Raumkonstruktion in Vidas Secas_PS-Arbeit_Umdasch

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Universität Salzburg Fachbereich RomanistikPS 1: Analyse literarischer Texte (Portugiesisch) Raumkonstruktion in Vidas Secas und die dadurch entstehende Darstellung der Lebensumstände im SertãoKarina Umdasch

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PS 1: Analyse literarischer Texte (Portugiesisch)

Prof. Dr. Christopher Laferl

WiSe 2010/11

Universität Salzburg

Fachbereich Romanistik

Raumkonstruktion in Vidas Secas und

die dadurch entstehende Darstellung der Lebensumstände im Sertão

Karina Umdasch

Matr.Nr.: 0821396

5. Semester

[email protected]

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Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung ................................................................................................................ 3

2. Raumkonstruktion in der Literatur ..................................................................... 4

2.1. Spatial Turn ...................................................................................................... 4

2.2. Mittel der Raumdarstellung .............................................................................. 5

3. Der brasilianische Regionalismo ........................................................................... 7

4. Der Sertão als Schauplatz ...................................................................................... 8

5. Raumkonstruktion bei Vidas Secas ...................................................................... 9

5.1. Raumkonstruktion durch die Erzählerstimme .................................................. 9 5.1.1. Raumkonstruktion durch Deskription .......................................................... 9 5.1.2. Bewegungsorientierte Raumkonstruktion .................................................. 12

5.2. Raumkonstruktion durch die Figurenrede ...................................................... 14

6. Zusammenfassung ................................................................................................ 16

7. Bibliographie......................................................................................................... 17

7.1. Verwendete Literatur...................................................................................... 17

7.2. Konsultierte, aber in der Arbeit nicht verwendete Literatur........................... 18

7.3. Nicht zugängliche Literatur ............................................................................ 18

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1. Einleitung

„Raum ist in literarischen Texten nicht nur Ort der Handlung, sondern stets auch

kultureller Bedeutungsträger.”1

Dieses Zitat war der Anlass für die Wahl des Themas dieser Arbeit. Sie soll sich

allerdings, wie der Titel bereits verrät, nicht auf Kultur generell, sondern im Speziellen

auf die Lebensumstände im Sertão beziehen. Die zentrale Fragestellung meiner

Proseminararbeit lautet demnach: Was sagt die Raumkonstruktion in Vidas Secas über

die Lebensumstände im Sertão aus?

Dazu habe ich folgende Unterfragen und Hypothesen formuliert:

• Wie stellt die Raumkonstruktion durch Deskription in Vidas Secas die

Lebensumstände im Sertão dar?

� Die Deskription als Mittel der Raumkonstruktion gibt vorwiegend statische

Angaben zur Landschaft und somit dem Lebensumfeld.

• Dominiert die bewegungsorientierte Raumkonstruktion in Vidas Secas gegenüber

anderen Formen der Raumkonstruktion?

� Bewegungsorientierte Raumkonstruktion dominiert eindeutig in Vidas Secas und

beschreibt somit die ständige Reise, ein Charakteristikum des Lebens im Sertão.

• Findet man in der Figurenrede in Vidas Secas auch Elemente der

Raumkonstruktion? Wenn ja, was sagt sie über die Lebensumstände im Sertão

aus?

� In der Figurenrede in Vidas Secas finden sich keine Elemente der

Raumkonstruktion.

Diese Fragen und Hypothesen sollen im Rahmen vorliegender Arbeit geklärt werden.

Zunächst werden allerdings im zweiten Kapitel die Raumkonstruktion in der Literatur,

einschließlich des spatial turn, und deren Mittel dargestellt. Dies liefert den

theoretischen Hintergrund zur Raumkonstruktion, der nötig ist, um eine Analyse von

Vidas Secas durchzuführen. Im dritten Kapitel wird der brasilianische Regionalismo

behandelt und im vierten genauer auf den Sertão als Schauplatz eingegangen, bevor es

dann schließlich im fünften Kapitel zur Analyse von Vidas Secas kommt.

1 Wolfgang Hallet / Birgit Neumann: „Raum und Bewegung in der Literatur. Zur Einführung“, in: ebd., Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn, Bielefeld: transcript 2009, S. 11.

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2. Raumkonstruktion in der Literatur

„Was genau versteht die Literaturwissenschaft unter „Raum“? Die Antwort muss wohl

lauten: vieles und viel Verschiedenes.“2 Literatur ist nie utopisch, sie weist stets einen

Raumbezug auf. Bis zu den 1980ern wurde die Analyse des erzählten Raumes

zugunsten temporalisierter Analyseformen vernachlässigt.3 Das heißt allerdings nicht,

dass man sich nicht mit dem erzählten Raum beschäftigte. Durch die Vielzahl der

Räume wurde aber keine einheitliche Systematik verwendet4.

2.1. Spatial Turn

Seit Mitte der 1980er Jahre ging man „weg von strukturalistischen Analysen der

Raumdarstellung hin zur Erforschung der kulturellen Konstruktion von Räumen und

Grenzen“5. Mit dem Fall der Mauer, der Aufhebung von Grenzen, der Globalisierung,

der weltweiten Vernetzung und der dadurch entstehenden Enträumlichung wurde die

Betrachtung von Räumen und Grenzen immer wichtiger.6 Man spricht in diesem

Zusammenhang auch von einer „Renaissance des Raumbegriffs in den Kultur- und

Sozialwissenschaften“7 und vom spatial turn nach Edward Soja8. Raum wird nunmehr

als soziale Konstruktion gesehen, als „Signatur des individuellen und sozialen

Handelns“9. Man zielt darauf, „den Siegeszug des Historismus mit seiner Vorherrschaft

evolutionistischer Auffassungen von Zeit, Chronologie, Geschichte und Fortschritt zu

überwinden“10. Die für den Historismus übliche Auffassung des Raums als statische,

neutrale Kulisse wird verworfen11. Es kommt zu einer „Ausbildung eines kritischen

Raumverständnis“12.

