oder „The Ring“ (2002;japanisches Original: „Ringu“ 1998), die-ses Genre auch bei uns populär. Zentralist hier vor allem der Gedanke eines Ra-che nehmenden Ungeistes, der Sühne fürein ungerächtes Verbrechen fordert. Dabeiwird das Bild einer schicksalhaften Ver-strickung gezeichnet, aus der sich in denmeisten Fällen nicht einmal die Hauptper-son befreien kann.

Ausblick

Es ist davon auszugehen, dass das Me-dium Manga auch in den kommendenJahren seine Bedeutung nicht verlieren,sondern zu einem festen Bestandteil derJugendkultur werden wird. Beredtes Zei-chen dafür sind gewisse Entwicklungenim Umfeld der Mangakultur, die natürlichauch den Interessen der dahinterstehen-den Industrie geschuldet sind: So findenbeispielsweise seit 2007 auch im deutsch-sprachigen Raum Meisterschaften im

„Cosplay“ statt.11 Der Ausdruck ist die ja-panische Abkürzung des englischen Be-griffs „costume play“ und bezeichnet diemöglichst originalgetreue Nachahmungeiner Figur aus Manga, Anime, einem Vi-deospiel (z. B. dem weltweit erfolgreichen„Final Fantasy“) oder auch aus populärenScience-Fiction-Filmen (z. B. der Matrix-Serie) mit entsprechender Kostümierungund entsprechendem Verhalten.12 DieserTrend breitete sich von Japan her aus undscheint langsam aber sicher auch imdeutschsprachigen Raum immer mehr Fußzu fassen.Durch die zunehmende Internationalisie-rung ergeben sich naturgemäß gewisseÄnderungen und neue Ausrichtungen, diedie Mangakultur zu einem äußerst interes-santen Untersuchungsfeld auch unterweltanschaulichen Gesichtspunkten ma-chen werden. In Bezug auf die weitereEntwicklung bleibt abzuwarten, welcheSegmente der Mangakultur eine weitereRezeption im deutschsprachigen Raum er-fahren werden bzw. ob über das derzeitdominierende shojo- und shonen-Genrehinaus Weitergehendes aufgegriffen wer-den wird. Der japanische Markt bietet je-denfalls mehr als genug Material. Dortspielt im Übrigen die Produktion vonManga auch bei verschiedenen neureli-giösen Bewegungen eine große Rolle: Be-kannt wurde in diesem Zusammenhangdie „Aum Shinrikyo“, die sich in vielenElementen durch Manga-Literatur inspi-riert zeigt, was sogar die despektierlicheBezeichnung manga shukyo („Manga-Re-ligion“) provozierte.13

Wie sich nun die Lektüre von Manga aufJugendliche auswirken kann, ist bislangnoch kein Gegenstand ausführlicher For-schung gewesen. Es gibt in Japan dasSchreckgespenst des „Otaku“, des ganz ineiner virtuellen Welt aus Manga- und Vi-deokultur Versunkenen, der keine sozia-len Kontakte mehr pflegt.14

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Anmerkungen

1 Allgemeine Darstellungen zum Phänomen Mangaim deutschsprachigen Raum: Sebastian Keller, DerManga und seine Szene in Deutschland von denAnfängen in den 1980er Jahren bis zur Gegenwart,Regensburg 2008; Lea Treese, Go East! Zum Boomjapanischer Mangas und Animes in Deutschland.Eine Diskursanalyse, Berlin u. a. 2006.

2 Eigenangaben des Carlsen-Verlags in einem Artikelvon Andreas Dierks über die Frankfurter Buchmesse2003 (www.comic.de/buchmesse2003/bericht2.html).

3 Carlsen Comics, Egmont Manga und Anime/EMA,Tokyopop, Planet Manga / Panini Comics undHeine.

4 Vgl. Bastian Knümann, Deutsche Mangabrancheboomt weiterhin, in: Handelsblatt vom 5.4.2006(www.handelsblatt.com).

5 Vgl. Frederik L. Schodt, Dreamland Japan. Writingson Modern Manga, Berkeley 1996, 19-21, mit An-gaben zur steten Zunahme der Bedeutung des Man-gasegments seit den 80er Jahren. Neuere Zahlen beiPaul Gravett, Manga. Sixty Years of Japanese Co-mics, London 2004, 10-17.

6 Überblick bei Michelle Bichler, Japanische Zei-chentrickserien im deutschen Fernsehen. Der Trendgeht in Richtung Ökonomisierung, in: Medien + Er-ziehung 1/2004, 66-68. Zur hohen Wichtigkeit desFernsehens für die Entwicklung des Mangas inDeutschland vgl. auch S. Keller, Der Manga undseine Szene in Deutschland, a. a. O., 34-37.

7 Es gibt bislang keine ausführlicheren Auseinander-setzungen mit dem Problemfeld „Religion undManga“ in nichtjapanischsprachiger Literatur. Einenguten ersten Einblick bietet: Michael Pye / Katja Tri-plett (unter Mitarbeit von Monika Schrimpf), Stre-ben nach Glück. Schicksalsdeutung und Lebensge-staltung in japanischen Religionen, Berlin 2007,

59ff. Äußerst interessant ist auch der Beitrag von Jo-lyon Baraka Thomas, Shukyo Asobi and MiyazakiHayao’s Anime, in: Nova Religio 10, 2007, 73-95,in dem es um die Frage einer in Animefilmen trans-portierten Religiosität/Spiritualität geht.

8 Eine Ausnahme bildet wohl das statistisch nichtnäher erfasste Segment der pornographischenManga (meist als „Hentai“ bezeichnet), die – in er-ster Linie in ihren Filmversionen – ebenfalls einenhohen Verbreitungsgrad haben.

9 Im Jahr 2030 in der Mangafassung, in der Filmver-sion im Jahr 2019.

10 Wichtige Beispiele für dieses Genre, die auch imdeutschen Sprachraum Verbreitung gefunden ha-ben: Magical Doremi, Wedding Peach, KamikazeKaito Jeanne, Card Captor Sakura, Pretty Cure,DoReMi, Cutey Honey.

11 Offizieller Webauftritt: www.deutsche-cosplaymeisterschaft.de.

12 Vgl. Gert Anhalt, Mädchen, Manga, Maskenball.Kosupuree – Jugend im Verkleidungsfieber, in:ders., Zeit für Japan. Reprotagen aus einem unbe-kannten Land, München 2005, 40-43.

13 Vgl. dazu Richard A. Gardner, Aum and the Media:Lost in the Cosmos and the Need to Know, in:Robert J. Kisala / Mark R. Mullins (Hg.), Religionand Social Crisis in Japan, New York 2001, 133-162.

14 Vgl. Christine Chapman, Japans „otaku“ – lasst unsin Ruhe! In: Japan aktuell Oktober/November 1992,12f.

15 Vgl. Jutta Ströter-Bender, „Mondstein, flieg undsieg!“ Zur ästhetischen Sozialisation durch die Kult-serie Sailor Moon, in: Norbert Neuß (Hg.), Ästhetikder Kinder. Interdisziplinäre Beiträge zur ästheti-schen Erfahrung von Kindern, Frankfurt a. M. 1999,221-234.

Vergleichbare Beobachtungen fehlen bis-her im deutschsprachigen Raum. Einenähere Auseinandersetzung mit der Re-zeption von Mangaserien bei Jugendli-chen bietet nur die Arbeit von Jutta Strö-ter-Bender über die Wirkung der Kultserie„Sailor Moon“ auf eine Gruppe von Kin-

dern. Sie kommt bei ihren Beobachtungenzu dem Schluss, dass die Beschäftigungund teilweise sehr intensive Auseinander-setzung mit dem Schicksal der Protago-nistin durchgehend als vorübergehendesPhänomen ohne größere Folgen wahrge-nommen werden kann.15

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PSYCHOSZENE

Tödliche Therapiesitzung. Ein niederge-lassener Facharzt für Allgemeinmedizinhat im September 2009 im Rahmen einer„psycholytischen Gruppentherapie“ inBerlin den meisten der zwölf Gruppenteil-nehmer bewusstseinserweiternde Drogen-cocktails verabreicht. Aufgrund einerÜberdosis Ecstasy verstarben zwei Teil-nehmer, und viele Verletzte sind zu bekla-gen. Gegen den Arzt wurde Haftbefehl er-lassen. Die Staatsanwaltschaft wirft demMediziner unter anderem zweifachenMord, mehrfache gefährliche Körperver-letzung und Drogenhandel vor.In der „psycholytischen Therapie“ wirdmit psychoaktiven Substanzen gearbeitet– angeblich, um traumatische Erlebnissestärker empfinden und verarbeiten zukönnen. Ein Begründer dieser Behand-lungsmethode ist Stanislav Grof, nachdessen Lehre der Berliner Arzt gearbeitethaben soll. Dem 1931 in Prag geborenenPsychiater Grof geht es in seinen Behand-lungen darum, die Identifikation mit ei-nem persönlichen Schicksal aufzulösenund hineinzufinden „in eine neue Iden-tität als eines Wesens, dessen Sein vieleLeben umspannt“ (Kosmos und Psyche,Frankfurt 2000, 251). Die spekulativenLehren von Karma und Reinkarnation bil-den eine wesentliche Säule der Transper-sonalen Psychologie, zu deren Mitbegrün-dern Grof zählt (vgl. www.ekd.de/ezw/Lexikon_1900.php). Durch „Rückführun-gen“ in angeblich frühere Leben – unter-stützt durch Atemtechniken, geführte Ima-ginationen, laute Musik, Tanz oder garDrogen – sollen karmische Belastungenaufgelöst werden, die als Ursache für ak-tuelle seelische Störungen angesehenwerden.

