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WASSERKRAFT WASSERWIRTSCHAFT 1-2 | 2011 43 Ralf Bucher und Heinz Meschitz 1 Das sudanesische Elektrizitätsversorgungssystem Im Jahre 2009 lag der Pro-Kopf-Elektro- energieverbrauch in Sudan bei 94 kWh, was umgerechnet einer Dauerleistung von 11 W entsprechen würde. In Deutschland liegen diese Werte bei 7 185 kWh oder ent- sprechend 820 W [1]. Unter einheitlicher Berücksichtigung hiesiger Strompreise entspräche dies 13 € pro Jahr für einen Bürger des Sudans sowie etwa 1 000 € für einen Bundesbürger. Der Sudan erlebt derzeit einen dyna- mischen Ausbau des Elektrizitätsversor- gungssystems. Die installierte Erzeugungs- leistung steigt im langjährigen Mittel etwa um 16 % p. a.: 2006: 728 MW 2008: 1 235 MW 2016: 3 383 MW (Regierungsplanung) Der Landesenergieverbrauch lag im Sudan im Jahre 2002 bei 0,64 TWh [2], 2007 bei 3,44 TWh [3] und 2009 bei 3,64 TWh [1]. In Anbetracht der Auslegungsparameter der Anlage Merowe auf eine jährliche Energieproduktion von 5,5 TWh bei 1 250 MW installierter Leistung wird deut- lich, mit welchem Engagement die suda- nesische Energieinfrastruktur ausgebaut wird. Rechnerisch könnte die Anlage Me- rowe 1 % des deutschen Elektroenergiebe- darfs von 591 TWh (2009) decken. Als Folge des fortwährenden massiven Ausbaus der installierten Kraftwerksleis- tung wird eine grundsätzliche Neustruktu- rierung des landesweiten Übertragungs- und Verteilnetzesnetzes erforderlich ( Bild 1 ). Die erfolgreiche Netzintegration der Wasserkraftanlage Merowe markiert eine neue Ära in der sudanesischen Elektroenergieversorgung. Mit 1 400 MVA installierter Leistung stellt die Anlage die zentrale Erzeugungseinheit innerhalb des neuen 500-kV-Übertragungsnetzes dar. Die Notwendigkeit der zeitgleichen Inbetriebnahme der Maschinensätze sowie des Höchst- spannungsnetzes erforderte eine strategische Zeitplanung sowie das Management komplexer technisch-organisatorischer Zusammenhänge. Koordination und Durchführung der zeitgleichen Inbetriebnahme der 1 400-MVA-Wasserkraftanlage Merowe und des 500-kV-Höchstspannungsnetzes Bild 1: Netzinbetriebnahme durch die Wasserkraftanlage Merowe und Netzausbauplanung im Sudan bis 2030 [4]

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WASSERWIRTSCHAFT 1-2 | 2011 43

Ralf Bucher und Heinz Meschitz

1 Das sudanesische Elektrizitätsversorgungssystem

Im Jahre 2009 lag der Pro-Kopf-Elektro-energieverbrauch in Sudan bei 94 kWh, was umgerechnet einer Dauerleistung von 11 W entsprechen würde. In Deutschland liegen diese Werte bei 7 185 kWh oder ent-sprechend 820 W [1]. Unter einheitlicher Berücksichtigung hiesiger Strompreise entspräche dies 13 € pro Jahr für einen Bürger des Sudans sowie etwa 1 000 € für einen Bundesbürger.

Der Sudan erlebt derzeit einen dyna-mischen Ausbau des Elektrizitätsversor-gungssystems. Die installierte Erzeugungs-leistung steigt im langjährigen Mittel etwa um 16 % p. a.: ■ 2006: 728 MW ■ 2008: 1 235 MW ■ 2016: 3 383 MW (Regierungsplanung)

Der Landesenergieverbrauch lag im Sudan im Jahre 2002 bei 0,64 TWh [2], 2007 bei 3,44 TWh [3] und 2009 bei 3,64 TWh [1]. In Anbetracht der Auslegungsparameter der Anlage Merowe auf eine jährliche Energieproduktion von 5,5  TWh bei 1 250 MW installierter Leistung wird deut-lich, mit welchem Engagement die suda-nesische Energieinfrastruktur ausgebaut wird. Rechnerisch könnte die Anlage Me-rowe 1 % des deutschen Elektroenergiebe-darfs von 591 TWh (2009) decken.

