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Wegfinden in einer unbekannten Um- gebung bot im vergangenen Jahrhun- dert bisweilen Anlass zum Streit. Aus Sicht des fahrenden Nutzers (“Ehe- mann”) waren die Anweisungen der Assistenz (“kartenlesende Ehefrau”) zu langsam, zu unpräzise und manchmal nicht korrekt. Das computerbasierte, GPS-gestützte Assistenzsystem von heute berechnet die Route selbsttätig, kennt den Standort immer auf wenige Meter genau und gibt die Abbiegean- weisungen aus der Fahrer/innen-Per- spektive. Diese Systeme können Ehen retten und ersparen den Ehemännern unangenehme Erfahrungen beim Ver- such, aus Karten den richtigen Weg zu ermitteln. Für das Wegfinden mit Karten müssen wir die räumliche Information, die in der Karte repräsentiert ist, mental um- formen. Zur Bestimmung der gegen- wärtigen Position suchen wir auffällige “Landmarken” (wie Plätze, Gebäude, Denkmäle, Brücken etc.), Beschilderun- gen oder Eigentümlichkeiten des Weg- verlaufs (z.B. eine abknickende Straße). Wir müssen uns von unserer “egozen- trischen” Sicht lösen und erschließen, wie unsere Umgebung aus der Drauf- sicht in der Karte aussieht. Oft blicken wir nicht nach Norden und müssen unsere Orientierung durch mentale oder tatsächliche Drehung der Karte abgleichen. Die Wegplanung aus der Draufsicht müssen wir wieder in unsere Perspektive übersetzen. Kurz, wir müs- sen aufwendige Transformationen zwi- schen räumlichen Perspektiven durch- führen. Navigationssysteme nehmen uns diesen kognitiven Aufwand ab. Anders als früher neigen Nutzer heute dazu, den Anweisungen des Navigati- onssystems unkritisch zu folgen. Gele- gentlich entnimmt man der Tageszei- tung, dass sich Nutzer mit fehlerhaften Navigationssystemen weit entfernt von ihrem Zielort wiederfanden. Die Ver- mutung liegt nahe, dass Nutzer von Assistenzsystemen eine Art kognitive Trägheit entwickeln und sich nicht mehr eigenständig orientieren. Dies kann je nach Situation unangeneh- me Folgen haben. Fällt das System aus, findet man beispielsweise den Rückweg in einem unbekannten Stadtzentrum nicht mehr. Wenn in Zukunft das Navi- gationssystem so routiniert gezückt wird wie ein Taschenrechner, dann wer- den immer weniger Menschen über geografisches Orientierungswissen ver- fügen – Wissen, das beispielsweise gebraucht wird, um Nutzen aus der europäischen Autobahnbeschilderung zu ziehen, die auf Richtungsangaben zu größeren Städten beruht. Denkt man daran, dass Assistenzsysteme auch von älteren Menschen oder Menschen mit Behinderung verwendet werden, dann haben Fehlfunktionen und Ausfälle sol- cher Systeme ernsthafte, möglicherwei- se lebensbedrohliche Konsequenzen. Assistenzsysteme sollten intelligente kognitive Begleiter sein. Bei der Ent- wicklung von Assistenzsystemen sollte deshalb berücksichtigt werden, dass wichtige Kompetenzen (Ressourcen) des Nutzers nicht verloren gehen soll- ten, sondern vom System unterstützt oder sogar verbessert werden können. Es ist denkbar, dass diese Systeme den 2 Universität des Saarlandes Räumliches Lernen mit Navigationssystemen Stefan Münzer, Hubert Zimmer, Jörg Baus, Christoph Stahl Psychologie und Informatik Navigationssysteme führen komfortabel zum Ziel. Dieser Komfort hat jedoch zur Folge, dass wir kaum Wissen über die räumliche Umgebung erwerben. In einer interdisziplinären Zusammenarbeit zwischen kognitiver Psychologie und Infor- matik im Rahmen des Sonderforschungsbereichs SFB 378 “Ressourcenadaptive kognitive Prozesse” untersuchen die Autoren, wie Navigationssysteme für Fuß- gänger gleichzeitig zum Ziel führen und Wissenserwerb über die Umgebung er- möglichen können. Abb. 1: Ausfall eines Navigationssystems in einer natürlichen Umgebung.