2 ebd. 3 vgl. ebd., S.19; vgl. Barbara Piatti: Die Geographie der Literatur. Schauplätze, Handlungsräume, Raumphantasien, Göttingen: Wallstein-Verlag 2008, S. 126. 4 vgl. Piatti, Geographie der Literatur, S. 126, 128. 5 Ansgar Nünning: „Formen und Funktionen literarischer Raumdarstellung: Grundlagen, Ansätze, narratologische Kategorien und neue Perspektiven“, in: Hallet, Wolfgang/Neumann, Birgit (Hg.): Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn, Bielefeld: transcript 2009, S. 47. 6 vgl. Doris Bachmann-Medick: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, 2. Auflage. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2007, S. 287. 7 ebd., S. 286. 8 vgl. Hallet / Neumann, Raum und Bewegung in der Literatur, S. 11, 13. 9 Hallet / Neumann, Raum und Bewegung in der Literatur, S. 13. 10 Bachmann-Medick, Cultural Turns, S. 286. 11 vgl. Hallet / Neumann, Raum und Bewegung in der Literatur, S. 15. 12 Bachmann-Medick, Cultural Turns, S. 289.

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Raum gilt also längst nicht mehr als physisch-territorialer, sondern als relationaler Begriff. Für den spatial turn wird nicht der territoriale Raum als Container oder Behälter maßgeblich, sondern Raum als gesellschaftlicher Produktionsprozess der Wahrnehmung, Nutzung und Aneignung […]13

Allerdings ist Bock14 der Ansicht, dass das Container-Raumkonzept bei der

Konstruktion nationaler und kultureller Identitäten sehr wohl noch eine entscheidende

Rolle spielt und betont hier die räumliche Definition des „Eigenen“ und des „Fremden“.

Bachmann-Medick15 sieht Grenzen und Grenzüberschreitungen als ein herausgehobenes

Forschungsfeld des spatial turn. Auch Machtverhältnisse spielen hierbei eine Rolle.

Raum ist das „Produkt sozialen und politischen Handelns“16.

Hier lässt sich auch schon ansatzweise erkennen, dass weiterhin eine Diversität

unterschiedlicher Raumkonzepte besteht und es keine einheitliche Systematik gibt17.

2.2. Mittel der Raumdarstellung

Der erzählte Raum gliedert sich nach Piatti18 in den geographischen Horizont und den

Figurenraum. Ersterer beinhaltet topographische Marker, also Orte, die nur erwähnt

werden, allerdings keine Schauplätze sind, und projizierte Räume, also Sehnsuchtsorte.

Im Figurenraum bewegen sich die Figuren tatsächlich. Er umfasst einzelne geschilderte

Schauplätze welche sich zu Handlungszonen zusammenfügen. Viel Bewegung und viele

Schauplatzwechsel zeichnen sich daher in Handlungszonen.19

Raum wird konzipiert durch Adjektive, Substantive, Präpositionen, Verben et cetera.

„Die Sprache räumlicher Relationen“, so Lotman20, dient als „Material zum Aufbau von

Kulturmodellen mit keineswegs räumlichen Inhalt“ sein. So spricht ervon hoch-niedrig

als Ausdruck für wertvoll und wertlos, rechts-links (gut-schlecht), nah-fern (eigen-

fremd), abgegrenzt-nicht abgegrenzt (zugänglich-unzugänglich), offen-geschlossen

(fremd, vertraut).21

13 ebd., S. 292. 14 vgl. Bock, Stefanie: „Geographies of Identity: Der literarische Raum und kollektive Identitäten am Beispiel der Inszenierung von Nationalität und Geschlecht in Sybil Spottiswoodes Her Husband’s Country (1911)“, in: Hallet, Wolfgang / Neumann, Birgit (Hg.): Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn,Bielefeld: transcript 2009, S. 282. 15 vgl. Bachmann-Medick, Cultural Turns, S. 289. 16 ebd., S. 307. 17 vgl. Hallet / Neumann, Raum und Bewegung in der Literatur, S. 12. 18 vgl. Piatti, Geographie der Literatur, S. 128. 19 vgl. ebd., S. 128-130, 132. 20 Jurij M. Lotman: Die Struktur literarischer Texte, übers. von Rolf-Dietrich Keil, München: Fink 1972 (Uni Taschenbücher 103: Literaturwissenschaft), S. 313. 21 vgl. ebd., S. 313, 327.

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Zentrale Formen der Raumdarstellung sind Deskription und bewegungsorientierte

Raumdarstellung.

Die Deskription, die Beschreibung, ist ein „zentraler und gerade für die

Raumdarstellung besonders wichtiger Modus fiktionaler Welterzeugung“22. Im

Gegensatz zu Kommentaren ist die wertneutral.23 Dennoch können, so Bock24,

„vermeintlich objektive Beschreibungen der erzählten Welt […] hierarchisierende,

einander dichotom gegenüberstehende nationale Selbst- und Fremdbilder entfalten“ und

somit nationale Identitäten und Kulturen herausbilden.

Bewegungen dynamisieren den Raum und bringen die fiktionale Welt ins Wanken.

Figuren durchqueren den Raum und überschreiten Grenzen. Dadurch ergeben sich

Instabilitäten.25 Die „Überwindung von Schranken, das Vordringen in verbotene und

scheinbar unscheinbare Räume“26 sind hier zentrale Themen.

Weiters stellt sich die Frage, ob „Raum primär von einem heterodiegetischen Erzähler

beschrieben, aus der subjektiven Perspektive einer Figur wahrgenommen, oder durch

den Figurendialog thematisiert“27 wird. In meiner Analyse werde ich einerseits die

Deskription und die bewegungsorientierte Raumdarstellung durch die Erzählerstimme

untersuchen und andererseits mir die direkte Figurenrede ansehen.

22 Nünning, Formen und Funktionen literarischer Raumdarstellung, S. 46. 23 vgl. Nünning, Formen und Funktionen literarischer Raumdarstellung, S. 46. 24 Bock, Geographies of Identity, S. 285. 25 vgl. Hallet / Neumann, Raum und Bewegung in der Literatur, S. 17. 26 Friedrich Frosch: Die Fährnis des Raumes. Erinnern und Wahrnehmung bei Graciliano Ramos, Wien: WUV 1995, S. 57. 27 Nünning, Formen und Funktionen literarischer Raumdarstellung, S. 45.