Als Folge des fortwährenden massiven Ausbaus der installierten Kraftwerks leis-tung wird eine grundsätzliche Neustruktu-rierung des landesweiten Übertragungs- und Verteilnetzesnetzes erforderlich (Bild 1).

Die erfolgreiche Netzintegration der Wasserkraftanlage Merowe markiert eine neue Ära in der sudanesischen Elektroenergieversorgung. Mit 1 400 MVA installierter Leistung stellt die Anlage die zentrale Erzeugungseinheit innerhalb des neuen 500-kV-Übertragungsnetzes dar. Die Notwendigkeit der zeitgleichen Inbetriebnahme der Maschinensätze sowie des Höchst-spannungsnetzes erforderte eine strategische Zeitplanung sowie das Management komplexer technisch-organisatorischer Zusammenhänge.

Koordination und Durchführung der zeitgleichen Inbetriebnahme der 1 400-MVA-Wasserkraftanlage Merowe und des 500-kV-Höchstspannungsnetzes

Bild 1: Netzinbetriebnahme durch die Wasserkraftanlage Merowe und Netzausbauplanung im Sudan bis 2030 [4]

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Hierbei ist zu berücksichtigen, dass der Sudan mit einer Nord-Süd-Ausdehnung von etwa 2 000 km der flächengrößte Staat Afrikas und ungefähr sieben Mal so groß wie Deutschland ist. Um die Übertragungs-verluste möglichst gering zu halten, wurde die 500-kV-Höchstspannungsebene neu eingeführt. In einem ersten Schritt zur Um-setzung wurde hierfür im Rahmen der Projektrealisierung Merowe die Grund-struktur des sehr leistungsfähigen Über-tragungsnetzes aufgebaut. Über drei 500/220-kV-Freiluftschaltanlagen mit ei-ner Netzkuppelleistung von 1 500 MVA wird nachfolgend das 220-kV-Verteilnetz (Gesamtleitungslänge Neuausbau 795 km) gespeist. Die Investitionen für die Über-tragungs- und Verteilnetzeinrichtungen beliefen sich auf ca. 600 Mio. €.

Gemäß der aktuellen Netzausbaupla-nung soll bis 2030 auf der 500-kV-Ebene die derzeitige Leitungslänge von 981 km auf über 4 400 km erhöht werden.

Den Lastschwerpunkt im sudanesischen Netz bildet der Großraum Khartum mit einer Bevölkerungszahl von etwa 8,3 Mio. Derzeit hat allerdings nur etwa 30 % der Be-völkerung Sudans Zugang zu elekt rischer Energie. Im Zuge der Ausbauaktivi täten soll dieser Wert in den kommenden Jahr-zehnten verdreifacht werden.

Mit einem Anteil von bis zu 85 % an der Gesamterzeugungsleistung bildet die An-lage Merowe heute den zentralen Punkt der sudanesischen Elektroenergieerzeugung.

2 Merowe als zentrale Erzeugungseinheit und neuer Netzknoten

Im Krafthaus Merowe sind zehn vertikal angeordnete Francis-Spiralturbinen instal-liert, die bei einer Nettofallhöhe von 45,5 m und einem Durchfluss von je 307,6 m3/s ei-ne Wellenleistung von je 127,3 MW an die direkt gekuppelten 140-MVA-Synchronge-neratoren abgeben (s. a. Beitrag Failer et al. [5]). Je zwei Generatoren speisen über ge-meinsame Maschinentransformatoren (Block 1 bis 5) auf die fünf Eingangsfelder der gasisolierten Schaltanlage (GIS). Die Freileitungsanbindung erfolgt von der GIS über Hochspannungskabelsysteme zur 500-kV-Übergabestation.