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Wegfinden in einer unbekannten Um-gebung bot im vergangenen Jahrhun-dert bisweilen Anlass zum Streit. AusSicht des fahrenden Nutzers (“Ehe-mann”) waren die Anweisungen derAssistenz (“kartenlesende Ehefrau”) zulangsam, zu unpräzise und manchmalnicht korrekt. Das computerbasierte,GPS-gestützte Assistenzsystem vonheute berechnet die Route selbsttätig,kennt den Standort immer auf wenigeMeter genau und gibt die Abbiegean-weisungen aus der Fahrer/innen-Per-spektive. Diese Systeme können Ehenretten und ersparen den Ehemännernunangenehme Erfahrungen beim Ver-such, aus Karten den richtigen Weg zuermitteln.

Für das Wegfinden mit Karten müssenwir die räumliche Information, die inder Karte repräsentiert ist, mental um-formen. Zur Bestimmung der gegen-wärtigen Position suchen wir auffällige“Landmarken” (wie Plätze, Gebäude,Denkmäle, Brücken etc.), Beschilderun-gen oder Eigentümlichkeiten des Weg-verlaufs (z.B. eine abknickende Straße).Wir müssen uns von unserer “egozen-trischen” Sicht lösen und erschließen,wie unsere Umgebung aus der Drauf-sicht in der Karte aussieht. Oft blickenwir nicht nach Norden und müssenunsere Orientierung durch mentaleoder tatsächliche Drehung der Karteabgleichen. Die Wegplanung aus derDraufsicht müssen wir wieder in unserePerspektive übersetzen. Kurz, wir müs-sen aufwendige Transformationen zwi-schen räumlichen Perspektiven durch-führen. Navigationssysteme nehmenuns diesen kognitiven Aufwand ab.

Anders als früher neigen Nutzer heutedazu, den Anweisungen des Navigati-onssystems unkritisch zu folgen. Gele-gentlich entnimmt man der Tageszei-tung, dass sich Nutzer mit fehlerhaftenNavigationssystemen weit entfernt vonihrem Zielort wiederfanden. Die Ver-mutung liegt nahe, dass Nutzer von

Assistenzsystemen eine Art kognitiveTrägheit entwickeln und sich nicht mehreigenständig orientieren.

Dies kann je nach Situation unangeneh-me Folgen haben. Fällt das System aus,findet man beispielsweise den Rückwegin einem unbekannten Stadtzentrumnicht mehr. Wenn in Zukunft das Navi-gationssystem so routiniert gezücktwird wie ein Taschenrechner, dann wer-den immer weniger Menschen übergeografisches Orientierungswissen ver-fügen – Wissen, das beispielsweisegebraucht wird, um Nutzen aus dereuropäischen Autobahnbeschilderungzu ziehen, die auf Richtungsangaben zu

größeren Städten beruht. Denkt mandaran, dass Assistenzsysteme auch vonälteren Menschen oder Menschen mitBehinderung verwendet werden, dannhaben Fehlfunktionen und Ausfälle sol-cher Systeme ernsthafte, möglicherwei-se lebensbedrohliche Konsequenzen.

Assistenzsysteme sollten intelligentekognitive Begleiter sein. Bei der Ent-wicklung von Assistenzsystemen solltedeshalb berücksichtigt werden, dasswichtige Kompetenzen (Ressourcen)des Nutzers nicht verloren gehen soll-ten, sondern vom System unterstütztoder sogar verbessert werden können.Es ist denkbar, dass diese Systeme den

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Räumliches Lernen mit Navigationssystemen

Stefan Münzer, Hubert Zimmer, Jörg Baus, Christoph StahlPsychologie und Informatik

Navigationssysteme führen komfortabel zum Ziel. Dieser Komfort hat jedoch zurFolge, dass wir kaum Wissen über die räumliche Umgebung erwerben. In einerinterdisziplinären Zusammenarbeit zwischen kognitiver Psychologie und Infor-matik im Rahmen des Sonderforschungsbereichs SFB 378 “Ressourcenadaptivekognitive Prozesse” untersuchen die Autoren, wie Navigationssysteme für Fuß-gänger gleichzeitig zum Ziel führen und Wissenserwerb über die Umgebung er-möglichen können.