Der Berliner Arzt arbeitete mit seiner Ehe-frau zusammen, mit der er vier Kinder hatund die als Heilpraktikerin tätig ist. Beidewaren Referenten einer „Therapeutisch-tantrisch-spirituellen Universität“ in derSchweiz. Dort hat sich eine spirituelle„Kirschblütengemeinschaft“ unter der Lei-tung des umstrittenen Arztes Samuel Wid-mer gebildet. In der Kommune leben nacheigenen Angaben 75 Erwachsene und 60Kinder (vgl. dazu www.relinfo.ch/widmer/index.html). Widmer hat mit abstrusenTheorien über einen „ehrbaren Inzest“von sich reden gemacht. Für Juni 2010 istein Seminar von Widmer in der BerlinerArztpraxis angekündigt. Nach den tödlichen Folgen dieses riskan-ten Therapieansatzes stellen sich einigeFragen: • In einer fachlichen Psychotherapie wer-den niemals bewusstseinserweiterndeTechniken oder gar illegale Drogen einge-setzt. Psychotherapie soll Menschen be-fähigen, selbstbestimmt zu handeln – dieVerabreichung von Drogen ist das Gegen-teil und selbstverständlich von den Kassennicht zugelassen. Aber warum ist es lautBerliner Ärztekammer nicht möglich, ei-nem approbierten Arzt zu verbieten, auchobskure Heilmethoden als „besondereTherapieverfahren“ anzubieten und aus-zuüben? Hier sind dringend Verbesserun-gen des Patientenschutzes nötig.• Während traditionelle Sekten wie dieZeugen Jehovas in Europa keinen nen-nenswerten Zuwachs verzeichnen, erle-ben therapeutische Kleingruppen und spi-rituelle Heilungsangebote auf dem Psy-chomarkt vermehrt Zulauf (vgl. MD5/2008, 163ff, und MD 6/2008, 203ff).Esoterisches Gedankengut und bewusst-seinserweiternde Techniken werden hiervielfältig eingesetzt. Die Grenzen zwi-schen einem therapeutischen Heilverfah-ren und einem spirituellen Heilsangebotsind jedoch strikt zu wahren, um die fach-

INFORMATIONEN

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lichen Qualitätskriterien zu erfüllen. InBerlin und anderswo praktizieren nochmehr Ärzte und approbierte Psychothera-peuten mit spirituellen Behandlungsme-thoden. Wann greifen die Ärzte- und Psy-chotherapeutenkammern ein? • Das seit zehn Jahren gültige Psychothe-rapeutengesetz hat dazu beigetragen, aufdem Psychomarkt die Spreu vom Weizenzu trennen. Immer noch wird aber die Zu-lassung zum „Heilpraktiker für Psychothe-rapie“ als Nische genutzt, um psychothe-rapeutisch tätig zu werden. Die Heilprak-tikerprüfung beim Gesundheitsamt genügtjedoch den Erfordernissen der verantwor-tungsvollen psychotherapeutischen Tätig-keit längst nicht mehr. Wie lange dauert esnoch, bis das Heilpraktikergesetz, das ausdem Jahr 1939 (!) stammt, den heutigenBedingungen angepasst wird?

Michael Utsch

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ISLAM

Weitere Professur für islamische Religi-onspädagogik. (Letzter Bericht: (8/2008,311f) Der Sozialwissenschaftler Rauf Cey-lan ist seit 1.9.2009 Professor für Religi-onswissenschaft mit dem Schwerpunkt Is-lamische Religionspädagogik am Studien-gang Islamische Religionspädagogik derUniversität Osnabrück. Der 33-jährigeKurde war zuvor im Referat für Integrationder Stadt Duisburg für die wissenschaftli-che Begleitung des integrationspolitischenProzesses zuständig. In seiner Dissertationan der Universität Bochum über „Ethni-sche Kolonien“ (2006) hat er das Lebenvon Migranten in türkischen Moscheenund Cafés untersucht. Seine Studie„Imame in Deutschland“ löste vor gut ei-nem Jahr eine Diskussion über „traditio-nell-konservative“ Einstellungen derImame und damit verbundene Schwierig-keiten bei der Integration aus.

Seit zwei Jahren bietet die UniversitätOsnabrück den Studiengang IslamischeReligionspädagogik an, die erste Professurwurde zum Sommersemester 2008 mitBülent Uçar besetzt. Der viersemestrigeErgänzungsstudiengang bildet islamischeReligionslehrerinnen und -lehrer fürGrund-, Haupt- und Realschulen aus. Zuden Lehrinhalten gehören unter anderemdie Glaubensgrundlagen des Islam, einÜberblick über die islamische Geschichtesowie islamische Ethik. Neben den Studienorten Erlangen-Nürn-berg (Interdisziplinäres Zentrum für Isla-mische Religionslehre, IZIR, Prof. HarryHarun Behr), Münster (Centrum für Reli-giöse Studien, Prof. Muhammad S. Ka-lisch) und Frankfurt a. M. (Stiftungsprofes-sur für Islamische Religion, gestiftet vomTürkischen Präsidium für Religiöse Ange-legenheiten, Prof. Ömer Özsoy) hat sichdamit in Osnabrück ein besondererSchwerpunkt der islamischen religions-pädagogischen Ausbildung in Deutsch-land etabliert. Islamischen Religionsunterricht gibt esbisher nur in Berlin, verantwortet in derdurch die sogenannte „Bremer Klausel“gegebenen Sondersituation von der um-strittenen Islamischen Föderation in Ber-lin. Darüber hinaus werden deutschland-weit in verschiedenen Ländern Schulver-suche durchgeführt und unterschiedlicheModelle ausprobiert, die einen geregeltenBekenntnisunterricht vorbereiten sollen.Alevitischer Religionsunterricht wird hin-gegen über die Modellversuche hinausschon in den Bundesländern Bayern, Ber-lin, Hessen und Nordrhein-Westfalen er-teilt, nachdem die Alevitische GemeindeDeutschland aufgrund eines religionswis-senschaftlichen und eines juristischenGutachtens als Religionsgemeinschaft imSinne von Art. 7 Abs. 3 GG anerkanntworden war.

Friedmann Eißler

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Islamisches Gebet an der Schule. (LetzterBericht: 6/2008, 233f) Das Verwaltungsge-richt Berlin hat eine im März 2008 im Eil-verfahren getroffene Entscheidung be-stätigt, die einem muslimischen Schülereines Berliner Gymnasiums erlaubt, inUnterrichtspausen „in einem für anderenicht ohne Weiteres zugänglichen Bereichdes Schulgeländes“ zu beten. Die Einrich-tung eines speziellen Gebetsraumes wirddabei nicht genannt – sie war auch nichtGegenstand der Klage –, dürfte jedoch defacto ein praktisches Erfordernis darstel-len. Yunus M., der heute 16-jährige Sohn eineszum Islam konvertierten Deutschen, hattesich zusammen mit weiteren Schülern aufdem Schulflur zum Gebet niedergelassen,bis es ihm von der Schulleitung untersagtwurde, da diese die Verletzung der negati-ven Religionsfreiheit der Mitschüler be-fürchtete. Daraufhin kam es zum gericht-lichen Verfahren.In der Frage, ob die Neutralität der Schuledurch den Rechtsspruch beeinträchtigtwird, gehen die Einschätzungen weit aus-einander. Nicht nur Politiker verschiede-ner Parteien sowie die Initiative Pro Reli,auch Kirchenvertreter haben das Urteil alsStärkung der positiven Religionsfreiheitoder als verfassungsrechtliche Selbstver-ständlichkeit begrüßt. Andere, darunterder Grünen-Abgeordnete Özcan Mutluund der Bürgermeister von Neukölln,Heinz Buschkowsky (SPD), reagierten aufdas Urteil vom 29.9.2009 mit zum Teilscharfer Kritik. Integrationspolitisch sei esein falsches Signal, das der Bildung vonParallelgesellschaften Vorschub leiste. Re-ligionsfreiheit bedeute nicht, dass derStaat die materiellen Voraussetzungenschaffen muss, damit jeder seine religiö-sen Rituale überall durchführen kann.Die Abwägung des Grundrechts auf Reli-gionsausübung und des staatlichen Erzie-hungs- und Bildungsauftrags einschließ-

lich des Neutralitätsgebots an Schulenstellt sich als komplexe Aufgabe dar. Inder Tat schließt Religionsfreiheit das Rechtzur Bekundung des eigenen Glaubensein. So sollten etwa christliche Schülerbi-belkreise nicht aufgrund falsch verstande-ner schulischer Neutralität an der Samm-lung von Schülerinnen und Schülern zumGebet während einer Pause gehindertwerden. Und bei dem muslimischenSchüler handelt es sich nicht um eineAmtsperson, so dass eine Parallelisierungmit dem Kopftuchstreit nicht naheliegt. Andererseits ist das islamische Gebetnicht in der Weise ein freiwilliges, persön-liches Gespräch mit Gott, wie man es aus-gehend von einem christlichen Gebetsver-ständnis vermuten könnte. Gebet meinthier das islamische Pflichtgebet (salat),das durch den rituell-verpflichtendenCharakter in seiner Bedeutung über denpersönlichen Ausdruck von Frömmigkeitoder des Glaubens hinausgeht. Ihm eignetein eindeutiger Bekenntnischarakter, inso-fern jeder Gebetsvollzug Zeugnis für Allahund seinen Herrschaftsanspruch durch dieumma, die Gemeinschaft der Muslime,ablegt (vgl. Sure 2,143.150; 22,78). Auchwenn dieser Vollzug in einem eigenenRaum stattfindet, kann er im Kontext derSchule religiösen Druck auf Mitschülerausüben. Schulleiter können schon jetzt ein Lieddavon singen, wie etwa im islamischenFastenmonat Ramadan Schüler, die nichtfasten, von Mitschülern unter Druck ge-setzt werden. In dieser Hinsicht ist eineErweiterung des Spielraums für möglicheislamische Propaganda im öffentlichenRaum – ohne dies im Einzelfall zu unter-stellen – eine politisch wie gesellschaft-lich durchaus fragwürdige Maßnahme. Esgibt nicht wenige Kinder an BerlinerSchulen, deren Eltern aufgrund religiösenDrucks in ihren Herkunftsländern nachDeutschland geflohen sind – nicht, um