Die Hauptenergieabgabe von Merowe erfolgt über zwei parallele 500-kV-Freilei-tungen in Richtung der Hauptstadt Khar-tum. Die durch das kapazitive Verhalten von Freileitungen hervorgerufene Phasen-

verschiebung zwischen Strom und Span-nung bedingt bei einer Leitungslänge von 350 km bei voller Kompensation eine in-duktive Ausgleichsleistung von 355 Mvar. Um den Energieverlust durch den pen-delnden Blindstrom – der in Form von Wär-meverlusten in den Leitern real in Erschei-nung tritt – zu reduzieren, sind an beiden Leitungsenden 125-Mvar-Kompensati-onsdrosseln installiert. Die im Rahmen der Erstinbetriebnahme notwendige Kom-pensation auf einen phasengleichen Wirk-strom (kapazitives und induktives Verhal-ten ausgeglichen) bedarf der Bereitstel-lung von weiteren 105 Mvar induktiver Blindleistung durch mit je 52,5  Mvar untererregt zu fahrende Generatoren in Merowe (355 - 2 x 125 - 2 x 52,5 = 0 Mvar). Diese Art der Kompensation war unum-gänglich, um den regelmäßigen Weiterbe-trieb des sudanesischen Netzes während der mehrfach durchzuführenden Testsyn-chronisierungen und nachfolgenden plan-mäßigen Netztrennungen im Zuge der Einbindung von Merowe in das vorhande-ne 220-kV-Landesnetz sicherzustellen.

Die hier betrachteten Synchrongene-ratoren können im Turbinen-Volllastbe-trieb bei maximaler Wirkleistung bis zu 64 Mvar und im kurzzeitigen Leerlauf be-trieb bis zu 112 Mvar zur Freileitungskom-pensation beitragen. In Bezug auf die im Dauerbetrieb maximal zu Verfügung ste-hende induktive Blindleistung ist die un-tere Grenze des Teillastbetriebsbereichs zu beachten. Diese liegt, abhängig von der Fallhöhe, bei mindestens 67 bis 76 MW. Bei diesen Wirkleistungswerten beträgt gemäß dem Generator-Leistungsdiagramm

(Bild 2) die maximal mögliche Blindleis-tungsabgabe 98 bis 102 Mvar.

Die für den Netzparallelbetrieb anzu-strebende vollständige Leitungskompen-sation mit dem oben errechneten Wert von 105 Mvar kann also in einem für die Turbi-ne unschädlichen Dauerbetrieb nicht durch einen einzigen Generator bereitgestellt werden. Im Zuge der Erstinbetriebnahme stellte der zuverlässige Parallelbetrieb der beiden ersten Maschinen somit eine un-umgängliche Voraussetzung dar, um über-haupt Energie exportieren zu können.

Die im gekoppelten Leerlaufbetrieb von zwei Maschinensätzen mit je 600 t rotie-render Masse notwendige schnelle und sichere Dämpfung von Drehzahl- und Wirk-/Blindleistungspendelungen (Bild 3) bedurfte der Entwicklung ausge-feilter Regelungsalgorithmen. Eine weitere Schwierigkeit stellte die Optimierung der Schrittketten für die automatisierte Durch-führung der spannungsabgesenkten Lei-tungszuschaltung mit nachfolgender Netz-synchronisierung dar.

Aufgrund nicht vorhandener Referenz-anwendungen und den eingeschränkten Möglichkeiten zur Regelkreissimulation war eine offene und strukturierte Zusam-menarbeit der verschiedenen Fachdiszipli-nen (Turbinen-/Erregungsregelung, Ma-schinensteuerung, Hochspannungstech-nik, Schutzsysteme) unabdingbar. Durch risikominimierte Teilsystemtests konnte die einwandfreie Arbeitsweise dieser be-sonderen Funktionen vor Ort systematisch nachgewiesen werden.