Abb. 1: Ausfall eines Navigationssystems in einer natürlichen Umgebung.

Aufbau von räumlichem Wissen fördernund den Orientierungssinn des Nutzersverbessern können.

Der Beitrag beschäftigt sich vor allemmit der Frage, wie Navigationssystemefür Fußgänger räumliches Lernen bei-läufig unterstützen könnten, währendder Nutzer auf einem Weg in einer un-bekannten Umgebung geführt wird.Unsere Untersuchungen haben wir da-bei in realen Umgebungen (nicht imLabor) durchgeführt. Ein weiteres Sze-nario ist die Vermittlung einer Wegbe-schreibung im Innern eines Gebäudes.Auch dieses Szenario ist real – dennmobile Navigationsgeräte empfangenin Gebäuden kein Positionierungssignalund kennen den Gebäudegrundriss

nicht. Bevor wir auf unsere Studien ein-gehen, stellen wir kurz dar, wie Men-schen räumliches Wissen erwerben undwie sie sich dabei voneinander unter-scheiden.

Mentale Repräsentationen der Umwelt

Wenn man eine unbekannte Umge-bung erkundet, erhält man zunächsträumliche Eindrücke aus der eigenen,“egozentrischen” Perspektive. DieStandorte von Objekten werden in Be-zug auf die Körperachsen wahrgenom-men (z.B. “links neben mir”). Durch dieEigenbewegung in der Umgebung än-dern sich diese Informationen ständig.Dabei wird so genanntes “Landmar-kenwissen” (Ansichten der Objekte

und Gebäude aus einer bestimmtenEigenposition) und “Routenwissen”(sequentielle, assoziative Verknüpfun-gen von Objektansichten mit Abbiege-entscheidungen) aufgebaut. Es ist ko-gnitiv aufwendig, aus diesen egozentri-schen Eindrücken eine zusammenhän-gende mentale Repräsentation zu bil-den, die die räumlichen Relationen derObjekte und Gebäude unabhängig vonder Eigenpositionen erfasst (“kognitiveKarte”). Es ist möglich, auch aus verba-len Beschreibungen korrekte mentaleModelle einer räumlichen Konfigurationaufzubauen – der “Input” muss alsonicht notwendig visuell sein (Taylor &Tversky, 1992). Die kognitive Karte er-möglicht Orientierung, Wegplanungund räumliches Schlussfolgern. Für viele