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ihm hier in mehr oder weniger subtilerForm wieder zu begegnen.Hinzu kommt die Frage, warum die auchvon maßgeblichen islamischen Autoritä-ten vertretene Ansicht, dass bestimmtePflichtgebete unter bestimmten Vorausset-zungen zusammengelegt werden können,nicht in Anschlag gebracht wurde. DasGericht stellt zu Recht fest, dass es demStaat verwehrt ist, Glaubensüberzeugun-gen bezüglich der Verbindlichkeit vonGlaubensgeboten zu bewerten. Doch er-scheint fraglich, ob es sich derart dieHände binden muss, dass es (im Eilverfah-ren) der Meinung ist, es dürfe „nicht gene-rell darauf verweisen, dass der islamischeGlaube ausnahmsweise auch eine Abwei-chung von den festgelegten Gebetszeitenzulasse“. Ein weitergehender Gesichts-punkt ist die Aussicht auf ähnliche Anfra-gen und Forderungen. Es wurde betont, eshandle sich nicht um einen Präzedenzfall,vielmehr um eine Einzelfallentscheidungohne grundsätzliche Bedeutung. Folgenaber viele Nachahmer, kommt dennochArbeit auf die Verwaltung zu, die dadurchunabsehbar erschwert werden könnte,dass verschiedene Glaubensrichtungen je-weils eigene Räumlichkeiten benötigenkönnten. Ganz abwegig ist die Sorgenicht, zumal bekannt geworden ist, dassan dem betroffenen Gymnasium früherschon die Gelegenheit zum Gebet be-stand, die Schüler sich aber gestritten hät-ten – wobei es offiziell hieß, einer Schüle-rin ohne Kopftuch sei der Zugang zumGebetsraum verwehrt worden. Um eine Atmosphäre der Religionsfreiheitund der Toleranz im Sinne des schuli-schen Bildungsauftrags herzustellen, be-darf es sicher pragmatischer Lösungen.Der Weg über die Gerichte wird Präze-denzfälle schaffen, die nicht zu wünschensind. Von daher ist auf eine Revision desVerwaltungsgerichtsurteils zu hoffen.

Friedmann Eißler

ESOTERIK

Die Welt im Wandel 2012. (Letzter Be-richt: 5/2009, 163ff) Der Maya-Kalendergeht zu Ende, aus esoterischer Sicht stehtdie große Weltenwende bevor. Am21.12.2012 soll es so weit sein: Die Weltwird transformiert, der Evolutionssprungder Menschheit ereignet sich. Auf dieseTransformation deutet angeblich auch derderzeitige Abbau des Magnetfeldes derErde hin. Die esoterische BuchhandlungWrage in Hamburg und das dazugehörigeSeminarzentrum veranstalteten am 19.und 20. September 2009 im Kongresszen-trum Hamburg einen Wendezeitkongresszu diesem „einschneidenden Ereignis“(http://2012-kongress.de). Ungefähr 250Menschen aller Altersgruppen und ver-schiedener Bildungsschichten nahmendaran teil – trotz des hohen Eintrittspreises(160 bis 200 Euro). Die Besucher beka-men zum Empfang einen geschliffenenBergkristall, der später die Echtheitsprobebestand. Referenten und Referentinnen aus allerWelt traten auf. Man traf manche altenBekannten wieder wie Diana Cooper, dieauch auf den regelmäßigen Engelskon-gressen referiert, José Argüelles, Buchau-tor aus dem New Age der 80er Jahre,Gregg Braden, der als Geowissenschaftlerund Raumfahrtingenieur vorgestelltwurde, den Buchautor Tibor Zelikovics,den Zeichner Janosch oder die Maya-priesterin Nah Kin (Eugenia Casarin). Ein-geleitet wurden die Vorträge jeweils durchdie Gong-Musik von Jens Zygar, die dieHörerschaft zur Konzentration und Ruhebrachte. Die rauschenden Klänge warensehr eindrucksvoll. Der Maya-Kalender läuft aus, und damitgehen 2012 gleichzeitig eine Zeiteinheitvon 5000 Jahren sowie ein „großes Wel-tenjahr“ von knapp 26 000 Jahren zuEnde. Der kleine Zyklus umfasst den Zeit-

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raum vom 31.8.3114 v. Chr. bis zum21.12.2012 n. Chr. Das Ende kündige sichbereits an, die Klimaveränderung sei einesder Zeichen. Auch der Ablauf der vorheri-gen Zyklen soll mit Katastrophen verbun-den gewesen sein: Große Reiche gingenunter, die Natur geriet aus den Fugen. Dasjetzt bevorstehende Ende zweier Zeitein-heiten mache das Ereignis jedoch beson-ders bedeutsam. Hier treffen die Berech-nungen nach dem Maya-Kalender und derBeginn des „Wassermannzeitalters“ zu-sammen.Alle Rednerinnen und Redner bezogensich auf den Maya-Kalender. Eine Zeiten-wende geht natürlich nicht schmerzlosvorüber. Die Klimakatastrophe wirdebenso als ein Anzeichen für den bevor-stehenden Wandel gedeutet wie die krie-gerischen Auseinandersetzungen und At-tentate, aber auch die Weltwirtschafts-krise. Alle waren sich aber darin einig,dass uns, den Menschen, die wir nunschon wissen, was die Zukunft bringenkönnte, die Möglichkeit offen steht, unserHerz und die ganze Welt zu wandeln,wenn wir die Zeichen der Zeit zu lesenvermögen und uns entsprechend daraufeinstellen. Die Menschen seien jetzt be-reit, als eine Familie auf dieser Erde zu-sammenzuleben. Hierzu gab es Meditati-onsübungen, die uns zu uns selbst führenund uns lehren sollten, unseren Weg zugehen. In der neuen Zeit werde derSchlüssel zum Besseren bei den Frauenliegen. Die Männer werden ihre „weibli-che Seite“ entdecken. Spirituelle Anleitun-gen zu einem harmonischen Leben findensich in tibetischen Klosterbibliotheken. Wir sollten auf die Überwindung des Bö-sen, das die Katastrophen hervorruft, ein-gestimmt werden. Das Böse wird mit denKräften des Weltfinanzsystems in Zusam-menhang gebracht, das seine Macht aufalle Arten und Weisen durchsetze. Es be-ginne bei den Barcodes an der Super-

marktkasse und reiche bis zur Zerstörungdes Gebäudes 7 des World Trade Centers,das angeblich durch eine gezielte Spren-gung zum Einsturz gebracht wurde. Einvager Hinweis auf die Freimaurer, ihreHochgradlogen und deren geheime Leh-ren und Riten durfte nicht fehlen. Über allem aber wachen angeblich diegroßen alten Meister der Maya, die unsBotschaften senden, damit wir nicht demUntergang geweiht sind, sondern gerettetwerden, wenn wir ihren Anweisungen fol-gen. Die Maya-Meister wenden sichdurch Visionen an die Menschheit, aberauch mittels der Kornkreise, die an dieForm des Maya-Kalenders erinnern. Ki-nich Ahau, ursprünglich der Name desSonnengottes der Maya, spielt eine großeRolle: Er ist zur „Zentralsonne“ aufgestie-gen. Seine Weisheit will die Menschenleiten. Beim Ablauf dieser Weltzeit liegedie Sonne, die unsere Erde erwärmt, aufeiner „waagerechten Linie“ im Weltall mitder Zentralsonne. Nach der Transformation soll Barack Obama in Jerusalem, der heiligen Stadtder drei großen Religionen, die Weltherr-schaft antreten. Obama sei dafür vorher-bestimmt, denn seine afrikanischen Wur-zeln reichten in die Zeit der Pharaonenzurück, und er sei, wie man beim Ver-gleich eines Fotos von ihm mit der StatueEchnatons sehen soll, dessen später Ab-kömmling. Nicht zu begreifen war, wiehier auch noch die Merowinger ins Spielgekommen sind.Es ist verständlich, dass sich die Men-schen angesichts aller Katastrophennach-richten nach einer Heimat sehnen, die ih-nen niemand nehmen kann. Dass sich dasWeltall um die Erde und ihre Bewohnerkümmert und sich das Zentrum der Gala-xie weise und liebevoll der Menschheitannimmt, ist ein alter Traum. Dahintersteht immer noch die Vorstellung von derErde als Mittelpunkt der Welt. Die Men-