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3. Der brasilianische Regionalismo

Jahrhundertelang orientierte sich die Literatur Brasiliens an importierten Mustern, Strömungen mit Ursprung in Europa. Die eigene Landschaft mit ihren Bewohnern, die Großstädte an der Küste, dienten dabei bestenfalls als Kulissen für eine Thematik, die mit den lokalen und sozialen Gegebenheiten nicht gemein hatte.28

Dies sollte sich in den 30er Jahren ändern. Schrieb man im Realismus noch „über

städtische Themen und für ein städtisches Publikum“29 wandelte sich in den 30ern der

Blickwinkel. Der Auslöser dafür war der 1926 stattfindende Kongress der Recifer

Regionalistengruppe um den Soziologen Gilberto Freyre30. Diese Gruppe stand in

Opposition zu den „Paulistas“31. Man wertete die Regionen Brasiliens kulturell auf und

besinnte sich auf die regionalen Traditionen und Kulturwerte des Nordostens32. Ein

„neuartiges Interesse an einem bisher marginalisierten „anderen“ Brasilien“33 entstand.

Somit erhielt der „Nordosten Brasiliens hier eine eigene literarische Stimme“34 und

wurde in „die Landkarte der brasilianischen Dichtung des zwanzigsten Jahrhunderts“35

eingetragen. Dies geschah „so vital und brilliant, daß [sic] man bald vergaß, daß [sic]

der Roman des Nordostens nicht der Roman Brasiliens ist.“36

Graciliano Ramos ist einer der bekanntesten brasilianischen Autoren und nach

Rosenfeld37 einer der bedeutendsten Vertreter des sogenannten „nordöstlichen“

brasilianischen Romans. Allerdings ist Vidas Secas das einzige regionalistische Werk

von Ramos.38 Thematisch wurde der Sertão auch in anderen Werken von Ramos

behandelt, allerdings nicht so stark wie in Vidas Secas.

Wittschier39 nennt Vidas Secas mit seinen „120 knapp bedruckten Seiten“ ein

„bescheidenes Kunstwerk über die Trockenheit“. Wild40 meint, dies sei nur der

Rahmen, Ramos Interesse gelte ausschließlich der Psychologie seiner Figuren.

28 Frosch, Fährnis des Raumes, S. 26.

29 G. Wild: „Brasilianische Literatur 1920-1970: das neue Interesse für die Regionen“, in: Rössner, Michael: Lateinamerikanische Literaturgeschichte, 2.,erweiterte Auflage, Stuttgart (u.a.): Metzler 2002, S. 373.

30 vgl. Frosch, Fährnis des Raumes, 29; vgl. Wild, Brasilianische Literatur, S. 373.

31 vgl. Emir Rodríguez Monegal: „Graciliano Ramos und der Regionalimus aus dem brasilianischen Nordosten“, in: Strausfeld, Mechthild (Hg.): Brasilianische Literatur, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1984, S. 215.

32 vgl. Wild, Brasilianische Literatur, S. 374. 33 ebd. 34 ebd. S. 373.

35 Monegal, Ramos und der Regionalimus, S. 216. 36 ebd.

37 Anatol H. Rosenfeld: „Graciliano Ramos als Dichter der Dürre“, in: Staden-Jahrbuch. Beiträge zur Brasilkunde Kulturaustausch 9/10 (1961/61), S. 51.

38 vgl. Wild, Brasilianische Literatur, 380; Rosenfeld, Ramos als Dichter der Dürre, S. 54.

39 Heinz Willi Wittschier: Brasilien und sein Roman im 20. Jahrhundert, Rheinfelden: Schäuble 1984 (Romanistik 29), S. 58.

40 vgl. Wild, Brasilianische Literatur, S. 380.

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4. Der Sertão als Schauplatz

„Segende Hitze. Gleißendes Licht. Staub, Steine, Kakteen. Verdorrtes Land, endlos: der

Sertão zur Trockenzeit.“41

Dieses Zitat beschreibt den Sertão sehr gut, welcher im Regionalismus ins Zentrum des

Interesses rückt. Die wüstenartige Einöde der Caatinga, lebensbedrohliche

Trockenheits- und Dürreperioden, Sonnenglut, Regenarmut, Nomadendasein durch das

notwendige Ausweichen auf andere Gebiete, Viehzucht, Räuberwesen, Mystizismus

und Zuckerrohr- und Kakaokulturen 42 - diese Kennzeichen charakterisieren das Leben

im Nordosten und führen dazu, dass

auch die Sprache im Laufe der Zeit auf diese Wirklichkeit mit einem Wortgut antwortet, welches besonders auf die Verhältnisse der Trockenheit zugeschnitten ist: in den Bann von Worten ist die Geschichte und das Wesen der Trockenheit geschlagen.43

Hier wären folgende Ausdrücke zu nennen: Sertão, polígono das sêcas, sêca, sertanejo,

flagelados, retirante, cearense, paroara, brabo, arigó. Die letzten fünf thematisieren die

für den Nordosten charakteristische Flucht.44

Bei Graciliano Ramos werden Räuberwesen, Mystizismus, Zuckerrohr- und

Kakaokulturen nicht so stark behandelt. Nach Castello45 weiß er „den Regionalismus

mit einem Universalismus in Ausgleich zu bringen […], ohne dass einer dem anderen

Abbruch tut“. Wittschier46 meint dazu: „Der Sertão wird wohl typisch und plastisch,

aber dennoch allgemein beschrieben, so daß [sic] er in jedem der entsprechenden

Staaten anzutreffen ist.“ Elemente, die er nennt, sind: weite rote Ebene, Caatinga,

Kakteen (xiquexique, madacar), Geier (urubus), unvorstellbare Hitze, ausgetrockneter

Fluss, leerer Teich und das dadurch beeinflusste Leben und Leid einer Familie.