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Stefan Münzer (1.v.links) erwarb das Psychologie-Diplom an der Universität des Saarlandes (1998) und promovierte an derUniversität Leipzig (2002). Anschließend arbeitete er als wissenschaftlicher Mitarbeiter und Projektleiter am Fraunhofer In-stitut Integrierte Publikations- und Informationssysteme (IPSI, Darmstadt). Seit 2005 arbeitet Stefan Münzer als wissen-schaftlicher Mitarbeiter an der Universität des Saarlandes im Sonderforschungsbereich 378 "Ressourcenadaptive kognitiveProzesse". Stefan Münzer bearbeitet anwendungsrelevante Fragestellungen der Kognitionswissenschaft (Raumkognition,inter-individuelle Differenzen, visuell-räumliches Arbeitsgedächtnis) und der pädagogischen Psychologie (kooperatives Ler-nen, netzbasierte Zusammenarbeit in Teams). Hubert Zimmer (1.v.rechts) studierte und promovierte (1983) an der Universität des Saarlandes. Seit 1981 war er durch-gängig wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität des Saarlandes und habilitierte sich für das Fach Psychologie(2003). In den Jahren 2003 und 2004 war Hubert Zimmer Fellow of the Norwegian Academy of Science and Letters (Oslo).Im Jahr 2006 erfolgte die Ernennung zum Professor (apl) an der Universität des Saarlandes. Der Forschungsgegenstand vonHubert Zimmer ist das Gedächtnis. Die Forschungsschwerpunkte liegen im Erinnern von nichtverbalem Material wie Bildernund Klängen und dem Gedächtnis für Raum. Darüber hinaus liegt ein Forschungsschwerpunkt im Erinnern von selbst aus-geführten Handlungen. Das Ziel ist ein neurokognitives Modell des Gedächtnisses, das beschreibt, wie abstrakte Informa-tionen mit sensorischen und motorischen Informationen zusammen gespeichert und erinnert werden. Nach seinem Studium der Informatik an der Universität des Saarlandes promovierte Jörg Baus (2.v.rechts) 2002 als wis-senschaftlicher Mitarbeiter im Sonderforschungsbereich 378 "Ressourcenadaptive kognitive Prozesse"zum Thema "Res-sourcenadaptierende hybride Personennavigation". Neben seinen Forschungsarbeiten im SFB-Projekt " BAIR – Benutzer-adaption in instrumentierten Räumen" sowie dem Projekt "RENA - Resourcenadaptive Navigation" des Transferbereichs53 gehört er seit Oktober 2000 dem Fachbereich "Intelligente Benutzerschnittstellen" des DFKI an.Christoph Stahl (2.v.links) erwarb sein Informatik-Diplom an der Universität des Saarlandes (2001) und arbeitet gegen-wärtig an seiner Dissertation. Seine Forschung befasst sich mit Assistenzsystemen für Fußgänger in intelligenten Umge-bungen (Projekt RENA – resource adaptive navigation), beispielsweise für die Unterstützung von Navigation und Shoppingin einem Flughafenszenario. Ein Schwerpunkt liegt in der Entwicklung von Methoden für die virtuelle Modellierung vonkomplexen Gebäuden zur Navigationsunterstützung.

Zwecke ist die kognitive Karte aller-dings nicht notwendig und wird daheroft auch nach langer Erfahrung nichtaufgebaut. Eine Reihe von Studien zei-gen, dass das räumliche Wissen starkvon der Lernerfahrung abhängt (d.h.aus welcher Perspektive und mit wel-chem Ziel gelernt wurde, z.B. Thorndy-ke & Hayes-Roth, 1982). Transforma-tionen zwischen den Perspektiven fin-den nicht automatisch statt. Es könnenvoneinander unabhängige mentale Re-präsentationen der Umgebung beste-hen.

Inter-individuelle Unterschiede

Menschen behaupten von sich, dass sieeinen “guten” oder “schlechten” Ori-entierungssinn haben. In Studien wurdegefunden, dass eine solche Selbstzu-schreibung einen bedeutsamen Zusam-menhang mit tatsächlichen Orientie-rungsleistungen wie beispielsweise demRichtungsschätzfehler aufweist (Koz-lowsky & Bryant, 1977). Für die Ermitt-lung des Richtungsschätzfehlers wer-den Personen gebeten, ausgehend vonihrer gegenwärtigen Position und Ori-entierung die Richtungen zu bestimm-ten Objekten, Gebäuden in der nähe-ren und ferneren Umgebung oder zuentfernten Städten anzugeben. Ein Un-terschied zwischen Männern und Frau-en ist bei alltagsnahen Orientierungs-aufgaben aufgrund der möglichen un-terschiedlichen Strategien und der ver-schiedenen Testaufgaben schwierignachzuweisen (Überblick bei Coluccia& Louse, 2004).

Gehen interindividuelle Unterschiedebeim Orientierungslernen auf räumliche

Intelligenz zurück? Räumliche Fähig-keitstests erfordern das Visualisierenvon auf Papier abgebildeten kleinenObjekten wie Würfeln, Flaggen oderTangram-Figuren, die man nach einermentalen visuell-räumlichen Manipula-tion miteinander vergleichen soll. Dieseräumlichen Fähigkeiten stehen mit demräumlichen Lernen in realen Umgebun-gen in keinem bedeutsamen Zusam-menhang (Überblick bei Hegarty &Waller, 2005). Als Grund wird vermu-tet, dass das räumliche Lernen in einerUmgebung, die das Individuum selbstenthält, in der egozentrischen Per-spektive stattfindet und das Verrechnenund Zwischenspeichern von einzelnenräumlichen Eindrücken erfordert.