Die sich aus diesen Randbedingungen ergebenden technisch-organisatorischen

Bild 2: Generator-Leistungsdiagramm (x-Achse: Blindleistung in Mvar, y-Achse: Wirkleistung in MW)

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Anforderungen stellten die beteiligten Ent-wicklungsingenieure und Inbetriebnahme-spezialisten vor herausfordernde Aufgaben.

3 Koordinierung und Steuerung der Gesamtinbetriebnahme

Die zentrale Aufgabe der Inbetriebnahme-leitung lag in der Sicherstellung der zeitlich aufeinander abgestimmten Tests der beiden technologischen Einzelsysteme „Groß-kraftwerk“ und „Höchstspannungsnetz“.

Als Kernanforderungen und Hauptri-siken der Anlagen- und Netzinbetriebnah-me wurden identifiziert: ■ Spezielles Steuerungs- und Regelungs-

konzept für den Parallelbetrieb von zwei Maschinensätzen (Block 1);

■ Spannungsabsenkung von 500 auf 150 kV zum Zeitpunkt der Zuschaltung der Frei-leitungen;

■ Erste Synchronisierung zum Landesnetz in 350 km Entfernung vom Kraftwerk;

■ Außergewöhnliches Verhältnis von Blockleistung zur Leistung im Landes-netz (134 bis 250 MW zu ~800 MW);

■ Spannungs- und Frequenzhaltung wäh-rend kritischer Leistungstestes (Lastab-schaltungen).

Aufgrund der hohen Relevanz der überge-ordneten Zeitplanung wurden die an der Umsetzung beteiligten Parteien frühzeitig dazu eingeladen, eine eng aufeinander abgestimmte und in beiden Teilbereichen logisch strukturierte Inbetriebnahmestra-tegie zu erarbeiten. An den insgesamt acht über einen Zeitraum von knapp einem Jahr stattfindenden Koordinationssit-zungen nahmen unter der Leitung von Lahmeyer International bis zu 40 Schlüs-selpersonen des Bauherren Dams Imple-mentation Unit (DIU), des sudanesischen Energieversorgers NEC und der Haupt-auftragnehmer Alstom (Kraftwerksausrüs-

tung) und Harbin (Übertragungs- und Verteilnetz) teil.

Folgende Ziele wurden in den „Commis-sioning Coordination Meetings“ verfolgt: ■ Sicherstellung eines lückenlosen Ver-

ständnisses der Komplexität der Aufgabe; ■ Regelmäßige Überprüfung der überge-

ordneten Inbetriebnahmestrategie; ■ Identifizierung und Bewertung techni-

scher und terminlicher Risiken; ■ Abstimmung eines verbindlichen Rah-

menterminplans; ■ Detailklärung von Liefergrenzen und

Ver antwortlichkeiten; ■ Sicherstellung zuverlässiger Kommuni-

kationskanäle; ■ Nominierung eines entscheidungsfä-

higen „Quick-Response-Teams“.Durch die regelmäßigen Sitzungen konn-ten oftmals gegensätzliche Anforderungen aus der Kraftwerks- und Netzinbetriebnah-me abgestimmt sowie ein effektiver Weg für die zielgerichtete Gesamtsysteminbe-triebnahme gefunden werden. Notwendi ge Beschlüsse konnten dank der Entschei-dungskompetenz des Gremiums meist di-rekt gefasst und wichtige Maßnahme zu de-ren Umsetzung zeitnah eingeleitet werden.

Das essentielle Ziel des zeitgleichen Ab-schlusses der Vortests an den Einrichtun-gen des Übertragungsnetzes sowie der Sys-teme im Kraftwerk konnte punktgenau er-reicht werden. Nach Verfügbarkeit des Kraftwerks konnte innerhalb von nur zwei Tagen das gesamte neu errichtete Übertra-gungs- und Verteilnetzsystem stufenwei-se unter Spannung gesetzt werden.