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schen hoffen auf den Quantensprung unddie Fortentwicklung, mit deren Hilfe siedem drohenden Desaster entkommenwollen. Das Streben ist spürbar, durchMeditation oder die Teilnahme an Kon-gressen und Seminaren selbst daran mit-zuarbeiten. Der Kongress versuchte, statt Weltunter-gangsangst eine freudige Aufbruchsstim-mung zu erzeugen. Gegen den Inhalt derVeranstaltung gibt es aber erhebliche Ein-wände. Der Maya-Kalender ist ein kom-pliziertes mathematisches „Vigesimalsy-stem“, also ein Rechensystem, das auf derZahl 20 beruht. Aufbauend auf dieserZahl werden immer höhere Zeiteinheitenerrechnet. In der Zeit der Mayakultur warder Kalender vermutlich das genauesteKalendersystem in der amerikanischenHemisphäre. Dieses System hochgerech-net unter Einbeziehung der Datumsver-schiebung vom julianischen zum grego-rianischen Kalender soll angeblich zumJahr 2012 führen. Die Hochrechnung istjedoch von der Vorstellung getragen, dassdie aufgestiegenen Maya oder KinichAhau sich unserer Gegenwart annehmenund sogar Kornkreisbotschaften entsen-den. Hier mischen sich historische Faktenund esoterische Hoffnungen.Mit dem Einfall der Spanier in Mexiko1511 verschwanden die alten lateinameri-kanischen und mittelamerikanischen Kul-turen endgültig. Es gibt aber heute Men-schen, die sich auf die Maya zurückführenund die sich teilweise bemühen, an ihrealten Überlieferungen anzuknüpfen unddie Geschichte zu rekonstruieren. Dieseswird mythisch überhöht und spirituali-siert, versetzt mit Vorstellungen des NewAge und der neuen Weiblichkeit. Tempel-ruinen werden als spirituelle Kultplätzeneu entdeckt und für neue kultischeHandlungen genutzt. Die Menschenopferder Maya und Azteken werden als Ver-fallserscheinungen interpretiert. Die spiri-

tuellen Maya und ihre überirdischen Meister sind nunmehr gereinigt.Problematisch war auf dem Kongress fer-ner der ungeheure Wust an physikali-schen und astronomischen Halbwahrhei-ten. Zur Erhärtung von Verschwörungs-theorien wurden die Bücher von MichaelBaigent und Richard Leigh sowie von DanBrown als historische Darstellungen her-angezogen. Man zeigte Fotos von derNASA aus dem Weltraum. Was aber dieFotos eigentlich zeigen sollten, wurdenicht gesagt. Sie dienten vielmehr als Be-weise für die eigenen Theorien.Begriffe aus der Geologie und der Physikwurden verwendet, aber nicht erklärt:Was soll man z. B. unter „Präzession“ ver-stehen? Es handelt sich um die Richtungs-änderung der Erdachse und Erdrotation inZyklen von etwa 25 800 Jahren. Was istdie „Zentralsonne“? Dass eine Zentral-sonne den Mittelpunkt der Galaxie bildet,ist eine inzwischen überholte Theorie.Man geht mittlerweile davon aus, dasseine Anhäufung von Sonnen um ein„schwarzes Loch“ den Mittelpunkt bildet.Eine waagerechte Linie zwischen zweiSonnen ist eine Annahme, die von derErde als einem festen Standort ausgeht. ImWeltall gibt es jedoch kein Oben und Un-ten, also ist jede Linie waagerecht, senk-recht oder schräg. Der scheinbar geheim-nisvolle Einsturz von Gebäude 7 im Zu-sammenhang mit dem Anschlag vom 11.September 2001 ist längst durch die Hit-zeentwicklung bei der Explosion derTwin-Towers erklärt, die das Stahlgerüstvon Block 7 in sich zusammensinken ließ.Eine Verschwörung wird nicht gebraucht.Der Zeitplan des Kongresses ließ keinenRaum für Nachfragen oder gar kritischeBemerkungen. Die Teilnehmendenklatschten zu allem heftig Beifall. DieBücher der Vortragenden lagen anBücherständen aus, und die Pausen wur-den genutzt, um sie sich signieren zu las-

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sen. Ferner konnte man vor dem Saal z. B.Ausrüstungen für Aurafotografie kaufenoder sich die Aura deuten lassen. Faltblät-ter für alle möglichen Veranstaltungenwurden verteilt. Hier wurde für bekannteNamen wie Kryon geworben, Kristallschä-del und ihre Energien wurden angeprie-sen und Ähnliches. Mit Hilfe eines Ketten-anhängers in Form einer Doppelpyramidesei es für den Einzelnen gar möglich, ander Transformation mitarbeiten. Die Wen-dezeit eignet sich eben auch als Anlass füreine Verkaufsveranstaltung.

Gabriele Lademann-Priemer, Hamburg

„Spirit & Life“ – ein neues Esoterik-Maga-zin zum Niedrigpreis. Für die Popularitätund Akzeptanz esoterischer Weltdeutun-gen sorgt ein breites Sortiment an Büchernund nicht zuletzt die wachsende Zahl spi-ritueller Publikumszeitschriften. Thema-tisch wird derzeit das Marktsegment Ge-sundheit und Spiritualität, Astrologie undLebenshilfe stark besetzt. Ein typischesBeispiel für diesen Trend ist die seit Herbst2009 erscheinende Monatszeitschrift„Spirit & Life“ mit dem Untertitel „Maga-zin für moderne Esoterik“ (www.spirit-and-life.info). Das Heft wird im deutsch-sprachigen Raum und in Luxemburg ver-breitet. Als Zielgruppe sind „spirituell in-teressierte Menschen“ ab 14 Jahren imBlick. Und es sind die gängigen konsume-soterischen Themen, um die sich die bunt-farbenen Seiten des Magazins drehen:Gesundheit, alternative Heilmethoden,Magie, Tarot, Horoskope, Edelsteine, En-gel und Mondphasenkalender. Hinzukommen die „esoterische Rätselecke“ unddie „magische Kochschule“. Der englische Titel ist – wie so vieles inder Esoterik-Szene – kein Zufall. Der Titelwurde – so die Chefredakteurin StephanieKirchner (Jahrgang 1975) – bewusst ge-wählt, „weil wir als einzige Zeitschrift auf

dem Markt die Spiritualität und das alltäg-liche Leben ganz eng miteinander verbin-den“. Für eine kleine Überraschung sorgt zu-mindest der relativ niedrige Verkaufspreisvon 1,30 Euro pro Heft. Stephanie Kirch-ner ist in der Esoterik-Szene keine Unbe-kannte. Noch vor kurzem war die „Chef-astrologin“ bei der Zeitschrift „Astro Pri-vat“, dem „Horoskopmagazin für Astrolo-gie, Esoterik und Spirit“ (www.astro-privat-magazin.de), tätig, bis sie wegen inter-ner Differenzen aus der Redaktion aus-schied und sich selbständig machte. Siegründete im Juni 2009 den „Westerwald /Sieg Verlag“ mit Sitz im rheinland-pfälzi-schen Pracht und wenige Monate späterdie neue Esoterik-Zeitschrift. Unter demMotto „aktuell und traditionell“ hat sichder Verlag eigenen Angaben zufolge sei-nen Schwerpunkt „im Natur- und kulturel-len Bereich sowie religiösen [sic!] Rand-gruppen“ gegeben. Die Erstausgabe von „Spirit & Life“(10/2009) lockt mit dem „ewigen Mythos“Atlantis, mit „sieben goldenen Regeln desWohlstands“, Ernährungstipps für Kinderund Tiere, Reiki und Bachblüten, Kreuz-wort- und Sudoku-Rätsel, Horoskopenund Kochrezepten aus der „magischenHexenküche“. Die zweite Ausgabe(11/2009) widmet sich – passend zumMonat November – dem Thema „Jenseits– Stimmen aus dem Reich der Toten“.Dort wird ein „Erfahrungsbericht“ einesspiritistischen Mediums präsentiert, dasüber Jenseitskontakte und eigene irdischeVorexistenzen berichtet. Auf der gleichenSeite wird im Text und in einer blau unter-legten Werbeanzeige für „Rückführun-gen“ geworben, die die Lenormandkar-tenlegerin und Zukunftsdeuterin GiselaMüller als Telefonberatung zum Preis von0,99 Euro pro Minute anbietet. Es findensich auffällig viele Werbeanzeigen mit kostenpflichtigen Angeboten von Hellse-

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hern, Geistheilern und Schamanen. Deneigentlichen Schwerpunkt mit zwei Drit-teln Umfang pro Heft bilden Wochen-und Tages-Horoskope nach den verschie-denen Sternzeichen.Die Chefredakteurin der Zeitschrift ist sichihrer Mission sicher und rührt im Internetkräftig die Werbetrommel: „Es könntedoch sein, dass das Universum mit dembis dato bestehenden Zeitschriftenange-bot nicht so recht zufrieden war – undmich ausgesucht hat, diesen Missstand zubeheben. Also mache ich selbst eine Zeit-schrift. Und zwar so, wie eine moderne,esoterisch ausgerichtete Zeitschrift im 21.Jahrhundert eben sein sollte: dem täg-lichen Leben zugewendet, mit Tipps undRatschlägen, die ganz praktisch im Alltagverwendbar sind. Frisch und zugleich se-riös aufbereitet.“ Im Editorial zur zweitenAusgabe erläutert sie ihr Verständnis vonSpiritualität: „Spiritualität bedeutet die ei-genen Sinne zu schärfen und zu nutzen.“So empfiehlt sie die Meditation „als eineder vielen hervorragenden Möglichkeiten,den Stress und unsere Alltagssorgen loszu-lassen, das Alleinsein zu genießen, völligoffen und durchlässig, und um neues Wis-sen und Kraft zu schöpfen aus dir selbst.“Stephanie Kirchner, ihres Zeichens „Astro-login, Medium, Reiki-Lehrerin“, gibt sichmit ihrem Verlag und ihrer Zeitschrift alsausgebuffte Unternehmerin in SachenKonsumesoterik zu erkennen. Doch esstellt sich die Frage, ob es ihr auf Dauergelingen wird, ein festes Marktsegment fürihr Horoskopmagazin zu erobern. Oderanders ausgedrückt: Die Zukunft von„Spirit & Life“ steht keineswegs in denSternen, sondern ist ausschließlich kom-merziellen und damit rein irdischen Ge-setzmäßigkeiten unterworfen.