Statt der räumlichen Intelligenz wirddeshalb seit kurzem das visuell-räumli-che Arbeitsgedächtnis als Schlüsselfak-tor für räumliches Lernen in natürlichenUmgebungen diskutiert (Hegarty et al.,2006). Das Arbeitsgedächtnis ist einzentrales Konstrukt der kognitiven Psy-chologie. Mit der Bezeichnung Arbeits-gedächtnis werden kognitive Prozessebeschrieben, die Informationen für einelaufende Verarbeitung zugänglich bzw.“aktiv” halten. Die Menge an Informa-tionen, die im Arbeitsgedächtnis beigleichzeitiger Verarbeitung von Infor-mationen zugänglich gehalten werdenkönnen, ist eng begrenzt, wobei sichPersonen bezüglich der Menge an aktiverhaltener Information unterscheiden.Man spricht dabei von der individuellenArbeitsgedächtniskapazität, die mit ein-fachen Tests gemessen werden kann(Überblick bei Conway et al., 2005).Auch für unsere Studien haben wir ver-mutet, dass die Kapazität des visuell-

räumlichen Arbeitsgedächtnisses räum-liches Lernen in einem alltagsnahenSzenario individuell limitiert.

Karte vs. Navigationssystem

Wir haben einführend beschrieben,dass beim Wegfinden mit einer Karteumfangreiche mentale Umformungenvon räumlicher Information stattfinden.Diese Verarbeitungsprozesse könntenden Nebeneffekt haben, dass wir überdie Umgebung auch längerfristigesÜberblickswissen erwerben. Das Navi-gationssystem stellt die Abbiegeanwei-sung in der egozentrischen Perspektive“fix und fertig” zur Verfügung. WelcheAuswirkungen hat dieser Komfort imVergleich zur Nutzung einer Karte?

Im Saarbrücker Zoo definierten wir ei-nen Rundweg mit 16 Kreuzungen. Diegewundenen Wege, die waldähnlicheUmgebung und die Höhenunterschiedemachen die Orientierung dort nicht ein-fach. Versuchspersonen erhielten einmobiles Navigationssystem (PDA), dasdie Abbiegeentscheidungen entlangdes Weges an jeder Kreuzung gab. Ineiner anderen Bedingung erhielten Ver-suchspersonen Kartenfragmente, aufdenen drei oder vier Kreuzungen mar-kiert waren. Um zum nächsten Zwi-schenziel zu gelangen, mussten die Ver-suchspersonen die aufeinander folgen-den Abbiegeentscheidungen aus derKarte ableiten und sich merken. Im Testdes Routenwissens sollten die Ver-suchspersonen anhand von Fotos derKreuzungen angeben, welche Abbiege-richtung genommen worden war. ImTest des Überblickswissens sollten dieVersuchspersonen die Fotos der Kreu-

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Abb. 2: Gezeichnete Karten des Campus nach einer geführten Tour illustrieren starke inter-individuelle Unterschiede beimräumlichen Lernen. Die Versuchspersonen waren Schüler/innen, die den Campus zum ersten Mal besuchten.

zungen auf die richtigen Kreuzungenauf einer Wegekarte platzieren. DerWissensvorsprung der Kartennutzerwar sowohl für das Routenwissen alsauch für das Überblickswissen erheb-lich. Aktives Enkodieren der räumlichenInformation in der Karte führte also zueinem Lernvorteil in beiden Perspekti-ven (Münzer et al., 2006).

In weiteren Bedingungen wurde über-prüft, ob man das Überblickswissen derNavigationssystemnutzer dadurch ver-bessern kann, dass man zusätzlich zujedem Abbiegehinweis auch räumlicheInformation aus der Überblicksperspek-tive zeigt. Wir mussten jedoch feststel-len, dass sich dadurch weder das Rou-tenwissen noch das Überblickswissenverbesserte. Das reine Präsentieren derÜberblicktsinformation reicht offen-sichtlich nicht aus, um Lernen anzure-gen.