4 Vielschichtige Zeitabhängig-keiten durch den Netzaufbau aus Merowe

Eine außergewöhnliche Anforderung stell-te die Notwendigkeit der vorgezogen en

Inbetriebnahme einer 500-kV-Übertra-gungsleitung durch die Kraftwerksanlage selbst dar. Meist erfolgt die Zuschaltung von Freileitungen und Teilnetzen vom beste-henden Landesnetz aus und die in Betrieb zu setzenden Maschineneinhei ten werden im Bereich des Kraftwerks auf das Netz syn-chronisiert. Aufgrund des vor dem Zeit-punkt der Inbetriebnahme der An lage Me-rowe relativ schwachen Landes netzes sowie der beträchtlichen Leistungsgröße der Netzkuppeltransformatoren war dies je-doch nicht möglich. Weiterhin kon nte auf-grund der Netzkonfiguration nicht mit der Inbetriebnahme der weniger kritischen 220-kV-Systeme begonnen werden, sondern die anspruchsvolleren 500-kV-Systeme wa-ren zwingend zuerst in Betrieb zu setzen.

Da die direkte Zuschaltung einer 500-kV- Freileitung unter Nennspannung mit weniger als vier Generatoren wegen der abrupten Blindleistungsverschiebung und der im Zuschaltmoment auftreten-den hohen kapazitiven Ladeströme nicht möglich war, wurde ein spezielles Steue-rungs- und Regelungskonzept zum Hoch-fahren der 500-kV-Freileitungen entwi-ckelt (engl. „Line Charging“). Hierbei wer-den zwei Maschinen auf Nenndrehzahl be schleunigt, erregt und über den gemein-samen Maschinentransformator synchro-nisiert. Nach erfolgter elektrischer Kopp-lung nehmen die Erregungseinrichtungen eine Absenkung der Statorspannung auf 30 % von nominal 13,8 kV auf 4,2 kV vor. Nach Stabilisierung des entsprechenden Wertes von 150 kV auf der Hochspan-nungsseite erfolgt die Zuschaltung der 350 km langen, bis dahin spannungs-losen Freileitung mit den angebundenen 500/220-kV-Netzkuppeltransformatoren unter deutlich reduzierten Ladeströmen. Nach dem Abklingen der Einschwing-vorgänge erfolgt die graduelle Anhebung auf die Nennspannung von 500 kV, so dass in der Freiluftschaltanlage Markhiyat bei Khartum auf der Unterspannungsseite der Netzkuppeltransformatoren sanft auf das 220-kV-Landesnetz synchronisiert werden kann. Nach erfolgter Netzkopplung findet in Merowe automatisch die Umschaltung von Drehzahlregelung auf Leistungsfre-quenzregelung als Dauerbetriebsart statt.

Durch die Implementierung dieser in-novativen Funktion und der Durchfüh-rung strukturierter Tests konnte die Anla-gen- und Netzinbetriebnahme sehr sicher und materialschonend durchgeführt wer-den. Während der gesamten Inbetriebnah-mephase gab es keine Schäden an Hoch-

Bild 3: Prinzip der Leerlauf-Drehzahlregelung zur vollständigen Kompensation der 500-kV-Freileitungen während der Synchronisierung und Trennung der Teilnetze

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spannungseinrichtungen, die durch unzu-lässige Betriebszustände hervorgerufen worden wären.

Sämtliche neuen 500-kV-Netzkompo-nenten sowie die 220-kV-Verteilnetze North ern Region und Port Sudan wurden individuell vorgetestet und testweise unter Spannung gesetzt. Nach dem erfolgrei chen Abschluss dieser Tests wurden die Teilsys-teme spannungsfrei geschaltet, um die end-gültige Netzintegration von Merowe ge-mäß einem umfassend abgestimmten Zeit-plan ohne Unterbrechung durchzuführen.