41 Wittschier, Brasilien und sein Roman, S. 55. 42 vgl. Manuel Diégues Júnior: „Zur Geschichte der sozialen Struktur des Nordostens“, in: Staden-Jahrbuch. Beiträge zur Brasilkunde Kulturaustausch 5 (1957) S. 227; vgl. Rosenfeld, Ramos als Dichter der Dürre, S. 54;

vgl. Erich Arnold von Buggenhagen: „Die Dürre im Nordosten“, in: Staden-Jahrbuch. Beiträge zur Brasilkunde Kulturaustausch 3 (1955) S. 19f.

43 von Buggenhagen, Die Dürre im Nordosten, S. 19. 44 vgl. ebd. 45 Castello, José Aderaldo: „Tendenzen des modernen brasilianischen Romans“, in: Staden-Jahrbuch. Beiträge zur Brasilkunde Kulturaustausch 2 (1954) S. 139. 46 Wittschier, Brasilien und sein Roman, S. 59.

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5. Raumkonstruktion bei Vidas Secas

Die Analyse der Raumkonstruktion in Vidas Secas basiert hier auf der deutschen

Übersetzung47. Es wird allerdings auch das Original48 herangezogen. Gegliedert ist die

Analyse in zwei Teile, welche sich auf die zuvor formulierten Hypothesen beziehen:

Raumkonstruktion durch die Erzählerstimme (Deskription, bewegungsorientierte

Raumkonstruktion) und Raumkonstruktion durch die Figurenrede. Zudem soll zugleich

eine Interpretation in die Analyse eingebaut werden.

5.1. Raumkonstruktion durch die Erzählerstimme

Zur Raumdarstellung durch die Erzählerstimme ist zu sagen, dass sich der Schriftsteller

„über seine Stellung in und zum Raum“ 49 situiert und definiert.

5.1.1. Raumkonstruktion durch Deskription

Die Landschaft des Sertão spielt eine wichtige Rolle in Vidas Secas. Sie ist der

Figurenraum, in dem sich die Familie bewegt und wird somit ständig thematisiert und

beschrieben. Die typische Vegetation zeigt sich in Juazeiro Bäumen/juazeiros (z.B. D S.

7, 9, 10, 11; P S. 9, 10, 12), Catinga-Bäumen/catingueras (z.B. S. 56, 115; P S. 50, 101),

Mandacarú-Pflanzen/mandacaru (z.B. D S. 26; P S. 24), Quixababäumen/Quixabeira

(z.B. D S. 141; P S. 123), Gestrüpp/catinga (z.B. D S. 10, 11; P S. 11) und trockener,

aufgerissenener Schlamm/lama rachada e seca (z.B. D S. 8, 17; P S. 10, 17). Die

Geier/urubus (z.B. D S. 8, 57; P S.10, 51) zeigen die ständige Präsenz des Todes auf,

die auch immer wieder ausgedrückt wird. Es ist die Rede von sterben/morar (z.B. D S.

26; P S. 24), abkratzen/se acabar (z.B. D S. 26; P S. 24), verrecken/morar (z.B. D S. 22;

P S. 21), umbringen/matar (z.B. D S. 41, P S. 38) et cetera.

„Weit und breit alles trocken.“ (D S. 26)

„Er blickte sich nach allen Seiten um. Jenseits der Dächer, die den Horizont begrenzten,

dehnte sich die trockene, harte Ebene aus.“ (D S. 106)

Diese Zitate zeigen zwei weitere zentrale Elemente des Figurenraums in Vidas Secas.

Die Unendlichkeit der weiten, rötlichen Ebene/planície/campina (z.B. D S. 7, 106; P S. 47 Ramos, Graciliano: Karges Leben, übers. von Willy Keller, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1981 (Suhrkamp Taschenbuch 667). 48 Ramos, Graciliano: Vidas Secas, 51. Auflage, Rio de Janeiro (u.a.): Record 1983.

Im Folgenden werden Beispiele aus den beiden Büchern direkt im Text belegt, Beispiele aus dem deutschen

Exemplar mit “D Seitenzahl” und aus dem portugiesischen mit “P Seitenzahl”. “z.B.” wird nur angeführt, wenn

esmehr dieser Beispiele gibt, die jedoch nicht alle genannt werden. 49 Frosch, Fährnis des Raumes, S. 8f.

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9, 95), der Wüste/descampado (z.B. D S. 8, 107; P S. 10) unterstreicht die

Ausweglosigkeit der Situation, in der sich die Familie befindet, ständig gejagt von der

Trockenheit/seca. Diese wird oft ausdrücklich genannt (z.B. D S. 8, 14, 20, 23, 25; P S.

9, 15, 19, 22, 24) aber auch durch Adjektive wie trocken/seco (z.B. D S. 8; P S. 10),

(sonnen) verbrannt/queimado/torrada (z.B. D S.45, 72; P S. 41, 66), verdorrt/plantas

mortas (z.B. D S. 11; P S. 12) et cetera ausgedrückt. Allerdings werden die genannten

Adjektive auch für die Familie verwendet: Man findet die Ausdrücke sonnenverbranntes

Gesicht/rosto queimado (z.B. D S.15; P S.15) und eine trockene Kehle bekommen/secar

a garanta (D S. 46, P S. 42). Generell ist die „Verdorrung des Lebens“ ein zentrales

Mittel in Vidas Secas50. Dies drückt auch bereits der Titel Vidas Secas zu Deutsch

Karges Leben aus.

Interessant ist, dass die ungeheure Hitze/quentura/grande calor (D S. 20, 78; P S. 19, 71)

nur selten direkt genannt wird, sondern primär die Trockenheit. Das lässt sich darauf

zurückführen, dass man Hitze alleine ertragen kann, es jedoch die Trockenheit ist, die

die Existenz bedroht. Sie ist es, die die Familie auf die Reise schickt, stets auf der Suche

nach dem überlebensnotwendigen Wasser, auf die Suche nach Brunnen, Trinkstellen,

Tränken, Teichen. Wird in der deutschen Übersetzung das Synonym Dürre zumindest

manchmal verwendet, so findet man in der Originalversion bei jeder Gelegenheit das

Wort seca, sei es in Funktion eines Nomens als Äquivalent zu Trockenheit und Dürre

oder in der Funktion eines Adjektivs als Ausdruck für trocken, dürr et cetera.