Aktives Enkodieren mit dem Navigationssystem

In einer Reihe von weiteren Experimen-ten haben wir untersucht, ob sich dasräumliche Lernen mit Navigationssyste-men dadurch verbessern lässt, dass dieNutzer die angebotene Informationwährend des Wegfindens verarbeitenmüssen.

Es wurden mehrere Experimente durch-geführt, an denen insgesamt 112 Ver-suchspersonen teilnahmen. Die realeUmgebung war der Campus der Uni-versität des Saarlandes. Die Erkun-

dungstour führte zu verschiedenen Zie-len auf dem Campus – Cafe, AStA,Buchhandlung, DFKI, Mensa, Kapelle,Eingangstor und Bibliothek. Die Ver-suchspersonen waren Schülerinnen undSchüler aus verschiedenen Schulen undGymnasien aus Saarbrücken und Um-gebung ab einem Alter von 16 Jahren.Keine der Versuchspersonen kannteden Campus der Universität des Saar-landes vor der Teilnahme am Experi-ment. In allen Bedingungen wurden dieVersuchspersonen mit einem mobilenNavigationsgerät (PDA) geleitet. DenVersuchspersonen wurde gesagt, dassdie Untersuchung einem Test der Navi-gationsgeräte diene.

Als Beispiel möchten wir ein Experimentdarstellen, in dem wir drei verschiedenevisuelle Wegfindebedingungen vergli-chen (siehe Abbildung 3).

In der Routenbedingung sahen die Ver-suchspersonen auf dem Navigationsge-rät eine grafische, dreidimensionale An-sicht der Kreuzung aus egozentrischerPerspektive. Die Abbiegeanweisungwar durch einen Pfeil in dieser Grafikdargestellt.

In der Kartenbedingung war auf demNavigationsgerät eine vollständige,genordete Karte des Campus zu sehen,in der alle zu besuchenden Ziele farblichmarkiert waren. Die aktuelle Positionund Orientierung war durch einenPunkt mit einer “Nase” dargestellt, umdie Orientierung anzuzeigen. Die Routezum nächsten Ziel wurde durch eine Li-nie dargestellt. Die in der Karte enthal-

tene Wegfindeinformation musste manmit einem Abgleich der Ausrichtungmental korrigieren.

In der Kompassbedingung wurden diePositionen aller Ziele von der aktuellenPosition und Orientierung aus darge-stellt. Dieser Darstellung konnte manstets entnehmen, in welchen Richtun-gen die Ziele in Bezug auf die eigenePosition und die Blickrichtung lagen. Indieser Bedingung waren allerdings kei-ne Weginformationen enthalten, undes fehlten konkrete Abbiegeanweisun-gen. Die Entfernungen zu den Zielenwaren nur annährend korrekt. Bei jederneuen Position und Orientierung wur-den alle Richtungen neu angezeigt(mitrotierend).

Unerwartet für die Versuchspersonenwurden nach der Tour im Labor dreiTestaufgaben durchgeführt. Die ersteAufgabe prüfte das Routenwissen. An-hand von Fotos der Kreuzungen solltesich die Versuchsperson an die Abbie-gerichtungen erinnern. Die zweite Auf-gabe bestand in einer Reihe von Rich-tungsschätzaufgaben zwischen den be-suchten Zielen. Die dritte Aufgabe be-stand darin, eine Kartenskizze anzufer-tigen, welche später in einem zweistufi-gen Verfahrenen mit mehreren Beurtei-lern bewertet wurde (vgl. Abbildung 2).

Die Routenbedingung zeigte die Weg-findeinformation im Format des Rou-ten-Erinnerungstests, die Kartenbedin-gung korrespondierte mit dem Anferti-gen einer Kartenskizze, und die Kom-passbedingung stellte die Information

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Route Karte KompassAbb. 3: Die drei Anzeigeformate in Experiment 3

in dem Format dar, das beim Richtungs-schätztest benötigt wurde.