Die schrittweisen Leitungs- und Netz-zuschaltungen im Rahmen der Netzinteg-ration von Merowe wurden folgenderma-ßen vorgenommen (Bild 4):1) Kraftwerksinterne Synchronisierung

der Maschinen 1 und 2 über den Block-transformator;

2) Stufenweise Unterspannungsetzung der 500-kV-Freileitungen und 500-kV-Frei-luftschaltanlagen;

3) Direkte Zuschaltung der 500-kV-Frei-leitung Markhiyat – El Kabashi;

4) Erste Synchronisierung zum NEC-Netz auf der 220-kV-Ebene in Markhiyat;

5) Weitere Netzkopplungen auf 220-kV-Ebene in Atbara und El Kabashi;

6) Unterspannungsetzung der 450 km lan-gen 220-kV-Freileitung Port Sudan;

7) Unterspannungsetzung des 220-kV-Netz systems Northern Region.

Es ist zu bemerken, dass jeder der be-schriebenen Teilschritte 4 bis 7 das Risiko

einer massiven Störung der sudanesischen Elektroenergieversorgung in sich trug.

Nach den Testsynchronisierungen auf das Landesnetz erfolgte jeweils die kont-rollierte und stoßfreie Netztrennung durch exakte Einstellung der Maschinendrehzahl und der Erregerspannung, so dass über den 220-kV-Leistungsschalter im entfernten Markhiyat kein Wirk- bzw. Blindstrom mehr floss und die Leitung risikofrei vom Landesnetz getrennt werden konnte. Nach kontrollierter Spannungsabsenkung auf 150 kV wurde in Merowe der GIS-Leis-tungsschalter zur Trennung der mitschwin-genden Freileitung geöffnet. Bei Betrieb mit vier oder mehr Maschinen ist diese Vor-sichtsmaßnahme aufgrund der verbesserten Absorption der Blindleistungssprünge um ±105 Mvar nicht mehr notwendig und die

Abschaltung der Freileitung unter voller Spannung wird möglich.

Wegen des kritischen Verhältnisse zwi-schen Einzelmaschinen- und Gesamt-netz leistung von nur etwa 1 zu 6 war wäh-rend der 125-MW-Volllastabschaltungen besonders auf die Einhaltung der zulässi-gen Frequenz- und Spannungsschwankun-gen im Landesnetz zu achten. Aufgrund der limitierten Reservekapazität des als Insel betriebenen sudanesischen Netzes waren die Auswirkungen durch die Last-abwürfe möglichst gering zu halten. Um den Frequenzeinbruch bei den Volllastab-schaltungen bestmöglich zu dämpfen, wurden zwei Maschinen in einem abge-stimmten Regime betrieben (Bild 5). 15 Sekunden vor dem Lastabwurf betrug die Gesamtleistung aus Merowe 135 MW und

Bild 5: Dämpfung der Netzauswirkungen bei den ersten Volllast-Abschaltversuchen

Bild 4: Schrittweise Zuschaltung von Teilnetzen im Rahmen der Netzintegration

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zu diesem Zeitpunkt wurde der reglerin-terne Wirkleistungssollwert bei Maschi-ne 2 von 10 auf 60 MW gesetzt. Unmittel-bar vor dem Lastabwurf an Maschine 1 (im Diagramm im Bild 5 bei 0 Sekun-den) betrug die Gesamtabgabeleistung 165 MW und direkt danach 40 MW. Nur 10 Sekunden nach dem Lastabwurf war die Gesamtabgabeleistung aufgrund der mit 2 MW/s sehr schnellen Rampenfunk-tion an Maschine 2 bereits wieder auf 60 MW gestiegen. Somit war außerhalb des 25-Sekunden-Zeitfensters durch den Lastver teiler nur eine Differenzleistung von 75 MW auszugleichen. Aufgrund der Elektroenergiesystemen inhärenten Elas-tizität und Trägheit infolge der gleichsin-nig rotierenden Massen konnte durch die unmittelbar vor der Lastabschaltung er-folgte Abgabe von zusätzlich 30  MW (oder etwa 4 % der Gesamtnetzleistung) eine Energievorhaltung mittels leichter Vorbeschleunigung aller synchron am Netz betriebenen Maschinen erreicht werden. Der kurzzeitige Leistungsein-bruch durch die Lastabschaltung konnte in der Folge vom Landesnetz problemlos abgefedert werden.