Auch in der Farbsymbolik erkennt man die Hitze und Trockenheit und auch die davon

ausgehende Gefahr. Die Farbe rot wird sehr oft verwendet: Der rötliche Boden der

Ebene/planície avermelhada (D S. 7; P S. 9), das unbestimmte Rot der Erde (D S. 8),

blutgefärbte Wolken/nuvens cor de sangue (D S. 71, P S. 65), Brandröte/vermelhidão

(D S. 134; P S. 117), die Pflanzen wurden rot/avermelharasse (D S. 71, P S. 65). Vor

allem das Rot der Erde, welches ein Ausdruck dieser extremen Trockenheit ist, zeigt

starke Eindrücke, die uns Europäern fremd sind. So werden auch im Portugiesischen

hier viele verschiedene Wörter aus dem semantischen Feld der Farbe Rot verwendet.

Diese Unterscheidung in viele verschiedene Bezeichnungen von Rot zeigt die zentrale

Stellung, die diese Farbe im Nordosten Brasilien einnimmt. Sie wird jedoch nicht nur

der Landschaft zugeschrieben, sondern auch den Menschen und Alltagsgegenständen:

roter Bart/barba ruiva (z.B. D S. 15; P S. 15), rote Decke/coberta vermelha (D S. 95; P

50 Wittschier, Brasilien und sein Roman, S. 59.

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S. 86), rote Mütze/boné vermelho (D S. 113; P S. 100) – es scheint fast so, als wäre dies

die einzig mögliche Farbe im Sertão.

In Opposition zur Trockenheit steht der Regen, welcher einerseits alles gedeihen lässt

und frisches Grün(futter)/a catinaga ficara verde/pasto novo (D S. 16, 73; P S. 16, 67),

das Gegenteil des Rots der Trockenheit und des Todes, bringt, andererseits ebenfalls

eine Bedrohung darstellt. Es ist die Rede von einer Gewaltherrschaft der

Fluten/despotismo de água (D S. 70; P S. 65).

Sehr deutlich werden hier die Hilflosigkeit der Sertanejos und die Ausweglosigkeit ihrer

Situation. Sei es nun durch die Trockenheit oder extreme Regenfälle und Hochwasser,

sie sind den Naturgewalten ausgeliefert und werden dadurch auch zur Flucht, zu einer

nie enden wollenden Reise durch den Sertão gezwungen.

Das Phänomen der Ausgeliefertheit ist auch in einem anderen Zusammenhang zu

beobachten. Immer wieder blicken Fabiano, Sinha Vitória oder ihre Kinder zum

Himmel auf (z.B. D S. 12, 13, 14, 16; P S. 13, 14, 15, 16).

„Er betrachtete wieder den Himmel. Die Wolken hatten sich zusammengezogen. Der

Mond ging auf, groß und weiß. Ganz bestimmt würde es regnen.“ (D S. 14)

Hier könnte auch der Gegensatz oben-unten ein Ausdruck einer Hierarchie sein: Die

Familie ist ganz dem Himmel und seinen Launen (tödliche Sonnenglut, bedrohliche

Regenflut) ausgeliefert. Man sieht zum Himmel auf und hofft, nicht erneut an Orte

flüchten zu müssen, die in diesem Moment das (Über-)Leben noch ermöglichen.

Ein ebenso dimensionaler Ausdruck ist fern-nah. Dieser ist in Vidas Secas im Bezug auf

Autoritäten zu finden:

Die Regierung war etwas weit Entferntes, etwas Vollkommenes, das sich nicht irren konnte. Der gelbhäutige Polizist war etwas Nahes, das sich auf der anderen Seite der Gefängnistür befand, war schwach und niederträchtig. (D S. 35)

Die Regierung ist von Fabiano weiter entfernt und dadurch mächtiger als der

gelbhäutige Polizist. Letzterer ist Fabiano näher und genauso schwach wie er.

Hier soll angeknüpft werden um die Differenz zwischen Menschen aus der Stadt und

Menschen aus dem Landesinneren aufzuzeigen. Erstere werden bezeichnet als

Stadtmenschen/gente da cidade (z.B. D S. 21; P S. 20), Kerle aus der Stadt/tipos da

cidade (z.B. D S. 84; P S. 76), Stadtbewohner/habitantes da cidade (z.B. D S. 85; P S.

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76), reiche Leute/homens ricos (D S. 108; P S. 96), gutgestellte Leute/pessoas

importantes (D S. 108; P S. 96) und gebildete Leute/homens sabidos (D S. 108; P S.

96), letztere als Landbewohner/caboclas (D S. 16; P S. 16), Leute im Inneren des

Landes/homens do sertão (z.B. D S. 23; P S. 21), Leute aus dem Inneren/matutos (z.B.

D S. 89; P S. 81), Bewohner des Inneren/sertanejos na mata (z.B. D S. 140; P S. 122),

Landarbeiter/cambembes (z.B. D S. 25; P S. 23), Hinterwäldler/matutos (z.B. D S. 47,

114; P S. 43, 100), Flüchtlinge/retirantes (z.B. D S. 9; P S. 11) und Fabiano auch oft als

Viehhirte/vaqueiro (z.B. D S. 113; P S. 100). Einige Begriffe wie Hinterwäldler und

Flüchtlinge sind eindeutig negativ konnotiert und zeigen die hierarchische Abstufung zu

Menschen aus der Stadt.

Diese Gegenüberstellung zeigt bereits, dass der Sertão ist nicht der einzige Schauplatz

ist. Die Fazenda im Sertão dient als Zufluchtsort. Die Stadt als Gegensatz zum Land

jedoch birgt viele Gefahren: Vor allem die Kneipe und der damit verbundene Cachaça-

Konsum von Fabiano und das Gefängnis, hinter dem niedrige Autoritäten wie der

gelbhäutige Soldat stehen, sind hier zu nennen.

Interessant ist, dass die projizierten Räume, die Sehnsuchtsorte, sich dennoch auf die

Stadt beziehen, auch wenn die Sertanejos dort nicht hineinpassen. Sie träumen von

einem glückseligen Land und einer Stadt, in welcher sie Zukunftsperspektiven haben.