In allen Bedingungen waren die Ver-suchspersonen gleich gut, wenn esdarum ging, sich an Abbiegerichtungenzu erinnern (rund 80 % korrekte Ent-scheidungen im Routenwissen). Diesermit den anderen Experimenten derSerie übereinstimmende Befund zeigtan, dass sich die Versuchspersonenunabhängig vom Anzeigeformat aufdem PDA an die Route erinnern, ver-mutlich auf Basis direkten Lernens ausder Umgebung. Unterschiede fandenwir in Bezug auf das Überblickswissen.In jener Bedingung, in der die amwenigsten konkrete Information aufdem Navigationssystem zu sehengewesen war (in der Kompassbedin-gung), schätzten die VersuchspersonenRichtungen am besten und zeichnetendie besten Karten. Den mit Abstandgrößten Richtungsschätzfehler zeigtendie Versuchspersonen der Routenbe-dingung. Es ist also möglich, Orientie-rungswissen und Wegfindeinformationgleichzeitig zu vermitteln, wenn manden Wegfindekomfort etwas reduziert.Mit hohem Komfort (Routenbedin-gung) wird der Erwerb von Überblicks-wissen jedoch bebeinträchtigt.

Inter-individuelle Unterschiede

Aufgrund der naturalistischen Gestal-tung der Experimente und des damitverbundenen “Freiraums” für das Ver-arbeiten der verfügbaren Informationenauf Seiten der Versuchsteilnehmerwaren in den Experimenten dieser Seriegroße inter-individuelle Unterschiedebeim räumlichen Lernen zu beobach-ten. Diese sind z.B. an drastischen Qua-litätsunterschieden der gezeichnetenKarten illustrierbar. Gleichzeitig korre-lierten die beiden Überblicksmaße hochmiteinander. Eine gute Karte korrespon-dierte also mit einem niedrigen Rich-tungsschätzfehler, eine schlechte Kartemit einem hohen Schätzfehler.

Wir haben bei allen Versuchsteilneh-mern eine Messung der visuell-räumli-chen Arbeitsgedächtniskapazität durch-geführt, um festzustellen, ob das visu-ell-räumliche Arbeitsgedächtnis dasräumliche Lernen unter Realbedingun-gen individuell limitiert.

In allen Experimenten fanden wir einenmittelhohen, signifikanten Zusammen-

hang zwischen der Arbeitsgedächtnis-kapazität und dem Richtungsschätzfeh-ler d.h. je höher die Arbeitsgedächtnis-kapazität, desto geringer der Rich-tungsschätzfehler (über alle Experimen-te: r = -.44, p < 0.01, N = 112). Mankann daraus schließen, dass die Kapazi-tät des visuell-räumlichen Arbeitsge-dächtnisses den individuellen Lernerfolgin der natürlichen Umgebung mitbe-stimmt. Die visuell-räumliche Arbeits-gedächtniskapazität ist hierfür ein weitbesserer Prädiktor als räumliche Intelli-genz.

Persönliche Wegfindeinformation in komplexen Gebäuden

Navigationssysteme funktionieren nichtüberall. In komplexen Gebäuden kön-nen sie uns nicht den richtigen Weg zei-gen, weil ihnen das Positionierungssig-nal und die Gebäudedaten fehlen. Den-noch möchte man Besuchern, die dasGebäude nicht kennen, eine persönli-che Wegbeschreibung geben. In unse-rem Szenario haben wir einen persönli-chen Routenplan durch einen Compu-ter erstellen lassen. Die Route kanndem Nutzer beispielsweise am Empfangauf einem Bildschirm gezeigt werden.Den Hintergrund hierfür bildet ein vir-tuelles Modell des Gebäudes (Stahl &Haupert, 2006). Wenn man dem Besu-cher des Gebäudes eine solche Wegbe-schreibung zeigt, dann sollte dieseleicht verständlich und gut lernbar sein.Aus dem virtuellen Gebäudemodell sindverschiedene Darstellungsmöglichkei-ten ableitbar. Studien mit ähnlichenSzenarien (Räumliches Lernen aus vir-tuellen Umgebungen, Routenlernen)zeigen uneinheitliche Resultate und ei-ne Präferenz der Besucher für Grund-risskarten. Deswegen wurde eine eige-ne Studie durchgeführt.