Matthias Pöhlmann

Geistheilung

Die Vorstellung, mit Geisteskraft Heilungzu bewirken, kommt in sehr unterschied-lichen weltanschaulichen Milieus vor: inden Naturreligionen, in der esoterischenLebenshilfe oder in pfingstlich-charisma-tischer Frömmigkeit. Gegenüber dem na-turwissenschaftlichen Welt- und Men-schenbild der modernen Medizin erin-nern eine spirituelle Medizin, mentales,geistiges oder energetisches Heilen daran,dass der Geist ein wichtiger, ja charakte-ristischer Teil des Menschen ist. In der Er-forschung der Geistheilung versucht mandie Kräfte zu identifizieren, mit derenHilfe Naturgesetze beeinflusst und Heil-wirkungen herbeigeführt werden können. Gesundheit, Heilung und Heil sind ety-mologisch verwandte Begriffe. Das eng-lische „health“ (Gesundheit) hat als Wur-zel das Wort „hale“, das mit „whole“(ganz) und dem deutschen „heil“ ver-wandt ist. Die Sehnsucht nach Ganzheit,Vollkommenheit und Unversehrtheit ent-springt einem urmenschlichen Bedürfnis.Wenn für Heilung nun ein „Geist“ verant-wortlich gemacht wird, fragt man sichnatürlich sofort, ob damit innerseelischeKräfte oder transpersonale Einflüsse ge-meint sind. Die aktuelle Gesundheitsfor-schung hat eine positive, vertrauensvolleErwartungshaltung gegenüber dem Be-handler als eine wesentliche Vorausset-zung einer Krankenheilung identifiziert.Setzt diese Vertrauensbeziehung geistigeKräfte frei? Oder kann die Leib-Seele-Geist-Einheit durch eine bestimmte Be-wusstseinshaltung in einen Zustand ver-setzt werden, durch den sie zu einer Wirk-stätte übernatürlicher Energien wird? Die Frage nach dem Realitätsgehalt derGeistheilung ist ohne die Reflexion der

STICHWORT

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weltanschaulichen Voraussetzungen nichtzu beantworten. Je nach Weltbild soll einHeilungsprozess angestoßen werdendurch innere Selbstheilungskräfte der Na-tur / des Körpers, durch eine universelle„Lebenskraft“ (Prana, Chi/Qi, Energie)oder durch eine übernatürliche Kraft /Gott(heit).

Historische Aspekte

Im Altertum waren die Heiler Angehörigeder Priesterklasse, und auch im Mittelalterwurde der Arztberuf von der Geistlichkeitausgeübt. Religiöse Übungen und Ritualewie Opfer und Anbetung wurden gezieltzu physischen und psychischen Heil-zwecken eingesetzt. Damit übernahm dieReligion eine lebenspraktische Aufgabe,die ihre ursprüngliche Bestimmung, dasTor zum ewigen Seelenheil zu öffnen,durch zum Teil spektakuläre Heilerfolgekonkret erfahrbar machte.Mit der Aufklärung, der umfassendenTechnisierung des Alltags und den profes-sionellen Spezialisierungen brachen dasreligiöse Heil und die säkulare Heilungauseinander. Therapie und Theologie wur-den zu Rivalinnen. Verfolgt man den Begriff Therapie aufseine älteste bezeugte Bedeutung zurück,tritt jedoch sein religiöser Kern deutlichhervor: Das griechische „therapeuein“ be-deutet zunächst die Götter verehren, derGottheit dienen – und dann auch: besor-gen, warten, pflegen, ärztlich behandelnund eben auch heilen, (wieder-)herstellen.Infolge einer zunehmenden wissenschaft-lichen Welterklärung wurde Heilseinnicht mehr als ein ganzheitliches Erlebenaufgefasst, sondern auf das rein Materiell-Messbare reduziert. Parallel zum medizinischen Fortschrittverbreitete sich im 18. Jahrhundert derHeilmagnetismus von Anton Mesmer(1734-1815) in Europa, der von einer kau-

salen Verbindung der materiellen mit dergeistigen Welt ausging und daraus kon-krete Heilbehandlungen ableitete. NachMesmer ist das Weltall von einem „feinen,wellenartig wogenden Fluidum“ erfüllt,das er als Magnetismus bezeichnete.Diese Naturkraft durchdringe den gesam-ten Kosmos und wirke auf die Lebens-funktion sämtlicher Lebewesen ein. EineStörung des Energieflusses im Körper seidie Ursache von Krankheiten. Mesmerwollte ihn mit der magnetischen Kraft sei-ner Hände wieder zum Fließen bringen. Im 19. Jahrhundert entstand in den USAdie Neugeist-Philosophie, die ebenfallsvon der universellen Gegenwart einergöttlichen Kraft als schöpferischer Energieausging, die alle Wesenheiten umschließeund verbinde. Sie betonte die Gottgleich-heit des Menschen und seine schöpferi-sche Kraft, die ihn zur Überwindung allerÜbel und Krankheiten befähigen könne.Durch besondere geistige Techniken desBetens und Meditierens, durch Affirmatio-nen und Visualisierungen soll diese Heil-kraft allen Menschen zugänglich sein.Mary Baker Eddy (1821-1910) verbandderartige Methoden mit eigenwilligenDeutungen biblischer Erzählungen undentwickelte dadurch die systematischeHeilungslehre von „Christian Science“. Auch in der chinesischen Medizin wirdvon einem unsichtbaren Energie- und In-formationsfeld ausgegangen, das denMenschen umgebe und durchfließe. DieMeridian-Leitbahnen und die Chakren alsHauptverteiler für diese Schwingungenstehen demnach in einem ständigem Kon-takt zur Erde und zum Kosmos. Die chine-sische Medizin hat manuelle und geistigeWege der Beeinflussung dieses Energiefel-des entwickelt. Bei vielen heutigen Geist-heilern sind die Quellen aus Natur- oderHochreligionen, magischen Ritualen,imaginativ-suggestiven Techniken und Po-sitivem Denken miteinander verschmol-

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zen und oft nicht mehr einzeln zu identifi-zieren.

Erscheinungsformen

Schamanische Praktiken und ihr angeb-liches Wissen aus höheren, unsichtbarenParallelwelten haben in Europa in denletzten Jahren an Bedeutung gewonnen.Mittels Trancetechniken sollen Informatio-nen aus der unsichtbaren Welt der Ahnenund Geister zugänglich sein und durch rituelle Handlungen in der Gegenwartwirksam werden. Als eine Dialogplattformversteht sich das Münchner Institut fürEthnomedizin, das archaische Rituale undnaturreligiöse Heilverfahren in Europaverbreiten will und unter anderem einezweijährige Fortbildung in Ethnomedizinanbietet. Nach eigenen Angaben sind andiesem Netzwerk bereits 5000 traditio-nelle Heiler und internationale Wissen-schaftler beteiligt.Die meisten spirituellen Lebenshilfe-An-gebote verwenden esoterische Heilverfah-ren. Mit Hilfe einer Energie oder Geistes-kraft sollen Heilkräfte verfügbar gemachtwerden. Medizinhistorikern zufolgekommt das Energiekonzept eines Flui-dums, Chi oder Prana, das sich einer wis-senschaftlichen Erfassung und Erklärungentzieht, in über 100 verschiedenen Kul-turen vor. Man stellt sich einen „feinstoff-lichen“ Körper vor, ein den materiellenKörper umgebendes geistiges Kraftfeld,auf das heilend eingegriffen werden kann.Ganz praktisch wollen beispielsweiseReiki-Gruppen den kranken Wälderndurch Baum-Meditationen geistig-fein-stoffliche Kräfte zuschicken oder selberbei gesunden Bäumen Energie „auftan-ken“. Dabei werden die Grenzen zwi-schen Materiellem und Geistigem be-wusst überschritten. Auch kleinere welt-anschauliche Gruppen wie anthroposo-phische Heilpraktiker und Ärzte oder An-

hänger des Bruno-Gröning-Freundeskrei-ses arbeiten mit Heilungspraktiken, dieauf spezifischen esoterischen Geistver-ständnissen fußen. Seit einigen Jahren existiert unter dem Na-men „Dachverband Geistiges Heilen“ einZusammenschluss von Heilern und Heile-rinnen, Heilerverbänden, Ärzten, Heil-praktikern und interessierten Laien. Hiersind derzeit 18 Mitgliedsvereine und über4400 Einzelmitglieder mit verschiedenenHeilweisen und Weltanschauungen (z. B.zwei Reiki-Verbände, Interessengemein-schaft medial begabter Menschen, WhiteEagle Lodge) vertreten. Sie wollen überMöglichkeiten geistiger Heilweisen infor-mieren und setzen sich für die Integrationsolcher Heilweisen in das Gesundheits-system ein. Gegenwärtig ist zu beobach-ten, dass Vereine und Verbände des Geis-tigen Heilens gezielt an Kirchen herantre-ten, um ihre Gedanken unter dem Dachder Kirche zu verbreiten.Selten zuvor hat es in Deutschland einesolch große Anzahl von speziellenpfingstlich-charismatischen Heilungsgot-tesdiensten wie in den letzten Jahren ge-geben: Benny Hinn, Charles Ndifon, BillySmith und andere werben zum Teil gezieltdamit, im Auftrag Gottes Kranke heilen zukönnen und dazu beauftragt zu sein. Al-lerdings ist zu fragen, ob solchen Kran-kenheilungen nicht suggestive Praktikenzugrunden liegen und ob ihre häufig nurkurzfristige Wirksamkeit nicht eher demPlacebo-Effekt zuzuschreiben ist. Theolo-gisch ist die Auffassung zurückzuweisen,dass ein gezielter „Heilungsdienst“ um so-fortige und „übernatürliche“ Genesung füralle Kranken Gottes Willen entspricht undzum Auftrag der Kirche gehört.