Auf diese Schauplätze und projizierten Räume soll an dieser Stelle aber nicht genauer

eingegangen werden, denn es ist der Sertão, der den Großteil der Handlungszonen

ausmacht und auch das Thema dieser Arbeit ist.

Abschließend lässt sich sagen, dass in Vidas Secas der Figurenraum eine große Rolle

spielt, daher auch sehr detailreich beschreiben wird und ein stimmiges Bild des Sertão

erzeugt wird. Raumkonstruktion durch Deskription findet sich demnach sehr häufig,

liefert jedoch nicht nur eine statische Beschreibung, sondern konstruiert und

dynamisiert somit den gesamten Handlungsraum.

5.1.2. Bewegungsorientierte Raumkonstruktion

In Vidas Secas finden sich unzählige Bewegungsverben wie gehen/caminhar/andar (z.B.

D S. 7; P S. 9), vorwärtskommen/progredir (z.B. S. 7; P S. 9), folgen/andar atrás (z.B. D

S. 7; P S.9) et cetera. Dies verwundert allerdings nicht weiter, handelt das Buch ja von

der ständigen Reise/viagem/marcha (z.B. D S. 9, 37, 39, 47; P S.10, 34, 36, 43) auf der

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Flucht vor der Trockenheit/se retirar (z.B. D S. 49; P S. 44). Verben wie trotten/pisar/

trotar (z.B. D S. 8, 27; P S. 10, 25) drücken die Erschöpfung aus, die diese mühselige

Reise/viagem arrastada (D S. 37; S. P 34) hervorruft. Aber auch statische Verben wie

nicht von der Stelle weichen/sossegar (z.B. D S. 7; P S. 9), nicht rühren/não se mexer

(z.B. D S. 8; P S. 10), stehenbleiben/deter/parar (z.B. D S. 9; P S.11), Rast

machen/descansar (z.B. D S. 9; P S. 11) zeigen die Ermüdung. Sie sind in dem Sinn ein

Teil bewegungsorientierter Raumkonstruktion, in dem sie die Unterbrechung der

Bewegung ausdrücken.

Auf der Suche nach besseren Lebensbedingungen, jedoch ohne genaues Ziel, durchquert

die Familie mit ihrem ganzen Hab und Gut den Sertão:

„Seine [Fabianos, A.d.V.] Bestimmung war es, das Land zu durchziehen, von einem

Ende zum anderen, sinnlos, wie der ewige Jude.“ (D S. 20)/„A sina dele era correr

mundo, andar para cime e para baixo, à toa, como judeu errante.“ (P S. 19)

Dieses Zitat zeigt abermals die Unausweichlichkeit der Reise, welche von höheren

Gewalten der Natur gefordert wird. Es scheint als würde die Natur, vor allem die

Trockenheit, personifiziert. Sie tritt als Aktant auf und viel wichtiger noch, als

Gegenspielerin:

„Die Juazeiro-Bäume näherten sich.“ (D S. 7)/„Os juazeiros aproximaram-se.“ (P S. 9)

„Er, die Frau und die beiden Kinder würden von der Trockenheit verschlungen werden.“

(D S. 130)/„Ele, a mulher e os dois meninos seriam comidos.“ (P S. 114)

Diese Zitate zeigen die Bedrohung durch die Natur, die ständig lauert, und die Familie

durch den Sertão hetzt.

Die Hypothese, dass die bewegungsorientierte Raumdarstellung in Vidas Secas

überwiegt, konnte nicht verifiziert werden. Zwar findet man viele Ausdrücke

bewegungsorientierter Raumdarstellung, vor allem in den Abschnitten der Reise, aber

diese nimmt nicht überhand.

Im Zentrum des Buches steht nicht nur die zirkuläre Reise, sondern die gesamte

Lebenssituation der Sertanejos. So findet man insgesamt sehr viel mehr

Raumdarstellung durch Deskription, welche ständig, also auch an stationären

Schauplätzen wie der Fazenda, in die Darstellung des Lebens einfließt. Von einer

genauen Zählung wurde abgesehen, dass es eindeutig mehr Raumdarstellung durch

Deskription gibt als bewegungsorientierte Raumdarstellung.

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5.2. Raumkonstruktion durch die Figurenrede

Der Erzähler bleibt seinen stammelnden, fast wortlosen Figuren so nahe, dass ihm das Wunder gelingt, die Lautlosigkeit ihrer Not in Sprache zu verwandeln. Die Kargheit des Wortes scheint jedes menschliche Gefühl ausgepresst zu haben, als sollte nur das ausgebrannte Skelett dieser Existenzen zurückbleiben. 51

Dieses Zitat macht deutlich, dass die Figuren in Vidas Secas sehr wenig sprechen, sie

stoßen oft nur „Laute, Wortfragmente und Satzteile aus“52. Dies zeigt ihr Unvermögen

und auch eine gewisse Machtlosigkeit gegenüber der Natur. Frosch53 spricht in diesem

Zusammenhang von der „Sprachlosigkeit der Entrechteten“. Aufgrund der geringen

Frequenz der direkten Rede ist die Untersuchungsgrundlage stark eingeschränkt. Umso

interessanter ist es aber, zu untersuchen, ob in den wenigen Sätzen oder Satzteilen, die

die Familie artikuliert, Formen der Raumkonstruktion zu erkennen sind. Im Folgenden

sollen diese dargestellt werden.

Bei den folgenden drei direkten Reden handelt es sich hauptsächlich um eine Situation,

wo jemand von jemandem aufgehalten oder bedrängt wird:

„Geh weiter, verfluchter Kerl!“ (D S. 7, 8)/„Anda, condenado do diabo“ (P S. 9)/

„Anda, excomungado” (P S. 10)

Dies sagt Fabiano zu seinem Sohn, als dieser sich aus Ermüdung der langen,

beschwerlichen Reise auf den Boden sinken lässt. Mit dem Verb gehen wird

bewegungsorientierte Raumdarstellung ausgedrückt. Dahinter steht die Flucht vor der

Trockenheit, die die Lebensumstände im Sertão charakterisiert.