Mit dieser detailliert ausgearbeiteten und mit dem Lastverteiler abgestimmten Pro-zedur wurde bereits innerhalb der Anlage Merowe, weit entfernt vom Lastzentrum, ein Hauptanteil der Störung durch die Leis tungsentnahme kompensiert. Die sys-temweiten Frequenz- und Spannungsän-derungen blieben moderat und die Stabi-lität der Landesenergieversorgung war

während der Durchführung dieser wich-tigen Tests nie gefährdet.

Um das natürliche Systemverhalten ohne kraftwerksinterne Ausgleichsmechanis-men zu überprüfen, wurde nach dem erfolg-reichen Abschluss der risikominimierten Tests jeweils eine direkte Volllastabschal-tung pro Maschine durchgeführt. Im Zuge der nachfolgenden Inbetriebnahmen der Maschinen 3 bis 10 erfolgte der kraftwerks-interne Leistungsausgleich automatisch über die schnell ansprechende Statikfunk-tion der Leistungsfrequenzregler.

Während der Abschaltversuche an Block  1 wurde durch den Lastverteiler landesweit eine möglichst hohe Anzahl von

synchronen Erzeugungseinheiten (Gas- und Dampfturbinen) im mittleren Lastbereich betrieben, um ausreichend schnell aktivier-bare Regelleistung verfügbar zu haben.

5 Funktionssicherheit durch konsequenten Bottom-up-Testansatz

Aufgrund der multidimensionalen Anfor-derungen durch die notwendigerweise zeitgleiche Inbetriebnahme der Wasser-kraftanlage und des Übertragungsnetzes war eine stabile Strategie mit dem Ziel der sicheren Netzintegration zu verfolgen. Die

Bild 6: Höherer Komplexitätsgrad mit steigender Anzahl interagierender Teilsysteme

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Beherrschung des durch die funktionale Verkettung der Teilsysteme entstehenden hohen Komplexitätsgrades war nur durch die zentrale Koordinierung der zahlrei chen Spezialistenteams möglich.

Gemäß dem sogenannten Bottom-up-Prinzip (engl. etwa „von-unten-nach-oben“) wurden zuerst elementare Komponenten und Systeme, die zur einwandfreien Funk-tion der Hilfseinrichtungen notwendig sind, überprüft. Einem hierarchisch aufge-bauten Inbetriebnahmeprogramm folgend, wurden schrittweise umfassendere und komplizierte Tests durchgeführt. Zur Errei-chung des Projektziels „Energieexport aus Merowe“ war schließlich das fehlerfreie Zu-sammenspiel aller Teilsysteme notwendig.

In Bild 6 ist der zeitliche Ablauf der von-einander abhängigen Teilsysteminbetrieb-nahmen dargestellt. Mit zunehmendem Grad an Verkettung steigen allgemein die Anforderungen, wobei jederzeit ein ein-ziger Fehler das Gesamtsystem blockieren kann. Einen qualitativen Sprung in der Überwachung der Inbetriebnahme stellte der Übergang von den rein kraftwerksin-ternen Tests zu den integrierten Netztests dar. Um diesen Schritt abzusichern, führte Lahmeyer International ein Zertifizie-

rungssystem ein, mit dem die Eignung ab-geschlossener Teilsysteme (Gesamtan-zahl 24) für die Netzintegration vorher durch die jeweilig verantwortlichen Fach-spezialisten systematisch nachgewiesen werden musste. Durch diese Maßnahme konnten instabile Systeme schnell und sicher identifiziert sowie daraufhin ent-sprechend intensiv bearbeitet werden.