Einschätzung

• Kein Anspruch auf Heilung: Die Medi-zin steht heute in der Versuchung, einen

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optimierten, einen „perfekten“ Menschenmittels geeigneter Arzneimittel, Psycho-techniken oder gar genetischer Eingriffeherstellen zu wollen. Mittlerweile hat sichbei vielen ein Anspruchsdenken einge-nistet, das in der Gesundheit ein Grund-recht, nicht jedoch ein tägliches Ge-schenk sieht. Höchste körperliche undgeistige Leistungsfähigkeit wird heute zurNorm erklärt, hingegen werden Schwä-che, Leiden, Schmerzen und chronischeEinschränkungen häufig nicht mehr ak-zeptiert. Die Erwartung gänzlicher Mach-barkeit herrscht vor, die aber der mensch-lichen Natur widerspricht. Schon die zyk-lischen Wachstums- und Sterbeprozessein der Natur erinnern daran, dass alles Le-ben der Vergänglichkeit unterworfen ist.Genauso sind der Körper und die Seeleverletzbar und einem unvermeidlichenAbbau-, Alterungs- und Sterbeprozessausgesetzt. Es gilt, sich mit seiner Endlich-keit zu versöhnen.Gegenüber den Heilungsversprechen vie-ler Geistheiler sind die biblischen Be-funde wohltuend wirklichkeitsnah undnüchtern. Krankheit ist Teil der gefallenenSchöpfung, ein mahnendes Merkmal dergestörten Schöpfungsordnung. Die Bibelhat dabei immer den ganzen Menschenim Blick. Denn die körperliche und seeli-sche Gesundheit ist „nur“ ein Bereich desMenschen. Im Mittelpunkt steht nach bib-lischer Perspektive die persönliche Gottes-beziehung. Und die besteht unabhängigvom tadellosen Funktionieren des Kör-pers. Der langsame, aber unaufhaltsamekörperliche Abbau erinnert den Menschenan seine Vergänglichkeit. Gott will sichdem Menschen mitteilen und ist ihm ge-rade auch in Zeiten von Krankheit undNot nahe. Dem gläubigen Menschen gehtes primär nicht um seine Gesundheit, son-dern um eine lebendige Gottesbeziehung.Diese kann sich gerade in Krankheitszei-ten festigen und intensivieren.

• Zur Unterscheidung von Schöpfer undGeschöpf: Geistheiler verwenden beson-dere seelische Fähigkeiten und gruppen-dynamische Möglichkeiten, um außerge-wöhnliche Heilungen herbeizuführen.Das schwer zu fassende Gebiet geistigerKräfte speist sich aus der Intuition, derMotivation, dem Willen, der Suggestion,dem Selbstbewusstsein und dem Vorstel-lungsvermögen. Aus christlicher Sicht las-sen alle Lebenskraft-Vorstellungen dieUnterscheidung zwischen geschaffenerWelt samt darin vorkommender, auch geistiger Energien und dem Schöpfergottvermissen. Die ganze Welt ist SchöpfungGottes, und die Materie wurde erst vonGottes Geist belebt (1. Mo 1). Die Erdeund die menschliche Seele sind Räume,in die hinein der göttliche Geist wirkt undsich entfalten will. Der Wunsch, so wieGott mit Schöpferkraft ausgestattet zusein, ist anmaßend und hat nach bib-lischer Überlieferung zum Sündenfall ge-führt (1. Mo 3). • Der Mensch als Ebenbild Gottes: Inner-halb des kreatürlichen Bereichs derSchöpfung ereignen sich immer wiederaußergewöhnliche Heilungen, die nichtden naturgesetzlichen Erwartungen fol-gen. Weil der Mensch sowohl ein Natur-als auch ein Kulturwesen ist, lässt sichsein Entwicklungsweg schwer vorhersa-gen. Der Mensch als Ebenbild Gottes ent-zieht sich der naturgesetzlichen Kausa-lität.• Zum Heilungsauftrag der Kirche: Nachchristlichem Verständnis ist die Gemeindebeauftragt zu heilen. Damit sind nichtspektakuläre Events gemeint, sondern inGebeten im Kreis der Gemeinde könnendie Anliegen und Sorgen vor Gott ge-bracht werden. Es gibt bewährte Formenwie konkrete Fürbittgebete, das Ältesten-gebet, Segnungsangebote in Gottesdiens-ten und Krankensalbungen. Jesus gab sei-nen Jüngern den Auftrag, das Evangelium

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zu verkündigen und Kranke zu heilen.Diese Männer und Frauen kamen aus deminneren Kreis der Gemeinde und wurdenvon der Gemeindeleitung zur Verkündi-gung und zum Gebet für Kranke beauf-tragt. Dieses Erbe wird heute in vielen Kirchengemeinden wiederentdeckt undreaktiviert. Allerdings ist damit nicht dasErlernen einer speziellen Gebetstechnikgemeint, sondern das Vertrauen auf GottesHandeln, ein Vertrauen, das sich beson-ders aus Gebet und Vergebung speist.Heilungen sind zeichenhafte Hinweiseauf das zukünftige Reich Gottes, in demKrankheit, Leid und Tod endgültig über-wunden sein werden.

Literatur

Baier, Karl, Meditation und Moderne, Würz-burg 2009

Bittner, Wolfgang, Heilung. Zeichen der Herr-schaft Gottes, Schwarzenfeld 2007

Ehm, Simone / Utsch, Michael (Hg.), Wie machtder Glaube gesund? Zur Qualität christlicherGesundheitsangebote, EZW-Texte 199, Ber-lin 2008

Hempelmann, Reinhard (Hg.), Christliche Iden-tität, alternative Heilungsansätze und mo-derne Esoterik, EZW-Texte 191, Berlin 2007

Ritter, Werner H. / Wolf, Bernhard (Hg.), Hei-lung – Energie – Geist, Göttingen 2005

Schneider-Flume, Gunda, Heilung durch denGlauben? In: MD 10/2009, 363-368

Utsch, Michael, Christian Science, in: MD10/2008, 394-397

Utsch, Michael, Gebet als Glaubensmedizin?Überlegungen zu anmaßenden und ange-messenen Gebetshaltungen, in: MD 1/2004,3-11

Utsch, Michael, Zur Forschungs- und Rechts-lage der Geistheilung, in: MD 5/2004, 191f

Walach, Harald, Verfahren der Komplementär-medizin. Beispiel: Heilung durch Gebet undgeistiges Heilen, in: Bundesgesundheitsblatt49 (2006), 788-795

Michael Utsch

José Brunner / Shai Lavi (Hg.), Juden undMuslime in Deutschland. Recht, Religion,Identität, Tel Aviver Jahrbuch für deut-sche Geschichte, Bd. 37, Wallstein Ver-lag, Göttingen 2009, 311 Seiten, 38,00Euro.

Das Minerva Institut für deutsche Ge-schichte der Universität Tel Aviv hat er-neut ein hervorragendes Jahrbuch vorge-legt, in dem 13 vorwiegend jüngere Auto-rinnen und Autoren interdisziplinäre For-schungen (teils auf Englisch) zu einemhoch aktuellen Thema vorstellen. Zwarsiedelten Juden schon in der Antike aufheutigem deutschem Gebiet, währendMuslime als relative Neuankömmlingewahrgenommen werden. Doch teilenbeide Gruppen eine erstaunliche Füllevon diachronen Ähnlichkeiten und paral-lelen Problemkonstellationen in Bezugauf Selbstverständnis, interne Identitäts-diskurse und die Erfahrungen mit Staatund Gesellschaft. Dazu gehören etwa dieWahrnehmung als distinkte kulturell-reli-giöse Gemeinschaft trotz innerer Hetero-genität, Fragen des Fremd- und Anders-seins, des Assimilationsdrucks von innenund von außen, des Umgangs des Staatesmit „Minderheiten“ sowie der bürger-lichen Gleichstellung. Dabei soll Unglei-ches nicht gleich gemacht werden. Ge-rade die differenzierte Darstellung juristi-scher, politischer und kultureller Aspektein historischer und komparativer Perspek-tive kommt jedoch der sachgemäßen Dis-kussion zugute. Der erste von vier Teilen konzentriert sichauf die Anfänge des Nationalstaates undjüdische Reaktionen auf die Begegnungmit der westlichen Moderne. So wird dieHerausbildung der deutschen jüdischenOrthodoxie (Moses „Hatam“ Sofer) be-

BÜCHER

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leuchtet, die dem Reformjudentum, dasDeutschland mit allen religionsgesetzli-chen Folgen als seine Heimat anerkannte,entgegentrat und doch differenziert aufmoderne Entwicklungen einging. Sehrreizvoll ist die Gegenüberstellung vonFranz Rosenzweig und Leopold Weissalias Muhammad Asad hinsichtlich derenWahrnehmung des Islam und der Rolleder religiösen Konversion in der Biogra-phie der beiden jüdischen Intellektuellen. Im zweiten Teil werden das soziokultu-relle Milieu der Muslime in Deutschlandvor 1945 und die unterschiedlichen An-knüpfungsmöglichkeiten an diesen histo-rischen Kontext für Muslime heute unterdie Lupe genommen. Besonders interes-sant ist zu sehen, wie Muslime sich schonin den zwanziger Jahren engagiert gegenihre Exotisierung gewandt und im Kontexteiner muslimischen Bürgerlichkeit dieVereinbarkeit von islamischer Lebens-weise und westlichen Werten zu demons-trieren versucht haben. Der dritte Teil wendet sich der staatlichenReligionssemantik und rechtlichen Rege-lungen zu. Die Deutsche Islamkonferenzwird kritisch analysiert, indem ihr eineFormierungstendenz der islamischenCommunity durch essentialistische Zu-schreibungen und die Fortsetzung einesdominanten paternalistischen Diskursesdurch „säkulare Muslime“ vorgehaltenwird; diese Kategorie sei zudem durch dasProjekt erst verfestigt und gleichsam miteigener Autorität versehen worden. Auf-schlussreich für heutige Debatten ist eindiachroner Vergleich der deutschenRechtssprechung zum jüdischen Schäch-ten im Kaiserreich mit jener zum muslimi-schen rituellen Schlachten seit 1960. Der vierte Teil versammelt Fallstudien undGespräche zu unterschiedlichen Aspektendes Verhältnisses von Juden und Musli-men zur Mehrheitsgesellschaft. Zwarscheint der Holocaust deutsche Muslime

eher wenig zu interessieren, jedoch wer-den Parallelen zwischen den Juden da-mals und Muslimen heute strategisch ein-gesetzt, um Forderungen nach Anerken-nung Nachdruck zu verleihen. In jüdi-schen Gemeinden selbst ist dagegen derBezug auf den Holocaust problematischgeworden, da die russischsprachigen Ju-den – die große Mehrheit in den Gemein-den – mit Erfahrungen und geschicht-lichen Kategorien nach Deutschland ge-kommen sind, die den Erwartungen einer„jüdischen Einheit“ in entscheidendenPunkten entgegenstanden. Schließlichwerden nicht nur die Möglichkeiten, son-dern auch die Grenzen des Internets alsMedium von „imagined communities“erörtert. Dazu wurden arabischstämmigeMuslime befragt, welche Rolle die Idee ei-ner globalen islamischen „Umma“ bei ih-rer Internetnutzung spielt.Ein Rezensionsteil und Abstracts von Dis-sertationsprojekten runden den Band ab,der auf vielfältige Weise die Wechselbe-ziehungen zwischen Mehrheit und denethno-kulturellen Minoritäten so doku-mentiert, dass der interessierte Leser fürdie Komplexität der jeweiligen Selbstver-ständnisse auf beiden Seiten sensibilisiertwird.