„Geh weg!“ (D S. 43)/„Arreda“ (P S. 39)

Diese Aufforderung ist an Baleia gerichtet und stammt von Sinha Vitória. Sie drückt

hier aus, dass sie die Nähe von Baleia in diesem Moment nicht will.

„Hau ab“ (D S. 117)/„Desfasta“ (P S. 105)

Dies will Fabiano zu einem Polizist sagen als er bedrängt wird. Da dieser aber eine

Autorität darstellt, bringt er diese Worte nicht über die Lippen. Hier zeigen sich das

Machtgefälle und die Unterdrückung, die von Autoritäten ausgeht.

51 Rosenfeld, Ramos als Dichter der Dürre, S. 53. 52 Wittschier, Brasilien und sein Roman, S. 58. 53 Frosch, Fährnis des Raumes, S. 13.

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Eine Differenzierung des Eigenen und des Fremden erkennt man in der folgenden

direkten Rede. Fabiano stößt diese Worte aus, als er im Gefängnis sitzt. Er ist wütend,

dass sie einen Mann anstänkerten, der nur seine Ruhe wollte.

„Die anderen [anstänkern, A.d.V.]“ S. 36

Die unendliche Weite des Sertãos wurde an anderer Stelle bereits behandelt. Hierzu

passt auch folgendes Zitat.

„Die Welt ist groß.“ Zusatz vom Erzähler: „In Wirklichkeit war sie klein für sie, aber

sie taten so, als ob sie groß wäre […]“ (D S. 139)/„O mundo é grande.“ (P S. 121)

Diese direkte Rede zeigt, dass sie zwar sagen, dass die Welt groß sei, in Wirklichkeit

aber keine Ahnung haben, wie groß die Welt wirklich ist. Sie kennen nur den Sertão

und angrenzende Städte. Daher auch der Zusatz „In Wirklichkeit war sie klein für sie

[…]“. Die unendliche Weite des Sertãos ist in Anbetracht der ganzen Welt doch

verschwindend klein, sie kennen jedoch nur diesen kleinen Ausschnitt.

Zum Thema Ausweglosigkeit gibt es auch eine direkte Rede, die am Ende des Romans steht: „Ich habe schon tiefer im Dreck gesessen“ Zusatz vom Erzähler: „sagte Fabiano und

forderte den Himmel, die Stacheln und die Geier heraus.“ (D S. 144)/„Tinho comido

toicinho com mais cabelo“ (P S. 125)

Auch wenn Fabiano und seine Familie hier erneut vor der Flucht stehen, das Leben der

Familie „in Kreisen dieses tellurischen Zirkels“54 beschlossen sind, sind der

Lebenswille und der Mut nach wie vor vorhanden. Von Buggenhagen55meint zu diesem

Charakterzug des Sertanejos:

Der Einfluss der eigentümlichen Landschaft, vor allem aber der Einfluss der Trockenheit, die von Zeit zu Zeit das Gebiet betrifft und menschliches Leben bis an die Wurzel des Seins bedroht, haben einen Charakter herausgebildet, der nur diesen Menschen eigen ist und scharf absticht von dem der Landbewohner des übrigen Brasilien.

Die Hypothese, dass sich keine Elemente der Raumkonstruktion durch die direkte Rede

finden ist zu verneinen. Die wenigen Elemente, die gefunden werden konnten, drücken

zusammenfassend eindeutig die Abgrenzung, Unterdrückung und die auswegslose

Situation der ewigen Reise aus.

54 Rosenfeld, Ramos als Dichter der Dürre, S. 54. 55 von Buggenhagen, Die Dürre im Nordosten, S. 24.

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6. Zusammenfassung

Diese Proseminararbeit befasste sich damit, was die Raumkonstruktion in Vidas Secas

über die Lebensumstände im Sertão aussagt. Zunächst ist zu sagen, dass sich in diesem

Roman sehr viele Elemente der Raumkonstruktion finden. Es wurde differenziert in

Raumkonstruktion durch die Erzählerstimme und durch die Figurenrede.

Seitens der Erzählerstimme dominiert die Deskription eindeutig über die bewegungs-

orientierte Raumdarstellung. Alles in allem werden die Umwelt, also der Sertão, und die

Lebenssituation der Sertanejos sehr dynamisch und stimmig geschildert. Hier

dominieren vor allem die semantischen Felder der Trockenheit, des ständig lauernden

Todes und der Farbe Rot. Dies sind auch die zentralen Elemente, die den Alltag der

Familie ausmachen. Die Sertanejos sind hilflos und der Natur, sei es der Trockenheit

oder den extremen Regenfällen, und den Autoritäten (gelbhäutiger Soldat, Gutsbesitzer

etc.) ausgeliefert und werden dadurch zu retirantes, zu Flüchtlingen. Auf der Suche nach

besseren Lebensbedingungen, jedoch ohne genaues Ziel, durchqueren sie mit ihrem

ganzen Hab und Gut die weite, rötliche Ebene. Sie kennen nichts anderes. Die Weite

des Sertãos ist für sie auch eine Art Gefängnis aus dem sie nicht ausbrechen können.

Auch die Stadt birgt viele Gefahren und zeigt, dass die Sertanejos dort einfach nicht

hineinpassen. Dennoch träumen sie von einem glückseligen Land und einer Stadt, in

welcher sie Zukunftsperspektiven haben. Doch ihre Situation ist unverbesserbar und ein

ewiger Teufelskreis, so mündet auch das Ende von Vidas Secas in den Anfang.

Zur Raumkonstruktion durch die Figurenrede ist zu sagen, dass diese sehr wohl

vorhanden ist, die direkte Figurenrede aber grundsätzlich selten vorkommt. Dies drückt

wiederum die Unterdrückung aus, welche in eine „Sprachlosigkeit der Entrechteten“56

mündet. Durch die Raumkonstruktion in der Figurenrede werden abermals die

Abgrenzung von der Stadt und Autoritäten und die auswegslose Situation angesprochen.