Versuchspersonen gingen zwei Teilwe-ge in dem neuen Informatikgebäudeauf dem Campus der Universität desSaarlandes. Das komplexe Gebäude hateine moderne Architektur, die sich ge-mäß den Funktionsbereichen in jedemStockwerk voneinander unterscheidet.Beide Teilwege enthielten einen Stock-werkwechsel in einen anderen Funk-tionsbereich. Jeweils zu Beginn einesTeilweges bekam eine Versuchspersonentweder zwei Grundrisskarten mit ein-gezeichneter Route, einen Film durchdas Gebäudemodell oder eine Sequenzvon Bildern mit Abbiegeentscheidun-

gen zu sehen. Pro Teilweg waren dabeisechs Abbiegeentscheidungen zu ler-nen. Insgesamt trafen die 36 Versuchs-personen 33 falsche Abbiegeentschei-dungen, die sich jedoch sehr ungleichauf die Bedingungen verteilten: Ammeisten Fehler wurden in der Kartenbe-dingung gemacht (19 Fehler), amwenigsten in der Filmbedingung (zweiFehler). Man kann daraus schließen,dass in dieser Situation das Lernen miteiner Animation aus der Perspektive desGehenden zu empfehlen ist. AufGrundrisskarten ist man nicht mehr an-gewiesen, wenn ein Computer denWeg in einem virtuellen Gebäudemo-dell darstellen kann.

Ausblick

Navigationssysteme sollten das Lernenvon Orientierungswissen über die Um-gebung fördern, um der kognitivenTrägheit, die der Umgang mit ihnenbegünstigt, entgegenzuwirken – unddamit orientierungslose Situationen zuvermeiden. Wir haben untersucht, wieman räumliche Informationen so prä-sentieren kann, dass sie – je nach Sze-nario und Lernziel – leicht gelernt wer-den kann. Zusätzlich haben wir inter-individuelle Unterschiede im Erwerbvon Überblickswissen mit der individu-ell limitierten Kapazität des visuell-räumlichen Arbeitsgedächtnisses zumTeil erklären können. Die Forschungsollte sich in Zukunft verstärkt dieseninter-individuellen Unterschieden zu-wenden, und Navigationsgeräte solltensich den inter-individuellen Unterschie-den anpassen können.

Navigationsgeräte werden sich von derreinen Wegführungsfunktion lösen undzu persönlichen kognitiven Assistentenwandeln. Der persönliche kognitive As-sistent kennt seinen Nutzer. Der kogni-tive Assistent weiss beispielsweise, wel-che Ansichten sein Nutzer für die Weg-findeinformation bevorzugt, schätzt dasWissen des Nutzers auf der Basis bereitsbesuchter Ziele und zurückgelegterWege ein und passt die Wegfindeinfor-mation entsprechend an. Damit verbes-sert sich die Kommunikation zwischenNutzer und Assistenzsystem, Routenin-struktionen werden effizienter. Der ko-gnitive Assistent plant einen Weg nichtnur in Bezug auf Schnelligkeit, sondernauch in Bezug auf Einfachheit (z.B. überbereits bekannte Plätze, gute Beschilde-rung, Nutzung von Hauptstraßen), wasFehler und Stress vermeidet. Der kogni-

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tive Assistent achtet außerdem darauf, den Nutzer inBezug auf die globale Orientierung informiert zu hal-ten. Der kognitive Assistent kann auch die Lernfä-higkeit und die Orientierungsstrategie des Nutzers inverschiedenen Situationen trainieren – der selbstzugeschriebene “Orientierungssinn” ist kein un-veränderliches Persönlichkeitsmerkmal. Auf dieseWeise wird das intelligente Assistenzsystem vonmorgen wertvolle Ressourcen und Kompetenzen desNutzers nicht verkümmern lassen, sondern sich kom-plementär dazu verhalten und räumliches Wissenund räumliche Kompetenzen individuell fördern.

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