Friedmann Eißler

Marcus Wegner, Exorzismus heute. DerTeufel spricht deutsch, Gütersloher Ver-lagshaus, Gütersloh 2009, 318 Seiten,19,95 Euro.

Im Mai 2008 machte eine Hörfunksen-dung des WDR von sich reden: „Beten aufTeufel komm raus“. Dem Autor war mehrgelungen als vielen Journalisten vor ihm:Er hatte an (nicht offiziell genehmigten)Exorzismen teilgenommen, und er hattesowohl mit betroffenen „Empfängern“ re-den können als auch mit den – kirchen-

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rechtlich oft nicht legitimierten – Exorzis-ten. Noch ausführlicher als im Hörfunkwird das nach zweijähriger Rechercheentstandene Material jetzt in diesem Buchvorgestellt.Auffällig sind zunächst die Zahlen, die anmehreren Stellen genannt werden. Etwa30 katholische Priester in Deutschlandseien regelmäßig – ohne offiziellen Auf-trag oder bischöfliche Genehmigung –exorzistisch tätig. Etwa 40 bis 50 Exorzis-men jährlich will einer davon, ein na-mentlich nicht genannter Limburger Pfar-rer, vorgenommen haben. Von 400 Exor-zismen in zwei Jahren wiederum ist beieinem polnischen Pater die Rede, der als„Reise-Exorzist“ in Deutschland unter-wegs ist. Die Szene soll den Namen ken-nen und unter der Hand weitergeben. Von400 Anfragen pro Jahr spricht der Pallotti-nerpater Jörg Müller aus Freising, der frei-lich nur bei einem Bruchteil davon„echte“ Besessenheit annimmt. Rechnetman diese unsystematischen Zahlenanga-ben hoch, kommt man auf Zehntausendevon Anfragen und auf Exorzismen im Tau-senderbereich. Offiziell erlaubt war davonhöchstens eine Handvoll. Aber wo einMarkt ist, finden sich Anbieter.Einige Fälle, bei denen Wegner anwesendsein konnte, klingen ziemlich spektakulär:Menschen sprechen plötzlich in unter-schiedlichen Stimmen, scheue Frauen ver-fallen in obszöne Schimpf-Tiraden, einemMann quillt Blut durch die Poren. Trickse-rei scheint nicht im Spiel zu sein. Demge-genüber steht das alte Ritual des Exorzis-mus, meist auf Latein gebetet: archaischeGeisterkämpfe im 21. Jahrhundert,manchmal auch mit List geführt, wennetwa ein „Exorzist“ laut lateinische Textevon Vergil zitiert, die „Klientin“ aber exaktso reagiert, wie angeblich nur vom SatanErgriffene auf heilige Texte reagieren. Washier offensichtlich ist, legt die Beschrei-bung auch bei anderen nahe: Es handelt

sich um massive Psycho-Pathologien, diesich im Ritus des Exorzismus eher selbstbestätigen und verfestigen, als dass siegelöst werden. Dafür spricht auch die Tat-sache, dass kaum eine der Klientinnen(meist sind es Frauen) nachhaltig geheiltwird; vielmehr wird der Exorzismus einwiederkehrender Bestandteil des Lebens.Manche ziehen sogar einen offensichtli-chen Gewinn aus ihrer Krankheit wie dievom Basler Weihbischof exorzierte BeateH., deren Leben als Erwählte erst Satans,dann Marias endlich eine Bedeutung ge-winnt, die ihr im Alltag ansonsten ver-wehrt bleibt. Unter dem Namen „HeikeR.“ hat sie ihre Sicht der Dinge als „Bookon Demand“ veröffentlicht (Heike R., Vonder Besessenheit zum Glauben. Der Teu-fel wohnt in mir, Norderstedt 2007).Es fällt auf, dass nur die „inoffiziellen“Exorzisten ungebrochen von Besessenheitund Teufel reden. Offizielle Stimmen be-tonen nachdrücklich die Notwendigkeitmedizinischer Expertise, ohne jedochExorzismus oder Befreiungsgebete auszu-schließen. Leider wird in Wegners Buchdie evangelikal-charismatische Theologieund Praxis kaum gestreift. Erstaunlich underhellend sind der Bericht von einer mus-limischen Dämonen-Austreibung durcheinen Hodscha und von einer „Befreiung“durch eine esoterische Magierin und Exor-zistin. Diese spricht zwar von „Fremd-energien“ statt von Dämonen, macht aberansonsten das gleiche wie ihre frommenBrüder: Gebet, Beschwörung, Ritus. Of-fenkundig ist das Denkmuster der Beset-zung der Seele durch fremde Kräfte uni-versal und zeigt sich in unterschiedlichenSprachspielen; die christlich-religiöseSprache ist nur eine davon, das religiöseHilfsangebot ebenso.Der Autor lässt deutlich erkennen, dass erdie psychiatrische und psychotherapeuti-sche Hilfe für die angemessene hält. Den-noch ist sein Resümee der religiös-spiritu-

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ellen Erfahrungen erstaunlich milde: „Inden meisten Fällen sind diese (vom Autorbeobachteten) Teufelsaustreibungen ruhigund beinahe schon friedlich verlaufen.Obwohl in allen Fällen der alte Exorzis-mus-Ritus von 1614 verwendet wurde,ähnelten die meisten von mir erlebten,kirchenamtlich nicht genehmigten Aus-treibungen eher einer unspektakulärenKrankensalbung. Oft haben die Betroffe-nen nur schwer geatmet oder leise gezit-tert und fühlten zumindest unmittelbarnach dem Exorzismus für kurze Zeit eineErleichterung ihrer Qualen“ (223). Auf deranderen Seite macht der Schweizer Psy-chiater Gerhard Dammann im Gesprächdeutlich, dass der religiöse Ritus auchzum Ausweichen vor den psychischenProblemen der Klienten führen kann. „Esist im Interesse von bestimmten Patienten,nicht wirklich mit dem Problem konfron-tiert zu werden. Und so gesehen, um esvielleicht etwas spöttisch zu sagen, wirddurch einen massiven Exorzismus das Felldes Bären etwas weniger nass gemacht alsdurch eine intensive Psychotherapie“ (80).Umso mehr bleibt ein Postulat, was indiesem Buch weniger thematisiert wird:nicht die Alternative „Ritus oder Thera-pie“, sondern die intensive Kooperationvon Seelsorge und Therapie.Fazit: Markus Wegner hat eine Situations-beschreibung zum Exorzismus unter-schiedlicher Prägung in Deutschland vor-gelegt, die in solcher Ausführlichkeit bis-her fehlte. Deshalb lohnt es sich, dasBuch zu lesen. Der gelegentlich fast reiße-rische Reportage-Stil mag nicht jeder-manns Sache sein, sichert aber gute Les-barkeit. Das Buch ersetzt keine theologi-sche Analyse (am aktuellsten immer noch:Ulrich Niemann / Marion Wagner [Hg.],Exorzismus oder Therapie? Regensburg2005), fordert sie aber heraus. Die Diskus-sion über Exorzismus / Befreiungsdienst inDeutschland sollte jedenfalls die hier vor-

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gelegten Fakten aufmerksam zur Kenntnisnehmen.

Lutz Lemhöfer, Frankfurt a. M.

Sabine Doering-Manteuffel, Das Okkulte.Eine Erfolgsgeschichte im Schatten derAufklärung. Von Gutenberg bis zumWorld Wide Web, Siedler-Verlag, Mün-chen 2008, 352 Seiten, 24,95 Euro.