Als Abschluss dieser Arbeit soll ein Zitat stehen, das meiner Meinung nach die

wichtigsten Elemente der Raumkonstruktion in Vidas Secas treffend zusammenfasst:

Mit dem Phantom der Stadt, mit den leeren Wörtern, ohne die Chance an einem Ort endgültig Fuß zu fassen, ziehen die Entwurzelten ins Nirgendwo. Verloren in der Weite müssen sie in Bewegung bleiben, um den Tod aufzuschieben, sie sind Opfer oligarchischer, historisch gewachsener und erstarrter Besitzverhältnisse.57

56 Frosch, Fährnis des Raumes, S. 13. 57 ebd. S.88.

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7. Bibliographie

Hier werden die verwendete Literatur, die konsultierte, aber in der Arbeit nicht

verwendete Literatur und auch die nicht zugängliche Literatur, welche entweder bis

Februar oder später entlehnt oder nicht in Salzburg vorhanden war, angeführt.

7.1. Verwendete Literatur

Bachmann-Medick, Doris: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, 2. Auflage, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2007.

Bock, Stefanie: „Geographies of Identity: Der literarische Raum und kollektive Identitäten am Beispiel der Inszenierung von Nationalität und Geschlecht in Sybil Spottiswoodes Her Husband’s Country (1911)“, in: Hallet, Wolfgang / Neumann, Birgit (Hg.): Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn, Bielefeld: transcript 2009, S.281-297.

Castello, José Aderaldo: „Tendenzen des modernen brasilianischen Romans“, in: Staden-Jahrbuch. Beiträge zur Brasilkunde Kulturaustausch 2 (1954) S. 133-153.

Diégues Júnior, Manuel: „Zur Geschichte der sozialen Struktur des Nordostens“, in: Staden-Jahrbuch. Beiträge zur Brasilkunde Kulturaustausch 5 (1957) S.223- 231.

Frosch, Friedrich: Die Fährnis des Raumes. Erinnern und Wahrnehmung bei Graciliano

Ramos, Wien: WUV 1995.

Hallet, Wolfgang / Neumann, Birgit: „Raum und Bewegung in der Literatur. Zur Einführung“ , in: ebd., Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn, Bielefeld: transcript 2009, S.11-32.

Lotman, Jurij M.: Die Struktur literarischer Texte, übers. von Rolf-Dietrich Keil, München: Fink 1972 (Uni-Taschenbücher 103: Literaturwissenschaft).

Monegal, Emir Rodríguez: „Graciliano Ramos und der Regionalimus aus dem brasilianischen Nordosten“, in: Strausfeld, Mechthild (Hg.): Brasilianische Literatur, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1984.

Nünning, Ansgar: „Formen und Funktionen literarischer Raumdarstellung: Grundlagen, Ansätze, narratologische Kategorien und neue Perspektiven“, in: Hallet, Wolfgang / Neumann, Birgit (Hg.): Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn, Bielefeld: transcript 2009, S.33-52.

Piatti, Barbara: Die Geographie der Literatur. Schauplätze, Handlungsräume, Raumphantasien, Göttingen: Wallstein-Verlag 2008.

Ramos, Graciliano: Karges Leben, übers. von Willy Keller, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1981 (Suhrkamp Taschenbuch 667).

Ramos, Graciliano: Vidas Secas, 51. Auflage, Rio de Janeiro (u.a.): Record 1983.

Rosenfeld, Anatol H.: „Graciliano Ramos als Dichter der Dürre“, in: Staden-Jahrbuch. Beiträge zur Brasilkunde Kulturaustausch 9/10 (1961/61), S. 51-57.

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von Buggenhagen, Erich Arnold: „Die Dürre im Nordosten“, in: Staden-Jahrbuch. Beiträge zur Brasilkunde Kulturaustausch 3 (1955) S.19-29.

Wild, G.: „Brasilianische Literatur 1920-1970: das neue Interesse für die Regionen“, in: Rössner, Michael: Lateinamerikanische Literaturgeschichte, 2., erweiterte Auflage, Stuttgart (u.a.): Metzler 2002, S. 372-392.

Wittschier, Heinz Willi: Brasilien und sein Roman im 20. Jahrhundert, Rheinfelden: Schäuble 1984 (Romanistik 29).

7.2. Konsultierte, aber in der Arbeit nicht verwendete Literatur

Brynhildsvoll, Knut: Der literarische Raum. Konzeptionen und Entwürfe, Frankfurt am Main (u.a.): Lang 1993.

Claesges, Ulrich: Edmund Husserls Theorie der Raumkonstitution, Den Haag: Nijhoff 1964.

Dolle, Verena / Helfrich, Uta (Hg.): Zum "spatial turn" in der Romanistik. Akten der Sektion 25 des XXX. Romanistentages (Wien, 23. - 27. September 2007), München: Meidenbauer 2009.

Hoffmann, Gerhard: Raum, Situation, erzählte Wirklichkeit. Poetologische und

historische Studien zum englischen und amerikanischen Roman, Stuttgart: Metzler 1978.

Martinez, Matias / Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie, 6. Auflage, München: Beck 2005.

Lobsien, Eckhard: Landschaft in Texten. Zu Geschichte und Phänomenologie der literarischen Bedeutung, Stuttgart: Metzler 1981.

Jens, Walter (Hg.): Kindlers neues Literatur Lexikon 13, München: Kindler 1991.

Oesterreicher, Wulf: „Raumkonzepte in der Sprachwissenschaft. Abstraktionen - Metonymien - Metaphern“, in: Romanistisches Jahrbuch 58 (2007), S. 51-91.

7.3. Nicht zugängliche Literatur Assert, Bodo: Der Raum in der Erzählkunst. Wandlungen der Raumdarstellung in der

Dichtung des 20. Jahrhunderts, Dissertation: Tübingen 1973.

Dünne, Jörg (Hg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006.

Schubert, Christoph: Raumkonstitution durch Sprache. Blickführung, Bildschemata und Kohäsion in Deskriptionssequenzen englischer Texte, Tübingen: Niemeyer 2009.

Wenz, Karin: Raum, Raumsprache und Sprachräume. Zur Textsemiotik der Raumbeschreibung, Tübingen: Narr 1997.