Als Höhepunkt der Inbetriebnahme stellte sich die erste erfolgreiche Netzsyn-chronisation dar. Der Abstimmungs- und Koordinationsbedarf war hierbei beson-ders groß, da nun auch der für die Landes-energieversorgung zuständige nationale Lastverteiler zielsicher eingebunden wer-den musste. Da bei Erstzuschaltungen zahl-reiche Parameter und Messwerte über-wacht werden müssen, waren detaillierte Abstimmungen in Minuten- und Sekun-denauflösung mit den räumlich weit ver-teilten Experten- und Spezialistenteams verlässlich vorab zu treffen. Falls in solchen Momenten ein einziges Element nicht ein-wandfrei funktioniert, besteht die Gefahr, dass der Versuch abgebrochen werden muss sowie neuerliche zeitraubende Vor-bereitungsarbeiten und schwierige Termin-abstimmungen notwendig werden.

Mittels wohldurchdachter und präzise durchgeführter Teilsystemtests konnte je-weils eine sichere Basis für die nachfol-gend stetig umfassenderen Versuche ge-schaffen werden.

6 Schlussfolgerung

Maßgeblich für die erfolgreiche Erstin-betriebnahme und Netzintegration der Anlage Merowe waren die frühzeitige Analyse der besonderen Anforderungen und Risi ken sowie die Ausarbeitung ei-ner übergeordneten Inbetriebnahme-strategie.

Die Arbeit in beiden Hauptbereichen – Anlage und Netz – wurde unter der Prä-misse der Gesamtsystemfunktionalität regelmäßig analysiert. Strategische An-passungen wurden im Rahmen der Ko-ordinierungssitzungen zeitnah bespro-chen und abgestimmte Lösungen effektiv umgesetzt.

Ausschlaggebend für die kontrollierte Durchführung der systemweiten Tests wa-ren die zentrale Koordination und die Durchsetzung robuster Qualitätssiche-rungsmaßnahmen. Durch die transparente und fachbezogene Verantwortungszuwei-sung für abgeschlossene Teilsysteme – von mechanischen Hilfssystemen bis zu kom-plexen Softwaremodulen – konnte das modulare Zusammenspiel der funktiona-len Einzeleinheiten verlässlich sicherge-stellt werden.

Der Weg zum Erfolg basierte auf effek-tiver Kommunikation sowie der notwen-digen Systematik im Detail.

AutorenRalf Bucher, M. Sc.Dipl.-Ing. Heinz MeschitzLahmeyer International GmbHFriedberger Straße 17361118 Bad [email protected]@lahmeyer.de

Literatur[1] International Energy Agency (IEA; Hrsg.): Key

World Energy Statistics 2009, Paris.[2] Bartle, A. (Hrsg.): World Atlas & Industry

Guide 2006. The International Journal on Hyd-ropower and Dams, UK.

[3] The World Factbook (www.cia.gov, 12.6.2010).[4] Long Term Plan (www.necsudan.com,

10.6.2010).[5] Failer, E.; El-Hadari, M. H.; Mutaz, M. A. S.: Der

Merowe-Staudamm und dessen Wasserkraft-werk im Sudan. In: WasserWirtschaft 101 (2011), Heft 1–2, S. 10-16.

Ральф Бухер и Хайнц Мешитц

Координирование и одновременный ввод в эксплуатацию гидроэлектростанции Мерове с полной мощностью 1 400 мгВА и сети сверхвысокого напряжения в 500 кВ

Успешная интеграция гидроэлектростанции Мерове в сеть означает «новую эру» в обеспечении Судана электроэнергией. Электростанция с установленной мощностью 1 400 мгВА является главным генерирующим блоком новой сети передач напряжением 500 кВ. Необходимость одновременного ввода в эксплуатацию машинных агрегатов и сети сверхвысокого напряжения потребовала разработки стратегии временного планирования, а также управления всем комплексом технических и организационных задач.

Ralf Bucher and Heinz Meschitz

Coordination and Realisation of the Simultaneous Commissioning of the 1 400 MVA Hydropower Plant Merowe and the 500 kV Backbone Power Grid

The successful grid-integration of the Merowe scheme marks a new era for Sudan‘s energy supply infrastructure. The 1 400 MVA hydropower plant forms the central generation facility within the newly established 500 kV transmission network. The simultaneous commissioning of the large-scale units and the initial energisation of the backbone power grid required strategic time planning and the management of complex technical and organisational interdependencies.