Die Aufklärung ist auch nicht mehr das,was sie einmal war oder für was man siezunächst hielt: der Ausgang des Men-schen aus der selbstverschuldeten Un-mündigkeit durch wachsende Verbreitungvernünftigen Wissens unter verständigenLeuten. Schuld sind – nicht erst heute,sondern schon seit Jahrhunderten – dieMedien. Das weist die Augsburger Profes-sorin für Europäische Ethnologie SabineDoering-Manteuffel in diesem ebenso ge-lehrten wie unterhaltsamen Buch nach.Denn schon seit den Zeiten des Buch-drucks gilt: Jede neue Technik, die geeig-net ist, Wissen zu verbreiten und rechtenGlauben zu lehren, ist ebenso geeignet,banalen Unsinn, phantastische Mythenund kruden Aberglauben unter die Leutezu bringen. „Das Streben nach vernünfti-gen Erklärungen blieb unauflösbar mit sei-nem okkulten Schatten verbunden ... Weilsie auch okkultistisches Wissen zusam-menführten und standardisierten, verbrei-teten die Druckmedien das Okkulte gleicheinem Virus, das in das Programm derAufklärung eindrang und einzelne Be-standteile außer Kraft setzte“ (17f).Diesen Gleichschritt von Aufklärung undGegenaufklärung verfolgt die Autorindurch die Jahrhunderte – ein sehr kurz-weiliger Spaziergang durch das Unterholzder europäischen Geistesgeschichte; siebeschreibt den Aufschwung der Wahrsa-gerei und Kartenschlägerei als den Me-dienmarkt des Magischen im 18. Jahrhun-

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dert. Besonders bedeutsam wurde diesauch auf dem Heilungs- und Gesund-heitsmarkt. Den Anstrich von Gelehrsam-keit gab allein die Benutzung vonBüchern manchem Scharlatan, der etwaseine „Mond-Therapie“ so praktizierte,dass die Patienten den erkrankten Körper-teil zum Fenster hinaus ins Mondlicht hal-ten mussten, während er selbst geheim-nisvolle Formeln murmelte. Billigdruckezu okkulten Fragen verbreiteten Schauer-geschichten von besessenen Frauen, dieden Teufel im Gedärm hätten, die Priesterschmähten und mit Schaum vor demMund durch den Kirchenraum geschleu-dert würden. Gedruckte Spukgeschichtenwurden auf Jahrmärkten verbreitet. DieAufklärung über den Spuk kam dem nichtnach.Schauergeschichten aller Art waren dabeikeineswegs die Domäne der niederenStände. Vielmehr lief die Erfolgsgeschichteder Naturwissenschaften im 19. undfrühen 20. Jahrhundert parallel zum Auf-schwung des Spiritismus. Der Geister-glaube wurde durch die exakte Wissen-schaft keineswegs zurückgedrängt; viel-mehr passte er sich deren Mitteln in Formund Sprache an, suggerierte Exaktheit undVerlässlichkeit in den Verfahren der Nut-zung magischer Kräfte. „Okkultisten fol-gen dem Irrtum, dass durch den Fortschrittin den Naturwissenschaften die Naturwirklich beherrschbar sei. Okkultes, ma-gisches und spiritistisches Denken suchteim 20. Jahrhundert nach einer den Wis-senschaften ebenbürtigen Lehre von derZähmung kosmischer und terrestrischerKräfte“ (184). Gerade Krisenzeiten wie diedes Ersten Weltkriegs ließen Wahrsagereiund Totenbeschwörung aufblühen; daslangsam aufkommende Medium des be-wegten Bildes, der Film, vermochte auchBegegnungen der dritten Art zu bebildern.Ein eigenes Kapitel widmet die Autorinden nicht gerade knappen Anteilen okkul-

ten Denkens in der völkischen Bewegung.Schon Helena Blavatsky, die Begründerinder Theosophie und damit Urmutter dermodernen Esoterik, entwickelte in engerVerbindung mit dem Atlantis-Mythos eineSchöpfungsgeschichte, die eine Theorieder Entstehung höherer und minderwerti-ger Rassen enthält: die Wurzelrassenlehre.Über die „Ariosophie“ des Wiener Esoteri-kers Guido von List fand sie Eingang inden realgeschichtlichen mörderischenRassismus der Nazis; nicht zuletzt der SS-Führer Heinrich Himmler war von völki-schem Okkultismus stark beeinflusst, aberauch Hitler selbst hat sich – folgt man sei-nem Biographen Ian Kershaw – einst inWien intensiv mit okkultistisch-rassisti-scher Schundliteratur befasst. Und siesetzt sich bis heute fort in aktueller esote-rischer Publizistik. „Die Massenpresse,das okkulte Dienstleistungsgewerbe undschließlich das Internet mit seinen esoteri-schen Foren haben den breiten Strom desvölkischen Okkultismus in Fluss gehaltenund zu Teilen sogar verstärkt“ (221), resü-miert die Autorin.Das mit „Suchmaschinen ins Jenseits“überschriebene Schlusskapitel über Ok-kultismus im Internet ist zugleich der ana-lytische Höhepunkt dieses Buches. Sehrgenau beschreibt Doering-Manteuffel,wie das Wissen im Internet zugleich ano-nym und unkontrollierbar wird. Unterdem falschen Etikett der Demokratisie-rung des Wissens kann jede(r) unkontrol-lierbare Behauptungen dauerhaft ins Netzstellen. Bei der virtuellen EnzyklopädieWikipedia „gilt die Formel: ‚Bestand hat,was von der Gemeinschaft akzeptiertwird’. Die Gemeinschaft setzt sich ausfreien, anonymen Nutzern zusammen.Man ist also darauf angewiesen, dass Be-arbeiter wie ‚Zebrastreifen 3’, ‚KaeptnTofu’ oder ‚Speifensender’ das Richtigetreffen“ (280). Das Resultat, so die Auto-rin, ist kaum ermutigend: „Die Wissensge-

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sellschaft leidet unter dem weltweiten In-formationsmüll. Die Massenkultur wirdnoch stärker als bisher von okkulten Da-ten in vielen Sparten des Lebens beein-flusst werden“ (282). Die „Hexenkerzerot“ für Liebeszauber ist im Netz ebensoreal bestellbar wie die „Hexenkerzeschwarz“ für Schadenszauber. Sarkastischkommentiert die Autorin: „Die Geschäfts-idee, das Sichtbare unsichtbar zu machen,ist ein klassischer Schildbürgerstreich.Man könnte auch Schnee hinter demOfen dörren und das Resultat über dasNetz verkaufen. Energieöle und DNS-Spi-ralen werden keinen besseren Nutzen ha-ben“ (287f).So bringt die technische, aber eben nurtechnische Rationalität des Internets ihreeigene medienspezifische Irrationalitäthervor. Wer je auf der Esoterikmesse dasAngebot computergestützter Horoskopegesehen hat, kann die Beobachtung nach-vollziehen. Die blitzgescheite Analyse derAugsburger Kulturanthropologin bringtsolche Alltagserfahrungen auf den Begriff.Klar wird: Ob vormodern, modern oderpostmodern – das Okkulte wird ständigerBegleiter jeder Aufklärung bleiben. Nurdie Formen ändern sich.

Lutz Lemhöfer, Frankfurt a. M.

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AUTORENDr. theol. Friedmann Eißler, geb. 1964, Pfarrer,EZW-Referent für Islam und andere nichtchristlicheReligionen, neue religiöse Bewegungen, östlicheSpiritualität, interreligiösen Dialog.

Dr. theol. Gabriele Lademann-Priemer, geb. 1945,Pastorin, Beauftragte für Weltanschauungsfragender Nordelbischen Evang.-Luth. Kirche, Hamburg.

Lutz Lemhöfer, geb. 1948, kath. Theologe und Po-litologe, Referent für Weltanschauungsfragen imBistum Limburg.

Dr. theol. Matthias Pöhlmann, geb. 1963, Pfarrer,EZW-Referent für Esoterik, Okkultismus, Spiritis-mus, Satanismus.

Prof. Dr. theol. Werner Thiede, geb. 1955, apl.Professor für Systematische Theologie an der Uni-versität Erlangen-Nürnberg, theologischer Referentbeim Regionalbischof in Regensburg.

Dr. phil. Michael Utsch, geb. 1960, Psychologeund Psychotherapeut, EZW-Referent für christlicheSondergemeinschaften, Psychoszene und Scien-tology.

Prof. Dr. theol. Dr. h.c. Gunther Wenz, geb. 1949,Professor für Systematische Theologie an derEvang.-Theol. Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München und Direktor des Instituts fürFundamentaltheologie und Ökumene.

DDr. phil. Franz Winter, geb. 1971, Doktorat inKlassischer Philologie und Religionswissenschaft,Mitarbeiter der österreichischen Bundesstelle fürSektenfragen, Wien.

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Herausgegeben von der Evangelischen Zentralstellefür Weltanschauungsfragen (EZW), einer Einrichtungder Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD),im EKD Verlag Hannover.

Anschrift: Auguststraße 80, 10117 Berlin Telefon (0 30) 2 83 95-2 11, Fax (0 30) 2 83 95-2 12Internet: www.ezw-berlin.deE-Mail: [email protected]

Redaktion: Matthias Pöhlmann, Ulrike LiebauE-Mail: [email protected]

Für den Inhalt der abgedruckten Artikel tragen die jeweiligen Autoren die Verantwortung. Sie geben nicht unbedingt die Meinung der Heraus-geber wieder.

Verlag: EKD Verlag, Herrenhäuser Straße 12,30419 Hannover, Telefon (0511) 2796-0,EKK, Konto 660000, BLZ 25060701.

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Bezugspreis: jährlich € 30,– einschl. Zustellgebühr.Erscheint monatlich. Einzelnummer € 2,50 zuzügl.Bearbeitungsgebühr für Einzelversand. Abbestellungensind nur mit einer Frist von 6 Wochen zum Jahresendemöglich. – Alle Rechte vorbehalten.

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Druck: Maisch & Queck, Gerlingen/Stuttgart.

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MAT

ERIA

LDIEN

ST Zeitschrift fürReligions- undWeltanschauungsfragen

72. Jahrgang 11/09

ISSN

072

1-24

02 H

542

26

Feuerbach, Marx, Nietzsche, FreudRadikale Religionskritik in der Moderne

Einblicke ins Jenseits?Publikationen zur Todesnähe-Forschung

Religiöse Themen in der Manga-Literatur

Tödliche Therapiesitzung

„Stichwort“: Geistheilung

Evangelische Zentralstellefür Weltanschauungsfragen

EZW, Auguststraße 80, 10117 BerlinPVSt, DP AG, Entgelt bezahlt, H 54226

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